Oskar Wächter
Vehmgerichte und Hexenprozesse in Deutschland
Oskar Wächter

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Zweiter Abschnitt. Ursprung und Verfahren der Vehmgerichte.

Noch heute sind vielfach die abenteuerlichsten Vorstellungen von den mittelalterlichen Vehmgerichten verbreitet. Man erzählt schauerliche und unheimliche Geschichten, wie sie bei Nacht, in unterirdischen Gewölben oder im Waldesdickicht unter allerlei Vermummung und furchterregenden Gebräuchen ihre Sitzungen gehalten und mit grausamen Foltern und Strafen ihre Opfer gepeinigt, oder ihre Gefangenen in entsetzlichen Kerkern hätten verschmachten lassen.

Mit dergleichen Phantasiegebilden übertüncht man noch immer eine der ehrwürdigsten und großartigsten Erscheinungen des deutschen Mittelalters.

Die Vehmgerichte waren altgermanische Volksgerichte, die unter freiem Himmel, bei lichtem Sonnenschein sich versammelten, auf Anklage freier Männer, auf freier Männer Eid oder freies Geständnis richteten. Sie hatten weder Kerker noch Folter, sie erkannten nicht auf die grausamen Strafen der mittelalterlichen Kriminaljustiz – sie hatten nur eine Strafe, die sie im ganzen deutschen Reich gegen jeden Vervehmten in Anwendung brachten.

Diese westfälischen Vehmgerichte sind in den Zeiten der allgemeinen Rechtsunsicherheit, da Faustrecht und Fehde in Deutschland walteten, ein mächtiger Hort des Rechts gewesen. Mit unwiderstehlicher Macht und Strenge, mit einer Gewalt, die an den fernsten Grenzen des deutschen Reichs den Schuldigen ergriff, übten sie Gericht mit mehr Kraft und Ansehen, als Kaiser und Landesherren es vermochten.

Mitglied der heiligen Vehme, Freischöffe, Wissender, Vehmgenosse zu sein, galt für die höchste Ehre des freien Mannes. Und wer es wagen mochte, der Ladung dieser Gerichte und ihrem Königsbanne zu trotzen, der war keinen Tag sicher, ob ihn nicht die vernichtende Wucht der über ihn ausgesprochnen Acht treffen möge.

Die Vehmgerichte in Westfalen führten ihre Einsetzung auf Karl den Großen zurück. Dieser habe die alten Volksgerichte, welche er dort vorfand, ausdrücklich bestätigt und ihnen den Königsbann, die höchste Gerichtsbarkeit über Leben und Tod, im Namen und aus Vollmacht des deutschen Königs und römischen Kaisers zu üben, erteilt. Auf diese Einsetzung, als ihr geheiligtes Recht, haben die Freistühle sich jederzeit berufen, selbst gegen die Landesherren und kaiserlichen Gerichte. In betracht dieses Königsbanns heißt noch jetzt der zum Freistuhl führende Weg an vielen Orten der Königsweg.

Manche wollen auf den Königsbann oder Blutbann, welchen diese Gerichte übten, auch den Ausdruck »rote Erde« zurückführen, welcher eben das von Freistühlen bedeckte Westfalen bezeichnete. Indes wird diese Bezeichnung vielfach ganz anders gedeutet: von den einen auf die rötliche Farbe des eisenhaltigen Erdbodens, von andern als Hinweisung auf die Gerichtsstätten unter freiem Himmel, so daß die »rote« Erde eben die »rohe, bloße« Erde besagen solle.

Die Vehmgerichte nannten sich Freistühle oder Freigerichte, weil sie das altgermanische Recht der freien Grundbesitzer, Gericht zu halten, sich unangetastet bewahrt hatten. Während nämlich im übrigen Deutschland, abgesehen etwa von den Reichsstädten, die landesherrliche Gewalt mehr und mehr bestrebt war, die alten Freiheiten zu beseitigen und namentlich die Gerichtsbarkeit allein zu üben, behielten die westfälischen Bauern ihr angestammtes Volksgericht und dessen Unmittelbarkeit unter Kaiser und Reich. Der Vorsitzende des Gerichts war kaiserlicher Bevollmächtigter, Karolingischer Graf, und nannte sich, weil er das Grafenamt bei dem Gericht der Freigebliebnen übte, zur Auszeichnung vor andern Grafen: Freigraf; und so hießen die Schöffen am Freistuhl: Freischöffen. Der oberste Stuhlherr, welcher die Gerichtsbarkeit dem Grafen zu Lehen gab, war der Kaiser. Doch übertrug er späterhin die Stuhlherrschaft an den Erzbischof von Köln, welcher fortan die kaiserliche Statthalterschaft über alle Freigerichte in Westfalen besaß.

Solcher Freistühle nun gab es in Westfalen eine große Anzahl. Sie standen meist an den uralten deutschen Malstätten, die schon Karl der Große vorgefunden, in der Regel unter einem alten Baum, einer Linde, einem Hagedorn (Beerboom) und dergleichen, auf einer Anhöhe, von wo aus der Freigraf nicht nur die den Stuhl zunächst umgebenden Schöffen, sondern auch den ganzen »Umstand« des Gerichts, d.h. die zum »Freiding« erschienenen Freien, übersehen und von ihnen gesehen werden konnte. Denn in vielen Fällen wurde öffentlich, ohne daß die »Unwissenden« sich entfernen mußten, gerichtet; und auch das heimliche oder »Stillgericht« tagte an dieser offnen Stätte, welcher dann freilich kein Uneingeweihter sich nahen durfte.

Auf der Malstätte stand gewöhnlich ein steinerner Tisch, welchen von drei Seiten eine steinerne Bank umgab. So wird noch heute unter der sogen. Vehmlinde zu Dortmund, einem der angesehensten Freistühle, der steinerne Tisch gezeigt, auf welchem das Dortmunder Wappen, ein Adler, eingehauen ist, und die Bank von Stein. Die Umgebung trägt noch den an den Königsbann erinnernden Namen: Königshof.

Auf diesem Tische lag bei »gespannter Bank«, d.h. wenn das Gericht gehalten wurde, vor dem Freigrafen ein blankes Schwert und ein Strick aus Weiden geflochten. Auf das Schwert wurden die Eide geleistet. Der Strick aber war das Mittel der Strafvollstreckung. Und damit hängt wohl auch die Benennung »Vehme« (so, und nicht: »Feme« schreiben die alten Urkunden) zusammen. Dieser Ausdruck wird nämlich abgeleitet von vimen, welches soviel als »wyt«, d.h. Weide oder Strang bezeichnet. Der Verurteilte nämlich sollte mit einem aus Weiden geflochtnen Strang gehenkt werden. Auch der Baum, an welchem dies geschah, wurde »Wymen« oder »Vehmen« genannt. Denn die alten Vehmordnungen schreiben vor, daß die Freischöffen den Vervehmten sollen »hängen an des Königs Vemen, das ist an den nächsten Baum, der ihnen dazu bequem ist«.

Vielfach begegnet man der Meinung, es hätte auch außerhalb Westfalens, selbst im südlichen Deutschland und in der Schweiz Vehmgerichte gegeben. Es ist dies aber ein Irrtum. Allerdings mochten in spätern Jahrhunderten einzelne Gerichte in andern Gegenden mit dem Namen Vehmgerichte sich bezeichnen. Allein dies konnte nur durch Mißbrauch geschehn. Sie hatten weder die Vorrechte, noch die Verfassung der Freistühle, und es ist heutzutage außer Zweifel, daß es wirkliche Vehmgerichte nur in Westfalen gegeben hat und nach dem Gang der Geschichte hier allein geben konnte. Aber Freischöffen, d.h. solche, die unter die Genossen der Vehme aufgenommen waren und für den Vollzug der Urteile der Vehme zu sorgen hatten, gab es in ganz Deutschland. Und eben hierauf beruhte die große und geheimnisvolle Macht des heimlichen Gerichts.

Die Vehme wird häufig als ein großer über ganz Deutschland verbreiteter Geheimbund angesehen. Denn die Mitglieder hatten ihre geheimen Erkennungszeichen und waren verpflichtet, einander in Vollzug der Urteile Beistand zu leisten. Gleichwohl standen sie nicht miteinander in einer Verbindung jener Art. Allerdings aber lag die ungemeine und geheimnisvolle Macht der Vehme darin, daß sie durch Mitglieder, durch Schöffen in allen deutschen Ländern sich zu verstärken wußte. Jeder Freischöffe, wo er auch wohnen mochte, und nur ein solcher, konnte wegen eines verübten Verbrechens Klage vor einem westfälischen Freistuhl führen und ein Urteil desselben erwirken, ein Urteil, welches, wenn der Angeklagte sich nicht zu rechtfertigen vermochte, auf Acht und deren Vollzug mittelst des Stranges erging. War aber der Schöffe selbst angeklagt, so hatte er eine weit günstigere Stellung, als der Nichtwissende; in den älteren Zeiten konnte er sich einfach vor dem Freistuhl losschwören; leistete er den Eid, daß er die That nicht begangen, so war er frei. Und auch als späterhin wegen Mißbrauchs dieses zu weit gehende Recht des Losschwörens in Abgang kam, war es doch immerhin dem Freischöffen viel leichter, eine freisprechende Sentenz zu erwirken, als dem Nichtschöffen.

Dazu kamen noch besondre Rechte der Schöffen, welche sie auch außerhalb Westfalens übten, namentlich das Richten auf handhafter That, wovon unten Näheres.

Endlich genoß der Freischöffe eines besondern Schutzes, welcher mächtiger war, als selbst Kaiser und Reich ihn hätte gewähren können. Wer nämlich einen Schöffen, welcher namens der Vehme handelte, verletzte oder auch nur gefangen hielt, mußte der nachdrücklichsten Verfolgung der Vehme gewärtig sein und hatte sein Leben verwirkt.

All diese Vorrechte und die gefürchtete und angesehene Stellung, welche damit verbunden war, ließen das Schöffenamt höchst begehrenswert erscheinen. Die angesehensten Männer aus allen Ständen, selbst viele Reichsfürsten und mancher deutsche Kaiser scheuten nicht die Reise nach Westfalen, um sich dort vor einem Freistuhl »wissend machen zu lassen« und den Eid auf das Schwert des Freigrafen zu leisten. Selbst die mächtigen Reichsstädte legten großen Wert darauf, unter ihren Ratsherren einige Freischöffen der heiligen Vehme zu haben.

Wenn nun eine Ladung oder ein Urteil der Vehme erging, so war jeder Schöffe auf Anfordern eines andern Freischöffen verbunden, zum Vollzug zu helfen. Und da bei dem Geheimnis, in welches die Vehmsache vor jedem Unwissenden gehüllt erschien, kein Schuldiger sicher sein konnte, ob nicht in seiner nächsten Nähe Freischöffen bereit seien, ihn zu fassen, so mußte diese Macht des heimlichen Gerichts in der That eine unwiderstehliche werden.

Häufig versuchten Städte und Landesherren vom Kaiser Privilegien dahin zu erwirken, daß ihre Angehörigen nicht vor einen Freistuhl geladen werden, sondern nur den einheimischen Gerichten unterworfen sein sollten. Solche Privilegien wurden dann wohl dahin erteilt, daß jene Ladung nur zugelassen werde, wenn der Kläger binnen einer gewissen Frist, in der Regel binnen vier Wochen, vor dem einheimischen Gericht Recht nicht zu erlangen vermöge. Und da in jenen Zeiten allgemeiner Rechtsunsicherheit und Gewaltthat sehr häufig die Landesgerichte eines Angeklagten nicht mächtig zu werden vermochten, so blieb trotz jener kaiserlichen Privilegien immerhin die Ladung des Freistuhls in Aussicht.

Treten wir nun nach dieser allgemeinen Charakteristik der Organisation und dem Verfahren der Vehme näher, so ist in betreff der Zusammensetzung des Gerichts selbst schon erwähnt, daß der Vorsitzende ein kaiserlicher Freigraf war. Dieses Amt, das Grafenamt, konnte jeder freie Westfale erlangen, wie denn viele der angesehensten und gefürchtetsten Freigrafen einfache Landleute gewesen sind.

Das Gericht selbst mußte mit mindestens sieben Schöffen besetzt sein. Doch konnte auch über diese Zahl jeder Freigraf und Freischöffe erscheinen und an der Verhandlung und Urteilsfällung teilnehmen, so daß bei manchen besonders wichtigen Sachen oft Hunderte von Freischöffen mitgewirkt haben; z.B. an der Vernehmung des Herzogs Heinrich von Bayern, welche um Johannis 1429 unter dem Vorsitz des Freigrafen Albert Swynde ausgesprochen wurde, beteiligten sich 18 Freigrafen und 800 Freischöffen.

Die Gerichtssitzung fand nur bei hellerlichter Tageszeit unter freiem Himmel statt. Der Frohnbote (»Freifrohne«, »Vehmfrohne«) besorgte die Ladung an die eingesessenen Schöffen (daher die Bezeichnung »gebotenes« oder »verbotenes Ding« d.h. geladenes Gericht) und vollzieht die Aufträge des Freigrafen. Das Verfahren selbst war das altgermanische Anklageverfahren; nur auf erhobene Klage ward gerichtet. Diese Klage geht meist von dem Verletzten oder seinen Angehörigen aus, kann aber nur durch den Mund eines Wissenden vorgetragen werden. Dem Kläger wird, wenn er nicht selbst wissend ist, ein Fürsprecher aus der Zahl der Schöffen bestellt. Hat er nun seine Klage vor dem Freistuhl angebracht, so läßt der Freigraf zunächst darüber entscheiden, ob die Sache eine »Vehmfrage« sei, d.h. ob sie vor das Vehmgericht gehöre. In dieser Hinsicht bezeichnen die ältesten Vehmordnungen als die Verbrechen, für welche die Freigerichte zuständig waren: »Alles, was gegen der Christen Glauben und die zehn Gebote, und was gegen Gott, Ehre und alles Recht ist«; namentlich urteilten sie über Abfall vom christlichen Glauben, Kirchenraub, Verräterei, Mord und Mordbrand, Eigenmacht, Totschlag, Notzucht, Straßenraub, Raub gegen Kranke, Fälschung, Meineid, Dieberei, Landabpflügen, Gewalt gegen Reichs- und Freigerichtsboten. Schließlich waren es überhaupt alle schwereren Verbrechen, über welche sich die Gerichtsbarkeit der Vehme erstreckte. Ob deren Benennung »heilige Vehme« sich auf das Richten über Religionsverbrechen bezog, oder nicht vielmehr darauf, daß sie Gerichtsbarkeit namens des Kaisers und des »heiligen römischen Reichs« übten, mag dahingestellt bleiben.

Nicht vor das Freigericht sollten Juden und Geistliche geladen werden. Die letztern waren bloß ihren geistlichen Gerichten unterworfen. Ein altes Rechtsbuch sagt: »Man soll keinen Pfaffen, auch keinen Geistlichen, der geschoren und geweiht ist, nicht an einen Freistuhl laden, auch kein Weibsbild, noch Kinder, die zu ihren Jahren nicht gekommen sind, auch keinen Juden noch Heiden, noch alle, die den Christenglauben nicht erkannt haben, weil sie des Gerichts nicht würdig sind; die alle soll man nicht an Freistuhl laden.« Im übrigen aber galt keine Befreiung, kein Ansehn der Person: selbst an Reichsstädte und Reichsfürsten erging die unhintertreibliche Ladung, vor dem Freigericht Recht zu geben. Auch über bürgerliche Rechtsstreitigkeiten haben die Vehmgerichte mitunter geurteilt. Doch war bezüglich dieser Rechtsansprüche ihre Zuständigkeit wohl eine beschränkte, einerseits auf westfälische Sachen, anderseits auf die Fälle, in welchen der Berechtigte des Beklagten vor seinem ordentlichen Gericht nicht mächtig werden, vor dem einheimischen Richter desselben kein Recht erlangen konnte (sogenannte Evokationsfälle).

Der Eröffnung des Gerichts gingen gewisse Formalitäten voran, indem in einer Zwiesprache zwischen dem Freigrafen und dem Frohnboten die Ordnungsmäßigkeit des Rechtstages festgestellt wurde. Hierauf ermahnte der Freigraf die Schöffen, sie sollen unparteiisch dem Armen wie dem Reichen »bei ihrer Seelen Pfand« Recht sprechen. Eine Aufzeichnung der Vehmgerichtsordnungen (die sog. Arensberger Reformation nach Th. Berck, Geschichte der westfälischen Vehmgerichte S. 320) sagt des weitern: »Wenn das Gericht bei Königsbann verbannet wird, und man in der heimlichen beschlossenen Acht dinget oder richtet, so sollen aller Häupter bloß und unbedeckt sein. Sie sollen weder Kappen noch Hüte, noch sonst etwas darauf haben, zum Beweise daß sie den Menschen nicht unrecht verurteilen, sondern einzig wegen der Missethat, die er beging. Ihr aller Antlitz soll unbedeckt sein, zum Wahrzeichen, daß sie kein Recht mit Unrecht bedeckt haben, noch bedecken wollen. Sie sollen auch alle bloße Hände haben, zum Zeichen, daß sie kein Werk an und unter sich haben, sondern die Leute nur verurteilen um die Missethat, und daß man die Bösen von den Guten sondert; denn man verurteilt billig einen Dieb und andre wegen Unthat. Sie sollen Mäntelein auf ihren Schultern haben. Diese bedeuten die warme Liebe, recht zu richten, die sie haben sollen; denn so wie der Mantel alle andre Kleider oder den Leib bedeckt, also soll ihre Liebe die Gerechtigkeit bedecken. Sie sollen auch darum die Mäntel auf den Schultern haben, damit sie (anzeigen, daß) sie dem Guten Liebe beweisen, wie der Vater dem Kinde. Sie sollen ferner weder Waffen bei sich führen, noch Harnisch, damit sich niemand vor ihnen zu fürchten brauche, und weil sie in des Kaisers oder Königs und in des Reichs Frieden begriffen sind. Sie sollen endlich auch ohne allen Zorn und nüchtern sein, damit die Trunkenheit sie nicht zu ungerechten Urteilen verleite; denn Trunkenheit macht viel Bosheit.« – Indes steht in teilweisem Widerspruch mit jener Kleiderordnung eine andre Arnsberger Handschrift (bei Wigand, Das Vehmgericht Westfalens S. 551), wonach die Schöffen weder Hut noch Mantel tragen sollen.

Wurde die Vorfrage bejaht, daß die Anklage eine »Vehmwroge« sei, so erließ der Freigraf die Ladung des Angeklagten und des Klägers zur Verhandlung der Klage, und zwar in der Regel mit einer Frist von 6 Wochen und 3 Tagen. War der Vorzuladende ein Freischöffe, so erhielt er drei solcher Fristen. Die letzte Ladung bedrohte den Geladnen, daß, wenn er nun nicht erscheine, auf Erweis der Klage die »höchste Wette« d.h. das schwere letzte Urteil gegen ihn ausgesprochen würde.

Sehr häufig war bei den gerichtlichen Ladungen besondre Vorsicht geboten. Denn oft setzte sich der Ueberbringer einer solchen Ladung der Gefahr aus, von dem übermütigen Geladnen mit blutigem Kopf heimgeschickt zu werden. War solche Vergewaltigung zu besorgen, so konnte die Ladung auch bei Nacht geschehn. So sagen z.B. die von Kaiser Ruprecht über ihr Verfahren vernommenen Freigrafen:

»Sitzt der Angeklagte auf einem Schloß, darein man ohne Sorg und Abenteuer nicht kommen möchte: so mögen die Schöppen, die ihn heischen wollen, eines Nachts oder wenn es ihnen taugt, vor das Schloß reiten, oder gehn, und aus dem Nennbaum oder Riegel drei Späne hauen und die Stücke behalten zum Gezeugnis und den Ladungsbrief in die Kerben oder Grindel stecken und dem Burgwächter zurufen: sie hätten einen Königsbrief in den Grindel gesteckt und eine Urkunde mit sich genommen und er solle dem, der in der Burg ist, sagen, daß er seines Rechtstags warte an dem freien Stuhl bei den höchsten Rechten und des Kaisers Bann.«

Waren Städtebürger zu laden, so wurden die Ladebriefe häufig bei Nacht in die Thore der Stadt oder an die Hausthüre des zu Ladenden gesteckt, oder an einen Ort, wo sie unfehlbar gefunden werden mußten, z.B. in eine Kirche gelegt und dabei noch sorgfältig verwahrt, – in leinenem Säckchen u. dgl.

War der Aufenthalt oder der Wohnort des zu Ladenden unbekannt, so wurden vier schriftliche Ladungen ausgefertigt und an Kreuzstraßen gegen die vier Himmelsgegenden an vier Orten des Landes, worin man etwa seinen Aufenthalt vermuten konnte, aufgesteckt.

Uebrigens ließ die Vehme auch in betreff ihrer Boten sich nicht verachten. Wer einen solchen aufhielt oder verletzte, wurde unnachsichtlich vor Gericht gezogen.

So erging im Jahr 1473 eine Ladung an die Einwohner von Straßburg, weil dortige Bürger zwei Boten der Vehme »auf des heil. Reichs Straße ... mördtlich vom Leben zum Tode gebracht haben«.

Im Jahr 1441 wurden Rat und alle Bürger der Stadt Eßlingen, die über zwanzig Jahre alt, ausgenommen geistliche Leute, vor den Freistuhl zu Waltorf geladen, weil sie einen Freischöffen in Eßlingen gefangen hielten. Und in der That mußten die Eßlinger sich durch abgesandte Prokuratoren vor dem westfälischen Gericht verantworten und die sofortige Entlassung des Gefangnen versprechen. Gar nicht selten waren die Fälle, in denen Reichsstädte, deren Rat oder sämtliche männliche Einwohner vom 20. bis zum 70. Lebensjahre vor einen Freistuhl in Westfalen geladen worden sind, Städte, denen im Weg der Fehde nicht beizukommen gewesen wäre, die sich aber unweigerlich jener Ladung beugen mußten.

In den Zeiten der höchsten Macht und Blüte der Vehmgerichte, namentlich um die Mitte des 16. Jahrhunderts, ergingen ihre Ladebriefe im Süden von Deutschland bis zum Bodensee, östlich bis nach Schlesien und Liefland, im Norden bis zum Meer. Ja, drei Freigrafen wagten sogar, was freilich ein Mißbrauch war, den Kaiser Friedrich III. und seinen Kanzler und sein Kammergericht vor ihren Freistuhl zu laden, damit der Kaiser – wie es in der Ladung hieß – »daselbst seinen Leib und die höchste Ehre verantworte, bei Strafe, für einen ungehorsamen Kaiser gehalten zu werden«.

Die Ladung lautete entweder vor das »offene Ding« (d. h. öffentliches Gericht) oder vor das geheime Gericht. Ersteres war der Fall, wenn der Vorzuladende nicht ein »Wissender« war. Denn der »Unwissende« durfte dem geheimen Gerichte nicht anwohnen. Hingegen über einen »Wissenden« wurde in der heimlichen Acht gerichtet. Erschien nun der Angeklagte vor Gericht, so hatte zunächst der Kläger seine Anklage vorzutragen. War der Angeklagte der That geständig, so hatte er sich selbst gerichtet; ihm wurde sofort das Urteil gesprochen und diesem folgte unmittelbar die Exekution; er wurde ergriffen, gebunden, am nächsten besten Baum aufgeknüpft.

Wenn nun aber der Angeklagte seine Unschuld behauptete, so mußte der Beweis, von der einen oder andern Seite durch Eid geführt werden. Der Ankläger konnte sich erbieten, seine Anklage mit Eidhelfern zu beschwören. Diese mußten Freischöffen sein, und den Eid dahin leisten, daß sie die Anklage für wahr halten. Ob hiefür zwei Eidhelfer genügten, oder deren sechs nötig waren (daher der Ausdruck: »übersiebenen«) ist nicht unbestritten; doch scheinen ursprünglich zwei genügt zu haben. Hatte nun aber der Ankläger mit seinen Eidhelfern sich zum Eid erboten, so konnte der Angeklagte mit einer größeren Zahl von Eidhelfern sich losschwören, also wenn gegen die zwei Eidhelfer des Klägers sechs Schöffen bereit waren, den Eid dahin zu leisten, daß sie die Unschuld des Angeklagten für durchaus glaubhaft halten. Aber diese Eide durfte hinwiederum der Ankläger mit dreizehn Eidhelfern vereiteln, und in diesem Falle konnte der Angeklagte nur mit zwanzig Freischöffen, welche mit ihm zu schwören sich bereit fanden, die Klage überbieten und sich frei machen. Je nach der Zahl der zum Eid bereiten Eidhelfer wurde nun entweder die Anklage oder die Unschuld beschworen. Es lag hierin ein ähnliches Prinzip, wie es den modernen Geschwornengerichten zu Grunde liegt. Es sollte die Ueberzeugung einer Mehrheit von Schöffen und ihr Vertrauen die Frage der Schuld entscheiden.

Nachdem die Anklage und – wenn der Angeklagte erschien, dessen Verantwortung – vernommen, auch die Eide geleistet waren, bestellte der Freigraf einen Schöffen zum Urteilsfinder. Es mußte dies ein dem Angeklagten ebenbürtiger Schöffe sein. Dies nannte man die »Stellung des Urteils auf einen echten rechten Freischöppen«. Dieser hatte die Aufgabe »das Recht zu weisen«. Er konnte sich mit den übrigen Schöffen beraten. Das Urteil mußte aber »sitzend gefunden, stehend gescholten (d.h. verkündigt) werden«. Wurde sein Ausspruch von allen gebilligt, so hieß dies »Folge des Unstandes«. Der hiernach verkündigte Spruch bildete das Urteil, welches nun der Freigraf verkündete und, – wenn es ein Schuldig war, gegen den erschienenen Angeklagten sofort in Vollzug setzte.

Sehr häufig zog der Angeklagte vor, gar nicht vor dem Gerichte zu erscheinen. In diesem Falle nun verwandelte sich das »offene Ding« in die »heimliche Acht« (d. h. geheime Beratung) oder das sog. »Stillgericht«. Dies geschah in derselben Sitzung, auf derselben Malstätte, lediglich dadurch, daß alle Anwesenden, welche nicht Freischöffen waren, durch feierlichen Aufruf aufgefordert wurden, sich zu entfernen. Wenn nach dieser Aufforderung ein Nichtschöffe, ein »unwissender Mann«, und war es auch ohne böse Absicht, an dem Gerichtsort betroffen wurde, so traf ihn unnachsichtlich der Tod: »der Freigraf steht auf, nennt den Mann mit Namen, bindet ihm seine Hände vorn zusammen, thut den Strick aus Weiden um seinen Hals und läßt ihn durch die Freischöffen henken an den nächsten Baum.«

Während nämlich für die Geheimhaltung von Seiten der Schöffen selbst durch den Eid und die strenge Strafe des Verrates gesorgt war, mußte durch diese Heimlichkeit vor Unwissenden Vorsorge getroffen werden, daß nicht etwa der verurteilende Spruch zur Kenntnis des abwesenden Verurteilten kommen und er sich der Exekution entziehen möchte.

Wenn nun also der Angeklagte im letzten Termin, zu welchem er »bei der höchsten Wette« (d. i. Strafe) geladen war, ausblieb, und auf ihn gewartet worden, »bis die Sonne auf dem Höchsten gewesen, bis Mittags in die dritte Uhr«, auch der Kläger dargethan hatte, daß die Ladungen gehörig erfolgt waren, so rief der Freigraf den Angeklagten im Gericht feierlich noch viermal bei Namen und Zunamen auf, und fragte, »ob niemand von seinetwegen da sei, der ihn verantworten wolle zu seinen Rechten und seiner höchsten Ehre«. Und nun forderte der Kläger Vollgericht d. h. die letzte Sentenz, das Endurteil. Er selbst hatte zunächst seine Anklage knieend, die rechte Hand auf des Grafen Schwert gelegt, zu beschwören, und mit dem Kläger, als seine »Folger« oder »Freunde«, seine Eidhelfer aus der Zahl der Schöffen. Diese bestätigten durch ihren Eid, daß sie der Glaubwürdigkeit des Klägers volles Vertrauen beimessen, daß sie überzeugt seien, der Ankläger schwöre »rein, nicht mein«. Damit galt die Anklage gegen den ungehorsam ausgebliebenen Angeklagten als voll erwiesen.

Die Verurteilung, die letzte, die schwere Sentenz wurde in den feierlichsten Formen über den Schuldigen ausgesprochen. Der Freigraf vervehmte ihn, indem er sprach:

»Den beklagten Mann mit Namen N., den nehme ich hier aus dem Frieden, aus den Rechten und Freiheiten, die Kaiser Karl gesetzt und Papst Leo bestätigt hat, und ferner alle Fürsten, Herren, Ritter und Knechte, Freie und Freischöffen beschworen haben im Lande zu Westfalen, und werfe ihn nieder und setze ihn aus allem Frieden, Freiheiten und Rechten in Königsbann und Wette und in den höchsten Unfrieden und Ungnade, und mache ihn unwürdig, echtlos, rechtlos, siegellos, ehrlos, friedelos und unteilhaftig alles Rechts, und verführe ihn und vervehme ihn nach Satzung der heimlichen Acht und weihe seinen Hals dem Stricke, seinen Leichnam den Tieren und Vögeln in der Luft zu verzehren, und befehle seine Seele Gott im Himmel in seine Gewalt, und setze sein Leben und Gut ledig, sein Weib soll Witwe, seine Kinder Waisen sein.«

Hierauf – heißt es in den alten Vehmrechtsbüchern, »soll der Graf nehmen den Strick von Weiden geflochten und ihn werfen aus dem Gerichte, und so sollen dann alle Freischöffen, die um das Gericht stehen, aus dem Munde speien, gleich als ob man den Vervehmten fort in der Stunde henkte. Nach diesem soll der Freigraf sofort gebieten allen Freigrafen und Freischöffen, und sie ermahnen bei ihren Eiden und Treuen, die sie der heimlichen Acht gethan, sobald sie den vervehmten Mann bekommen, daß sie ihn henken sollen an den nächsten Baum, den sie haben mögen nach aller ihrer Macht und Kraft.«

Wer wissentlich mit einem Vervehmten Gemeinschaft hatte, teilte sein Schicksal. So mußte also der Geächtete, verlassen und gemieden, in steter Angst umherirren, bis ihn die Hand des Vollstreckers traf.

Ein so vervehmter Mann, mochte er auch der mächtigste und reichste, der angesehenste und glücklichste gewesen sein, – mit dem Spruch, der über ihn ergangen, war er ein elender, verlorner Mann.

Das Urteil mußte vor dem Vervehmten geheimgehalten werden, damit ihn sicher und unvorbereitet der Vollzug treffen könne. Würde ein Schöffe (denn nur solche waren anwesend gewesen) ihn etwa auch nur gewarnt haben, ihm durch ein verblümtes Wort Vorsicht oder Flucht anratend, z. B. indem er ihm sagte: »es sei anderswo ebensogut Brot essen, als hier,« so war solcher Schöffe als eidbrüchig unrettbar dem Strange verfallen.

Aber wie vermochte das in Westfalen ergangne Urteil in die weite Ferne zu wirken?

Hier eben griff die Heimlichkeit der Vehme mit staunenswerter, unwiderstehlicher Macht ein und verlieh dieser Achterklärung eine Wirksamkeit, welche weit die der kaiserlichen und Reichsacht und Oberacht übertraf. Wer nämlich in die Reichsoberacht erklärt wurde, galt für vogelfrei, jeder durfte ihn töten; aber sehr häufig war es ihm ein Leichtes, sich dieser Gefahr zu entziehen. Aber die Acht oder ›Verfürung‹ der Vehme war in ihren Folgen das unentrinnbare Todesurteil des Vervehmten. Er mußte getötet werden. Denn über ganz Deutschland waren die Freischöffen verbreitet und jeder war durch seinen Eid, den er vor dem Freistuhl geleistet, verbunden, den Spruch der heiligen Vehme durch Tötung des Vervehmten, wo er seiner habhaft werden möge, zu vollziehen. Wenn der Ankläger vor dem Freigericht die Verurteilung seines Gegners erwirkt, oder wenn der Freigraf einen Schöffen oder zwei mit dem Vollzug betraut hatte, so bedurfte es nur der Beiziehung mithelfender Schöffen, welche ja überall zu finden waren, um den Verurteilten zu richten.

Dem Ankläger wurde das Urteil schriftlich mit dem Siegel des Freigrafen und in der Regel mit einer Ermahnung an alle Freischöffen, ihm bei der Vollziehung behilflich zu sein, ausgefertigt, damit ihm die Urkunde zu seiner Legitimation diene gegen andre Freischöffen, die er etwa zur Hilfe bei der Exekution nötig hätte. Denn überall, wo der Vervehmte zu treffen war, konnten und mußten die Schöffen den nichts Ahnenden richten, d.h. sie ergriffen und henkten ihn an den nächsten besten Baum.

Damit aber die Vollstreckung gesichert sei und der einzelne keinen Mißbrauch mache, durften die Freischöffen nur zu dreien den Schuldigen richten. Jeder Schöffe, dem die Vernehmung bekannt war, konnte andre Schöffen zur Hilfe bei der Exekution aufrufen; doch war der Aufgerufene zur Hilfe nur dann, dann aber unbedingt, mag es auch gegen Freund oder Bruder gehen, verbunden, wenn er eines Freigrafen Brief und Siegel sah, oder wenn ihm drei andre Schöffen bei ihren Eiden sagten, daß der Mann vervehmt sei.

Auffallend kann es scheinen, daß der Vollzug des Urteils den Schöffen aufgetragen war, und nicht andern, minder geachteten Personen. Allein in jenen Zeiten wurde diese Funktion nicht, wie späterhin, als eine wenig ehrenhafte betrachtet. Sie galt eben als ein Teil des Richtens selbst; das »Nachrichten« war nur gleichsam der letzte Akt des Gerichtübens. So war auch anderweit, z.B. in manchen Reichsstädten, die Hinrichtung eine Obliegenheit des jüngsten verheirateten Bürgers. Erst späterhin wurde der Henker als anrüchig angesehen, an manchen Orten auch geradezu der »Schelm« genannt. Für die Schöffen der Vehme aber war das Richten des Vervehmten eine durchaus nicht entwürdigende Obliegenheit.

Widersetzte sich der Vervehmte, so durften sie ihn niederstoßen. Sie banden in diesem Falle den Leichnam an einen Baum an der Landstraße und steckten ein Messer daneben, zum Zeichen, daß der Mann nicht von Räubern überfallen, sondern von Freischöffen in des Kaisers Namen gerichtet sei.

In der Regel erfuhr der Unwissende, daß er vervehmt sei, erst in dem Augenblicke, da ihm der Strang um den Hals gelegt wurde.

Um andre Schöffen in der Nähe des Verurteilten in aller Stille und ohne sich zu verraten oder preiszugeben, zur Mitwirkung auffordern zu können, und um sicher zu sein, nicht dabei an einen Unwissenden zu kommen und dadurch das Geheimnis zu verraten, hatten die Freischöffen eine geheime Losung, an der sie sich gegenseitig erkannten, und welche zugleich das Mittel war, jeden Nichtschöffen, der sich etwa in ihre Gerichte eindrängen wollte, als solchen sogleich zu erkennen.

Der Freigraf sagte nämlich den Neuaufgenommenen mit bedecktem Haupte »die heimliche Vehme Strick, Stein, Gras, Grein«Das altnordische Wort Grein – Ast oder Zweig, deutet auf den Baum, an welchem das Todesurteil vollstreckt wurde. Vgl. Grimm, Rechtsalterthümer, S. 683. und erklärt ihnen das. Dann sagt er ihnen das »Notwort, wie es Carolus Magnus der heimlichen Acht gegeben hat, zu wissen: Reinir dor Feweri und klärt ihnen das auf, als vorgeschrieben ist«; dann lehrt er ihnen den heimlichen Schöppengruß also: daß der ankommende Schöppe seine rechte Hand auf des andern linke Schulter legt und spricht: »Ich grüß euch, lieber Mann! was fanget ihr hier an?« Darnach legt der Angeredete seine rechte Hand auf des andern Schöppen linke Schulter und spricht: »Alles Glücke kehre ein, wo die Freienschöffen sein.« Der erste sagt nun: »Strick, Stein« und der andre erwidert: »Gras, Grein«. Auch wurde, wenn besondre Veranlassung vorlag, das Notwort ausgesprochen.

Ein Erkennungszeichen zwischen Wissenden soll auch darin bestanden haben, daß sie bei Tische »das Messer mit der Spitze zu sich und die Schale nach der Schüssel von sich gekehrt haben«.

Wer vor dem Freistuhl zum Wissenden (daher auch »Vehmenoten« genannt) gemacht wurde, hatte den feierlichen Eid dem Freigrafen nachzusprechen: »Ich gelobe, daß ich nun fort mehr die heilige Vehme wolle helfen halten, und verheelen vor Weib und Kind, vor Vater und Mutter, vor Schwester und Bruder, vor Feuer und Wind, vor alle demjenigen, was die Sonne bescheint und der Regen bedecket, vor alle dem, was zwischen Himmel und Erde ist, befördern vor den Mann, so das Recht kann; und will diesem freien Stuhl, darunter ich gesessen bin, vorbringen alles, was in die heimliche Acht des Kaisers gehört, was ich für wahr weiß, oder von wahrhaften Leuten habe hören sagen, das zur Rüge oder Strafe gehet, das Vehmwrogen sein, auf daß es gerichtet oder mit Willen des Klägers in Gnaden gefristet werde; und will das nicht lassen um Lieb noch um Leid, um Gold, noch Silber, noch um Edelgestein; und stärken dies Gericht und Recht nach allen meinen fünf Sinnen und Vermögen ec.

Auf den Verrat der geheimen Losung und der Heimlichkeiten des Gerichts überhaupt stand unnachsichtlich der Tod. So sagt ein altes Rechtsbuch der Vehme:

»Wäre es, daß ein Freischöffe die Heimlichkeit und Losung der heimlichen Acht oder irgend etwas davon in das Gemeine brächte oder unwissenden Leuten einige Stücke davon, klein oder groß, sagte, den sollen die Freigrafen und Freischöffen greifen unverklagt und binden ihm seine Hände vorne zusammen und ein Tuch vor seine Augen und werfen ihn auf seinen Bauch und winden ihm seine Zunge hinten aus seinem Nacken und thun ihm einen dreisträngigen Strick um seinen Hals und hängen ihn 7 Fuß höher als einen verurteilten, vervehmten, missethätigen Dieb.«

Diese furchtbare Drohung erklärt es denn auch, daß kein Fall bekannt ist, in welchem ein Wissender sich hätte bewegen lassen, die Geheimnisse der Vehme zu verraten. Ja die Scheu, in diese Geheimnisse einzudringen, war bei den »Unwissenden« so groß, daß sie nicht wagten, auch nur eine Vehmurkunde zu eröffnen, welche die Aufschrift trug: »Diesen Brief soll niemand öffnen, niemand lesen oder hören lesen, es sei denn ein echter rechter Freischöffe der heimlichen beschlossenen Acht des heiligen Reichs.« Solche Urkunden fanden sich daher noch in unserm Jahrhundert unentsiegelt in den Archiven vor, weil niemand dem furchtbaren Rächer des Geheimnisses in die Hände hatte fallen wollen.

Dasselbe Geheimnis umgab die Gesetze und Gebräuche der Freigerichte. Die Aufzeichnungen und Sammlungen derselben tragen außen und zum Eingang die Warnung, daß niemand sie haben oder lesen dürfe, es sei denn ein echter, rechter, freier Schöffe des heiligen römischen Reichs. Wer aber, ohne daß er ein Freischöffe wäre, das Buch eröffne, der solle des schweren heimlichen Gerichts gewärtig sein. Und in der That blieb das Geheimnis vor allen Nichtschöffen gewahrt, so sehr, daß häufig der geladne Angeklagte aus Unkunde der Einrichtungen in großer Furcht sich befand, ob er nicht aus Unkenntnis in Nachteil gerate. So z.B. wird berichtet, daß die Stadt Görlitz und fünf andre Städte in der Lausitz, als sie im Jahr 1428 vor einen Freistuhl geladen wurden, in größte Angst gerieten und selbst nach Erledigung der Sache sich noch nicht sicher glaubten, und daher durch einige zuverlässige Personen Kunde von der Uebung und Einrichtung der Vehmgerichte, wiewohl vergebens, einzuziehen sich bemühten.

Einige besonders angesehene Freigerichte hießen Oberhöfe oder Oberstühle, indem sie eine höhere Autorität in Vehmrechtsfragen in Anspruch nahmen, und es scheint, daß hie und da an sie von andern Freistühlen eine zweifelhafte Sache abgegeben oder ihr Rat in Vehmfragen eingeholt wurde. Eine eigentliche Berufung aber, so daß der Verurteilte die Sache noch an ein höheres Gericht hätte bringen können, gab es der Natur der Sache nach – wie denn jedem Urteil die Vollstreckung alsbald folgen sollte – nicht. Wohl aber mochte gegen eine unbefugte Ladung Beschwerde an den Kaiser erhoben werden. Auch konnte ein abwesend Verurteilter, wenn er sein Ausbleiben auf die an ihn ergangne Ladung zu entschuldigen wußte und wenn er ein Wissender war, um neue Verhandlung der Sache bei dem Freistuhl, welcher das Urteil gesprochen hatte, nachsuchen. Zu diesem Behuf mußte er im heimlichen Ding mit einem Strick um den Hals in Begleitung zweier Freischöffen erscheinen und fußfällig um Gnade bitten.

Ein Zusammentritt der Freigrafen mit dem Stuhlherrn kam bei den sogenannten Generalkapiteln vor, bei welchen indes auch die einfachen Freischöffen zugelassen waren und deren oft gegen tausend erschienen. Sie hatten namentlich die Aufgabe, die Vehmrechtsnormen fest- und klarzustellen und die Freistühle zu beaufsichtigen.

Nicht nur für die Vollstreckung der Urteile, auch für die Entdeckung und Verfolgung von Verbrechen war die Verbreitung der Schöffen von hohem Belang. Denn sie hatten eine allgemeine Rügepflicht, sie waren verbunden, sei es auf Ansuchen des Verletzten, sei es aus eigner Wahrnehmung, solche Verbrechen, die nicht sonst ihren ordentlichen Richter fanden, vor einem Freistuhl auf roter Erde zur Anklage zu bringen. Ja, in gewissen Fällen konnten sie sofort richtend gegen den Verbrecher, wer es auch sei, einschreiten, kraft ihrer sehr weitgehenden Machtvollkommenheit »bei handhafter That«.

Wurde nämlich von Freischöffen der Vehme der Verbrecher entweder auf der That selbst ergriffen oder mit den Werkzeugen, mit denen er die That vollbrachte, oder mit dem, was er durch die That sich angeeignet, auf eine Weise betreten, die ihn ganz unverkennbar als Thäter bezeichnete, oder wenn er die That gestand – die Vehmurkunden nennen es: »mit habender Hand, mit blinkendem Schein (evidenter That) oder mit gichtigem (bekennendem) Mund« – so konnte sogleich und wo auch der Verbrecher auf der That ergriffen werden mochte, also auch außerhalb Westfalen, gerichtet werden. Denn trafen nur drei Freischöffen jemand bei einem Verbrechen, das als Vehmsache galt, auf handhafter That: so konnten und mußten sie ihn zur Stunde richten, d. h. sie ergriffen ihn und henkten ihn an den nächsten Baum.

Da die Vehmrechtsgewohnheiten auch den »gichtigen Mund«, das Geständnis des Angeklagten, zur handhaften That zählen; so folgt daraus, daß, wenn drei oder vier Schöffen von einem dritten außergerichtlich das Bekenntnis eines Verbrechens hörten, sie sofort ihn richten konnten.

Wenn sich also einer in Gegenwart mehrerer Schöffen eines Verbrechens berühmte, so konnten gegen ihn die Freischöffen auf der Stelle mit dem Strang vorgehen. Es war dies ein höchst gefährliches Recht; denn selten mögen die Schöffen wohl die Ernstlichkeit des Geständnisses untersucht haben, sondern schritten eben mit der Exekution ein.

Einen solchen Fall berichtet eine alte Chronik von Thüringen und Hessen. Als im Jahr 1412 Kaiser Rupert nach Hersfeld kam, so hielt er den jungen Ritter Simon von Waldenstein vorzüglich hoch. Simon kam mit achtzehn grauen Hengsten und war mit allen seinen Dienern ganz weiß gekleidet. Wie er nun mit dem König und vielen Fürsten und Herren zu Tische saß, da sprach einer im Mutwillen, der war dem Simon feind: »wie pranget der von Waldenstein so hoch, ich habe ihm wohl vier Pferde genommen, und floge nicht ein Vogel darnach.« Das wurde dem Simon angesagt und er antwortete: »hätte er geschwiegen, so wäre es mir unbekannt gewesen; haben nicht Vögel darnach geflogen, so sollen nun große Raben fliegen!« und nahm denselben sobald vom Tisch, führte ihn hinaus und ließ ihn an einen Baum henken, »das war sein verdienter Lohn seines schwatzhaften Mauls wegen«. »Man sagt – fährt der Bericht fort – von diesem Simon, daß er schon früher vierundzwanzig um ihrer Untugend willen henken lassen, feldflüchtige, treulose und hängmäßige Böswichter, die wider Ehr und Ehrbarkeit thäten, sonderlich an Frauen und Jungfrauen; was ihm deren zukam, ließ er alle henken, keine Schande oder Untugend mochte er geleiden. Da war auch Zucht und Ehr unter dem Adel. Denn jedermann forchte die schnelle Straf

Das Recht der Freischöffen, einen Verbrecher sofort vom Leben zum Tode zu bringen, wurde freilich nicht selten mißbraucht. So geschah es von Herzog Ulrich von Württemberg in seinem Handel mit Hans von Hutten. Der Herzog lebte mit seiner Gemahlin, der Herzogin Sabine in vielfachem Hader; sein Vertrauter, Hutten, erfreute sich der Gunst der Herzogin. Auf einer Jagd im Schönbuch, da Hutten einen von der Herzogin ihm geschenkten Ring trug, ließ der Herzog, der neben Hutten ritt, sein Gefolge sich entfernen und fiel nun plötzlich über seinen Vertrauten her und stieß ihn mit dem Schwert nieder; hierauf zog er demselben den Gürtel ab und knüpfte ihn damit eigenhändig an eine Eiche. Zu seiner Rechtfertigung erklärte der Herzog, er habe als westfälischer Freischöffe den missethätigen Junker gerichtet. Allein die Eigenschaft als Schöffe würde ihn hierzu nur bei handhafter That oder gichtigem Mund und nur mit Zuziehung zweier weitern Schöffen berechtigt haben. Die That erregte allgemeinen Unwillen und auf Betreiben der Huttenschen Verwandten fand sich der Kaiser schließlich bewogen, über den Herzog die Acht auszusprechen.

Eine dreifache Wirksamkeit war es, welche die Freischöffen im ganzen deutschen Reiche zum Schrecken aller Missethäter Jahrhunderte lang mit unerbittlicher Strenge übten. Wo sie von einem Verbrechen Kunde erhielten, welches nicht etwa schon vom einheimischen Gericht geahndet worden, mußten sie die Anklage vor den Freistuhl bringen. Hatte dieser die Acht ausgesprochen und einen Mann vervehmt, so konnte jeder Schöffe in der Nähe des Vervehmten angehalten werden, denselben zu richten. Wer aber auf frischer That oder auch nur derselben nachher geständig von Schöffen betroffen wurde, den konnten und sollten sie sofort selbst vom Leben zum Tode bringen. Erwägt man nun die große, allmählich auf gegen hunderttausend gestiegne Zahl von Schöffen, ihre Verbreitung und Organisation, so muß ihre Bedeutung in der That als eine gewaltige erscheinen.

Die Freischöffen bildeten durch ihre Stellung zur Vehme gewissermaßen eine selbständige Macht im Reiche, geeint zum Schutz des Rechts und der Unterdrückten gegen alle groben Verbrecher, ein Hort der Verfolgten, ein Schrecken für den Uebermütigen.

Der kaiserliche Blutbann, welchen die Freigerichte in Westfalen handhabten und kraft dessen sie eines jeden Missethäters im ganzen Reiche mächtig zu sein erklärten, er blieb keine leere Drohung, wie so manches Gesetz jener Zeit. Dem Wort folgte die That, und der Ruf vollstreckter Vehmsprüche durchzog alle Lande und beugte selbst den Trotz des Faust- und Fehderechts.

Ein ausgezeichneter Forscher über Vehmgerichte (Wigand, 1825) sagt: »Keine andre Einigung und Verbindung kam dieser gleich. Was gerüstete Heere nicht vermochten, wirkte hier der Ausspruch des Rechts. Der Fürst oder Graf, der an der Spitze seiner gerüsteten Mannen und hinter den festen Mauern seiner Burg selbst dem Kaiser trotzte, war entwaffnet, wenn der Bund, dem er nicht entrinnen konnte, ihn zum Opfer erkoren hatte. Selbst ein trotziger Ritter verschmähte sorglos das Gebot eines kaiserlichen Hofgerichts, das in den ersten Städten des Reichs, in kaiserlichen Palästen seine Sitzungen hielt; aber Städte und Fürsten erbebten, wenn ein Freigraf sie an die alten Malplätze, unter die Linde, oder an eines Flüßchens Ufer, auf westfälischen Boden heischte. Der gerichtlichen Gewalt sich zu entziehen und dem Urteilsspruch zu entgehen, war ein leichtes in jener Zeit. Aber wer vom Freigericht gerichtet war, konnte nirgend entfliehen. Ganz Deutschland war der Schöffen Land, und wo er sich befand, war er mitten unter seinen Richtern. Wie man von einer eisernen Jungfrau erzählt, zu der der Verurteilte geführt wurde, und die auf einen Druck, wenn er sich ihr nahte, ihn in ihre Arme schloß und mit scharfen Messern zerschnitt und vernichtete; so war auch das Urteil der Vehme, das der Ankläger heimlich bei sich trug, dem Zauberdruck zu gleichen, der, wenn er den Verurteilten berührte, ihn rettungslos in die zermalmenden Arme der Vehmgenossen stürzte.«

Es waren nicht gelehrte Richter, sondern meist einfache Landleute, welche dies in ihrem Volksgericht vollführten. Und welcher Kontrast gegen die mittelalterliche Justiz der Fürsten und Städte! Die Vehme kannte kein inquisitorisches Verfahren, ließ nie den Verdächtigen im Kerker schmachten, hat nicht ihn durch Folter oder durch geschraubte Fragen zum Geständnis getrieben und ihrer Strafe blieb all die Grausamkeit der verstümmelnden Strafen und der geschärften Todesstrafen ferne.

In Zeiten der allgemeinen Rechtsunsicherheit war die Vehme in der That ein Hort des Rechts, ein mächtiger Schutz der durch Gewalt Bedrohten, der Redlichen Schutz, der Frevler Trutz.

Aber es darf auch die Kehrseite des Bildes nicht verschwiegen werden. Wie alle menschlichen Institutionen, so groß und wohlgemeint sie sein mögen, so war auch die Einrichtung der Vehme im Laufe der Jahrhunderte einer Entartung ausgesetzt, welche schließlich ihren Untergang herbeiführen mußte und in groben Mißbräuchen das ursprünglich so makellose Freigericht in Mißkredit brachte. Der Schöffenstand wurde nach und nach korrumpiert, wohl auch mit infolge der massenhaften Aufnahme der sich Meldenden aus allen Gauen des Reichs. Während in den ersten Jahrhunderten streng darauf geachtet worden, daß man nur Männer von verbürgter Ehrenhaftigkeit und voller Zuverlässigkeit zu Freischöppen mache, so ließen sich späterhin manche Freigrafen durch Geld oder Einfluß eines Mächtigen bestimmen, die nötige Prüfung zu unterlassen, und danach drängten sich in die Reihen nicht nur der Schöffen, auch der Freigrafen, Leute von zweifelhaftem Charakter. Bestechung oder Haß wirkten bei dem Richterspruch mit. »Ein korrumpierter Freigraf stellte das Urteil an einen parteiischen Schöppen, welchem ein ebenso parteiischer Umstand dasselbe finden half. Die Stuhlherrschaft sah durch die Finger, weil sie selbst das ihrige von den Einkünften (den Gebühren für die Aufnahme und den Gerichtskosten, welche die Partien zu leisten hatten) zog. Um die gesetzlichen Befreiungen kümmerte man sich wenig oder gar nicht mehr. Man maßte sich ohne weiters Kompetenz über bloße Zivilsachen an.«

Die Mißbräuche, welche zu den vielfachsten Beschwerden Anlaß gaben, veranlaßten den Kaiser, daß er einer Reihe von Städten das Privilegium erteilte, nicht mehr vor ein Freigericht geladen werden zu können. Solche Exemtionen wurden bald auf ganze Territorien erstreckt. Mit der Erstarkung der landesherrlichen Gewalt und der Besserung in der allgemeinen Rechtssicherheit war ohnehin die innere Berechtigung der westfälischen Jurisdiktion für das übrige Deutschland gefallen. So schwand denn auch ihre Bedeutung schon im Lauf des sechzehnten Jahrhunderts fast völlig dahin. Die Vehmgerichte sind nie durch allgemeines Gesetz abgeschafft worden, aber die Geschichte hat ihren Niedergang und ihr Erlöschen zu verzeichnen, denn sie hatten ihren Dienst gethan.

Zweite Abteilung. Die Hexenprozesse.


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