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21

Scottie kam am Morgen, noch bevor Andy aufgestanden war. Er hatte die Hände in den Hosentaschen und sah sehr unzufrieden aus.

»Hallo, Scottie«, sagte Andy und stützte sich auf den Ellenbogen. »Was gibt's?«

»Nichts, nur die allgemeine Moral gefällt mir hier nicht.« Scottie setzte sich. »Ich gehe wieder in die Stadt, Macleod. Hier ist es mir zu aufregend. Sie machen sich hier auch nur einen schlechten Namen. Ich habe diesen Federfuchser, diesen Downer, heute morgen getroffen. Er sagte, das sei der schlechteste und undankbarste Fall, der ihm je untergekommen ist, und er habe einen guten und aussichtsreichen Mord dafür weggegeben.«

»Haben Sie seinen Artikel in der Zeitung gesehen?«

Scottie nickte.

»Er ist sehr zahm, Macleod. Er sah, in welche Gefahr er sich gebracht hatte, und außerdem sprang doch dieser maskierte Mann hinter dem Vorhang hervor und bedrohte ihn mit der Waffe.«

»Ob er maskiert war oder nicht, weiß niemand. Ich glaube es nicht. Was hat er über Miss Nelson geschrieben?«

»Er hat sie freigesprochen. Es sei alles zufriedenstellend aufgeklärt worden. Er entschuldigte sich fast in dem Artikel.«

»Dann geht er also fort?« fragte Andy befriedigt.

Scottie schüttelte den Kopf. »Das sagt er bloß. Er wird sicher noch eine Woche hierbleiben!« Er ging zur Tür. »Vielleicht komme ich noch mal zurück, Macleod. Auf Wiedersehen.«

Er war gegangen, bevor Andy ihn fragen konnte, ob Stella Nelson schon zu sprechen sei.

Andy war nun auf dem toten Punkt angekommen, er war in eine Sackgasse geraten. Er würde bald nach London zurück müssen, und der Mord würde dann unter die ›unaufgeklärten Fälle‹ eingereiht werden.

Das eigentliche Geheimnis lag in der Verkettung, die Darius Merrivan, Albert Selim und den Mörder miteinander verband.

Andy wollte gerade Stella aufsuchen, als ein Telegramm von Scotland Yard eintraf.

›Kommen Sie sofort zurück. Wentworth verschwunden. Geschäftsmann Ashlar Building. Nachforschungen bei Bank ergaben hohes Konto. Grund zu Annahme, daß Selim und Verschwinden Wentworth in Zusammenhang.‹

Andy hatte schon verschiedenes über den Stand der Firma erfahren, bevor er die Stenotypistin befragte.

»Am letzten Freitag war er zum letztenmal hier«, sagte sie niedergeschlagen, »er hat mir mein Gehalt ausgezahlt und Geld für die Portokasse und andere Kleinigkeiten gegeben. Er sagte, daß er am Montag oder Dienstag wiederkommen werde. Ich sprach mit ihm über das Geschäft, denn wir tun eigentlich überhaupt nichts. Ich fragte ihn, wie lange dieser Zustand noch anhalten könne, bevor er das Büro ganz schließen würde. Aber er war guter Laune und erwiderte, daß er mir bald etwas Angenehmes mitteilen könne. Er sagte das in der scherzhaften Art, in der er stets mit mir zu sprechen pflegte.«

»Sie wissen, wo er wohnt?«

»Nein. Ich vermute nur, daß er sich häufig in Hotels aufhält. Er schrieb ein paarmal, wenn er abwesend war, und gab als Absender immer ein Hotel an, obwohl ich ihm nie Briefe nachsandte. Ich erinnere mich noch an eine andere Bemerkung, die er machte, als ich ihn das letztemal sah. Er sagte, es sei doch merkwürdig, daß man nie etwas von Mr. Selim zu sehen bekäme.«

»Erinnern Sie sich an ein Hotel, von dem aus er Ihnen schrieb, und wissen Sie, an welchem Datum er den letzten Brief absandte?«

»Ich habe die Korrespondenz aufbewahrt. Ich dachte schon, daß Sie danach fragen würden.«

Andy durchblätterte kurz die Briefe. Es waren bekannte Hotels in den verschiedensten Teilen Englands. Er notierte die Namen.

»Haben Sie eine Fotografie von Mr. Wentworth?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Wie sah er denn aus?«

In diesem Punkt war sie sehr unsicher, sie war selbst erst neunzehn Jahre und hielt jeden Mann über Fünfunddreißig für ›alt‹.

Er ging etwas gebeugt, erinnerte sie sich, und trug eine große Hornbrille. Von seinen Geschäften wußte sie fast gar nichts, sie war auch erst seit einem Jahr bei ihm angestellt. Sie kannte auch keine anderen Firmen, mit denen er irgendwelche Geschäfte getätigt hatte. Sie schickte nie Rechnungen aus, und offenbar war ihre einzige Aufgabe, Besucher zu empfangen, die nicht erschienen und Auszüge aus der Tagespresse über die Lebensmittelbörse zu machen. Sie zeigte eine Menge Blätter, die sie im Lauf der Zeit zusammengestellt hatte. Jeden Freitagnachmittag erhielt sie pünktlich ihr Gehalt.

Andy suchte die beiden Londoner Hotels auf, die auf seiner Liste standen. Die Fremdenbücher wurden nachgeschlagen, und man fand tatsächlich, daß Mr. Wentworth an den betreffenden Daten dort gewohnt hatte. Aber die Hotelangestellten wußten auch nichts Näheres über ihn, für sie war er nur eine Nummer.

Andy ging zu Scotland Yard zurück und berichtete.

»Wentworth und Albert Selim sind ein und dieselbe Person«, sagte er. »Wentworth & Wentworth ist eine Schwindelfirma und hat nur den Zweck, Selim Zutritt zum Gebäude zu verschaffen. Erinnern Sie sich daran, daß Selims einziger Angestellter nur zwischen elf und ein Uhr im Büro sein durfte? Wentworth selbst erschien im Ashiar Building nie vor zwei und auch nur an bestimmten Tagen. Der Sekretär Selims hatte dann frei. Für Wentworth war es eine leichte Sache, in Selims Büro zu gehen, die Briefe zu holen und dann wieder in den Räumen der Firma Wentworth & Wentworth zu erscheinen. Wentworths Bankier hat mir gesagt, daß er etwa ein Dutzend große Kästen voll Dokumente hat. Die werden es uns vielleicht möglich machen, die Identität endgültig festzustellen.«

»Hat Wentworth Geld von der Bank abgehoben, seitdem er verschwunden ist?«

»Dieselbe Frage habe ich auf seiner Bank auch gestellt, und man sagte mir, daß das nicht der Fall ist. Das ist sehr leicht erklärbar. Albert Selim wußte, daß wir sofort in sein Büro gehen würden. Er vermutete vielleicht auch, daß wir den Zusammenhang zwischen ihm und Wentworth durchschauten. Wenn er nun als Wentworth einen Scheck von der Bank zog, setzte er sich der Gefahr aus, gefaßt zu werden.«

Andy erhielt die notwendige Vollmacht, um zu den Depots von Wentworth Zutritt zu erhalten. Er saß den ganzen Nachmittag bis in die Nacht hinein im Privatbüro des Bankdirektors und prüfte den Inhalt von sechs übervollen Stahlkassetten.

Seine Tätigkeit wurde erleichtert, als er entdeckte, daß zwei Kästen die Akten der eigentlichen Firma Wentworth enthielten. Offenbar hatte Selim das Geschäft vor einigen Jahren aufgekauft, das schon damals nicht gut ging. Aber unter seiner Leitung waren die Verhältnisse immer schlimmer geworden. Er hatte ja auch keine Veranlassung, Geld durch legitimen Handel zu verdienen, wenn er einen viel leichteren Weg gefunden hatte, zu Reichtum zu kommen. Dieser Weg brachte zwar einige Gefahren mit sich, aber er warf ungeheure Verdienste ab.

Die anderen Stahlkassetten waren gefüllt mit Besitzurkunden und alten Verträgen, die alle zugunsten Albert Selims lauteten.

Dieser Mann schien in allen Teilen des Landes Besitzungen zu haben, hier eine Farm, dort ein Haus, an einer anderen Stelle eine Kohlenmine. Andy fand auch Einzelheiten über erworbene Schürfrechte, Details über eine Zuckerplantage in Westindien und viele andere Dokumente, die den ungeheuren Reichtum Selims bekundeten.

Es war beinahe Mitternacht, als der letzte Stapel Akten auseinandergenommen und durchgesehen wurde. Andy entdeckte plötzlich einen bekannten Namen auf einem alten Vertrag.

›John Aldayn Severn.‹

Severn!

Der Vertrag war zwischen Albert Selim auf der einen Seite, ›hierin später der Verleiher genannt‹, und John Aldayn Severn auf der anderen Seite geschlossen. Als Andy las, staunte er mehr und mehr über die ungewöhnlichen Bedingungen, die hier festgelegt waren. Die Abmachung besagte, daß der Verleiher dem ihm unbekannten Severn lebenslänglich eine Summe von fünftausend Pfund jährlich zur Verfügung stellte. Severn beurkundete, daß er an Selim regelmäßig die Hälfte seiner Einkünfte zahlen werde, falls er einen Besitz erbte, aus dem er Einnahmen habe, und zwar würde er diese Zahlungen ›für ihm erwiesene besondere Dienste‹ leisten. Auf die Erbschaft selbst war nicht näher eingegangen.

Andy schaute das Dokument nachdenklich an. Es war fünf Jahre nach Severns Heirat datiert, wenn Artur Wilmots Angaben richtig waren. Hatte Severn wohl jemals eine Summe erhalten? Und, wenn ja, hatte er den Vertrag erfüllt?

Der Bankdirektor hatte zwei Angestellte zurückgelassen, die Andy bei seinen Arbeiten behilflich waren. Alle Unterlagen, die Selims Konto betrafen, standen zu seiner Verfügung, aber es war schwer, die Herkunft aller Eingänge festzustellen.

Andy las den Vertrag noch einmal genau durch. Die Zahlungen sollten jeweils am 1. März und 1. September geleistet werden. Er ging wieder die Eingänge während der letzten zwanzig Jahre durch. Am 1. März und 1. September jeden Jahres waren auf Selims Konto Summen eingezahlt worden, die zwischen sieben- und neuntausendfünfhundert Pfund schwankten. Also hatte Severn tatsächlich seine jährlichen Zahlungen bekommen und selbst vereinbarungsgemäß gewisse Summen an Selim abgeführt.

Das ist der Mann, den ich suche, sagte sich Andy. Wenn ich Severn habe, werde ich auch Selim finden.

Am nächsten Morgen durchsuchte er sorgfältig alle Adreßbücher von Grundbesitzern, die er finden konnte. Der Name Severn erschien dreimal, aber in jedem Fall handelte es sich nur um kleinen Besitz, und Andys telegrafische Anfragen waren ergebnislos. Er konnte über die Person von John Aldayn Severn, der in dem Vertrag erwähnt war, nichts ermitteln. Der Name war in der Gegend von Beverley vollkommen unbekannt. Aber Andy besann sich, daß es ja einen Mann gab, der ihm Auskunft geben konnte.

Mr. Boyd Salter war so etwas wie eine Autorität auf diesem Gebiet, er kannte sehr viele Gutsbesitzer. Andy machte ihm an dem Morgen, als er nach Beverley zurückkam, sofort einen Besuch.

»Ich glaube, daß der Severn, den Sie suchen, vor einigen Jahren nach Australien ausgewandert ist. Ich sagte Ihnen schon, daß es einem meiner Freunde einmal sehr schlecht erging, als er sich in den Klauen des Wucherers Selim befand. Der Mann, den ich damals erwähnte, war Severn. Ich kannte ihn sehr gut, und ich wußte auch, daß er von dem Geldverleiher ausgesogen wurde.«

»Warum hat Merrivan aber Severns Trauschein aufbewahrt?«

»Keine Ahnung! Da wir gerade von Merrivan sprechen, ich habe den Einbrecher tatsächlich verwundet.«

»Das interessiert mich sehr – woher wissen Sie das?«

»Wir fanden am nächsten Morgen einige Blutspuren an einem Blatt. Während Ihrer Abwesenheit habe ich mir erlaubt, Inspektor Dane davon in Kenntnis zu setzen; soviel ich weiß, sind seine Anfragen bei den Ärzten der Umgegend erfolglos gewesen.«

Andy fuhr nicht im Auto nach Beverley Green zurück, sondern ging zu Fuß. Er ließ seinen Wagen durch den Chauffeur Salters zum Gästehaus bringen und folgte selbst der vermutlichen Spur des Diebes. Madding, der Parkwächter, zeigte ihm die Stelle, wo die Blutspuren gefunden worden waren. Er betrachtete das rote Baumblatt; auch die Zweige der Sträucher in der Nähe waren mit Blut befleckt.

Andy ging auf dem Waldweg nach Beverley Green zurück. Er kam durch den Obstgarten, in dem Sweeny gefunden worden war. Sein Weg führte ihn am Tennisplatz vorbei, und er gelangte schließlich auf dem Umweg über Merrivans Grundstück zur Hauptstraße.

Er läutete an Stellas Tür, ein Dienstmädchen öffnete ihm.

»Miss Nelson ist nicht zu Hause, Sir.«

»Wo ist sie denn hingegangen?« fragte Andy erstaunt.

»Würden Sie nicht lieber mit Mr. Nelson sprechen? Er ist im Atelier. Sie kennen ja den Weg.«

Andy fand den Maler, der ganz verstört vor seiner Arbeit saß. Nelson begrüßte seinen Gast herzlich.

»Sie wissen gar nicht, wie froh ich bin, daß Sie wieder zurück sind, Macleod. Ich bin in großer Sorge.«

»Wo ist Stella?«

»Sie sollte eigentlich bei ihren Tanten sein«, erwiderte Nelson.

»Wie – sie sollte sein – ist sie denn nicht dort?«

»Ich schickte ein Telegramm und fragte an, wann sie zurückkommen würde, und meine Schwester antwortete, daß sich Stella nur einen Nachmittag dort auf gehalten, habe und in Geschäften nach dem Norden weitergereist sei.«

»Das wird auch stimmen«, meinte Andy erleichtert.

Er hätte nicht sagen können, was er eigentlich erwartet hatte, aber die Nachricht klang nicht beunruhigend. Er verstand, daß Stella ihren Vater nicht ins Vertrauen zog, selbst wenn es sich um sein eigenes Wohl handelte.

»Das würde mich ja auch nicht bedrücken«, sagte Nelson, als ob er Andys Gedanken erraten hätte. »Ich werde Ihnen zeigen, warum ich so besorgt bin.«

Er ging mit dem verwunderten Andy die Treppe hinauf und öffnete die Tür zu einem hübschen, kleinen Schlafzimmer.

»Dies ist Stellas Zimmer«, erklärte Nelson überflüssigerweise, denn Andy kannte die Lage ja ganz genau.

»Ich ging an dem Tage, als sie abreiste, herauf – Sie fuhren übrigens an demselben Tag in die Stadt. Ich wollte ein paar weiche Lappen holen – Stella verwahrt immer einige für mich. Aber der Schrank war zugeschlossen. Glücklicherweise hatte ich einen passenden Schlüssel. Das erste, was ich sah, als ich die Tür öffnete, war das.«

Er reichte zu einem Wandbrett hinauf und nahm ein kleines Bündel Leinen- und Mullstücke herab, die voll braunroter Flecken waren.

»Und sehen Sie einmal hier.«

Er zeigte auf den Fußboden, wo man deutlich Blutspuren sehen konnte.

»Und dort am Rand der Waschschüssel waren auch Flecke. Sie muß sich geschnitten haben, ohne mir etwas davon zu erzählen. Wahrscheinlich hat sie sich an der Hand verletzt. Sie kann sich selbst verbinden, denn sie hat während des Krieges einen Krankenschwesterkurs mitgemacht. Sie hat sich damals sehr dafür interessiert.«

Andy starrte auf die Bandagen, ohne sie zu sehen. Er erinnerte sich plötzlich an das Licht, das er nach dem Raub in Beverley Hall in Stellas Zimmer gesehen hatte. An die Blutspuren, die im Park gefunden worden waren. Es war doch unmöglich, daß Stella diesen Einbruch begangen hatte! Aber ihr plötzliches Verschwinden bestätigte fast seinen Verdacht. Warum war sie so unerwartet abgereist?

»Haben Sie Stellas Hand gesehen, als sie fortging?«

»Nein, sie hatte sie im Muff. Es war schon sonderbar, daß sie an einem so warmen Tag überhaupt einen Muff trug. Ich erinnerte mich sofort daran, als ich das blutige Verbandzeug hier oben fand. Sie schien auch sehr nervös zu sein, was doch sonst nicht ihre Art ist.«

»Ich gebe mich geschlagen«, sagte Andy verzweifelt.

Noch am selben Nachmittag packte er seinen Koffer. Er warf noch einen letzten Blick auf das Tal zurück, bevor er die Richtung nach London einschlug.


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