Jakob Wassermann
Drei Erzählungen
Jakob Wassermann

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Der niegeküßte Mund

Erstes Kapitel

Schon von ferne sieht man den gelben, alten, fünfeckigen Turm mit seinem dunklen Ziegeldach, das einer Nachthaube gleicht. Er schließt eine breite, stille Straße mit seltsam regelmäßigen Häusern ab, die sich wie Zierrat ausnehmen. Mit seinem Torbogen scheint er auf den gebrechlichen Schultern zweier Häuser zu stehen; das eine ist die Wirtschaft zum lustigen Pfeifer, das andere gehört dem Doktor Maspero. Die Straße setzt sich verengert bis zum Marktplatz fort, welcher den Eindruck eines städtischen Mittelpunkts macht. Viele ruhige Gassen und Gäßchen zweigen von da ab: zum Schießanger, zur Altmühlbrücke, zur Kirche, und ein ganz schmaler Gang zwischen der Apotheke und dem Bezirksamt zur jüdischen Synagoge, einem lustigen Bau aus rotem Backstein, gekrönt von zwei dickbäuchigen Kuppeln. Ringsherum zieht sich ein weitläufiger Obstgarten, der den Tempelvorhof gegen die Straße frei läßt. Aber diese Straße hat nur noch ein einziges Stirngebäude, eingeklemmt zwischen uraltem Häusergerümpel, doch nicht minder alt und nicht minder baufällig: das Schulhaus. Sechsundsechzig Kinder, Knaben und Mädchen, werden hier täglich von Herrn Philipp Unruh in die Geheimnisse des Alphabets und der Arithmetik eingeführt.

Es gibt Namen und Namen. Manche sind ihrem Besitzer wie aus dem Wesen geschnitten, manche passen zu ihm wie etwa die Synagoge zum Obstgarten. Ein solcher Obstgarten, um den Vergleich müde zu machen, war der Name jenes Lehrers. Er selbst und der Kreise seines Daseins waren voller Ruhe. Die kleine Stadt lag unter dem Horizont der Ereignisse. Die Leute von Gunzenhausen verrichteten ihre Geschäfte bei Tage und schliefen in der Nacht und von eisernen Gesetzen wurden die Stunden geregelt. Uhren und Kalender hatten nur einen äußerlichen Wert. Die Glocke schlug, aber was sie schlug, brauchte an keines Hörers Ohr zu tönen. Die Zeit ging, wie sie seit Ewigkeiten gegangen war, aber wohin sie ging, gab keinem Verstand ein Rätsel. Nur die Eisenbahnzüge, die das friedliche Altmühltal hinab- und hinaufrollten, brachten einen Duft von Welt mit, von Geschehnissen, vom Wandel der Dinge, von den traurigen und heiteren Spielen, die in den Ländern vor sich gehen, welche eingespannt liegen zwischen den Ozeanen.

Philipp Unruh war also ein Ruhiger mit den Ruhigen. Er war auch kein Philippos, kein Pferdefreund, sondern eher der beschaulich schreitenden Katze zugeneigt. In seinem Amt war er weder rühmenswert, noch gab er zu tadeln Grund. Seit einem Dezenium rollte das Jahrwerk ab ohne sein Hinzutun. Es glitt ihm vor den Händen vorbei, ähnlich wie bei geschickten Arbeitern, die ohne Augen, ohne Licht vollbringen könnten, was Zwang und Gewohnheit sie gelehrt. Der Tag zerfiel in Stunden; einzelne Stunden bedeuteten Fächer, und jedes Fach war ein Häuflein Eingelerntes, bereit, in ein Schock mehr oder minder williger Gehirne gestopft zu werden. Diese kleine Maschinensammlung um Philipp Unruh war seine Schule, in welcher er gleichmütig herumschritt und hantierte und mit Wohlwollen und kühler Befriedigung dem ordnungsmäßigen Verlauf der Dinge anwohnte.

Derselbe Mann, der weder alt noch jung, weder lustig noch traurig, weder lebendig noch tot war, hatte eine Liebhaberei, welche fast mehr als diesen Namen verdiente, weil sie den eigentlichen Zirkel seines Wesens überschritt. In seiner dumpfen Kammer, aus der der hellste Sommertag die Dämmerung nicht vertreiben konnte, weil rings Dächer und Galerien ihr den Himmel nahmen, gab es eine lange Reihe von Folianten: Chronika und Memoria und ernsthafte Darstellungen, die Geschichte aller Zeiten und Völker enthaltend. Dann las und grübelte, studierte und spekulierte Philipp Unruh seit Jahr und Tag. War gleich gelehrter Eifer im Spiel, – etwas wie Abenteuergelüst war sicher auch dabei. Und wohl noch eines. Während um ihn die Zeit starr lag gleich einem gefrorenen See, erblickte er durch seine Bücher ein aufgewühltes Meer von Leben. Für ihn war die Gegenwart nur der Schatten, das lautlose Widerspiel der bunten, glänzenden gefährlichen und anziehenden Vergangenheit. Seine Stube, das zufriedene Städtchen, das stille fränkische Land, das war die Gegenwart. Die Vergangenheit war Europa, Asien, Ägypten, waren mörderische Schlachten, strahlende Revolutionen, versinkende Reiche. Hier war der Doktor, der Apotheker, der Bürgermeister, der Schulrat. Dort war eine Gesellschaft von Königen, genialen Feldherrn, erhabenen Verbrechern, blutgierigen Empörern, ruhmvollen Märtyrern und unerschrockenen Entdeckern. Es gab glänzende Künstler, Propheten, falsche Herzöge, aufopfernde Bürger, heroische Weiber, Vaterlandshelden und märchenhafte Städte. Und solchem Reichtum gegenüber, der unerschöpflich vor ihm lag, der seine Sinne entzündete, seinen Geist bewegte, seine Träume mit unvergleichlichen Gestalten bevölkerte, sollte ihm der matte Tag noch etwas bedeuten? Er ahnte das Schicksal, das seine Hand von Jahrtausend zu Jahrtausend spannt, das die Kleinen vernichtet, um die Großen zu erhalten; das ganze Länder verbrennt, um die Asche zum Mörtel für das Häuschen eines Heilands zu verwenden, das jedes Ereignis menschlichem Maß entrückt, jeden Zufall zur Bestimmung wandelt. Deshalb hatte sich unter seinem rötlichen, buschigen Schnurrbart jenes Lächeln eingenistet, das ebenso kindlich war, wie es für weise gelten konnte. Deshalb hatte er kein Verständnis für die kleine Spottsucht des Doktor Maspero und keine Teilnahme für den Kummer der Frau Süßmilch, deren Töchterchen dem ABC seindlich gegenüber stand. Der Herr Adjutant (man nannte ihn so, obwohl niemand sich erinnern konnte, ihn jemals in einer Uniform gesehen zu haben) sagte, der Unruh zähle seine fünfunddreißig Jahre doppelt. Und da er es zu Frau Federlein sagte, welche die Frau des Nachtwächters war, erfuhren es alle Leute, die in der Abgeschlossenheit des Lehrers etwas Verdächtiges und Geheimnisvolles sahen.


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