Jakob Wassermann
Alexander in Babylon
Jakob Wassermann

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Viertes Kapitel

Die Makedonier

Inzwischen hatten sich die Heere Alexanders am Flusse Kufisu versammelt. Dort lag Opis, die »schwarze Stadt«, die Stadt vieler Raben, vieler Gräber und vieler Tempel, in denen der Mondgott, der Todesgott und der Pestgott besonders verehrt wurden.

Im makedonischen Lager fanden große Zusammenrottungen statt. Das Gerücht von den dreißigtausend herannahenden Persern war endlich Gewißheit geworden. Der Ingrimm der Makedonier nahm von Stunde zu Stunde zu. Barbaren in makedonischer Rüstung, die Besiegten, das Schwert des Siegers führend, die Fremdlinge, eingereiht in den festen Kern der heimatlichen Truppe, in die Edelscharen, ja sogar in die Leibschar Alexanders!

Am fünften Tage kamen die Perser. Um die Mittagszeit trafen sie ein, in wohlgeordneten Scharen zogen sie von den nördlichen Bergen herab. Es waren stille tapfere Jünglinge, die meisten kaum dem Knabenalter entwachsen. Sie waren von dunkler Hautfarbe, das dunkelbraune Haar trugen sie schlicht, und sie hatten nicht viereckige Köpfe wie die Griechen und Makedonien sondern ihr Schädel war von feinem Ei-Oval mit mäßig hohen Stirnen, großen, langlidrigen Augen von phlegmatisch leidvollem Ausdruck und bogengewölbten Brauen. Ihre Hände und Füße waren überaus klein, frauenhaft zart die Gelenke, anmutig und beweglich die Gestalt. Sie wurden von den Makedoniern mit Hohn und Erbitterung empfangen; ein älterer Rottenführer, der ein wenig über vergangene Zeiten Bescheid wußte, erinnerte seine Freunde an jenen Spartanerkönig, der einst vor der Schlacht die gefangenen Perser den Soldaten nackt zur Schau stellte, damit sie einen solchen Gegner verachten lernten.

Am Abend versagte ein großer Teil des Makedonierheeres den Gehorsam. Sie verließen ihr Lager, durcheilten die Söldnerstadt und verbanden sich mit Phason und seinen Edelscharen, die unter den Mauern von Opis lagen. Schweigend zogen sie durch die Tore und gegen den Palast. Dort verlangten sie mit fortgesetzten dumpfen Rufen nach Alexander. Sie wußten, daß Alexander, der mit der Stromflotte den Tigris herauffuhr, noch nicht angekommen war, aber sie betäubten einander dadurch, daß sie seinen Namen in die Luft schrien. Phason, der Erbittertste von allen, pochte mit seinem Schwertknauf im Takt ihres Gelärms an das bronzene Haupttor des Palastes.

Nun erschien Hephästion mit den Leibwächtern Seleukos und Peithon. Während er heruntereilte, blieben die andern bestürzt am Rande der äußeren Terrasse stehen. Ihr beruhigendes Winken, ihre stockenden, drohenden Reden, das fürstliche Ansehen ihrer hohen Gestalten, – nichts half. Gräßliches Geschrei unterbrach sie, brennende Fackeln wurden emporgeworfen, ununterbrochen gellte, donnerte, kreischte es empor: Alexander! Alexander! Immer von neuem der einzige Name. Sie klatschten die Hände zusammen, stampften auf den Boden und stießen johlende Pfiffe aus.

Hephästion fand verschlossene Ohren. Seine Stimme verhallte im Getöse. Er ging unter ihnen umher, redete den Einzelnen ins Gewissen, erreichte auch durch seine warmen, männlichen Worte, daß der eine oder der andere stutzig wurde und für eine Weile schwieg, aber wenn er nur den Rücken wandte, stürzten sie sich mit verdoppelter Wildheit in den Strom der allgemeinen Leidenschaft. Hephästion spürte wohl, daß er seine Kraft umsonst vergeude; was er zu halten wähnte, entwand ihm der nächste Augenblick, je größer sein Bemühen wurde, je heftiger tobte der Aufruhr. Sie reckten ihm die Fäuste entgegen, sie heulten auf ihn ein, sie erschlugen ihm die Worte im Mund. Erst als er sich zurückzog, aufs äußerste erschöpft, wurden sie ruhiger. Man brachte ihm die Nachricht, daß sich die Rundschildner und die Silberschildner gleichfalls erhoben hätten. Er schickte reitende Boten zum Tigris, um Alexander, der jede Stunde eintreffen mußte, zur Eile zu drängen.

Hephästion ging nicht ins Haus. Obwohl er der Ruhe sehr bedurfte, schritt er unablässig auf der Höhe der Terrasse auf und ab, den entflammten Sternenhimmel über sich, gierig die kühle Nachtluft einsaugend. Stunde auf Stunde verrann ihm in gramvoller Gedankenlosigkeit. Seine wunden Sinne vermochten nur vorüberrasende Bilder zu erfassen: die zerstörte Welt, aus unzählbaren Rissen blutend, den Himmel, gleich dem brennenden Dach eines Zeltes, die Städte, in Dampf und Nebel über Feuerlöchern schwankend, und augenloses Getier, das durch die Finsternis flatterte und entsetzliche Laute ausstieß. Sein Gemüt war aufgepeitscht durch die fortdauernden Erregungen, die Nächte ohne Schlaf, das immerwährende Bereitstehen zum letzten Kampf, die Angst vor dem Ungefähr. Die Organe des Körpers, geschwächt durch die Kälte der Gebirge, die Glut der Wüste, die Miasmen der Sümpfe, durch Wunden und Entbehrungen, versagten den Dienst; zerrissen war jedes herzliche Band, der Glaube erschüttert, die göttlichen Symbole nichtssagende Zeichen geworden, auf nichts gestellt war man, das Alltägliche hatte keine Bedeutung mehr, Sicherheit war nur im Tod.

Die Nacht war dunkel und schwül. In der Finsternis standen schwer die Häuser von Opis. Die Bewohner hatten die Türen verrammelt; von den flachen Dächern herab forschte bisweilen ein stilles Augenpaar in dem wechselnden Gewühl der Fremdlinge. Hunde rannten scheu über die gepflasterten Straßen und suchten Speiseabfälle.

Aus dem Hain des Mondgottes kam eine Prozession weißgekleideter Priester. Acht Hierodulen trugen das verschleierte Götterbild voran. Auf einem weiten Platz, in dessen Mitte eine schwarze Säule stand, bildeten die Priester einen Kreis. Schweigend blickten sie empor gegen den Mond, dessen halbe Scheibe süßlich rot gefärbt war durch die schwälenden Ausdünstungen der Erde. Die acht Frauen warfen ihre Gewänder ab, entfesselten das Haar und tanzten mit gemessenen, ja gespreizten Bewegungen ihrer mondglänzenden Glieder. Sie bogen den Kopf zurück, so daß ihre Brüste sich voll und sehnsüchtig dem Gestirn entgegenspannten. Die Priester erhoben die platt zusammengedrückten Hände und stimmten einen langsamen Gesang an.

Viele Makedonier waren Zeugen des Schauspiels. Ihnen schauderte vor dieser Stunde. Unheimlich war ihnen das Land. Verzweifelt kehrten sie ins Lager zurück. Und da der Morgen graute, hieß es, Alexander sei angekommen. Die Hoffnung rötete ihre übernächtigen Gesichter. Immer neue Leute kamen und bestätigten die Wahrheit der Kunde.

Nun begann ein gewaltiges Wandern. Von einer einmütigen Aufwallung ergriffen, zogen alle Makedonier durch die Tore in die Stadt und vor die Anhöhen des Palastes. Dort blieben sie, Mann bei Mann, die Tausende, in geduldigem Schweigen, bis die Sonne aufging. Ohne ein Zeichen des Überdrusses warteten sie, bis es Alexander gefallen würde zu kommen. In keinem einzigen Gesicht lag Trotz oder Unbotmäßigkeit. Ein schwaches, langhallendes, langsam erzitterndes Gemurmel erhob sich, als die Sklaven das Haupttor öffneten und Alexander heraustrat, – allein.

Er trug den schönen Helm aus Samos, ein zugegürtetes Oberkleid von sizilischer Arbeit, den linnenen Doppelpanzer von der Beute bei Issos und den prächtigen Reitrock, den ihm die Stadt Rhodos geschenkt hatte.

Er ging mit schnellen Schritten zum Rand der Terrasse. Die Makedonier drängten ihm stürmisch entgegen, so daß Hunderte auf einmal die breite Treppe besetzt hatten und die Nachdrängenden Kopf an Kopf standen, die Augen mit dem Ausdruck gespanntester Erwartung auf Alexanders Gesicht gerichtet.

Ungeachtet der auf dem Wasser verbrachten Nacht, war kein Zeichen der Mattigkeit in seinen Zügen. Er schien frisch, beweglich, belebt. Zuerst sah er sich seine Leute an. Die Musterung dauerte nicht lange, obwohl jedem einzelnen dabei zumut war, als nähme er ihm das Herz aus der Brust, um es zu betrachten und abzuwägen. Dann begann er ganz vertraulich zu reden, und zwar nur zu den Vordersten, wobei er seine Stimme wenig erhob und sich benahm, als ob er die friedlichste Unterhaltung führe. Er stellte sich, als hätte er ihnen etwas Erfreuliches mitzuteilen. »Erinnert euch, daß ihr in Indien schlachtenmüde wart und zurückkehren wolltet,« sagte er. »Damals konnte ich euch nicht entlassen, denn ich konnte euch nicht entbehren. Heute liegt es anders. Asien ist beruhigt, und bis zum nächsten Frühjahr will ich nichts Neues unternehmen. Ich will also diejenigen, die über fünf Jahre bei mir sind, nach Hause schicken. Jeder bekommt ein Geschenk von –«

Weiter kam Alexander nicht. Die, zu denen er gesprochen hatte, wandten sich nach rückwärts, und wie der Sturmwind flogen seine Worte von Mund zu Mund, von Ohr zu Ohr.

Ein ungeheurer Tumult, ein wildes, ungeheures Geschrei brach aus. Alexander trat zurück. Mit bleichen Stirnen, ausgestreckten Armen, geöffnetem Munde drängten sie nach. Eine Flut von Schreien, Verwünschungen, Flüchen, Jammerlauten, Klagen und Hohnreden gurgelte empor. Sie rissen ihre Schwerter heraus und fuchtelten damit durch die Luft. »Verräter!« schrien sie Alexander zu. »Deine Veteranen willst du dir vom Halse schaffen« heulten sie. »Barbaren sollen deine Füße küßen.« – »Hat uns ausgenutzt und ausgedrückt und jetzt wirft er uns in den Dreck.« – »Wir sind unbequem, man hat Angst vor uns . . .« – »Verräter! Verräter!« –

Die Wachen stürzten aus dem Palast.

Unbeweglich dastehend, die Arme über der Brust verschränkt, hörte und sah Alexander zu. Das Gebrüll und Getöse erschreckte ihn nicht, seine Wimpern zuckten nicht einmal bei dem orkanartigen Brausen der Stimmen. In seinen Augen leuchtete ein kühler und seltsam heiterer Glanz, und auf seine Lippen trat ein Lächeln. Dies verblüffte die ihm gegenüberstehenden Makedonier, erschreckte sie, brachte sie zur Besinnung. Es war etwas Diabolisches in diesem Lächeln; ich spiele nur mit euch und werde gewinnen, sagte es, mich belustigt euer Wahnsinn und ich freue mich darauf, euch zu züchtigen . . .

Die Stille, die bei den Vornstehenden eingetreten war, verbreitete sich allmählich nach hinten. Die Söldner und Führer, die vor Alexander standen, verzerrten das Gesicht zu einem Ausdruck, der aus Trotz und Furcht gemischt war. Durch eine unsichtbare Kette gebändigt, knirschten sie in die Fessel hinein. Alexanders Gesicht wurde ernst wie ein Stein. Sein Blick lief von Mann zu Mann; wie viel Hunderte er auch in dem Gedränge sah, bärtige Gesichter, glatte, jugendliche, greisenhafte, von Narben zerrissene, von Ausschweifungen gezeichnete, kein einziges Auge wagte dem seinigen zu begegnen. Sie schämten sich voreinander ihrer Feigheit, sie suchten einander glauben zu machen, daß die Sonne sie blende, die eben über die Zinnen der Palastmauern stieg, und blinzelten mit den Lidern.

Alexander atmete auf und sagte mit einer klaren, hellen, kindlichen, weithin vernehmbaren Stimme: »Keiner von euch ergreife mehr in meinem Namen das Schwert. Ihr seid entlassen. Ihr könnt gehen, wohin ihr wollt. Fort mit euch, ich will euch nicht mehr sehen, fort, fort mit euch.«

Er wandte sich und stieg die Treppe hinauf. Der Mantel flatterte ihm von der Schulter und sank zu Boden. Leonnatos hob ihn auf. Die Wachen folgten Alexander in den Palast.

Oben auf einem Vorsprung der Terrasse, in zusammengeduckter Haltung, den Ellbogen auf das Geländer gestützt, lehnte Hephästion. Mit unverwandtem klammernden Blick waren seine schwarzen Augen auf die Söldner gerichtet. Er durchforschte ihre Mienen, wie ein Jäger das Walddickicht, in das er eindringen will. Da stieg mit schwerfälligem Schritt der Tetrarch Phason hinan und blieb vor Hephästion stehen. »Nimm mir das Ding da ab, Hephästion,« sagte er, das kurze Schwert in der ausgestreckten Hand haltend, »es ist ein überflüssiges Gerät geworden.« Das graubärtige Gesicht zuckte wie über einer Flamme, und Tränen standen ihm in den Augen. »Na, Hephästion,« fuhr er mit wunderlich schnalzenden Lippen fort, »du mußt wissen, was jetzt bevorsteht. Du bist ja die Uhr von Alexanders Willen.«

Hephästion schüttelte den Kopf und verstellte sich zu einen Lächeln. »Steck' nur dein Schwert wieder ein, Phason,« antwortete er, »du wirst es noch brauchen.« Die Verzweiflung des Mannes rührte ihn.

Die Makedonier standen noch schweigend, wie sie Alexander verlassen. Ihre Füße waren ihnen bleischwer. Plötzlich schrie einer: »Auf! nach Hause! wir sind frei!« Da entstand eine träge Bewegung. Die meisten Mienen zeigten Verdruß, ängstliches Nachdenken und Ratlosigkeit. Sie waren nicht mehr Soldaten Alexanders. Wohin? was beginnen? fragten ihre stummen Blicke. Einige Rottenführer und Hauptleute erteilten Befehle, sie wurden nicht gehört. Es entstand ein Summen, wie von einem Milliardenheer von Insekten. Diese mahnten zum Aufbruch, jene zum Bleiben. Einige gaben den Rat, die Stadt zu plündern und in Brand zu stecken. Jeder wollte etwas anderes, alle kommandierten, niemand gehorchte. Da erhob sich wüstes Geschrei, dort traten Besonnene zusammen und erwogen ihre Lage sorgenvoll. Andere liefen herum, drohten, lachten, schwuren, prahlten. Der ganze gewaltige Menschenhaufen, bald sich lockernd, bald sich zusammenziehend wie eine Riesenqualle im Wasser, drehte sich um sich selbst.

Endlich drang ein Vorschlag durch, der keinerlei Wagnis enthielt und nicht viel Tätigkeit erforderte. Man beschloß abzuwarten und während des ganzen Tages sich still zu verhalten, aber alles: Zelte, Tiere, Sklaven und Gepäck zum Abmarsch vorzubereiten. Die ordnungslose, aufsichtslose Menge wälzte sich durch die Tempelstraße dem nächsten Tor und dem Lager zu.

Die Sonnenhitze warf die meisten erschöpft hin. Mit geschlossenen Augen ergaben sie sich einem allgemeinen Gefühl des Unheils. Die Sklaven und Weiber kochten ihnen ihre Speisen, aber sie konnten nichts genießen, nur Wein schütteten sie in ihre brennenden Kehlen. Die Stadt mit ihren Mauern und flachdächrigen, erdhügelhaften Häusern lag in der Mittagsglut vor ihnen, leuchtend wie eine ungeheure weiße Blase, der Himmel war bräunlich gefärbt, das Flußwasser war warm, als sei es gekocht, der Erdboden vibrierte und schwankte vor den Augen.

Viele flüchteten in die Obstgärten und suchten unter dem schmalen Schatten der Bäume Labung. Viele stürzten sich bis an den Hals ins Wasser. Ein Rottenführer schickte seine Leute in die Stadt; er glaubte, wenn Alexander sie sähe, würde er zu unterhandeln anfangen. Traurig kamen sie zurück und erzählten, Alexander habe sich im Palast eingeschlossen und wolle mit niemand sprechen.

Am andern Morgen erschallte ein hundertfältiger Ruf zum Abmarsch. Viele Zelte wurden niedergerissen, die Maultiere und Kamele bepackt. Aber die lockenden Bilder der Heimat waren verblichen. Niemand wollte zuerst gehen, keine Abteilung wollte die erste sein. Ein gewisser Sophillos ging umher und machte prahlerische Versprechungen; er wollte sich als Führer an die Spitze stellen und Ägypten als festes Reich gewinnen. Man hörte ihn an, und wenn er fertig war, vergaß man, was er gesagt hatte. Ein anderer, der Lampos hieß wie Hektors Pferd, trug selbstverfertigte Hymnen vor, worin er anempfahl, die Tyrannen zu töten. Einige Söldner lagen unter den Olivenstauden, eine furchtbare Erschöpfung hatte sie ergriffen und sie heulten wie Kinder. Bedenklich war die Gefahr, die durch das Ausgehen der Lebensmittel drohte. Entlassene, Verjagte, hatten sie vom Proviantamt nichts mehr zu fordern. Was sie mit dem Bogen schießen, mit der Lanze treffen konnten, war ihr Eigentum, aber davon konnten nicht hundert einen Tag lang satt werden, und wer hatte noch Lust und Freiheit genug, um draußen im glühenden Land zu jagen? Der Wein war schon zu Ende. Unabweisbar wurde der Gedanke an Gewalttat. In der Nacht marschierten etwa zweitausend Mann, zum Kampf gerüstet, gegen das Lager der Perser. Hinter den auflodernden Feuern zeigten sich drohend die verstärkten Wachen. Sie getrauten sich nicht weiter. Diese unüberwindlichen Makedonier glichen einer Horde von plärrenden Schwächlingen. Ohne Mut, ohne Vernunft, ohne Selbstvertrauen, faßten sie lauter kraftlose Entschlüsse.

Die Edelscharen Phasons zogen planlos vor den Mauern umher. Schauerlich war es, als sie mitten in der Stille und Dunkelheit der Nacht zu singen begannen. Sie wollten ihre Furcht betäuben. Unmöglich war es zu handeln, nicht zwei Gehirne waren demselben Gedanken zugänglich, alle aber der gleichen aufregenden Empfindung einer gräßlichen Verlassenheit. Sie zündeten Feuer an und schleppten die Wahrsager herbei. Zwei Stymphäer kletterten in ihrem verworrenen Drang an den Stadtmauern empor. Der eine, durch warnende Zurufe erschreckt, stürzte herab und brach das Genick, der andere gelangte bis zur Zinne, blieb dort hocken und stierte stumpfsinnig in die Finsternis.

An Schlaf war nicht zu denken. Die Männer hielten die Jünglinge, die sie liebten, stumm und fest umklammert. O, wie haßten sie Alexander! wie quälend war ihr Haß, weil er sich in seiner Ohnmacht selbst verzehren mußte. Inbrünstig flehten sie von Gott das bitterste Menschenleid für ihn herab, und sie dachten über das erstaunliche Rätsel nach, daß er sie so demütigen durfte. In dieser Nacht erkrankten über tausend an Fieber und an der Ruhr; sie setzten dem Übel keinen Widerstand entgegen und die bösen Dünste der Niederung vergifteten ihre Säfte.

Die einzige Abteilung des Ismenias war am Morgen des dritten Tages zum Abmarsch entschlossen. Sie brach langsam auf. Glühend wie die vorigen, kam der Tag schon aus dem Schoß der Dämmerung. Als sie an das Ufer des Kanals gelangten, sahen sie dort ein großes, kreisrundes Fahrzeug, in dem ein wunderbares Frauenzimmer saß. Sie hatte ein Gewand aus gelbem Byssos und safrangelbe Schuhe. Rötliche lose Haare umflatterten wie eine Mähne das harmlos lächelnde und doch von einer geheimnisvollen Bosheit erfüllte Gesicht. Zwei nackte nubische Sklaven standen hinter ihr mit dem Sonnenschirm und dem Fliegenwedel. Ein dritter Sklave stieß mit einer langen Stange das Boot nach vorwärts. Zu Füßen des Weibes lag ein griechischer Soldat, ein Hauptmann mit bläulich aufgequollenem Gesicht, eine Leiche. Das Fahrzeug kam aus dem Lager der Griechen und fuhr gegen die Stadt.

Die Söldner stutzten. Sie blieben stehen, die Reiter hielten die Pferde an, die ganze Schar stand schweigend längs des Ufers, um die Barke auf dem schaukelnden Spiegel des schwärzlichen Wassers vorübergleiten zu lassen. Sie konnten nicht weiter. Lange noch lauschten sie mit verfinsterten Stirnen auf den eintönigen Gesang des Sklaven, der die Barke fortbewegte. Beschämt, zerknirscht, von abergläubischen Vorstellungen erregt, kehrten sie um.

Als sie ins Lager zurückkamen, verkündeten zwei Herolde den Makedoniern, sie sollten entweder die Ebene von Opis räumen oder sich Alexander zur Schlacht stellen. Zugleich erschien ein Rhetor, ließ aus Brettern eine kleine Tribüne errichten, stellte sich hinauf, zog eine beschriebene Rolle aus dem Mantel und während sich die Menge in banger Erwartung um ihn drängte, fing er an zu lesen:

»Dies ist Alexanders Botschaft an euch, Soldaten! Aus den elendesten der Menschen habe ich euch zu Königen gemacht. Aus jedem einzelnen habe ich in seiner Art einen Fürsten gemacht. Was wart ihr denn ehemals? Ziegenhirten wart ihr. Erinnert ihr euch nicht? Habt ihr vielleicht Schätze besessen in euern ärmlichen Tälern? Nicht zwei Silbertalente habt ihr besessen. Habt ihr vielleicht Schiffe gehabt? Nicht ein Baumstamm aus euerm Land schwamm auf dem Meer. Habt ihr vielleicht kostbare Gewänder gehabt, blauseidene Zelte? und silberne Nägel in den Schuhen? und Essenzen zum Bad? und Sklaven und geschmückte Weiber und Liebesknaben und goldene Trinkschalen und edelsteinbesetzte Armbänder und Schwerter mit goldenen Ornamenten? In stinkenden Hütten unter der Erde habt ihr gehungert, unter dürren Fellen habt ihr gefroren. Und die Herrlichkeiten von Tyros, die Perlen des Dareios, die Schätze der Königsgräber, das Gold und die Geräte der Tempel, habe ich sie vielleicht? Was ist mir geblieben als ein Fetzen Purpur? Ihr wart die Besitzer, ihr die Statthalter, ihr die Heerführer, und ich, ich habe nur die Brust voll Qual. Ich esse schlechter als ihr, ich schlafe schlechter als ihr. Hat einer mehr erduldet als ich? Wer Narben hat, entblöße sie. Auch ich will kommen und meine Narben zeigen. Kein Glied an meinem Körper ist ohne Wunde geblieben. Von Schwert und Dolch und Steinwurf und Katapultenpfeil und Lanze und Keule bin ich getroffen worden. Ich habe eure Schulden bezahlt, ich war gütiger als ein milder Geist. Wer gestorben ist, ruhmvoll war sein Ende, denn fliehend fand unter mir keiner den Tod. Und nun geht, ich rate euch, verlaßt das Land. Ich habe mich den Asiaten anvertraut. Ich habe ihnen das Recht des Kusses gegeben. Ich habe persische Silberschildner, persische Edelscharen, eine persische Leibwache, ich brauche euch nicht mehr. Lebt wohl und erzählt zu Hause, daß wir in Frieden voneinander gegangen sind.«

Diese Worte hatten eine furchtbare Wirkung. Zuerst erhob sich ein Murmeln, weithin rollend wie von Gewittern, ein Ächzen wie von zahllosen Sterbenden, dann ein Geschrei maßloser Verzweiflung. Die Herolde wurden zu Boden geworfen, die Tribüne samt dem Rhetor überrannt und zertreten. Die Silberschildner liefen nach der Stadt, blindlings folgten alle, von einem und demselben Drang urplötzlich bis ins Innerste bewegt. Atemlos sausten sie durch drei Tore zu gleicher Zeit, liefen keuchend durch die Tempelstraße, die Straße der Kaufleute und die Straße der Gerber, atemlos langten sie vor der Terrasse an, sprangen hinauf und wollten in den Palast dringen.

Aber die Tore waren verschlossen. Unzählige Fäuste hieben dröhnend darauf los. Umsonst; man hatte ihr Kommen bemerkt und Vorkehrung getroffen. Sie suchten zu den oberen Rundöffnungen zu gelangen, indem drei oder vier einander auf die Schultern stiegen. Doch die Speere der persischen Wachen starrten ihnen entgegen. Ein großer Teil hockte alsbald apathisch auf den Stufen der Terrasse. Die Straßen unten waren angefüllt mit Makedoniern. Gelb und schwül brütete die Sonne auf den Köpfen und Helmen.

Da erschallte ein Klirren vor dem Haupttor. Einige Soldaten hatten Schwerter und Schilde hingeworfen, um sich waffenlos zu zeigen und ihre Reue glaubwürdig zu machen. Das Beispiel wirkte entflammend. Die Scharen strömten herauf. Einer um den andern legte die Waffen nieder: Schwerter, Dolche, Schilde, Lanzen, ja sogar die Helme. Es wuchs und türmte sich eine kolossale Waffenpyramide. Viele traten vor das Tor des Palastes und flehten mit aufgehobenen Armen laut um Zutritt. Bald standen Tausende im Knäuel, schrien jammervoll um Einlaß, um Vergebung, klagten sich an und versprachen Gehorsam. Nur sehen solle sie Alexander, nur einmal möge er noch zu ihnen reden.

Nichts rührte sich im Palast. Gleichgültig ragten die weißen Mauern. Die Dämmerung kam. Das Flehen und Weinen wurde ungestümer. Die Makedonier erboten sich, die Urheber des Aufruhrs auszuliefern. Es war, als ob sie im Eisentor selbst die Ohren Alexanders vermuteten, so unmittelbar und leidenschaftlich gaben sie sich. Phason drängte sich vor. Er bekannte sich am schuldigsten. Er hob ein kurzes Schwert vom Boden auf, stützte es mit dem Knauf gegen die Mauer, schloß die Augen und drängte mit fanatischer Langsamkeit die eigene Brust in den Stahl. Mit leisem Schmerzengewimmer brach er zusammen. Das Blut färbte seine Gewänder.

In demselben Augenblick wurde das Tor geöffnet.

Von einigen Fackelträgern begleitet erschien Alexander im Dunkel der Halle.


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