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[I. Abschnitt.
Das Heimatdorf]

Flurumgang. Schloßgut und Schloß. Das Heimathaus. Kirche und kleinere Häuser. Der besondere Sarg. Die Reise. Der Freudenauer Friedhof.

 

Auf dem Wege, aus dem Altmühltal die Höhen hinauf, durch stille Juradörfer, lange bevor er am Ziele war, tat sich's auf, immer deutlicher. Hülle um Hülle fiel, Menschen und Dinge traten deutlich und gegenwärtig an ihn heran. Er fühlte die Nähe des Heimatdorfes.

Wurzelt man in drei Jahren so ein, daß man von Heimat reden kann? Der Mann nicht. Das Kind kann es. Seine Seele lebt nicht in die Weite und Länge, sondern in die Tiefe, und seine Blicke und Ahnungen haften für immer. Wird nicht im vierten bis sechsten Lebensjahr geheimnisvoll gesät, was dann ein Leben hindurch aufgeht und lebendig bleibt, wenn es gut war? Ist es nicht doch das Kinderland, auch wenn das Wort in Reinharts Ohr immer einen etwas fremden, unglaubwürdigen Klang hat?

Es war April und fast noch Winter. Ein starker, kalter, nasser West stemmte sich gegen ihn und ließ seine Hände erstarren. Südlich von Asenheim lag noch Schnee. Als er über die Möckinger Flur schritt, ließ das Brausen nach und im Walde hinterm Dorfe war es fast heiter. Er freute sich über den üppigen Baumwuchs auf dem sandigen Boden. Der Weg senkte sich – da lag Rohrachau, sein Dorf vor ihm – am Rande des Hahnenkamms, am Bächlein Rohrach, nahe der fetten Erde des Rundgaus noch ein Juradörflein mit Armut und bescheidener Schönheit.

Ein wenig befangen trotz all seiner Mannbarkeit, erschreckt und bewegt von dem Anblick ließ Reinhart die Augen erst einmal weiter hinaus, in die Ebene gehen. Der Kornstatter Kirchturm, der Daniel, grüßte herüber, den Rundgau beherrschend. Rechts davon der Weißberg, der ihn bei wachsenden geographischen Kenntnissen ans Kapland erinnerte, der Tafelberg, den er sich aus der Schulbank als den letzten Ausläufer der Schwabenalb merken mußte.

Drüben am Hang eines flachen Hügels lagen die Häuser von Mändel. Scharf zeichnete sich das Sandsträßchen ab, das Mändel mit Rohrachau verbindet. Da fiel ihm auch das Sprüchlein wieder ein:

»Mändel hängt am Bändel,
Reißt der Bändel a,
Fällt Mündel auf Rohracha ra.«

Dem Hahnenkamm zu lag Hirschheim. Da wohnte der alte Pfarrer Schmolk in seinem etwas kahlen, spartanisch eingerichteten Hause. Als Reinhart das Kind von heftigstem Nasenbluten befallen war und der rote Strom sich gar nicht erschöpfen wollte, kam Schmolk mit einigen Fläschchen aus seiner homöopathischen Hausapotheke und das Übel wich. Und im Herbst, wenn die Zwetschgen im Hirschheimer Pfarrgarten reif waren, spannte sich die lauffähige Geschwisterschar an den kleinen derben Handwagen und zottelte die Rohrach hinauf in Schmolks Zwetschgengarten. Während die andern im Wohnzimmer immer noch wortreich Kaffee tranken, stand Reinhart, früher fertig und gern allein, im Hofe, schnupperte in die kräftige, kühlere Hirschheimer Luft und ließ ab und zu einen Wasserstrahl aus dem Pumpbrunnen fallen. Bis endlich die andern kamen und nun alle zusammen den scheinbar dürren, aber fast alle Jahre gar ergiebigen Zwetschgenbäumen zu Leibe gingen. Mit vollen Säcken zog man heim und freute sich auf den Augenblick, da man vor der Mutter den Segen ausbreitete: »So viele und so große darunter und geschenkt!«

Hinterm Walde lag Möckingen. Unterhalb der weitgedehnten Viehweide, sonst ganz von Forst umgeben. Da hauste zwischen Birnbäumen und Bienenhäusern Pfarrer Brast, ein um seiner lutherischen Überzeugung willen bei der Einführung der Union aus der Heimatkirche ausgewanderter »renitenter« Hesse. Er hatte ein breites, braunes, von einer schmalen, wolligen Bartkrause umrahmtes, rasiertes Gesicht. Er war wuchtig und laut in allem, fast ein wenig dröhnend, so daß der zaghafte Knabe sich nie freiwillig entschlossen hätte, sich zwischen die Kniee des Gewaltigen zu stellen. Stand er aber einmal, so hörte er zu, wenn Brast seinen Märchenschatz auftat und erzählte: vom Hans im Glück, ganz besonders lebhaft aber vom großen und kleinen Klaus. Es lief viel Hessisch mit unter, das der kleine Franke nicht verstand. Der Humor wurde, wie es sein soll, ganz trocken und sachlich geboten, damit er durch sich selbst wirke. Es blieben indes nur kleine Wurzeln davon in der Seele des Fünfjährigen haften. Er war innerlich zu schlicht und zu langsam, um recht mitzukommen. Aber Brasts kraftvolle Gestalt, sein selbstsicheres Wesen, sein mannhaftes Lachen hat er nie vergessen. –

Jetzt erst vermochte Reinhart ruhig auf die Häusergruppe zu seinen Füßen niederzublicken. Auf den kurzen Turm mit der vierteiligen eingedrückten Kappe, den Bruder Eduard so trefflich aquarelliert hat, – auf das Pfarrhaus, dessen Fensterreihen die obere Straßenkreuzung des Dorfes beherrschen, auf das alte schlichte turmlose Wöllwarthsche Schloß mit dem seichten Graben, dem obstbaumbestandenen Umgang, – auf die ansehnlichen Gutsgebäude, neben denen die übrigen Häuser nicht viel besagen wollen. Anmutig, weltentrückt, still und klein, ein wenig dürftig.

Reinhart setzte sich auf einen Fichtenstrunk, nahm die Brille ab und schnitzelte lange an einem dürren Fichtenzweiglein, in dem noch ein wenig Harz war, und sah ins Kinderland. – –

Wenn er sich etwas vorbeugte, konnte er deutlich den Wald sehen, der auf der Südseite des Dorfes, von diesem durch einen Feldstreifen getrennt, gegen Tirding hinansteigt. Sein Herz schlug ihm. Ach, da ging er oft als Fünfjähriger. Er sah sich ganz deutlich in Kittel und Hosen, die die Größeren ihm vererbt hatten. Links und rechts zogen die Pflüge des Schloßgutes schwarzbraune Furchen, aus denen die weißen Kalksteine nie ganz zu entfernen waren. Staare hüpften hinterher. Er selbst sah stolz drein: er stützte seine Mutter, so gut eben ein Fünfjähriger eine große Frau stützen kann. Und sie ließ sich stützen, war offenbar froh um die geringste Stütze, zumal wenn es bergan ging.

Ihr ganzes Leben ging scharf bergan. Mit 19 Jahren Frau und dann noch einmal 19 Jahre mit vielen Kindern. Mit 38 Jahren starb sie. Reinhart konnte sich auf keines ihrer Worte mehr besinnen, aber Gestalt und Angesicht und ein braunschwarz gewürfeltes Kleid aus kräftigem Wollstoff sieht er noch. Er kann sich die hohe Gestalt nur in langsamer Bewegung und das Angesicht nur in gütigem Ernst und mütterlicher Sorge vergegenwärtigen. Sie lehrte ihn den Ackersalat, das »Schafmäule«, erkennen und lobte ihn, wenn er fleißig geerntet hatte. Sie gab ihm gern einen leeren Blumentopf mit, den er auf der Flur hinterm Friedhof mit Schafdünger füllte, zur Freude der mütterlichen Blumengärtnerin. Wenn sie aber miteinander zum Walde emporschritten, mochte er sich nicht von ihr trennen. Am Waldsaum rasteten sie ein wenig und sahen miteinander auf die kleine Reise zurück, die der Mutter beschwerlich gefallen war.

Gingen sie ein paar Schritte in den Wald hinein, so saß da meist der Vater. Er arbeitete. Gleich am Fußweg nach Tirding auf einem Baumstumpf oder, weiter gegen den Friedhof zu, im Moose unter einer Fichte, wo er noch weniger gestört war. Die Eltern sprachen, wenn sie sich so trafen, wenig miteinander. Der Vater hatte es nicht gern, wenn man ihn aus seinen Gedanken riß. Er hatte gelbliches Papier vor sich liegen, das er mit kleinen zierlichen Schriftzügen bedeckte. Oft war es die sonntägliche Predigt. Noch viel häufiger aber eine wissenschaftliche Arbeit. Die Forschung war dem Manne Bedürfnis wie Waldesluft. Dazwischen holte er tief Atem und sein durchdringendes Auge bekam einen flehentlichen Ausdruck: Ach, daß ich's fertig brächte, was ich mir vorgenommen!

Nicht selten setzte sich die Mutter neben ihn und schrieb, was ihr der Vater diktierte, Predigt oder Abhandlung. Sie war eine gebildete Frau. Doch sprach sie nicht drein. Wenn sie schrieb, war sie nur Schreibrohr, – die Worte des Mannes strömten durch ihre Seele und sie nahm sie zu eigen. Reinhart spielte dann in der Nähe. Da er aber am Spiele um des Spieles willen, besonders am Alleinspielen, damals noch keine Freude hatte, versuchte er etwas Nutzbringendes zu schaffen. Er trug Fichtenzapfen und Reisig zuhauf und verbarg dann den Vorrat, damit nicht einer käme, zu ernten, ohne gesammelt zu haben.

Es war kein Forst, sondern nur ein schlichtes gemischtes Wäldchen. Aber es war der nächste Wald, also gewissermaßen der Wald seiner ersten Kindheit und daher die Heimat all seiner späteren Waldesfreude. Sein erster deutscher Wald.

Reinhart gedachte der gemeinsamen Holzsammelfeste, da der Handwagen die Last kaum zu fassen vermochte, die die Magd Babette und all die Kinderhände zusammengebracht hatten. Hat ihm nicht dort sein ältester Bruder den ersten Hirschkäfer gezeigt?, – er hat seitdem keinen mehr gefunden. Wuchsen nicht dort so ungeheuer viel Maiblümchen, daß man sie, in längliche rosafarbene Pappschachteln verpackt, für jeden einzelnen einen besonderen Strauß, mit Brief und Spruchkarte an alle Lieben versandte?, – weil man sonst nicht viel hatte. Haben nicht dort die älteren Brüder ihren Namen in eine Fichte gegraben, hoch über Reinharts braunem Kopf, für ihn nicht einmal mit den Händen erreichbar? Hat nicht Hermann, der Älteste, dort mit einem Röhrchen eine Birke angezapft und ein Gefäß daruntergestellt? Und haben sie nicht dann miteinander den süßen Saft getrunken, weil er besonders heilkräftig sein soll? Warum ist er doch nicht gesund geblieben, der Hermann, der gute Turner, der feine Mensch und groß angelegte, frühvollendete Charakter?

Sah man nicht zu jeder Jahreszeit nachmittags ein Häuflein blöder Männer und Knaben, von Diakonissen geführt, durch den Wald traben? Hatten die Diakonissen nicht immer Sträuße in den Händen, die durch die Gaben der Blöden immer umfangreicher wurden? Und wenn sich einer der Pfleglinge verlaufen hatte, suchte man ihn, bis man den rasch Entkräfteten grinsend in einem Dickicht hockend fand.

Hat nicht die Schreinerin Neumeyer immer behauptet, daß oben im Walde Reste eines Wöllwarthschen Jagdschlosses seien, nicht viel, aber doch etwas? Reinhart suchte mit ihr, aber sie fanden die Stelle nicht, auch ein anderes Mal nicht, so daß nun nichts mehr im Wege stand, sich das einstige Jagdschloß ganz außerordentlich prachtvoll vorzustellen; denn auch Reinharts schlichtes Denken kannte Feierstunden und Ausblicke. Und ging nicht der Weber Martin Braun durch diesen Wald, wenn er die Frucht redlichsten Fleißes, Garne und Wollstoffe, nach Tirding trug? –

Das war der Wald hinter Brauns Hütte, über den herrschaftlichen Feldern, der erste Wald seines Lebens.

Weil Reinhart nun aber einmal beim Walde war und der Wald ein besonders bedeutsames Stück Heimat ist, liefen seine Augen ein Stückchen nach Osten, über den Friedhof, zum Quellwald. »Wenn wir Zeit haben und ihr brav seid, gehen wir alle miteinander in den Quellwald!« »Zum Kaffeekochen?« »Wir wollen dann dort Kaffee kochen.« Wie herrlich das war!

Ganz deutlich spürte Reinhart wieder die Wellen zitternder Freude, die bei dieser Aussicht das Kind durchschauerten. Aus der Enge des kinderreichen Hauses ins Weite, aus dem strengen Gleichmaß der Zeiteinteilung ins Ungewöhnliche, nicht nur wie sonst an die Luft, sondern in den geliebten fernen Wald, geliebt, weil er so fern war, dabei das Gefühl der Gemeinschaft mit den andern und die mitfühlende Freude des Kindes an der Ausspannung der Eltern! Wie oft wurde solch ein Quellwaldausflug geplant, beträumt, verschoben, wie selten verwirklicht!

Wenn es aber wahr wurde! Wenn der kleine Handleiterwagen, der so lange aushielt, mit Geschirr und Brot und Zwetschgenmus beladen in festlichem Zug hinausgezogen wurde! – Hatte man draußen angekommen zuerst allerlei Spiele veranstaltet, an denen sich die Mutter mehr nur Richtung und Ziel gebend beteiligte, hatte man Quelle und Wald lange genug bewundert, Fichtenzapfen gesammelt, den ganzen Reiz des Fernseins von zu Hause, des weiten Ausblicks auf Wälder und Dörfer, die man sonst nicht sehen konnte, wortlos aber tiefinnerlich genossen, dann wurde zum Mahle gerufen. Der Vater kam vom Rande des Waldes, wo seine Bücher und Papiere lagen, warf sich ins Moos, zählte seine Kinder, sah ihnen in die Augen, fand sich selbst darin und dachte: mehr kann ich euch nicht geben. Die Mutter verteilte die Blechtassen mit und ohne Henkel, schenkte ein, strich Brot um Brot und sah die Kinder nicht an, denn sie kannte sie alle. Aber ihr inneres Auge flog über Wald und Landschaft in die sächsische Heimat und über ganz Deutschland und sie dachte: zusammen werden sie nicht bleiben, aber jedes wird sein Teil finden, satt zu werden und andern noch ein wenig geben können, – und Speis und Trank wuchs ihr unter den Händen. Nicht Stolz, aber ein starkes Empfinden ihrer Mutterschaft und ihrer Bedeutung für ihr Volk erfüllte ihr Herz. Es wurde nicht viel gesprochen und gespaßt in dem feiernden Kreis. Hie und da warf der Vater ein witziges Scherzwort in den Haufen. Die Mutter griff es auf und gab es weiter. Wenn die Sonne sank, stand der Wagen zum Heimmarsch bereit. Müde kam man zu Hause an, noch ein Topf Milch und ein Stück Brot, dann umfing der Schlaf die Schar und am andern Morgen redete man von nichts anderem als vom Quellwald.

Einmal aber wurden die Wanderer auf solchem Ausflug vom Gewitter überrascht. Man hatte Kaffeekochen und Pilzesuchen miteinander verbunden. Und sie hatten einen guten Tag. Da begann es warm und stoßweise zu wehen, schwere Tropfen fielen und verlöschten auf dem heißen, verlangenden Boden, bis das Gewitter mit Donner und Blitz und Regenschauer einsetzte. Reinhart sieht immer noch deutlich den Vater, wie er mit Pilzen beladen dem Zug vorausging. »Schreitet nur tüchtig aus, Kinder, wir sind bald daheim, dann gibt es etwas zu essen! Gewitter muß es auch geben, wir werden nicht vom Blitz getroffen, der da droben kennt uns ja!« Reinhart sieht ihn aufs allerdeutlichste um das Eck des Pfarrhauses biegen, um den Prellstein, neben dem einmal eine schwarze Otter erschlagen wurde, und erschöpft das Haus betreten. Ganz genau sieht er die Polster der Korallenschwämme, die sich unter der Beute befanden.

Die Freude am Erfolge des Tages währte aber nicht lange. Die Eltern kannten die einzelnen Arten nicht, auch aß sonst niemand im Dorfe Pilze, so blieb es bei der Betrachtung der merkwürdigen bunten Gebilde. Nur die Eierschwämme wurden verzehrt. – –


Reinhart war über diesem Rundblick recht heimatlich zumute geworden. Jetzt war er so weit, in sein Dorf und Heimathaus gehen zu können. Erst ins Dorf und dann ins Heimathaus.

Als er beim Schloßgut vorbei kam, trat er in den Garten vor dem Wohngebäude und in die Laube hart an der Straße und grüßte des Hauses vorige Zeiten. Er hatte die Gabe, inmitten von Menschen allein zu sein. Darum hinderten ihn die ab- und zugehenden Befehlenden und Gehorchenden nicht im geringsten. Er sah durch die Mauern des Hauses, als wären sie Glas, und durch die seit der Kindheit verflossenen Jahrzehnte, als wären es Wochen.

Ja, da war er oft zu Gaste, wenn man ihn zu Hause nicht brauchen konnte. Wie groß und weit kam ihm hier immer alles vor! Vor der Haustüre sah er wieder die Gutsfrau sitzen, gütig und immer wieder lächelnd; sie gab ihm wieder aus einer ungeheuren Schüssel Schwarzbeeren, die eben aus dem Wald gebracht worden waren.

Trat man ins Haus, an dem Tischchen vorbei, auf dem im Sommer der Erntetrunk stand, so lag rechts das Wohn- und Speisezimmer. Er wußte noch seinen Platz an dem großen ovalen Tisch. Der Gutsbesitzer, eine stämmige, ritterliche Gestalt mit lebhaften Augen und Händen und langem, schwarzem, frühzeitig angegrautem Haar und Bart, saß in der Mitte des Tisches mit dem Blick zum Fenster. Er sprach rasch und abgerissen. Alle Aufgaben und Sorgen des Tages liefen auf seinem Platze zusammen und er gab ihnen kurz, energisch und klar Ausdruck. Die Frau saß mit dem Blick gegen die Zimmertüre und überwachte, was da aus und ein ging. Sie war ein wenig kleiner und magerer, blond, lebhaft in Empfindung und Bewegung und rasch in der Rede. Liebe und Zorn und rascher Entschluß, aber auch plötzliche Verlegenheit übergossen ihr heiteres, gütiges Gesicht mit einem roten Strom, der alsbald mit der inneren Bewegung wieder verschwand. Meldungen der Dienstboten, Abberufungen des Hausherrn gehörten zu jeder Mahlzeit. Das Umfassende und doch Geräuschlose des Betriebs mußte Reinharts einfachen, kindlichen Geist bedrücken. In sich gekehrt wagte er kaum aufzusehen. Aber auch die Reichlichkeit des Mahles, namentlich die Größe der Fleischstücke beschäftigte sein bescheidenes Gemüt. Es entging ihm nicht, daß die meist in seinem Alter stehenden Kinder des Hauses sich weit mehr am Tischgespräch beteiligten, als er es sich daheim gestatten durfte, und er riß alle Poren auf, wenn eine Aufklärung oder Mahnung des Vaters, ein rasches Wort, ein zustimmendes oder abweisendes Lächeln der Mutter als Antwort über den Tisch flog. Sobald das Essen beendigt war, nahm der Hausherr den großen gelben Strohhut, dem er viele Sommer treu geblieben war, oder die Mütze von der Wand und das spanische Rohr mit dem Hirschhorngriff, das unter dem Schlüsselbrett gestanden hatte, und ging wieder der Wirtschaft nach.

Das war für Reinhart das Zeichen, mit den Kindern seiner Gastgeber den Herrlichkeiten des Gutshofes nachzuspüren. Zuerst in den Kuhstall. Wie oft stand da »der« Jude und wartete auf den Gutsherrn, blieb standhaft stehen und wartete weiter, wenn er noch so deutlich abgewiesen worden war, seiner Stunde gewiß. Auf der Straße harrte sein Kälberwagen selten umsonst. Als Reinhart später »Soll und Haben« las, mußte er immer wieder an diese Stalltür denken. Wie oft hat er seine Mutter in diesen Stall begleitet und ihr die Schale mit kuhwarmer Milch gebracht.

Neben dem Kuhstall und der Pferdekoppel, wo man trotz strengen Verbotes schreiend und Steine werfend hinter den galoppierenden Füllen einherrannte, hatte auch das Saugärtle seine Reize. Hinter dem Schweinestall am Bach, bei der Wohnung des Krämers und Postboten Weber lag es, von einem nicht ganz tadellosen Plankenzaun umgeben. Der Grasboden um die morastigen Tümpel war zertrampelt und aufgerissen von den Klauen und Rüsseln der Schweine, die hier ihre Sonn- und Schlammbäder nahmen und dabei den kleinen Beschauer mit müden Äuglein anblinzelten. Die größte Aufmerksamkeit wurde den gewaltigen Ebern und Muttersäuen gewidmet, – daß ein Schwein so groß werden kann! Mit Schreien, Werfen von Steinen und Prügeln brachte man sie schließlich doch auf die Beine. Es war eine grausige Lust, wenn sich die massigen Leiber grunzend und schnaufend in Bewegung setzten und durch Schlamm und Sand auf die kleinen Störenfriede zukamen, die hinter den Planken in sicherer Deckung standen und mit höhnischem Zuruf den geärgerten Gegner erwarteten. Auch als höherer Schüler hat Reinhart bei Besuchen auf dem Gute gerade dem Saugärtle manchen heimlichen Besuch abgestattet und die wilde Lust des Schweintreibens auf sein von der Schulluft geschwächtes Gemüt wirken lassen.

Auf dem Hofe stand oft der gelbe Postwagen mit den beiden Braunen. Hat sich nicht einer der Postillone auf der Fahrt beim Rothof das Leben genommen? Hat man nicht lange davon gesprochen als von etwas ganz Unheimlichem, Furchtbarem und durchaus Unverständlichem? –

An der Hofwand des Wohnhauses standen meist einige blitzblank gescheuerte große, hölzerne Mulden und niedrige Gestelle dazu. Darin wurden die Schweine niedergelegt, wenn sie ihren letzten Schrei getan hatten. Wie oft hörte der Knabe dieses Schreien vom Gutshofe herauf zum Pfarrhaus dringen! Mit Eintritt des Winters vernahm man es von allen Seiten, denn auf jedem Hofe gab es solch eine Marterstätte. Die Eltern schlossen dann das Fenster und suchten die Kinder auf andere Gedanken zu bringen.

Wollte Reinhart vom Schloßgut zum Schlosse selbst kommen, so mußte er die Straße überschreiten und ein wenig aufwärts gehen. Über ein Brücklein führt der Weg an einer Scheune vorbei. Da stand nach der Ernte die Dreschmaschine. Während die Arbeiter im Innern der Scheune schwitzend und schimpfend und lachend bemüht waren, der Arbeit der Maschine nachzukommen, stand draußen die Lokomobile. Der Mann mit der Kohlenschaufel machte ein sachverständiges Gesicht, warf hin und wieder Feuerung in die Glut, goß Öl nach, kannenweise, ohne zu beachten, ob viel oder wenig ins Gras floß, las den Manometer ab und rauchte seine Pfeife. Reinhart stand lange vor der schwarzen Maschine, betrachtete die ungeheuren Kohlenvorräte, die ersten Kohlen, die er sah, verfolgte mit Wollust das Surren des Rades. Nicht ohne Befriedigung stellte er fest, daß ein Zählen der Drehungen nicht nur für ihn, sondern einfach für jedermann ein Ding der Unmöglichkeit sei, daß man sich also ungestört von rechnerischen Erwägungen dem prachtvollen Anblick der sausenden Geschwindigkeit hingeben konnte.

An die Scheune stießen langgedehnte hohe Holzstöße. Die Flanken waren als Türme scheiterhaufenartig geschlichtet, dazwischen erhoben sich, tadellos ausgerichtet, die gewaltigen Holzmauern. Blöde Männer und Knaben hatten das vollbracht. Es war ihr Stolz, als Holzmacher und Schlichter, ohne Übereilung, in aller Gemächlichkeit, aber jedes kleinen Fortschrittes kindlich froh, doch noch zu etwas auf Erden geschickt zu sein.

Dann ging's in die Kastanienallee, die über den Schloßgraben zum alten Wöllwarthschen Schloß führt. Ein kurzer Weg, aber für Reinhart weniger kurz. Hier nahm er die besten Vorsätze, in der »Anstalt« sich erstens vor den Blöden nicht zu fürchten, zweitens aber, was das Schwierigere war, durch sein Benehmen die Diakonissen, die jetzt im Schlosse walteten, zu erfreuen. Aber auch etwas anderes verlängerte den Weg. Ehe er durch den linken Flügel des großen hölzernen Tors auf den Schloßhof treten konnte, drängten sich in der guten Jahreszeit regelmäßig einige ältere blöde Männer – die Anstalt war nur von männlichen Schwachsinnigen bewohnt – an ihn heran. Die standen oder saßen da im Schatten der Kastanien, spielten mit den Fingern, strichen sich Rock und Hose immer von neuem glatt, blinzelten um sich, brummelten halb laut vor sich hin oder riefen den vorbeieilenden Schwestern oder Dienstboten irgend eine Wichtigkeit nach. Ab und zu ging auch einer philosophisch, die Hände auf dem Rücken, immer und immer wieder dasselbe Stückchen auf und ab. Er sparte seine Kräfte mehr als »die Eisenbahn«, die mit Zischen und Armstoßen den Spazierweg auf dem Wall rings ums Schloß ablief, solange es der schwächliche Körper erlaubte.

Die im Torweg liebten die Abwechselung und den Kleinen im besonderen. Zutraulich kamen sie an ihn heran, redeten ihn auf ihre Weise an, streichelten ihn, und das Kind antwortete auf seine Weise, halb scheu, halb freundlich. Das »Vögele«, das wegen seines gar zu kleinen Kopfes so hieß; das blonde, etwa siebzehnjährige »Hänsle«, das zeitlebens ein »Hänsle« blieb; der »Herr Leutnant«, der irgendwo die stramme Haltung und selbstbewußte Unnahbarkeit aufgeschnappt hatte und nimmer lassen konnte. Einer aber kam ganz sicher. Das war der rothaarige »Haarriecher«. Der neigte seine Nase auf männliche und weibliche Scheitel und sog den lieblichen Duft, der da aufstieg und bei jedem Menschen verschieden sein soll. Seine Opfer waren ihm alle gleich lieb, wenn nur seine Lust des Haarriechens gestillt wurde.

Auf dem Schloßhof begann Reinhart die Augen niederzuschlagen. Da stand eine Reihe von Fahrstühlen, in denen Menschen saßen, die sich auch der Sonne freuen wollten, aber nicht ohne fremde Hilfe ins Freie gelangen konnten. Kinder und Junge und Alte richteten ihr fragendes, liebkosendes Reden und stummes Starren auf den Knaben. Was sollte Reinhart, das Kind, mit ihnen reden? Auch die Schwestern sahen das ein und ließen ihn ungefragt weiterziehen. –

Meist führte sein Auftrag zur Oberschwester des Hauses, zur Schwester Marie. Ein paar schlichte Staffeln hinauf, – es gibt auch einfache Schlösser –, nach rechts in einen weißgetünchten Vorraum, dann kam die Tür zur Zentralweiche der ganzen Anstalt, zum Zimmer der Oberschwester. Wie oft saß er hier und ruhte ein wenig aus, ehe er heimtrabte, sah dabei durchs Weinlaub in den Blumengarten und in die untergehende Sonne. Vor dem schwarzlackierten Schreibtisch zwischen den beiden Fenstern saß die Oberschwester und schrieb lautlos, nur ab und zu ein Wort vor sich hin murmelnd. Dann und wann griff ihre Hand in eines der unteren Fächer, wo Gelder und Rechnungen, oder in die oberen, wo die Briefschaften lagen. Sie hätte diese Griffe wohl auch im Dunkeln machen können, denn wie in der ganzen Stube, so herrschte auch auf dem Schreibtisch vollkommene Ordnung und Übersichtlichkeit. Über ihr hingen Bilder Wilhelm Löhes, einiger Verwandter, an der Wand beim Tisch ein geschnitztes Kruzifix. Hinter einer grünen spanischen Wand stand das weißbezogene Bett unter einem in Holz gebrannten Spruch. In der Ecke stand ein Lehnstuhl; unter dem zunächstliegenden Fenster, in der Nähe des weißglasierten Kachelofens, ein schwarzer Korb mit einem Stößlein Buchenholz.

Dann und wann sprach die Schwester das Kind an, dem sie schreibend den Rücken zukehrte, ohne in ihrer Arbeit inne zu halten: »Und was macht der Papa?« Reinhart wartete auf diese Frage und sagte: »Gut«, – was nicht immer stimmte. »Und was macht die liebe Mama?« »Gut,« erwiderte Reinhart, obwohl auch das nicht immer stimmte. Die Schwester wußte es besser. Sie sah ganz deutlich, was über des Knaben Haupt schwebte und sagte: »Ich glaube, daß Du einmal ein tüchtiger Mann wirst.« Reinhart verstand das nicht und sagte: »Ja.« Manchmal durfte der Kleine hier seinen Hunger stillen. Eine Tischglocke wurde zum Klingen gebracht, worauf ein weibliches Wesen in halbschwesterlicher Tracht in die Stube glitt. »Schwester Marie?« Nie hörte der Knabe, was die beiden miteinander besprachen. Sehr bald darauf aber stand vor ihm auf der dunkelgrünen Ripsdecke ein Schüsselchen Erdbeeren mit Zucker überhäuft oder Kirschen oder ein Apfel oder ein Restchen Nachtisch oder ein Stückchen Johannisbeerkuchen oder ein Glas Milch mit einer Semmel. Die Schnelligkeit und Geräuschlosigkeit des Vorgangs, die Sauberkeit und Nettigkeit der Darbietung verblüfften ihn immer wieder aufs Neue. Still und steif, rein empfangend sah er auf das seltene Gericht, bis vom Schreibtisch her eine Stimme kam: »Für dich, und daß du nichts übrig lässest.« Da löste sich die Verzauberung und er aß schweigend und heimlich alles auf bis auf den letzten Rest.

Kam der Knabe, was aber selten geschah, um die Mittagszeit in das große Haus, so sah er mit Staunen, wie eine umfangreiche Zinnschüssel nach der andern an ihm vorbei die Treppe hinaufgetragen wurde: Grießsuppe, Sauerkraut mit Schweinefleisch, Kartoffelklöße ohne Zahl, Rohrnudeln und Birnen in Mengen, die ihm unerhört erschienen. Es fehlte ihm noch das Vermögen, die Menge rasch in viele Teile zu teilen, daß ein jeder etwas davon nähme, und so in der Masse das Maß zu sehen. Es fiel ihm auf, daß die schüsseltragenden Männer, »bessere« Blöde, so schnell die Stufen hinanliefen, während sie sonst so langsam waren. Aber er wußte ja nicht, wie sie und ihre Brüder den ganzen langen Vormittag über in der Vorfreude aufs Mittagessen lebten. Nur ganz selten sah er im Speisesaal selbst, wie einfach der Tisch gedeckt war und wie dankbar, ja inbrünstig, restlos verzehrt wurde, was aufgetragen war.

Neben dem Speisesaal lag die Flickstube mit der reizenden Aussicht auf Wiese und Wald. Wie in allen Räumen des Hauses, wo es nur immer anging, standen auch hier immer wieder erneute Blumensträuße. Ihr Duft vermischte sich mit den Düften, die durch die weitgeöffneten Fenster hereinströmten. Dazu aber gesellte sich der Geruch von Wollresten, getragenen Kleidern, Maschinenöl. Und in einem Blödenhaus kommt dazu noch ein besonderes Gerüchlein, das niemand beseitigen kann, das aber nur der nicht mehr lästig empfindet, den die Liebe über derlei Beigaben hinaushebt.

Reinhart kam nicht in alle Räume der Anstalt. Nie betrat sein Fuß den zweiten Stock des Haupthauses, nie das Nebenhaus bei der Einfahrtallee. Das waren die beiden »Asyle«. Da lebten die Menschen, die nicht alt und nicht jung sind, nicht trauern und sich nicht freuen, sondern dahindämmern, mehr vegetierend als lebend, von niemandem entbehrt und doch gepflegt, sogar geliebt. Starb einer von den andern, den »besseren« Pfleglingen, so gab es eine große Trauer und man suchte mit Fleiß, was er gekonnt und geleistet hatte und wie er immer noch fähig gewesen war, in anderer Dunkel Licht zu bringen. Starb aber einer da droben oder da drüben, dann erlosch eine Lampe, die niemandem Licht gegeben hatte, deren mühseliges Fortglühen fast auch den Pflegenden ein Rätsel war. Und doch trauerte man fast auch um ihn.

Sehr häufig kam Reinhart in die Spielstube der »Kleinen«. Der große, wohlgeordnete, grüngestrichene Spielschrank enthielt neben allerlei Zusammensetzspielen, Bauhölzern und Bausteinen, Tieren in Holz und Plüsch, viele schöne Bilderbücher. Hier lernte er die Geschichte von des Riesen Töchterlein, vom Baron Münchhausen, vom Weltreisenden Gulliver kennen. Es war freilich niemand da, der ihm die Bilder mit ausschmückender Phantasie ergänzte. Seinen schwachsinnigen Freunden genügte die kräftige Sprache der merkwürdigen Darstellungen; sie tappten mit den Fingern von einer Figur zur andern, konnten sich aber sonst nicht recht äußern. Und die Saalschwester hatte nicht Zeit, sich den einzelnen Gruppen eingehender zu widmen, verlegte sich auch mehr aufs Spielen, denn sie wollte die Erregbarkeit und Ängstlichkeit ihrer Pfleglinge schonen.

War Reinhart, der Alleinkluge, der Überlegene unter Kindern, in sein Bilderbuch vertieft, so geschah es nicht selten, daß plötzlich einer seiner Spielgenossen unruhig zu werden anfing und summende Töne von sich gab, daß sich seine Züge verzerrten und sein Körper starr wurde. Da nahm die Schwester ohne alle Aufregung den Epileptiker aus der Schar, legte ihn auf die in der Ecke bereit gehaltene Matratze, wo der Anfall vollends zum Ausbruch kam, worauf eine längere oder kürzere Ruhe dem Erschöpften neue Kräfte gab. Oft kam es schnell über die Armen. Stand die Schwester im Wäschezimmer auf der Leiter vor dem geöffneten Schrank, so konnte es geschehen, daß der Pflegling neben ihr plötzlich den Stapel Wäsche vom Arm fallen ließ und zu summen begann. Dann stieg sie gelassen von der Leiter und führte den Leidenden an einen ruhigen Ort, wo sich die Wucht des Anfalls austoben konnte, bis der Befreite mit träumenden Augen wieder unter seinen Kameraden zu erscheinen vermochte.

Warum sieht Reinhart jetzt noch den gepflasterten Weg so deutlich, der vom Portal die Hauswand entlang, zwischen Weinlaub und Blumenrabatten und dann am Schloßgarten vorbei zum Betsaal führt? Weil er ihn an der Hand der Eltern oft ging. Der Vater war nicht nur Ortspfarrer, sondern auch Anstaltsgeistlicher. Der geistvolle Mann war auch Blödenpfarrer. Und bei der seltenen Fähigkeit, sich ganz sachlich und eindeutig und einfältig auszudrücken, war er gerade auch dazu besonders begabt.

Der Betsaal der Anstalt war ein merkwürdiger Raum. Trat man unter dem schlichten Holzkreuz durch die Türe, so ging es bergab, das Gebäude folgte der Böschung des Schloßgrabens. Wie im Theater stiegen die Bänke über die Fläche der Schaubühne empor, von dem zu unterst liegenden Altarraum, der auch Harmonium und Rednerpult enthielt, aufwärts zur Höhe des Pflasters vor dem Schloßgebäude. Zu oberst und an den Rändern saßen die Aufsichtspersonen, Diakonissen und Diakone, und die Angestellten. Die übrigen Plätze füllten die Pfleglinge. Unten saß am Harmonium die Oberschwester; in der ersten Bank, dem Altar gegenüber, Reinhart mit den Geschwistern und der Mutter. Nicht immer war der Vater Leiter des Gottesdienstes. Meist bedienten die Diakonissen sich und ihre Hausgemeinde selbst, nach Freudenauer Art mit Gesang, Gebet und Schriftverlesung. So in den meisten ihrer allabendlichen gottesdienstlichen Feiern. An besonders vereinbarten Tagen aber erschien der Ortspfarrer, sei es zur Predigt vor dem merkwürdig gemischten Kreis, sei es zur Christenlehre.

Während der Knabe von dem, was da gesprochen wurde, nichts verstand und ihn mehr die feierliche Stimmung im allgemeinen erfaßte, die ihn umgab, machten doch zwei Dinge auf ihn Eindruck, durch die seine künstlerischen Anlagen wohl die erste Anregung empfingen. Es entging ihm nicht, daß die das Harmonium spielende Oberschwester zwischen jeder Strophe ein kleines Zwischenspiel einfügte, und bald hatte er die Entdeckung gemacht, daß sie zu diesem Zweck einfach die Schlußzeile der Strophe wiederholte. Er hat das später nie mehr so gehört. Und dann ein Eindruck für die Augen. Gerade vor seinem Platze befand sich das Mittelfenster der Altarwand. Während die beiden Nebenfenster dem Lichte ungehinderten Zutritt ließen, war in diesem mittleren Hauptfenster ein Leinwandtransparent eingelassen, das den guten Hirten inmitten seiner Herde, ein Lamm auf der Schulter tragend, darstellte. Es war kein Kunstwerk und wollte und brauchte keines zu sein, aber es war deutlich und edel. Der Knabe hatte während des Gottesdienstes Muße, sich in alle Einzelheiten des Bildes zu vertiefen. Die Freundlichkeit des Hirten, in dessen Züge Hingabe und Verkanntwerden ineinander spielten, und die vollkommene Zutraulichkeit der Schafe beschäftigten ihn. Doch verstand er es nicht recht, wenn man ihm andeutungsweise das Bild erklärte mit Bezugnahme auf ihn selbst und seinen eigenen Anschluß an den guten Hirten. Er hatte das dunkle Gefühl, daß arme Blöde diese bedingungslose Hingabe wohl vertragen und notwendig brauchen; ein gesunder Knabe aber, ahnte er, müsse sich den großen Seelenfreund selbst gewinnen und verdienen. So gern er später das Bild von Hirt und Herde, besonders in kräftigerer Auffassung, gesehen und andern gedeutet hat, so wollten ihn doch immer wieder andere Versinnlichungen des Verhältnisses zu Jesu besser gefallen. Aber es war doch ein erster Eindruck, nicht bloß künstlerischer Art, ein erster starker Anstoß, den er durch dieses Transparent mit immer erneuter Kraft empfing, wenn er immer wieder lange und schweigend davor saß. Sein Geist schlief noch und die Eltern scheuten sich, ihn vorzeitig zu wecken und in eine bestimmte Richtung zu drängen. Sie gedachten nicht, ihn mit Dingen zu erhitzen, die er noch nicht verstand, die dem verschlossenen Kleinen auch gar nicht lagen.

Nach dem Gottesdienst ging er an der Hand der Mutter den Weg um den Schloßgraben ins Pfarrhaus, ins Heimathaus. – –


Es ist ein ganz schlichtes Haus, fast ein wenig nüchtern. Ein weißer Würfel, steht es mit seinen vier fast gleichlangen Seiten und doppelten Fensterreihen, über denen sich ein ziemlich steiles Dach erhebt, mitten im Dorfe, zwischen Kirche und Schule an der Kreuzung zweier Straßen, an einem freien Platze, in dessen Mitte ein Brunnen rauscht. Namentlich gegen das Schloßgut hinunter hat man einen hübschen Ausblick. Im Stil wird das Haus viele seinesgleichen haben in den altmarkgräflich ansbachischen Landen.

Unter dem in eine Solnhofer Platte flach eingehauenen freiherrlich Wöllwarthschen Wappen, – ein silberner Mond im roten Felde –, führen ein paar Stufen in den Flur. Geradeaus liegt die Küche, links und rechts Wohnräume. Sollte Reinhart gleich rechts eintreten? in die Kinder-, Vikars- und Totenstube? Lieber zuletzt.

Das Zimmer zur Linken war das Wohnzimmer gewesen. Er besann sich und suchte das Bild der Familie zusammenzustellen: die Eltern, die Kinderschar, eine Stütze aus der Freundschaft oder Verwandtschaft, die Magd, – aber es wollte ihm nicht gelingen. Warum war das alles verwischt? War es nicht die Familienstube? Und war nicht Familiensinn und Familienleben trotz viel Krankheit der Eltern und viel Abwesenheit des Vaters gepflegt worden? Doch da tauchte es auf: als der Zweitälteste konfirmiert wurde, saß man hier beim festlichen Konfirmationskaffee. Die Torte aus Worningen war gerade noch rechtzeitig eingetroffen, eine richtige Marzipantorte mit Zuckerguirlanden, und nun saß man fröhlich beisammen. Ach Gott, was eben in diesem Kreis fröhlich hieß. Der Vater am Tisch mit dem Rücken gegen die Tür, ihm gegenüber auf dem Sofa Schwestern vom Schloß. Sie hatten wohl von ihrem Wenigen ein Konfirmationsgeschenk überreicht und nun ließ man sie die Dankbarkeit für die Gabe und die Freude an ihrem Erscheinen empfinden, sprach von den Studien des heute konfirmierten Lateiners, von den anderen größeren und kleineren Kindern, vom hohen Gut der Gesundheit, von wissenschaftlichen Bestrebungen und Reisen des Vaters.

Die Küche, der Haustür gerade gegenüber, war Reinhart immer ein angenehmer Aufenthalt. Im Bereich der behaglichen Wärme, die der alte gemauerte, gelbglasierte Herd ausströmte, spielte er am Boden liegend. Die Kochgerüche, diese Quelle der Ahnungen und Gewißheiten, umfingen erquickend seine empfängliche Nase und beschäftigten ihn, denn er hatte Zeit dazu, auch war er ein nachdenkliches Kind. Kam im Spätherbst der Krautschneider mit dem frischgeschnittenen, mit Salz reichlich bestreuten Sauerkrautvorrat, so durfte er nehmen, soviel er wollte. Brachte nicht einmal der Schreiner Neumeyer einen Karpfen aus seinem Waldweiher? Sandten die vom Gut nicht manchmal einen Hasen? Und wenn die Bauernfrauen endlich den Heimweg antraten, nachdem sie stundenlang die Mutter mit ihrem dürftigen Geplauder ermattet hatten, stand dann nicht eine Schüssel Eier oder ein Stück Fleisch auf der Anricht? Konnte man nicht in der Speisekammer immer Vorrat holen, auch wenn noch so viele Esser zu befriedigen waren? Ja, wenn das nicht gewesen wäre! Der Gehalt des Vaters hätte es nicht getan.

In des Hauses stiller Klause, wo es den ganzen Tag über lebhaft zuging und die Blechtöpfchen wohl ausgerichtet an der etwas feuchten, gelbgestrichenen Mauer standen, hingen allerlei Bilder aus illustrierten Zeitschriften, die beständig wechselten. Die Brüder brachten sie in die Ferien mit und wurden so Begründer einer Gepflogenheit, die in all den Häusern, die von diesem Hause abgezweigt sind, Familiensitte wurde: den stillen Ort des Hauses zu einem kleinen Museum oder auch zu einer kleinen Hausbibliothek für leichtere Literatur auszugestalten. Was hat der kleine Reinhart hier nicht alles gelernt! In Augenblicken, da, wie man weiß, der Geist ganz besonders leicht beschwingt und aufnahmefähig ist, hat er hier Thieß Thiessen gleich zu reisen begonnen, weiter als er je in Wirklichkeit gekommen ist, und zu erleben begonnen, ganz anderes als er später wirklich erlebt hat.

Reinhart der Mann ging nun die Treppe hinauf in den ersten Stock. Das schöne Eckzimmer mit dem Blick auf den Brunnen, aufs Schloßgut und die Schule, war die Studierstube. Da saß der Vater vor dem schlichten, schwarzen, tannenen Schreibtisch mit dem kleinen Fächeraufsatz und den zwei seitlichen Schubladen, aus denen Reinhart rote Oblaten stahl, die zum Verschließen amtlicher Schreiben bestimmt, aber auch ein zwar wenig nahrhafter, doch angenehm schmeckender Leckerbissen waren. Da saß er und arbeitete. Ja, er arbeitete. Daß ihm der Vater nie etwas erzählte von dem, was er da schrieb! Reinhart das Kind hätte offenbar nichts davon verstanden. Ein herabgefallenes Buch aufheben, Streusand blasen, den Papierkorb ausleeren, Zündhölzer in Brand setzen, Kerzen anzünden und die Siegellackstange drüber halten, bis die Tropfen zischend auf das Stearin fielen, einen Aschenbecher herbeiholen, den Spucknapf wieder an seinen Ort rücken, die Strohmatte unter den Füßen des Mannes gerade richten, die Mutter um ein frisches Taschentuch bitten, … das waren so seine Leistungen.

Der Vater war nicht groß; ja, wenn die Mutter neben ihm ging, erschien er klein. Saß er aber am Schreibtisch, so wuchs der ganze Mann. Er lehnte sich dann wohl in dem gelblackierten, niedrigen Arbeitsstuhl längere Zeit weit zurück, ließ das Haupt über die Rückenlehne hinabfallen und die kranke Brust tief und langsam Atem holen. Während die Hände auf den Seitenlehnen lagen, waren die Augen zu der weißgetünchten Zimmerdecke empor gerichtet, als läsen sie da allerlei Neues und Gutes. Waren diese Augen vorher über der Arbeit müde und trübe geworden, so erhellten sie sich nun wieder, ja sie nahmen etwas Ruhevolles und Strahlendes an; es war, als wenn sich etwas wie Glück in sie gelegt hätte, etwas von dem Glück des Arbeiters, der Weg und Ziel findet. Neben der Freude des Gelehrten lag aber dann in diesen Augen noch ein anderer Glanz, der aus Mühsal und Mühsalsüberwindung, aus Verlassenheit und Getröstetwerden, aus Durst und Durstesstillung wie der Morgen aus wolkenschwerer Nacht mühsam geboren worden war. War dieser Glanz zum Durchbruch gelangt, so blieb er längere Zeit und verlieh dem Angesicht eine unvergleichliche, hoheitsvolle Schönheit, von der der Mann selbst nichts wußte. Hatte er sich so ein wenig ausgeruht und gestärkt, so preßte er mit der Rechten das lange, dichte, tiefschwarze Haupthaar zurück, während die Linke die um das ausrasierte Kinn stehengelassene Haarkrause bearbeitete. Dann ergriff er langsam mit den schmalen feinen Fingern die Feder und beugte sich wieder über den Schreibtisch. Ab und zu murmelte der etwas breite, aber edle und von rücksichtsloser Energie zeugende Mund etwas von dem, was die Hand mit kleinen, außerordentlich zierlichen und klaren Buchstaben aufs Papier warf. Nicht selten murrte oder lächelte er während des Schreibwerks in sich hinein oder griff nach der Brust, als schöbe er etwas zurück. Die Nase, bei nahezu semitisch starker Ausprägung doch von vornehmster Formung, trug nie eine Brille.

In die Arbeit hinein kam etwa ein Sohn des Gutsbesitzers oder einer der eigenen Söhne zu ihm hinauf zum Unterricht, den er an guten Tagen im Auf- und Niedergehen, an schlechten sitzend oder liegend, immer mit scharfem Ernst die Aufmerksamkeit der Schüler erzwingend, erteilte. Oder es kam ein Häuflein Konfirmanden auf die Stube, um seinen Unterricht zu empfangen; ging es gar nicht anders, so lehrte er vom Bette aus.

Ernst und Heiterkeit lagen bei ihm oft dicht beisammen. Es war ihm Bedürfnis, die Spannung der geistigen Arbeit durch einen kräftigen Scherz zu lösen. Trat Reinhart demütig ein, den Vater zu Tisch zu bitten, so konnte dieser ganz ruhig vom Schreibtisch aufstehen, das Fenster öffnen und über die Straße rufen: »Ach, Herr Nachbar Brandstätter, wenn Ihr Messer noch scharf genug ist und Sie so freundlich sein wollen, so schneiden Sie dem kleinen Schlingel da die Ohren ab; es müßte aber sehr schnell geschehen!« Reinhart kannte das und fürchtete sich nicht, vielmehr ahnte er: solange er so spricht, ist Leben in ihm, und war es zufrieden. –

Und das Schlafstübchen gegen den Garten hinaus. Da stand in Krankheitszeiten das Bett der Mutter. War sie auf dem Wege der Besserung, aber noch ans Lager gebannt, so war das für Reinhart eine bedeutsame Zeit. Die Mutter lehrte den Sohn die Anfangsgründe des Lesens, Buchstaben malen und zu Wörtern zusammensetzen. Es war Reinhart später immer, als ob er hier auf dem Schemelchen vor dem gelblackierten Bett, zwischen der weißgestrichenen Tür und dem weinumrankten Fenster, Grundlegendes fürs ganze Leben gelernt habe. Die Lehrerin, die ihn unterrichtete, konnte dem kleinen Schüler gegenüber keinerlei Zuchtmittel anwenden, denn sie tat gut, ganz still zu liegen. Sie konnte nicht einmal sehr laut sprechen. Wenn sie aber auf das Kind hernieder sah, merkte dieses ganz deutlich, wie ernst es ihr mit der Unterweisung war. Sie wollte ihm offenbar etwas Verwendbares fürs Leben geben. Drum saß Reinhart stille, sprach auch leise, ließ den Griffel möglichst geräuschlos über die Tafel gehen und vermied alles, was der schwachen Lehrmeisterin die saure Aufgabe erschweren konnte. War die Kranke nicht fähig, sich mit ihm zu befassen, so saß er auf dem Stühlchen und dachte nach, wie man mit möglichst wenig Lärm und Kosten in Gegenwart der Mutter etwas Feines verfertigen könne. Er nahm sich dann immer vor, auf den Dachboden zu gehen, von den vielen Vereinsjahresberichten und anderen kleinen Drucksachen, die da, geschnürt und lose, aufgeschichtet waren, die farbigen Rücken und Umschläge abzuschneiden und daraus kleine Flechtarbeiten, am liebsten ein Häuschen oder noch lieber sehr viele Häuschen mit farbigen Türen und Dächern zu fertigen, – aber es blieb beim immer wieder gefaßten Plan. Auch später hat er gern, mit reger Einbildungskraft und klopfendem Herzen alle Möglichkeiten erwägend, liebliche Pläne gefaßt, von denen nicht wenige ganz naheliegend, nützlich und einfach auszuführen waren. Aber er ist allermeist im hitzigen Planen und Vorstellen stecken geblieben; die Ausführung verhinderte seine Schüchternheit und seine schwerfällige, unpraktische Natur.

Unter diesem Stübchen lag der Garten. Da saß man in den Ferien mit den Geschwistern zum Familienkaffee. Mitunter brachte schon Ostern Gartentage. Dann stand Reinhart respektvoll und bewundernd neben den Knieen des ältesten Bruders und sah seiner Arbeit zu. Der hatte ein gefärbtes Osterei in der Hand und kratzte mit der kleinsten Klinge seines Taschenmessers, zwischen Behutsamkeit und festem Zufassen die Mitte haltend, allerlei Zeichnungen und Buchstaben in die zarte Schale: das Osterlamm mit der Fahne, ein Herz …, darunter den Wunsch »Fröhliche Ostern!«, oder bloß den Namen des Festes mit der Jahreszahl, oder die Buchstaben A und O. Die so entstandenen Kunstwerke verschenkte er und der Empfänger pflegte sie gut aufzubewahren. O, Reinhart weiß noch ganz gut, wie der alte Braun einmal ein solches Ei aus seiner Schlafstube herunterholte und gerührt dem Kleinen die feine Zeichnung erklärte. Das Innere war längst verhärtet und pochte als feste Kugel gegen die Schale.

Warum besitzt Reinhardt immer noch, eingelegt in ein »Poesiealbum«, sonst Stammbuch genannt, einen farbigen Papierhasen mit drei bunten Eiern am Schwanz? Weil ihm in der frühesten Kindheit draußen vor dem Dorf, seitwärts vom Friedhof, auf einem Hügel, genannt Biberstein, wo aus der herrschaftlichen Zeit noch ein steinernes Gartenhäuschen stand, der Osterhase legte, – einen gebackenen Hasen und den papierenen, dazu ein feines Lamm aus Biskuit mit einer Fahne an roter Stange und ein Nest Eier. War es nicht auch ein Familienfest mit vielen Kindern und darum mit viel Fröhlichkeit, und haben nicht dabei auch die Eltern sich fröhlich gegeben?

Des Hofes Mittelpunkt war der Sandhaufen mit einem Sand so feinkörnig und leicht zu bearbeiten, wie das Reinhart seitdem nie mehr gefunden zu haben glaubt. Da stand die Gießkanne, aus der man vor der Arbeit die goldgelbe Masse feuchtete. Und dann setzte die Phantasie ein und erging sich in immer neuen Formen von Wecken und Fladen und Kuchen und erlesensten Gerichten, in immer neuen Verbindungen von Burg und Graben, Bahndamm und Tunnel, Hochgebirge und Mittelgebirge und waldbestandener Ebene, Fluß und Kanal. Wieder waren es die Ferienbrüder, die ungeahnte Möglichkeiten aus der Wirklichkeit ihres reicheren Lebens mit nach Hause brachten.

Auf diesem Sandhaufen saß der Knabe an einem Karfreitagmorgen. Die Glocken im Turm über ihm hatten ausgeläutet. Es war ganz stille geworden. So still wie immer am Sonntag und doch diesmal noch viel stiller. Diese Lautlosigkeit und Einsamkeit bedrückte sein Gemüt. Nur um sich ihrer zu erwehren, begann er mit einem der kleineren Brüder ein wenig zu streiten. Sogleich kam jemand aus dem Hause und flüsterte ihm zu: »Kinder, seid stille, Karfreitag ist heute!« Das ist ihm geblieben. Jeden Karfreitag sitzt er wieder auf dem Sandhaufen, spürt die unsagbar feierliche, von Verlassenheit nicht ferne dörfliche Stille und hört die Stimme: »Kinder, seid stille, Karfreitag ist heute!«

Ist nicht einmal die Scheune voll Militär gelegen? Und hat nicht der Offizier, der im Pfarrhaus wohnte, mit dem Vater eine gar freundliche Unterhaltung gepflogen, wie sie Gebildeten möglich ist, die sich nicht kennen und doch rasch erkennen? Wenn Reinhart seinen ersten Traum erzählt, so ist es ganz einfach das Bild eines Offiziers mit seinem Pferd.

Reinhart der Mann ging durch den Hof über die Straße zur Kirche hinüber. Unter dem Wappen derer von Wöllwarth trat er durch die hohe Friedhofspforte über den kleinen Totenacker durch die Sakristei in das bescheidene Gotteshaus. Ein dörflicher Bau aus dem siebzehnten oder achtzehnten Jahrhundert. Ein rechteckiger Saal mit Holzemporen für die Männer, im Osten unterm Turm der stark erniedrigte Altarraum, an dessen Wänden rotmarmorne Grabmäler der Wöllwarthe, im Westen die Orgelempore, an der Südseite in der Ecke zwischen Schiff und Triumphbogen die Kanzel, ihr gegenüber der Herrschaftsstand mit seinen Glaswänden, an den Brüstungen der Emporen die Mooskränze der Neukonfirmierten.

Reinhart war zu klein, als daß ihn seine Eltern hätten oft mit hierher nehmen können. Er sah ihnen nur immer nach, wenn sie und die größeren Geschwister in dem ehrwürdigen Hause verschwanden. Er sah mit größter Anteilnahme zu, wenn sich nach dem Gottesdienst die Menschen vor dem Friedhofstor stauten und rasch verliefen, oder wenn der Kirchenwächter mit seinem Spieß auch um das Gotteshaus zu gottesdienstlicher Stunde die Runde machte. Betrat er es, so geschah es meist aus Gründen, die mit dem Gottesdienstbesuch nicht zusammenhingen.

Wenn die Uhr aufgezogen wurde, lief er mit in den Turm hinauf und bändigte seine Nerven, wenn es in nächster Nähe knarrte und surrte und rasselte, ehe ihm der metallene Schlag um die Ohren dröhnte.

Wenn der zweitälteste Bruder, der Musikus, in Ferien kam und sonst kein Blasbalgtreter aufzutreiben war, mußte Reinhart dem Orgelspieler helfen, so schwer es ihm fiel. Nicht daß die Musik ihn angezogen hätte. Die Töne, die aus dem Gehäuse quollen, erschienen ihm hart und gewöhnlich, manche schreiend, und der Hauch, der aus den Mäulern der Pfeifen wehte, machte ihn frösteln, aber die Aussicht auf den Lohn ließ ihn stark und geduldig bleiben. Der Bruder hatte Briefmarken mitgebracht, die galt es zu erringen. Wie liebte er diese farbigen Zeichen: das feine lithographierte Brieflein auf den Ungarn, die Kreuze auf den ovalen grünen und roten Schweizern, die lange, schmale, braune und die ganz kleine rote England, die zierlichen Rußland, die italienischen Königsköpfe!

Beim Silvestergottesdienst durfte er im Kerzenschein mit dem Haufen der Bauernkinder unter der Kanzel sitzen. Bei der Taufe des jüngsten Bruders durfte er Zeuge sein. Ganz deutlich erinnerte er sich daran. Was an Kindern zu Hause war, stand um den guirlandengeschmückten Taufstein, ein stattlicher, lieblicher Kranz. Während aber der Vater in tiefem Ernst am Jüngsten und Letzten, den er ahnungsvoll Benjamin nannte, die Handlung vollzog, kam bei Reinhart zum Ausbruch, was ihm auch später oft zu unendlicher Pein und Scham widerfuhr: er lachte, er mußte lachen. Nicht als ob irgendein Anlaß dazu vorhanden gewesen wäre. Die Brüder waren andächtig und an den Zöpfen der Schwestern war alles in Ordnung, der Täufling schlief und die Hebamme war ganz Amtsperson, – aber gerade das war es. In dem Augenblick, da er der auch in seinem Herzen ausgebreiteten Andacht und Feierlichkeit bewußt wurde und ihr nun auch äußerlich Ausdruck geben sollte, da weit und breit weder Grund noch Scheingrund war, lustig zu sein, – bezeugte er die Bedeutsamkeit des Augenblicks durch ein törichtes Lachen. Und merkwürdig: der Vater, voll Ernst und Hingabe, ward in das Gebaren des Sohnes mit hineingerissen. Er begann einzelne Worte ungebührlich stark zu betonen, hüstelte, ohne Reiz im Halse zu empfinden, verzog die Lippe und biß darauf und kämpfte sichtlich, wenn auch mit besserem Erfolg, gegen die Schwachheit, der der Sohn keine Widerstandskraft entgegenzusetzen hatte. Dieses Lachen hatte bei Vater und Sohn mit Spott oder Fröhlichkeit oder Verlegenheit nichts zu tun. Wie oft ist es dem Sohne als Ungebührlichkeit vorgehalten und verübelt worden! Wie oft hat er es als Unnatur empfunden und gehaßt! Es hat ihn bis an die Schwelle des Mannesalters begleitet als ein Pfahl im Fleisch, aber auch als ein Richtpunkt, Männer und Kinder zu verstehen, die dem gleichen Übel unterworfen sind.

Inmitten der Straßenkreuzung, zwischen Schulhaus und Pfarrhaus, stand der Dorfbrunnen. Aus zwei eisernen Röhren fielen nach entgegengesetzten Seiten starke Wasserströme in zwei große steinerne Tröge. Auf dem kühlen Steinrand sitzend betrachtete der Knabe das starke, gleichmäßige, rätselhaft unerschöpfliche Fließen. Woher die überreiche Naturgabe wohl kam? Ab und zu nahm er eine der beiden Röhren ganz in den Mund und ließ den Strom in seinen Hals laufen. Wie wenig hat er später auf den längsten und heißesten Märschen getrunken! Aber Kinder haben Durst wie wachsende Pflanzen. Von seinem Steintrog aus sah er dem bescheidenen Verkehr zu, der über den Mittelpunkt des Dorfes hinwegging: den Erntewagen, die alle ein wenig eilig und gehetzt fuhren, als fürchteten Menschen und Tiere plötzlichen Wetterumschlag; dem Gefährt des Arztes aus einer der benachbarten Kleinstädte; der Glaskutsche des Prinzen Maximilian, die den Platz immer wieder im Schritt umkreiste, während die Prinzessin bei den Eltern Besuch machte; den Frauen und Mägden, die mit dem Brotteig auf dem Kopf langsam und steif zum Schloßgut hinunterwandelten, wo man backen lassen konnte. Dann und wann ratterte mit bändergeschmückten Gäulen die Aussteuer eines bäuerlichen Brautpaars vorbei. Vorn ein Wägelchen mit dem Kutscher und den Brautleuten, dahinter der »Bräutelwagen« mit dem Hausrat, von dem der hoch oben mit Stricken festgebundene, schaukelnde Kinderwagen, seltener eine Wiege, mit den funkelnagelneuen Einlagen am meisten ergötzte. Hörte man das Getrappel und stürmische Fahren eines Bräutelwagens, so rannte alles, was jung war, auf die Gasse, um die Eßwaren und Münzen aufzulesen, die von dem jungen Paar ausgeworfen wurden. Wenn es nur alle Tage vorgekommen wäre! –

Durfte Reinhart bei seinem Besuch im Heimatdorf das Häuschen des alten Braun unbesucht lassen? Häuschen oder Hütte, wie ihr wollt. Da es sauber und gut imstande war, ist's wohl ein Häuschen zu nennen. Klein und eng und darum Heimat eines kleinen Sinnes, – aber ein Stück Jugendland und eine von den Brunnenstuben, deren Kräfte geheimnisvoll fortwirkten. Im südlichen Teile des Dorfes liegt es, an dem aus dem Quellwald kommenden Bach, an der unteren Straße, auf der einmal, die ganze Breite des Weges einnehmend und mit den Lanzen in die Bäume der Gärten fahrend, Ulanen durchritten. Namentlich vormittags wurde der Knabe oft hierher geschickt, da es für die Ruhe des Hauses zuträglich war, wenn man ihn ein wenig »zu Brauns tat«.

Der Kopf des alten Braun war rundum in üppigstes Grau gehüllt. Er war ein mittelgroßer und mittelstarker Mann mit ruhigen Bewegungen. Ruhevoll sagte er das Wenige, das aus seinem Munde kam. Nie sah ihn der Knabe aufgeregt. Nie hat er die Ehrfurcht, die er beim ersten Besuche in seinem Hause empfand, verloren. Die Frau war ihrem Manne ähnlich in Gestalt und Haltung; auf ihrem gütigen Armeleutegesicht lag Heiterkeit, Güte und Furchtlosigkeit, auf ihrem dünnen weißen Scheitel die Weihe der Armut in Arbeit und Ehren. Die Leute galten etwas im Pfarrhaus. Als der junge, gelehrte Pfarrer sein Ende fühlte, ließ er den alten, erprobten Freund kommen, ihn zu segnen als einen Träger guten Samens.

In der niedrigen Stube, vor den Fenstern, deren doppelte Scheiben auch im Sommer doppelt blieben, standen aneinander befestigt zwei Webstühle für Meister und Geselle. Der Mann war Weber, »Schwartenrutscher«. Hier herrschte wohl Armut, aber eine Sorte von Armut, die den Knaben immer im Tiefsten erfaßt hat. Man tat wortlos, was zu tun war, fragte weniger nach der Mühe als nach der Treue, brachte es zu kleinen Ersparnissen, deren man sich kindlich freute, und teilte fürstlich davon aus, was noch mehr beglückte. In der Ecke saß der Meister in seinem Webstuhl, dicke, weißliche Strümpfe an den Füßen, und arbeitete. Dabei war sein Blick auf den vor ihm im andern Webstuhl sitzenden Gesellen gerichtet. Winzige Wollfläumchen lagen in der Luft. Das braune, glatte, reinliche Weberschiffchen flog durch die weißgraue Garnbahn, leise klapperte und knisterte es im Wundergefüge des Webstuhls, dann und wann, wohl bei wichtigeren Abschnitten der Arbeit, krachte und stöhnte der alte Rahmenbau in den Fugen seines Gebälks.

Die Frau brachte Wollgarn herein, das sie im Bach vor dem Hause oder im Hausflur gewaschen hatte, setzte sich an den Haspel und haspelte Spule um Spule voll. Ihr alter, schneeweißer Bruder, Girgmathes genannt, trat ein. Sein roter Kopf war in ständiger, ungewollter, wackelnder Bewegung. Reinhart fand das nicht lächerlich. Es war nicht anders denkbar, als daß der Girgmathes den ganzen Tag mit dem Kopfe wackelte. Wegen seiner rotgeschwollenen, tränenden Augen tat er ihm leid.

Im Öfchen zwischen der Stube und dem Alkoven wurden Kartoffeln weich für Mensch und Tier, oder »Weischrüben«, oder »Ranges«, gleichfalls für Mensch und Tier.

Und Reinhart selbst? Er saß auf dem Fußboden neben der guten Frau und dem surrenden Haspel und bildete seinen jungen, wachsweichen Geist. Dazu hatte man ihm zu Hause Bilderbücher mitgegeben, kleine Büchlein mit schwarzen Silhouetten auf weißem Grunde oder auch mit ganz schlichten weißen Figuren auf schwarzem Grunde, die ihn fast mehr beschäftigten als farbige Bilder. Das Höchste aber war es, wenn der alte Braun ihm einen seiner bildergeschmückten Kalender auslieferte nebst einer Schere mit der Erlaubnis die Bilder auszuschneiden. Das war für den Alten, der außer Bibel und Erbauungsschriften nicht viele Bücher besaß, entschieden ein Opfer. Für den Knaben aber war es Seligkeit. Ein Buch zerlegen! Die Holzschnitte von der störenden Textumrahmung befreien, ihnen ihre Eigenwirkung zurückgeben, sie nun rein als Bild auf sich wirken lassen, sich eine kleine Bildersammlung anlegen! Mit höchstem Genuß, sorgsam und umständlich, um es recht zu genießen, schnitt und schnitt er, von der ersten Initiale bis zur Schlußleiste, bis nur noch der zerklüftete Text übrig war. Diese Tätigkeit war aber auch eine Quelle der Erkenntnis. Grundlegende Anregungen natürlicher und geistlicher Art strömten ihm von den Bildern zu, die er still und gründlich, eines nach dem andern in sich aufnahm.

Am Sonntag war Braun ein anderer Mann. Da war die Luft rein von Wollfläumchen, die Webstühle ruhten. War der Kirchenrock ausgezogen, so stand er bei seinen Bienen am Bachrand oder er saß mit der Zeitung, der Brille und sonntäglichen Gedanken im Pflanzgärtchen hinter der Küche, wo neben Levkojen, Malven, Georginen, Fuchsschwänzen, Primeln, Schwertlilien, Stiefmütterchen, Vergißmeinnicht und allerlei anderen wohlgepflegten, von verschiedenen Orten zusammengetragenen Kostbarkeiten des Bauerngartens vor allem die Reihen der Lilien in ihrer hoheitsvollen Reinheit und stillen Schönheit das Herz des Kindes entzückten. An Ostern ließen es sich die Alten nicht nehmen, in ihrem Garten den Pfarrkindern den Hasen legen zu lassen. Tief im Buchs der Wegumrandung steckten die farbigen Eier. Dann aber empfingen auch die Festgeber ihren Teil: Buch und Bild und Spruchkarte und die kunstvoll verzierten Eier des ältesten Bruders.

Der Schreiner Neumeyer, der dem alten Braun gegenüber in einem ansehnlichen Hause wohnte, hatte ein braunes Gesicht, denn er war auch Jäger, und vorstehende Zähne und ziemlich hervortretende, etwas starre Augen. Seine Frau war lang und hager und wurde nicht runder, obwohl sie stets einen gefüllten Schmalztopf hatte. Wo gab es besseren Kaffee als bei ihr? Wer hatte immer wieder Gutsle oder ein Stück mürbes Gebackenes oder einen Zwetschgenkuchen oder sonst einen Herzenstrost, wenn nicht sie? Wer war so nobel wie sie? Wer konnte mit den Kindern plaudern wie sie? Hatte sie an den kleinen Gästen genug, dann setzte sie sie hinüber in die Werkstatt in die Hobelspäne des Mannes. Da saß Reinhart und schaute dem Meister und seinen Gehilfen zu, wie sie Türen und Fensterrahmen nach vorbedachtem Maß und Plan aus ungefügen Balken und Brettern herausarbeiteten, und wunderte sich der Herrschaft des Menschen über den Stoff. Dabei wühlten seine Hände in den Haufen des Sägspänmehls, das unter den groben und feinen Sägen der Arbeitenden neben ihn und auf ihn herabrieselte. Weich saß sich's da. An den Wänden hingen Schreinerskizzen, Jagdbilder und die Jagdflinte.

Ab und zu ward aber die angefangene Arbeit plötzlich abgebrochen. Bretter minderer Güte wurden vom Lager geholt, dazu weiße, durchbrochene Papierspitzen, ein Kruzifixus aus Papier oder Bronze, allerlei Inschriften; schwarze oder braune Farbe wurde angerührt. Es wurde ein Sarg gemacht. Meister und Geselle arbeiteten hurtig, anfangs mit ernstem Gesicht, dann gleichmütig und wohl auch wieder vergnügt an dem Menschenhaus und brachten es jedesmal pünktlich in der gesetzten Frist fertig. Nur der starke Geruch des frischen Lackes verriet die Eile. Reinhart sah aufmerksam zu. Er fragte nicht und sie sagten ihm nicht, daß es eine Totenlade würde. Sie wagten's nicht zu sagen und er wagte nicht zu fragen. Er sah ja selbst, was da entstand, und wo der Kopf und wo die Füße zu liegen kamen, erkannte er deutlich. Die Aufschriften konnte er nicht lesen, aber die Bedeutung des Kruzifixus war ihm ohne weiteres verständlich, – den wollte man doch mitnehmen. – –

Ach und dann wurde ein besonders schöner Sarg gezimmert und ins Pfarrhaus hinauf getragen. Bei seiner Anfertigung war der Knabe nicht zugegen. Drum hat er auch die Tränen des Meisters und der Meisterin nicht gesehen. Man schickte ihn ins Schloßgut hinunter, denn man wußte, daß er dort bei dicker Milch und Schwarzbeeren – es war Anfang Juli – weniger fragen und leichter über die schweren Tage hinwegkommen würde. Er war nun fast sechs Jahre alt und das Fragen lag nahe.

Der Sarg war der seines Vaters. Der Wald hinter Brauns hat wohl das Holz dazu hergeben müssen, vielleicht gar der Quellwald. Als Reinhart eines Morgens erwachte, merkte er deutlich, daß eine durchgreifende Veränderung eingetreten sein mußte. Daß seit einigen Tagen eine ungeheure Spannung auf dem Hause lag, hatte er gefühlt. Die kleineren Geschwister wagten, wenn sie zu Hause waren, nicht laut zu reden, das Fuhrwerk des Arztes war immer häufiger zu sehen, der Verkehr mit der Stadt war immer reger geworden, die auswärtigen Geschwister waren gekommen, außerhalb der üblichen Zeit und ohne die sonstige Fröhlichkeit. Die ganze Familie zog sich zusammen und doch fühlte man, daß nichts Frohes, sondern etwas überaus Feierliches, Ernstes, Erhabenes und auch Schmerzliches der Anlaß sein müsse, irgendein einschneidendes Ereignis, dem alle beiwohnen wollten. An jenem Morgen hatte sich das Rätsel gelöst. Die Mutter hob den Knaben aus dem Bett und drückte ihn an sich, ohne ihn anzusehen; die von den letzten schlaflosen Nächten und dem Kampf mit dem Furchtbaren müde und scheu gewordenen Augen in sich gerichtet, sagte sie: »Der Papa ist nun im Himmel!«

Reinhart sah, daß des Vaters Leib nach wie vor da war. Aber er fühlte deutlich, daß das nicht der eigentliche Papa war, den er liebte und fürchtete. Es war ein Zwischending zwischen einem Menschen und einer Sache. Ungemahnt schickte er sich in die tiefe Stille, die nun vollends im Hause eintrat, half Blumensträuße und Kränze in Empfang nehmen, die Julipracht und Menschenliebe bescherten, – die schönsten kamen von den Diakonissen im Ort und von anderen Schwesternstationen. Er bewunderte im stillen die Palmzweige, die umständlich verpackt von den Verwandten aus der Ferne und von gelehrten Freunden des Verstorbenen eintrafen.

Als die Aufbahrung in der Vikarsstube unten rechts vom Eingang, die nun die Totenstube wurde, vollendet war, stellte sich der Knabe immer wieder an den Sarg, dessen frischer, herber Lackgeruch sich mit Strömen von Blütenduft und mit dem Kleidergeruch der Leute mischte, die den ganzen Tag über kamen, sich von ihrem Pfarrer zu verabschieden. Reinhart war fast sechs Jahre alt und konnte das bewußt miterleben. O, er sieht noch heute den Vater im Sarge liegen. Je öfter er ihn ansah, um so weniger fürchtete er sich vor der gar so blassen Farbe des Toten. Das tiefe Schwarz des Haupthaares und Bartes und vollends die Blumenpracht milderten die Farbe des Todes. Die Augen waren geschlossen, aber noch redeten die Züge des edlen Angesichtes gar deutlich auch zu ihm. Die edelgebaute, gebietende Nase, die hoheitsvolle Stirn, der kraftvolle Mund, den Leid und Stolz, Verzicht und Trost umspielten, sagten, was für einer hier lag. Auch Reinhart sah das alles in der Tiefe seiner Seele. Er fühlte schon länger, daß sein Vater ein Besonderer war. Das freilich wußte er noch nicht, daß da ein 42jähriger lag, viel zu früh, zu höherem berufen als zum Dorfpfarrer.

Die umflorten Kerzen brannten tiefer und tiefer. Und immer wieder glänzten in ihrem Schein Tränen und immer wieder auch die Tränen der Mutter, wenn sie sich zum Haupte ihres Mannes herabbeugte, um sein Bild in sich aufzunehmen. Der Knabe begriff nicht, wo all die Tränen herkamen. Und sie weinte doch schon seit Jahren!

Und dann kam der Hirschheimer Pfarrer. Die Mutter, die Geschwister groß und klein, die anderen Hausgenossen und wer sonst wollte, Diakonissen und Gemeindeglieder, stellten sich um den Sarg und man hielt die Aussegnung. Reinhart verstand davon nichts. Aber er merkte, das war nun der Abschied von Haus und Amt und Menschen. Das mußte wohl so sein, ehe man den Sarg verschloß und hinaustrug.

Dann ging er mit den andern in die Familienstube hinüber und stellte sich ans Fenster. Die Männer, die den Sarg trugen, riefen sich in ihrer dörflichen Ausdrucksweise kurze Ermunterungen zu, damit es leichter und gleichmäßiger ginge. Sie trugen behutsam, denn es war ihr Pfarrer. Draußen am Brunnen stand ein schwarzverhängter Wagen vom Schloßgut; regungslos standen die schwarzumflorten Braunen. Während die Schulkinder sangen, zu singen versuchten, wurde der Sarg hinaufgehoben und sorgsam festgebunden. Dann wurde er in langer Fahrt, Tag und Nacht hindurch, nach Freudenau gebracht. Dort war der Vater früher im Amte gewesen, dort war sein Meister Löhe begraben, dort wollte auch er ruhen. Ein zweiter Wagen mit schwarzgekleideten Männern folgte dem Totenwagen.

Reinhart hatte keinen Vater mehr. – Ist aber der Vater Pfarrer gewesen, dann müssen Witwe und Waisen ans Wandern denken, mag ihnen Haus und Gemeinde und Garten und Wald noch so sehr zur Heimat geworden sein. Ein halbes Jahr hat man noch Frist, alles zu überlegen und aufzulösen. Bei Reinharts Mutter wurde aus dem halben Jahr ein ganzes. Was der Grund der besonderen Nachsicht war, ist Reinhart unbekannt geblieben. Es war eine stille Zeit in Erwartung künftigen Entbehrens und über der Stille hingen die dunklen, drückenden Wolken der Sorge, der Sorge um die Gesundheit der Mutter, um die Begleichung von allerlei Verbindlichkeiten, die aus der langen Krankheit des Vaters erwachsen waren, und was sonst ein angehender Witwenhaushalt mit neun Kindern an Sorgen bringt. Aber es war noch ein Jahr Heimatdorf. Unten in der Totenstube wohnte bald ein Vikar. Waldmeyer hieß er und war ein freundlicher Mann. Er begegnete den Kindern mit brüderlicher Kameradschaftlichkeit und der Mutter mit Ehrerbietung und dem Vertrauen eines Sohnes.

In diese Zeit fällt Reinharts erste große Reise. Die Großeltern im Dorfe bei Leipzig wollten schon lange und nun besonders nach all dem Schweren die Tochter wiedersehen und ein wenig bei sich ausruhen lassen. Die Lösung von der Kinderstube, auch von dem halbjährigen Kleinsten, und die Luft des Elternhauses sollten ihr neue Kräfte geben zur Wanderung ins Neuland. Reinhart, der Größte unter den vier Kleinsten, durfte sie begleiten. Am dritten Tage wurde Leipzig erreicht.

Ein Wagen brachte sie in das eine Stunde entfernte Dorf, wo der Großvater Pastor war. Ehe sich die Mutter der Elternliebe und dem Gefühl zu Hause zu sein, hingeben konnte, mußte sie ärztliche Hilfe in Anspruch nehmen. Unter seelischer Bedrückung und körperlichen Schmerzen öffnete sich langsam das Herz dem Hauche der Heimat.

Reinhart fühlte sich hier fremd. Die Sprache seiner Umgebung war ihm ungewohnt, sie dünkte ihm unendlich feiner als sein Fränkisch. Die ungewohnten strengeren Lebensformen muteten den harmlosen Lebensgenießer kühl an und erschienen ihm übertrieben. Der Großvater war ein ehrwürdiger, gütiger Mann, der viel mit seiner Tochter sprach und auch ab und zu dem stillen Knaben ein Scherzwort zuwarf. Gern gab er ihm Rätsel auf, – Reinhart vermochte aber weder damals noch später Rätsel zu lösen. Zumeist blieb er dem Knaben unsichtbar; es hieß, er sei beschäftigt. Die Großmutter beobachtete den kleinen Gast, suchte sein Wesen und seinen Charakter aus allerlei Äußerungen zu ergründen, um seiner Mutter Ratschläge zu geben. Die erwachsene unverheiratete Tochter nahm ihn mit in den wohlgepflegten Garten, dessen wohlbekannte Erzeugnisse andere, feinere Benennungen führten, steckte ihm eine Kirsche oder Stachelbeere oder Zuckererbse in den Mund und hieß ihn die Birne holen, die eben gefallen war. Sie trieb gern Spaß mit ihm, doch nicht immer zu seiner Freude, da sie besonders gern seine fränkischen Ausdrücke, sein »gelt, net, fei, halt«, wiederholte.

Der etwas feierliche, patriarchalische Ton des großelterlichen Hauses bedrückte den kleinen Franken. Dazu ließ ihn die Mutter viel allein. Sie wollte offenbar ganz Tochter sein und ahnte wohl, daß sie das letzte Mal im Elternhause war.

Zu Reinharts Trost gab es auf dem landwirtschafttreibenden Pfarrhof Pferde und Kühe und neben der Scheune Schweineställe, deren Insassen in den geräumigen Pferch im Hofe getrieben wurden. Die Magd, eine Polin, führte mit dem Knaben eine stammelnde Unterhaltung. Der Knecht ließ ihn auf dem Braunen reiten und hörte mit Befriedigung das Jauchzen des Kleinen, der bald stolz und furchtlos auf dem schwankenden und stoßenden Tiere saß.

Wiederholt nahm man ihn mit nach Leipzig hinein. Die überwältigende Größe aller Verhältnisse, die Unrast des Lebens, die verwirrende Vielfältigkeit der Erscheinungen, hinter der der Dorfknabe eine alles vergewaltigende, niederhaltende, zur Anpassung zwingende Vereinerleiung witterte, machte ihn klein und einsam. Er begriff nicht, wie man so leben könne und wolle.

Man brachte ihn in das Haus des Onkels, das heißt in den Teil des großen Hauses, in welchem er Geschäft und Wohnung hatte. Erst unten ins »Geschäft«. Ganz hinten, mit dem Blick auf einen sonnenlosen, gepflasterten, von hohen Gebäuden eingeschlossenen Hof, unter einer schon am frühen Nachmittag brennenden Lampe saß der Onkel rauchend und schreibend. Ab und zu kam er aus seinem Arbeitswinkel hervor, wenn man ihn rief oder wenn er bemerkte, daß ein besonderer Kunde in den Laden gekommen war. Vorn bedienten die Angestellten des Ausstattungsgeschäftes hinter Tischen und auf Leitern die Käufer. Trat die Mutter mit Reinhart ein, so wurde sie von dem Onkel im Schreibraum empfangen und zum Sitzen aufgefordert. Der Onkel sprach herzlich und tröstlich auf sie ein und strich immer wieder über den Kopf des Knaben und blitzte ihn mit seinen hellen, unternehmenden Augen an, als wolle er dem langsamen Kinde die raschere Art seiner Familie und den unternehmenden Geist seines Berufs einhauchen. Dann geleitete er sie über viele, viele breite, ausdruckslose Treppen an kalten, getünchten Mauern vorbei hinauf in seine Wohnung, wo die Tante und die Kinder sie begrüßten. Für die Mutter war es ein Wiedersehen mit den Nächsten, für den Knaben eine Probe seines Stillehaltens, seiner Geduld. Daß es möglich war, täglich bis ein halb zwei Uhr mit dem Mittagessen zu warten, erschien dem Dörfler unerhört.

Ein freudiges Erlebnis ward ihm aber doch zuteil. Man führte ihn in einen prächtigen Schuhladen und kaufte ihm ein Paar wundervolle »Rohrstiefel«, Schaftstiefel, die man wie eine Harmonika beliebig länger und kürzer tragen kann.

Freilich wurde damit gleich ein schmerzlicher Gang verbunden. Man ließ ihn photographieren. Der Geruch der Chemikalien, die elegante Ausstattung der Räume, das vertraut-gewalttätige Wesen des Photographen, der, als ihm der Knabe überlassen wurde, die Verfügung über dessen Körperhaltung und Gesichtsausdruck an sich riß, machten ihn unsicher. Tränen stürzten ihm aus den Augen und er bat, ihn lieber nicht zu photographieren. Erst nach einiger Zeit konnte die Handlung vor sich gehen. Es wurde übrigens ein nettes Bild, mit dem Reinhart der Mann nun die eigenen Söhne vergleichen kann: stramm und gesund, untersetzt, ein runder Kopf, das dichte, dunkle Haar ganz kurz geschoren, der Blick von Tränen verschleiert, aber doch ein Bubenblick.

Die Heimreise ging ohne Unfall von statten. Mutter und Kind schlüpften wieder unter das pfarrhäusliche Dach. Der Knabe stand wieder auf der vertrauten, ruhig-sicheren Dorfstraße. –

Um die Kinderschar in Ruhe zu halten, wurde eine Art Heimarbeit eingerichtet. Alte Woll- und Tuchreste wurden in Streifen von Doppelfingerbreite geschnitten, und nun saß man um den großen Tisch mit der grünen, schwarz gemusterten Wachsdecke, jedes mit Nadel und Faden versehen, um die Streifen aneinander zu nähen zu langen, schmalen Bändern, die dann zu Knäueln aufgewickelt wurden. Das behagliche Gefühl, das ein so großer Kreis still arbeitender Menschen mit sich bringt, schloß die Teilnehmer zusammen. Ein reger Wetteifer erwachte. Eifersüchtig verglich man das Wachsen der Knäuel. Meist wurden Geschichten dazu erzählt. So verging die Zeit, die Kinder verhielten sich ruhig, auch geschah etwas Nutzbringendes. Die Fleckchenbänder wurden auswärts zu derben, bunten Fußteppichen verarbeitet.

Die Zeit des Abzugs aus dem geliebten Ort und Haus nahte. Wo wird sich die Mutter mit den neun Kindern niederlassen? Diese Frage löste der Tod.

Ein Jahr nach dem Tode des Mannes, als es wieder Sommer geworden war, war auch der Mutter Kraft erschöpft. Sie lag in ihrem kleinen Kabinett über der Küche, nach dem Garten hinaus, unter dem Weinlaub, das aus dem Garten bis zu ihrem Fenster emporstieg. Auf dem Teppich neben dem Bette sitzend leistete ihr Reinhart häufig Gesellschaft, sein stilles Wesen tat ihr wohl. Sie hatte ein Kind um sich, ohne Mühe davon zu haben. Dann aber vertrug sie auch ihn nicht mehr. Wieder umkreiste der Wagen des Arztes immer häufiger den Brunnen vorm Haus. Wieder erschienen die älteren Geschwister außerhalb der Ferienzeit. In einer Nacht traf aus Freudenau der Seelsorger der Mutter ein, um am andern Morgen wieder abzureisen. O, Reinhart sieht es noch ganz genau, wie sich an einem Spätnachmittag alle Geschwister schweigend und weinend vor dem Bette der Mutter versammelten, wie diese ein Kind nach dem andern segnete und die Töchter mit kleinen Andenken beschenkte. Er weiß nicht mehr, was sie zu ihm sagte. Vielleicht spielte sie auf seinen Namen an, den ihm der Vater mit dem Wunsche gegeben hatte, er möchte allzeit reines Herzens sein. Reinhart weiß es nicht mehr. Er empfand aber deutlich, daß es sich um das Fortgehen der Mutter handelte, und daß diese Gewißheit alle Umstehenden erschütterte.

Meister Neumeyer machte den zweiten, etwas größeren Sarg für das Pfarrhaus, und die Vikarsstube war wieder Totenstube. An derselben Stelle, wo ein Jahr vorher der Vater gelegen hatte, lag nun die Mutter. Einfacher freilich und bescheidener war alles. Auch sie war von vielen Blumen umgeben und von sinnigen Zeichen der Liebe und der Hoffnung vieler Teilnehmender und ehrlich um sie Trauernder, denn sie war eine gütige Frau und lebte, was sie glaubte, und die Fäden ihrer Wirksamkeit gingen, so still sie war, weit in die Menschheit hinein. Aber es war eben die Frau und ihr Leben verlief mehr in der Verborgenheit, darum war auch ihre Aufbahrung schlichter. Wenn man die Rosen, unter denen sie lag, beiseite schob und ihr Angesicht aufmerksam betrachtete, mußte man lange hinsehen, bis es zu reden begann. Dann aber gewahrte man die verhaltene Liebeskraft und Geduld, die freudige Entschlossenheit, die in ihrem Leben bei aller Zurückhaltung und Schüchternheit immer wieder hervorbrach, und es war, als wenn der schmerzlich verzogene Mund, der auch im Leben so voll Harm sein konnte, spräche: »Zählet die Tage und Jahre, aber sehet auf ihren Inhalt; ich habe nicht lange gelebt, aber glaubet mir, ich habe gearbeitet und bin auch fertig geworden, ja vollendet; und eins, – nun bin ich frei!« Reinhart half die Rosen wieder um das stille Haupt mit dem blonden Scheitel ordnen und beteiligte sich ein wenig an dem leisen Weinen, das immer von neuem durchs Zimmer ging. Wieder stand er am andern Tage in der Wohnstube am Fenster und sah den verhängten Wagen vom Schloßgut mit den zwei Braunen am Brunnen stehen. Wieder wurde die Leiche Tag und Nacht hindurch nach Freudenau gebracht. Die Mutter wollte an der Seite ihres Mannes ruhen, nicht ferne von dem gemeinsamen Lehrer.

Der Leichenwagen fuhr diesmal ohne Begleitwagen, es war eben alles einfacher und bescheidener. Die Angehörigen reisten mit der Eisenbahn zur Beerdigung. Auch Reinhart wurde mitgenommen.

Da Freudenau damals noch nicht Bahnstation war und alle verfügbaren Gefährte belegt waren, ging er mit einer Anverwandten der Verstorbenen den eineinhalbstündigen Weg von der Station aus zu Fuß. Es war ihm merkwürdig, wie die Umgebung zu dem traurigen Anlaß der Reise stimmte. Die meisten Felder waren abgeerntet, die Straße staubig, die Dörfer still. Ach und die Föhrenwälder mit den nackten Stämmen und flehenden Ästen und armseligen Kronen auf dem mageren Sandboden! Als der Weg mäßig zu steigen begann, tauchten in der Ferne Häuser auf, die vom bäuerlichen Stil abwichen, – das war Freudenau.

Es war kein Dorf, wie es der Knabe gewohnt war, sondern eine Anhäufung von schlichten, nicht gerade schmucken, aber doch überaus freundlichen, vermutlich sehr praktisch eingerichteten Gebäuden, deren sparsame Anmut durch Gartenanlagen, die man dem mageren Boden abgewonnen hatte, wesentlich gehoben wurde. Die Hauben der Schwestern und ihr flotter, flinker Gang waren ihm von der Heimat her bekannt.

Bei verschiedenen Besuchen wurde er mitgenommen. In einem merkwürdig niedrigen Gemach durfte er mit auffallend kleinen Menschen aus alten Tassen Kaffee trinken; Streußelkuchen stand auf dem Tisch, in winzige Stückchen geschnitten. Die Hausfrau, eine Matrone mit einer weißen Haube, wie die Leipziger Großmutter sie trug, war an den Fahrstuhl gebannt. Ihre sehr kleine, durch Verwachsung noch kleinere, unverheiratete Tochter führte mit feiner, weicher, hoher Stimme die Unterhaltung. Reinhart war ausschließlich Zuhörer, aber er verstaute die neuen Eindrücke sorgfältig in seinem Innern. Dann ging's in ein anderes, ungemein zierliches, villenartiges, von Bäumen umhegtes Häuschen, in dem eine sehr kleine, ledige, adelige Dame dem geistigen Anschluß an die Diakonissen und der Wohltätigkeit lebte. Mit größter Herzlichkeit wurden sie auch hier bewirtet, das Kind mit einer Spieldose und anderen Seltsamkeiten unterhalten.

Dann kam der Tag der Beerdigung. Ein großer Trauerzug geleitete die ehemalige Schülerin und Pfarrfrau, die geistige Schwester zu Grabe. Langsam, unter edlen Gesängen bewegten sich die vielen weißen Schwesternschürzen und -Schleier, die Schülerinnen mit den Abzeichen ihrer Stufe, die Posaunisten, die dunkle Masse der Ortsgemeinde, von der Diakonissenkolonie durch das ärmliche Dorf, dann im rechten Winkel etwas bergan zum Friedhof. Reinhart war ein Kind, wußte, was vorging, aber nicht, worum es sich handelte. Als er am Ausgang des Dorfes, nach der scharfen Wegbiegung, zurücksah, wurde er von der Länge des Zuges und dem tiefen Ernste der langsam schreitenden Menschen so erschüttert, daß ihm die Augen übergingen. Tränen?! Das durfte niemand sehen; nein, er weinte nicht, auch heute nicht, gerade heute nicht, gerade weil so viele weinten, nicht. Er riß sich innerlich zusammen und gebrauchte dazu ein eigentümliches Mittel. Er dachte mit aller Kraft an einen Münchner Bilderbogen daheim, der mit der Strophe begann:

»Die Herrn Gebrüder Matzeles
befinden sich recht wohl;
der eine macht in Schachtelkäs,
der andere in Stanniol.«

Diese Worte, die ihm im Gedächtnis geblieben waren, wiederholte er inbrünstig, so oft die Tränen kommen wollten und kämpfte so in seiner Weise sein Leid nieder. Am Grabe geriet er in den Haufen der Erwachsenen, konnte darum von der Handlung nichts sehen. Er hörte aber einiges. Er hörte, wie nach dem Pfarrer ein geistlicher Onkel aus Sachsen das Wort nahm, er hörte den von Posaunen getragenen Grabgesang, er hörte, wie die Schollen auf den Sarg fielen. Sie bedeckten sein Kinderglück; die Blumen, die weich dazwischen fielen, vermochten das nicht zu ändern. –

Reinhart hat in späteren Jahren den Friedhof von Freudenau immer wieder aufgesucht. Manchmal mit Fremden, ihnen von denen erzählend, die hier von weitreichender und tiefschöpfender Arbeit ausruhten; manchmal mit Geschwistern oder Verwandten. Am liebsten allein. Er kann sich auch heute keine lieblichere Totenstätte denken als diese. Kein Haus stört mit seinem Kleinleben den Ruheort. Auch keine lärmende Straße, – nur auf der einen Seite führt ein bescheidener Feldweg in die Flur hinaus. Kein Obstbaum macht den Totengarten zum Nutzgarten. Birken und Ulmen, Eschen, Akazien und Cypressen rauschen im Winde, der hier auf der höchsten Erhebung der Hochebene nie ganz ruhen will. Kornfelder schlafen und sprossen und rauschen ringsumher, im Sommer legen sich ihre Halme schwer über die niedrige Mauer. In der Ferne stehen die sanften Linien der fränkischen Berge. Wie oft hat Reinhart hier ein wenig ausgeruht auf seiner Lebensreise, der Eltern gedacht und des früh verlorenen Jugendlandes, des Zusammenhanges von Arbeit und Ernte, von Eigenart und Übertragung, und hat dann den Wanderstab ergriffen und ist wieder ins Leben gegangen. – –



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