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7

Andy brachte zwei unangenehme Tage in Beverley Green zu. Sie waren deshalb unangenehm, weil der einzige Mensch, dem er gerne begegnet wäre, ihn ängstlich mied. Einmal sah er ein junges Mädchen auf der anderen Seite der Straße gehen. Zwei große Hunde begleiteten es, die unruhig herumliefen. Er beschleunigte seine Schritte, erkannte dann aber, daß es Miss Sheppard war, eine junge Dame, der er auf dem Golfplatz vorgestellt worden war.

Am ersten Abend speiste er mit Mr. Merrivan und Mr. Sheppard, dem Architekten. Dieser Mann war so zurückhaltend, daß es Andrew schwerfiel, sich ein Bild von seiner Persönlichkeit zu machen.

Mr. Merrivan war Junggeselle, aber, wie er seinen Gästen erzählte, kein unverbesserlicher. Er würde sich gern von den Annehmlichkeiten der Ehe überzeugen lassen.

»Wirklich?« fragte Macleod.

Andy überlegte sich, welche Frau Merrivan wohl heiraten würde. Mr. Sheppard dachte überhaupt nicht mehr nach. Er machte den Eindruck, daß er aufgehört hatte nachzudenken, nachdem er genügend Geld erworben hatte, um sich zur Ruhe setzen zu können.

»Meine Herren«, sagte Mr. Merrivan wieder und sprach jetzt ganz leise, als ob es sich um ein großes Geheimnis handelte, »so schön es hier auch ist und so angenehme und reizende Menschen hier leben, so habe ich doch für meine Zukunft andere Pläne. Kennen Sie den Corner See, Doktor Macleod? Ich habe dort eine Villa gekauft – die Villa Frescoli –, ein hübscher, ruhiger Flecken der Erde, wo ich glücklicher zu werden hoffe als hier in Beverley.«

Andy wurde nachdenklich. Mr. Merrivan war nicht der Mann, der nur renommierte. Die Villa Frescoli war nicht klein, sie glich eher einem Palast. Es war ein großes Gebäude aus weißem Marmor. Die Bezeichnung ›Villa‹ schien kaum für dieses majestätische, herrliche Haus zu passen, das ursprünglich für einen russischen Großfürsten erbaut worden war.

Mr. Merrivan gewann in Macleods Augen neues Interesse. Er hatte schon gehofft, daß die Nelsons nach dem Abendessen zu einem kurzen Besuch herüberkommen würden. Aber die Umgangsformen waren hier steifer und konventioneller, als er vermutet hatte. Die Nachbarn besuchten einander nicht, in Beverley Green lebte jede Familie für sich.

Mr. Sheppard brach früh auf, und Andy ging mit seinem Gastgeber in dessen Arbeitszimmer, um dort eine Tasse Kaffee zu trinken.

Er war nun in dem Raum, in dem sich gestern Mr. Merrivan und Wilmot unterhalten hatten, als er ihr Gespräch belauschte. Es war ein eigenartiges, langgestrecktes Zimmer, das schmaler erschien, als es in Wirklichkeit war. Es lief von der Vorderfront zur Rückseite des Hauses. Durch zwei große Fenster konnte man vorn auf die Straße und hinten in den Garten sehen. In die Mitte der einen Wand war ein großer, schön verzierter Kamin eingebaut, der besser in ein Schloß gepaßt hätte, denn der Raum erschien dadurch wenig gut proportioniert, vor allem zu niedrig. Die Wände hatten Eichentäfelung.

Andy sah keinen Bücherschrank. Offenbar machte sich Mr. Merrivan wenig aus Literatur und gab sich auch keine Mühe, seine gelegentlichen Besucher über diese Tatsache zu täuschen. Aber kostbare Radierungen schmückten die Wände. Andy bemerkte einige wertvolle Arbeiten von Zorn, und Mr. Merrivan zeigte ihm Handzeichnungen bekannter Künstler.

Mr. Merrivan wußte wohl selbst, daß der Kamin eigentlich nicht hierhergehörte. Er hatte das Stück auf der Auktion im Stockley-Schloß erworben. Das Wappen der Stockleys war auch oben am Sims angebracht. Die anderen Möbel waren gut und modern. Zwei Ottomanen waren in den Fensternischen untergebracht, und außer dem Schreibtisch, der im vorderen Teil des Zimmers nach der Straße zu stand, waren noch ein großer Tisch und ein schön geschnitztes chinesisches Schränkchen vorhanden. Daneben luden bequeme Armsessel zum Ausruhen ein.

»Ich bin ein einfacher Mann und habe dementsprechend einen einfachen Geschmack«, behauptete Mr. Merrivan. »Mein Neffe sagt immer, daß dieses Zimmer fast wie ein Büro aussehe. Nun, ich habe immer ein sehr bequemes Büro gehabt. Rauchen Sie, Herr Doktor?«

Andy wählte eine Zigarette aus dem Silberkasten, der ihm zugeschoben wurde.

»Finden Sie nicht, daß es hier sehr ruhig ist?«

Andy lächelte. »Ja, es herrscht eine wohltuende Stille hier.«

Mr. Merrivan freute sich über das Lob.

»Ich selbst bin sozusagen der Gründer des Ortes. Ich habe diese Häuser nacheinander gekauft. Einige sind schon sehr alt, obwohl Sie das vielleicht nicht glauben werden. Ich habe Beverley Green eigentlich so angelegt, wie Sie es jetzt sehen. Ich verkaufte ein Haus nach dem anderen und habe dabei nicht einen Schilling verdient.«

Andy war sehr erstaunt.

»Das war aber wenig geschäftstüchtig von Ihnen.«

»An Geschäft habe ich dabei überhaupt nicht gedacht«, erklärte Mr. Merrivan. »Meine Absicht war, die richtigen Leute hierherzubringen. Aber ich fürchte, es ist mir nicht ganz gelungen. Die Menschen sind nicht alle so, wie sie scheinen, auch verschlechtert sich mit der Zeit der Charakter mancher Leute. Aber für Sie in Ihrem rastlos tätigen Leben, lieber Doktor, muß der Aufenthalt in Beverley Green doch eine Erholung sein.«

Das Gespräch wandte sich dann dem Thema »Verbrechen und Verbrechen zu. Es war aber weniger eine Unterhaltung als ein Ausforschen von seilen Mr. Merrivans. Macleod gab längere oder kürzere Antworten, je nach dem Interesse, das er Mr. Merrivans Fragen entgegenbrachte.

»Haben Sie bei Ihren vielen Erkundungen jemals einen gewissen Albert Selim kennengelernt?« Merrivan sprach zögernd.

»Dieselbe Frage hat erst vor kurzem jemand an mich gestellt. Wer war es doch gleich? Auf jeden Fall ist mir Selim noch nicht begegnet. Er soll einen sehr gemeinen Charakter haben.«

»Er ist ein Wucherer, und ich habe allen Grund anzunehmen, daß er auch ein Erpresser ist«, sagte Mr. Merrivan ernst. »Glücklicherweise bin ich niemals in seine Klauen geraten, aber andere Leute – können Sie mir nicht sagen, wer von ihm gesprochen hat? War es nicht Mr. Nelson?«

»Nein, ich glaube, es war Mr. Boyd Salter.«

»Sehen Sie einmal an«, sagte Merrivan belustigt. »Unser vornehmer Ortsvorstand. Wirklich ein netter Mann, dieser Mr. Boyd Salter. Kennen Sie ihn gut?«

»Ich habe ihn nur kurz kennengelernt. Ich brauchte eine Unterschrift als Friedensrichter für die Überführung meines Gefangenen.«

»Ein äußerst liebenswürdiger Herr, nur schade, daß wir sowenig von ihm sehen. Er ist schwer nervenkrank, wie mir erzählt wurde.«

Andy erinnerte sich an den behutsamen Diener und an die tiefe Ruhe im Haus.

Kurz darauf empfahl er sich. Andy wollte allein sein, es zog ihn nach Nelsons Villa. Es scheint, daß ich meine Zeit hier nur damit zubringe, an fremden Türen zu lauschen, dachte er. Er stand jetzt dem Haus des Künstlers gegenüber und war sehr bestürzt, als er drinnen einen Mann fürchterlich schreien hörte. Gerade öffnete sich die Tür, und zwei Frauen stürzten aufgeregt und schimpfend heraus. Nelson lief mit langen Schritten hinter ihnen her. Er trug nur Hose, Oberhemd und Pantoffeln. Andy vermutete, daß er betrunken war, obwohl er noch keinen Betrunkenen gesehen hatte, der so gerade ging und so klar und deutlich sprach.

»Laßt euch hier nicht wieder sehen, ihr –«, es folgte ein Ausbruch wüster Schimpfnamen.

»Vater!« Stella war bereits an seiner Seite und legte ihren Arm in den seinen. »Es ist besser, wenn du jetzt hereinkommst.«

»Ich gehe nicht hinein! Ich tue, was mir paßt! Mach, daß du auf dein Zimmer kommst!« Er zeigte theatralisch auf die Haustür. »Soll ich mir vielleicht von diesen Scheuerfrauen, diesen schlampigen Weibern, alles gefallen lassen – ich, Kenneth Nelson, Mitglied der Königlichen Akademie? Ich dulde das nicht!«

»Komm doch bitte ins Haus, Vater. Willst du denn wirklich ganz Beverley zum Zeugen haben –«

»Dieses verdammte Nest! Ich bin erhaben über Beverley Green, wo nur Marmeladenfritzen wohnen – geh auf dein Zimmer, Stella!«

Aber sie rührte sich nicht.

Andy glaubte, daß es jetzt Zeit sei, sich bemerkbar zu machen.

»Ach, guten Abend, Mr. Macleod!« Nelson war plötzlich so liebenswürdig, daß man ihn fast nicht wiedererkannt hätte.

»Guten Abend, Mr. Nelson. Ich möchte gern noch ein wenig mit Ihnen plaudern.«

Er nahm den Maler am Ann und führte ihn ins Haus. Stella folgte ihnen.

Sie war dankbar, obgleich sie sich fürchtete. Und doch war sie auch wieder begierig, mehr von diesem Mann zu erfahren und ihn aus der Nähe zu sehen. Sie fühlte sich gedemütigt, daß sie ihn in einer so peinlichen Situation kennenlernen mußte. Das erste, was sie an ihm beobachtete, war seine Kraft. Sie sah, daß er gewohnt war, mit Leuten umzugehen, und spürte etwas von der überlegenen Wirkung seiner Persönlichkeit. Vielleicht überschätzte sie seinen Einfluß, weil ihr Vater ihm so gehorsam und ohne Widerstreben folgte.

»Ich habe gerade zwei unverschämte Dienstmädchen hinausgeworfen, zwei ganz gemeine Weiber, Mr. Macleod«, sagte Nelson, der plötzlich wieder in seinen alten, anmaßenden Ton verfiel. »Diese Leute aus den unteren Schichten führen sich immer unerträglicher auf. Stella, ich kann deine Wahl eigentlich nicht billigen – wirklich, die beiden haben mich sehr enttäuscht. Hole Mr. Macleod jetzt etwas zu trinken. Ich werde zur Gesellschaft ein Gläschen mittrinken.«

»Nun, dann trinken wir am besten ein Gläschen Wasser miteinander«, meinte Andy lächelnd.

»Wasser!« rief Nelson verächtlich. »Solange ich noch ein Haus und einen Keller habe, geht kein Gast von meiner Schwelle, lieber Freund, ohne daß ich ihm nicht einen Becher dieses schönen Getränkes aus Schottland kredenzt habe!« Er lachte unbändig.

Andy hatte erwartet, Stella niedergeschlagen und bedrückt zu sehen. Die Selbstbeherrschung, die sie in diesem kritischen Augenblick bewahrte, verriet, daß sie an solche Szenen gewöhnt war. Sie tat ihm unendlich leid, sie schien noch sehr jung zu sein, fast noch ein Kind. Er bewunderte die zarte Reinheit ihrer Haut, die Anmut ihrer Gestalt. Und doch war es nicht das, was ihn so tief ergriff.

Sie machte keinen Versuch, Whisky zu holen, denn sie wußte, daß keiner im Hause war.

»Der Keller ist leer, Vater«, erwiderte sie trocken. »Die Winzer streiken.«

Der Spott brachte ihn wieder zur Raserei, und er drehte sich wütend nach ihr um, aber Andys Blick bannte ihn.

»Miss Nelson, könnte ich Ihren Vater ein paar Minuten allein sprechen? Ich möchte etwas mit ihm beraten.«

Sie nickte und ging hinaus.

»Aber, mein Lieber ...« versuchte Nelson schwach zu protestieren.

»Sie nannten mich vorhin Mr. Macleod – Sie haben vergessen, daß ich Arzt bin. Haben Sie in der letzten Zeit einen Arzt konsultiert?«

»Nein, das hatte ich nicht nötig, meine Gesundheit ist in bester Ordnung«, erwiderte Mr. Nelson trotzig.

»Davon ist sie so weit entfernt, daß Sie dicht vor einem vollständigen Zusammenbruch stehen, von dem Sie sich niemals wieder ganz erholen werden. Ohne daß ich Ihr Herz untersucht habe, kann ich Ihnen sagen, daß sie böse Kreislaufstörungen haben. Nun erschrecken Sie, weil Sie wissen, daß ich recht habe. Sie werden das nächste Jahr nicht überleben, wenn Sie nicht aufhören zu trinken.«

Nelson blinzelte.

»Sie wollen mir nur Angst einjagen. Ich weiß selbst, daß es nicht richtig ist zu trinken. Aber ich bin doch noch nicht so kindisch, wie Sie denken. Ich trinke ja nur, weil ich soviel Sorgen habe, Mr. – Doktor Macleod.«

»Sie können sich die meisten Sorgen ersparen, wenn Sie keinen Whisky mehr anrühren. Gestatten Sie, daß ich morgen wiederkomme und Sie untersuche? Wer ist eigentlich Ihr Arzt?«

»Doktor Granitt aus Beverley. Ich habe ihn aber niemals meiner eigenen Gesundheit wegen zu Rate ziehen müssen. Er hat meine arme Frau während ihrer letzten Krankheit behandelt.«

»Nun gut, ich werde Sie untersuchen, und er kann dann Ihre Behandlung übernehmen. Wir werden Sie zusammen ein zweites Mal untersuchen.«

»Ich weiß aber gar nicht, warum«, begann Nelson in seinem alten anmaßenden Ton.

Aber Andy überging seine Einwände.

»Ich möchte Ihre Tochter nicht zu sehr erschrecken«, sagte er leise, »Wir werden deshalb nicht weiter über die Sache sprechen, wenn sie kommt.«

Als Stella gleich darauf wieder in das Zimmer trat, fand sie ihren Vater lammfromm, bescheiden und ruhig. Kenneth Nelson empfand nun doch eine gewisse Furcht und konnte sich davon nicht so schnell erholen.

»Ich glaube, es ist besser, wenn ich zu Bett gehe, Stella. Ich habe mich schon während der letzten Tage nicht wohl gefühlt.« Andy amüsierte sich über ihn, aber er ließ sich nichts merken. Er ging zur Tür und wartete dort, bis Stella einen kleinen Schal umgelegt hatte. Er war aus schwarzer Seide und trug in einer Ecke ein roteingesticktes Monogramm. Alles an ihr interessierte ihn in hohem Maße. Als sie miteinander zum Gartentor gingen, erzählte er ihr, was er mit ihrem Vater besprochen hatte.

»Ich weiß sehr wohl, daß er nicht an Kreislaufstörungen leidet, aber ich werde Doktor Granitt besuchen. Ich kenne seinen Sohn sehr gut – wir waren zusammen auf der Universität. Wir können uns ja irgendeine komplizierte Krankheit ausdenken, die Ihrem Vater das Trinken zum mindesten auf eine längere Zeit verleidet.«

»Ja, vielleicht ist das möglich«, sagte sie unsicher.

»Sie haben keine Hoffnung mehr?«

»Mit der Zeit verliert man sie.«

»Ich möchte Ihnen darauf etwas erwidern. In London gibt es Taxis, die einem gewissen Stadmere gehören. Diese Stadmere-Wagen sind die besten ihrer Art. Ich habe mir angewöhnt, wenn ich nicht gerade in der größten Eile bin, auf ein solches zu warten. Dabei ist mir aufgefallen, daß sofort ein Stadmere-Taxi auftaucht, wenn man sich fest entschließt, ein solches zu nehmen.«

»Das ist ein Gleichnis.« Sie lächelte. »Aber ich warte auf etwas, das mehr ist als ein Stadmere-Taxi – ich warte auf ein Wunder.«

»Ich habe sogar erlebt, daß Wunder geschehen, und es lohnt sich wirklich, auf sie zu warten. Wenn man jung ist, verrinnen die Tage schnell, und die Jahre erscheinen wie Ewigkeiten, so daß man ungeduldig wird.«

»Sie sprechen wie ein alter Mann«, versuchte sie zu scherzen, obwohl ihr nicht danach zumute war.

»Das mag stimmen. Zwar, werde ich auch noch manchmal ungeduldig, aber ich habe das Warten gelernt!«

Er hielt ihre Hand einen Augenblick in der seinen. Sie sah ihm nach, als er über den Rasen davonschritt, bis seine Gestalt immer undeutlicher wurde und im Tor des Gästehauses verschwand.


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