Edgar Wallace
Der Derbysieger
Edgar Wallace

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22

»Die Sache hat Sie schwer mitgenommen«, meinte Eric Stanton.

Milton saß teilnahmslos am Tisch und starrte ins Leere. Die Zigarre zwischen seinen Fingern war ausgegangen.

»Ja, da haben Sie recht«, sagte er jetzt. »Mir hat noch nichts im Leben so sehr zugesetzt.«

»Kommen Sie mit in die Stadt und erholen Sie sich.«

Auf dem Heimweg hatten sie in der Nähe eines Vergnügungsparks einen Reifenschaden. Während der Chauffeur das Rad wechselte, gingen sie durch die Reihe der Würfelbuden und Schießstände und blieben schließlich vor einem größeren Zelt stehen. Ein auffallend bemaltes Schild verkündete, daß hier eine wandernde Theatertruppe Vorstellungen gab. Die Schauspieler und Schauspielerinnen standen in ihren Kostümen auf einer erhöhten Plattform.

»Der Mann dort kommt mir so bekannt vor«, sagte Eric plötzlich und wies auf einen Schauspieler, der mit lauttönender Stimme die Umstehenden zum Besuch des Theaters aufforderte.

»Und die Frau dort muß ich auch schon gesehen haben«, erwiderte Milton und zeigte auf eine reichlich geschminkte Dame, die auf einem Stuhl saß und mit einem Kollegen sprach.

»Es ist doch merkwürdig, daß man sich manchmal einbildet, gewisse Leute schon zu kennen, die man plötzlich trifft«, fuhr Milton fort. »Jedem von uns ist das schon begegnet.«

Er folgte einer plötzlichen Eingebung und nahm Eric mit in die Vorstellung, die mittlerweile begonnen hatte. Sie kauften reservierte Plätze in der Nähe der Bühne, und der erste Akt war beinahe zu Ende, als Milton einen Zettel schrieb. Er schickte ihn durch einen Angestellten hinter die Bühne und erhielt auch gleich darauf die Antwort, daß der Schauspieler ihn nach der Vorstellung sprechen würde.

»Ich habe eine Idee«, erklärte Milton, »aber ich weiß nicht, ob ich recht habe.«

Eric schüttelte den Kopf.

»Sie sind wieder einmal geheimnisvoll, und ich weiß nicht, was Sie beabsichtigen.«

Die Vorstellung endete erst gegen zwölf Uhr, und die Schauspieler kamen einzeln aus dem Zelt ins Freie. Ein etwas untersetzter Mann trat auf Milton Sands zu.

Sie musterten sich einen Augenblick, als sie einander gegenüberstanden, und Milton sah, daß der Mann verlegen wurde.

»Ich glaube, wir haben uns schon kennengelernt«, bemerkte der Detektiv ruhig.

»Ich glaube nicht«, entgegnete der andere ablehnend.

»Würden Sie vielleicht so liebenswürdig sein und mich in mein Hotel begleiten? Ich möchte einige Fragen an Sie richten.«

»Nein, das lehne ich entschieden ab.«

»Dann muß ich die Polizei rufen und Sie verhaften lassen.«

»Das können Sie nicht. Ich habe Sie überhaupt noch nicht gesehen!«

»Machen Sie doch keine Geschichten. Ich will Ihnen gern für Ihre Bemühungen zahlen, wenn Sie mir einige Informationen geben können«, erklärte Milton lächelnd. »Wenn Sie vernünftig sind, gehen Sie mit mir.«

Diese Zusicherung beruhigte den Schauspieler, und er begleitete die beiden.

Sie fuhren zu einem nahegelegenen Hotel, in dem Eric ein Zimmer nahm, und setzten sich bei einem Glas Wein zusammen.

»Wie kam es denn, daß Sie heute nachmittag auf dem Hausboot von Sir George waren?« fragte Milton nach einigen einleitenden Bemerkungen. »Und warum haben Sie behauptet, daß Sie das Boot gemietet hätten?«

»Darüber möchte ich nichts weiter sagen«, entgegnete der Mann zurückhaltend.

Milton zog seine Brieftasche heraus und legte fünf Banknoten auf den Tisch. Jede hatte einen Wert von fünf Pfund.

»Wenn Ihre Informationen nützlich für mich sind, zahle ich Ihnen diese Summe.«

Der Mann sah das Geld gierig an.

»Unter diesen Umständen bin ich schließlich nicht abgeneigt, Ihnen die Geschichte zu erzählen. Wir haben ja nichts Schlimmes getan, sondern uns einfach engagieren und bezahlen lassen.«

»Wer hat Sie denn engagiert?«

»Ein eleganter Herr. Ich glaube, er heißt Sir George Frodmere. Außerdem war noch ein gewisser Mr. Kitson bei ihm.«

»Ach so, Bud Kitson.« Milton nickte.

Der andere grinste.

»Der hat mir eine merkwürdige Geschichte vorerzählt. Eine hübsche Schauspielerin sollte zu dem Boot kommen, die immer von zwei jungen Leuten belästigt wurde. Sie wollte sich dort vor ihnen in Sicherheit bringen. Ich und meine Kolleginnen sollten eine Familienszene auf dem Hausboot spielen und die beiden Herren hinters Licht führen. Wir bekamen zehn Pfund für unsere Bemühungen und sollten von morgens bis zur Abendvorstellung auf dem Boot bleiben.«

»Jetzt verstehe ich alles«, sagte Milton. »Hier haben Sie Ihre fünfundzwanzig Pfund. Ich will Sie nicht weiter stören.«

Er verließ das Zimmer, öffnete draußen seine Aktentasche, nahm eine Browningpistole heraus und untersuchte sie. Er überzeugte sich, daß das Magazin gefüllt war, steckte die Pistole in seine Hüfttasche und ging dann zu Eric zurück.

»Wir wollen noch einmal zu dem Hausboot fahren und es gründlich untersuchen. Da Kitson zu der Gesellschaft gehört, ist es ratsam, daß wir uns vorsehen.«

Es gab noch einen kleinen Aufenthalt, bevor sie abfahren konnten, und die Kirchenuhren schlugen eins, als sie zum Themseufer kamen.

»Wir sind da«, sagte Milton und zeigte auf die beiden weißen Pfosten, die die Anlegestelle markierten.

Der Wagen hielt, sie stiegen aus und gingen nach dem Fluß zu. Es war eine dunkle Nacht, und ein leichter Regen fiel.

»Wir müssen falsch gegangen sein«, rief Eric plötzlich.

»Warum denn?« fragte Milton erstaunt.

Aber dann sah er plötzlich, daß das Hausboot nicht mehr am Ufer lag. Sie fanden wohl die Pfosten, an denen es vertäut gewesen war, und im Schein ihrer Taschenlampen entdeckten sie auch Fußspuren und die Stelle, wo die Landungsbrücke am Ufer aufgelegen hatte. Aber das Hausboot selbst war verschwunden.

 

»Wie spät ist es?« fragte Sir George.

»Halb eins«, entgegnete Kitson.

»Der Schlepper muß jeden Augenblick ankommen.«

»Der Schlepper?« fragte Bud erstaunt.

Sir George nickte.

»Sie lassen uns hier sicher nicht in Ruhe, denn sie werden bald auf unserer Spur sein. Die Schauspieler haben ihren Zweck erfüllt, aber ich brauche mehr Zeit, um zum Ziel zu kommen. Deshalb habe ich einen Schlepper engagiert, der uns den Strom hinunterbugsieren soll. Ich kenne eine ruhige, nette Bucht weiter unten, in der wir wochenlang liegen können, ohne daß man uns dort sucht.«

»Aber wird denn das alte Boot die Fahrt aushalten?« fragte Kitson zweifelnd.

Sir George lächelte.

»Der Schlepper muß das Boot längsseits festmachen, dann kann so leicht nichts passieren. Ich habe auch schon Anweisung gegeben, daß er die Taue sofort loswerfen soll, wenn wir in der Nähe der Bucht sind. Wir müssen den alten Kasten dann selbst mit Stangen und Rudern bis zu einer guten Landungsstelle bringen.«

Sir George schaltete das Licht im Salon aus und öffnete eins der Fenster, die auf den Fluß hinausführten.

»Da kommt er schon.«

Mitten im Strom konnten sie die dunklen Umrißlinien des kleinen Dampfers sehen. Die roten und grünen Lichter leuchteten hell in der Dunkelheit.

Nach kurzer Zeit war das Hausboot von den Pfosten losgemacht und an dem Schlepper befestigt. Langsam fuhren sie auf den Strom hinaus.

»Die einsame Bucht befindet sich auf dem Landgut von Lord Chanderson, und es trifft sich vorzüglich, daß er gerade heute abend nach Frankreich reist. Ich hörte es auf dem Rennplatz, als er mit einem anderen Herrn darüber sprach. Niemand wird uns dort beobachten, und wenn uns das Glück günstig ist, können wir uns bequem drei Wochen lang versteckt halten. Haben Sie das Boot verproviantiert, wie ich Ihnen gesagt habe?«

Kitson nickte.

»Was soll denn aus ihr werden?«

Sir George lächelte.

»In drei Wochen kann viel passieren. In dieser Zeit kann selbst eine eigensinnige junge Dame ihre Meinung ändern. Augenblicklich bin ich allerdings in einer etwas unangenehmen Lage, Kitson. Das werden Sie auch verstehen. Wir haben ja schon öfter solche Situationen miteinander erlebt.«

»Das könnte ich nicht gerade behaupten«, entgegnete Bud kühl. »Mich hat man zwar mehrmals ins Gefängnis gesteckt. – Pentridge gab Ihnen doch zweitausend Pfund«, sagte er dann unvermittelt. »Davon möchte ich auch meinen Teil haben.«

»Selbstverständlich«, entgegnete Sir George beruhigend. »Wir teilen, wenn die Sache vorüber ist. Sie sollen nicht zu kurz kommen, weil Sie zu mir halten. Ich kann bald über ein großes Vermögen verfügen, und Sie wissen doch auch, daß ich ein wertvolles Landgut besitze.«

»Damit können Sie mir nicht imponieren. Das Ding ist über und über mit Schulden und Hypotheken belastet. Meiner Meinung nach besteht Ihr ganzes Besitztum aus den zweitausend Pfund, die Sie in Ihrer Brieftasche haben. Und ich muß schon darauf dringen, daß Sie mir einen Teil davon abgeben.«

»Wir wollen die Sache in einigen Tagen weiter besprechen«, sagte Sir George bestimmt.

»Nein, wir müssen sie jetzt ins reine bringen«, brummte Bud Kitson. »Unsere gemeinsame Verbindung war bis jetzt für mich nicht gerade sehr vorteilhaft, und ich verlange endlich einmal eine größere Summe.«

Sie standen beide auf dem Oberdeck und sahen auf den dunklen Fluß hinunter, während der Schlepper langsam stromabwärts dampfte.

»Ich habe bei Ihnen wirklich keine Seide spinnen können«, fuhr Kitson fort. »Und die tausend Pfund, die Sie mir jetzt geben werden, sind noch lange keine Entschädigung für all meine Mühe.«

Sir George lachte.

»Tausend Pfund soll ich Ihnen geben? Mein lieber Mann, Sie sind wohl nicht mehr ganz bei Verstand! Ich brauche den ganzen Betrag, ich kann nichts davon entbehren. Ich habe Ihnen doch vorhin schon gesagt, daß Sie Ihre volle Belohnung erhalten, wenn wir die Sache zu einem guten Abschluß gebracht haben.«

»Und ich sage Ihnen, daß ich meine Hälfte jetzt sofort haben will«, entgegnete Bud Kitson heftig.

Sir George wandte sich zu ihm um und trat ihm im Dunkeln entgegen.

»Sie bekommen jetzt gar nichts. Sie müssen warten, bis ich Ihnen etwas gebe, wenn die Zeit dazu gekommen ist.«

»Sie ist jetzt gekommen«, erwiderte Kitson hartnäckig.

Sir George drückte dem Amerikaner plötzlich die Pistole in die Rippen, und Bud hob automatisch die Hände hoch.

»Sie bekommen Ihr Geld, wenn ich soweit bin. Sie können mich nicht dazu zwingen, daß ich es Ihnen jetzt gebe.«

»Wenn ich nun aber ans Ufer gehe, die Polizei rufe und ihr alles mitteile?« fragte Kitson frech.

»Welchen Nutzen hätten Sie davon? Sie saßen doch schon einmal im Portland-Gefängnis. Wollen Sie wieder dorthin wandern? Wenn Sie Ihre Drohung wahrmachen sollten, werde ich schon dafür sorgen, daß Sie wieder hinkommen.«

»Ich glaube, das wird Ihnen kaum gelingen.«

»Auf Ihren Glauben kommt es gar nicht an«, entgegnete Sir George mit einem rauhen Lachen. »Ich kenne Ihr Vorleben ganz genau. In Monte Carlo wurde ein Mann ermordet, und Sie standen dabei und rührten keinen Finger, um den armen Teufel zu retten. Seit der Zeit haben Sie den Mörder erpreßt. Das ist an und für sich schon strafbar, außerdem sind Sie auch der Beihilfe zum Mord schuldig.«

»Sie wissen zuviel«, sagte Bud Kitson merkwürdig langsam und ruhig.

Blitzschnell schlug er Sir George die Pistole aus der Hand, und die Waffe fiel polternd auf das Deck.

»Lassen Sie mich los«, brüllte der Baronet, als Bud ihn an der Kehle packte.

Sie rangen miteinander auf dem Deck des großen Hausbootes. Plötzlich sprang Kitson zurück und schlug Sir George mit einem Kinnhaken zu Boden, so daß dieser besinnungslos liegenblieb. Vorsichtig beugte er sich über ihn, durchsuchte seine Taschen und fand, was er haben wollte. Er steckte die Brieftasche und die Pistole Sir Georges ein, zog dann ohne weitere Umschweife den Bewußtlosen an die Reling und warf ihn ins Wasser. Einige Zeit blieb er noch dort stehen und schaute in die dunklen Fluten, aber es war nichts mehr von Sir George zu sehen. Schnell ging er über das Deck und rief den Kapitän des Schleppers.

»Machen Sie Ihre Taue los und lassen Sie das Hausboot treiben!« befahl er.

Er hörte den Maschinentelegrafen, der das Signal zum Stoppen gab. Der Kapitän stieg von seiner kleinen Brücke und kam nahe an die Reling.

»Ist etwas nicht in Ordnung?« fragte er.

»Machen Sie das Hausboot los«, wiederholte Bud . . .

»Ich kann Sie aber doch nicht mitten im Strom treiben lassen!« entgegnete der Kapitän verwundert.

»Dann bringen Sie das Boot bis ans Ufer und lassen Sie es dort liegen«, erwiderte Kitson.

»Wo ist denn der andere Herr?«

»Der ist schon nach unten gegangen und hat sich schlafen gelegt.«

Der Kapitän zögerte.

»Und was wird aus meiner Heuer?«

Kitson nahm einen Geldschein aus der Tasche, lehnte sich über die Reling und reichte ihn hinüber.

»So, damit sind Sie bezahlt.«

Der Kapitän trat unter eine Lampe und erstaunte über die Höhe des Betrages.

»Ich werde Ihnen das Wechselgeld herausgeben.«

»Sie können den Rest behalten. Bringen Sie mich nur bis zum Ufer und fahren Sie dann fort.«

Aber selbst, als der Kapitän den Auftrag ausgeführt hatte, konnte er sich noch nicht beruhigen und fragte, ob er nicht noch weitere Hilfe leisten sollte.

»Ich kann den Kasten schon allein festmachen«, erklärte Bud.

Er wartete eine halbe Stunde, bis die Lichter des Schleppers um die Biegung des Flusses verschwunden waren. Bis jetzt hatte alles geklappt. Er hatte das Hausboot nicht festzumachen brauchen, denn es hatte sich auf einer Schlammbank festgesetzt und rührte sich nicht von der Stelle. Kitson ging nach unten. Seine Frau lag auf einer Couch im Salon.

»Sir George ist über Bord gefallen«, sagte er kurz, nachdem er sie geweckt hatte.

Sie sahen sich einen Augenblick an und verstanden sich.

»Mach dich fertig, damit wir fortgehen können. Wir müssen uns beeilen.«

»Was wird denn aus dem Mädchen?«

»Die kann hier bleiben. Die kleine Meinungsverschiedenheit zwischen mir und Sir George ist doch nur zu ihrem Besten.«

Die Vorbereitungen waren bald getroffen. Er wechselte seine leichten Schuhe gegen ein Paar kräftige Stiefel aus und durchsuchte dann Sir Georges Kabine. In einem Handkoffer fand er eine große Summe Bargeld.

Seine Frau war schon längst fertig und wartete auf ihn.

»Wäre es nicht besser, wenn wir sie riefen?« fragte sie.

»Nein, wir haben keine Zeit zu solchen Dummheiten. Wir müssen jetzt vor allem an uns selbst denken.«

»Was ist denn aus ihm geworden?« fragte sie und zeigte mit dem Kopf nach dem Deck.

»Halt den Mund und stell keine albernen Fragen.«

Als er vorhin auf dem Deck stand, hatte er geglaubt, die Spitze des Bootes sei dem Ufer so nahe, daß man von dort aus an Land springen könne. Aber jetzt bemerkte er zu seiner Überraschung, daß ihn ein breiter Streifen Wasser vom Ufer trennte.

»Das Boot ist ins Treiben gekommen«, sagte er mit einem Fluch und eilte aufs Oberdeck, um sich besser umsehen zu können.

Das Fahrzeug trieb tatsächlich langsam nach der Mitte des Stroms. Ein kleines Rettungsboot schwamm an einem Seil hinterher. Nach einigen Anstrengungen gelang es Kitson, es heranzuziehen. Er half seiner Frau hinein und kletterte dann selbst nach.

Er fand ein paar Ruder und trieb das Boot mit kräftigen Schlägen ans Land.

»Das ist der beste Ausweg für uns. Das Mädchen werden sie morgen schon finden. Passieren kann ihr nichts.«


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