Voltaire
Kandide oder Die beste aller Welten
Voltaire

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Zwölftes Kapitel: Wie übel es der Alten weiter erging

Erstaunt und entzückt, meine Muttersprache zu hören, und über die eben vernommene Rede nicht wenig verwundert erwiderte ich, daß es noch größers Unglück gäbe, als das sei, worüber er sich beklagte. Mit einem paar Worten erzählt' ich ihm alle das gräßliche Elend, dessen Opfer ich gewesen, und sank wieder in Ohnmacht. Er trug mich in ein benachbartes Haus, legte mich in ein Bette, brachte mich wieder zu mir, erquickte mich, ließ mirs nicht an Wartung und Trost abgehn, und an Schmeicheleien; sagte, er habe nie auf Gottes Erdboden ein schöners Geschöpf gesehn als mich, und seinen unersetzbaren Verlust nie so stark betrauert als jetzt.

Ich bin aus Neapel bürtig, sagte er, wo jahraus jahrein zwei- bis dreitausend Knaben kapaunt werden. Einige sterben, andre erhalten Stimmen, die an Schönheit die weiblichen übertreffen, noch andre gehn aus in alle Lande und werden ans Staatsruder gesetzt. Ich ward mit dem günstigsten Erfolge kastriert und sodann Kapellsänger bei Ihro Durchlaucht, der Fürstin von Palestrina.

Bei meiner Mutter, schrie ich! Bei Ihrer Frau Mutter! rief er, und Tränen schössen über seine Wangen. So wären Sie die junge Prinzessin Aurora, die ich bis ins sechste Jahr erzogen, bei der damals all' die Reize in der Knospe lagen, die ich bei Ihnen in so voller, schimmernder Blüte sehe! Sind Sie's denn wirklich! „Wirklich! und meine Mutter liegt vierhundert Schritt von hier unter einem Haufen von Toten gevierteilt!" Ich erzählt' ihm all' meine Begebnisse, und er mir die seinigen, er sagte mir, eine gewisse christliche Macht hab' ihn nach Marokko gesandt, um mit diesem Monarchen einen Traktat zu schließen, mittelst dessen man ihm Pulver, Kanonen und Schiffe zu liefern versprach, damit er um so leichter dem Handel der übrigen christlichen Mächte den Garaus machen könnte. Mein Auftrag ist beendigt, sagte der ehrsame Kastrat zu mir, ich schiffe mich zu Ceuta ein und bringe Sie nach Italien zurück. Ma che sciagura d'essere senza coglioni!

Ich vergoß Tränen des innigsten Danks für all' das, was er an mir getan hatte und noch tun wollte. Er brachte mich nicht nach Italien, sondern nach Algier, und verkaufte mich an den dortigen Dei. Kaum war ich verkauft, als die Pest, die nachher Afrika, Asien und Europa durchzogen hat, in Algier zu toben begann. Erdbeben haben Sie schon gesehn, doch die Pest wohl nie gehabt, Baroneß? Nie, antwortete Kunegunde. Sonst würden Sie mir einräumen müssen, daß Erdbeben, dagegen gerechnet, gar nichts sagen will. In Afrika ist sie gang und gäbe; sie verschonte mich auch nicht. Stellen Sie sich nun die Lage vor, worin sich die fünfzehnjährige Tochter eines Papsts befand! In einem Vierteljahre hatte sie Geliebten verloren und Freiheit, war fast täglich geschändet worden, hatte immer Hungertod und Kriegsgetümmel vor Augen gehabt und sollte jetzt an der Pest sterben.

Ich kam demungeachtet glücklich davon, allein mein Kastrat ging drauf, und der Dei und fast der ganze algierische Serail. Als diese fürchterliche Pest eine kleine Pause gemacht, wurden die Sklaven des Deis verkauft. Ein Kaufmann erhandelte mich und nahm mich nach Tunis, wo er mich einem seiner Kollegen überließ, dieser verkaufte mich nach Tripolis, von Tripolis wurd' ich nach Alexandrien verkauft, von Alexandrien nach Smyrna, von Smyrna nach Konstantinopel.

Nunmehr befand ich mich in den Händen eines Janitscharenführers, der bald darauf Befehl erhielt, dem von den Russen belagerten Assow zum Entsatz zu kommen. Dieser Janitschar war ein überaus galanter Mann; er nahm alle seine Kebsdamen mit, logierte uns in eine kleine Schanze, dicht am See Tana, die von zwei schwarzen Verschnittnen und zwanzig Soldaten bedeckt wurde. Die Russen stürzten anfänglich hin wie die Fliegen; bald aber kehrte sich das Blatt. Assow ging über, wurde mit Feuer und Schwert verwüstet; bei den Überwindern galt kein Ansehn des Alters noch Geschlechts.

Unsre kleine Schanze hielt sich noch; die Feinde beschlossen, sie auszuhungern. Die zwanzig Janitscharen hatten geschworen, sich nie zu ergeben. Der äußerste nagendste Hunger nötigte sie, unsre beiden Verschnittnen aufzufressen, damit sie ihren Schwur nicht zu brechen brauchten. Nach Verlauf etlicher Tage beschlossen sie, es mit uns ebenso zu machen.

Wir hatten aber einen gar frommen Iman bei uns, einen recht barmherzigen Samariter, der hielt eine gar herrliche Predigt, wodurch sie andern Sinnes wurden. Umbringen müßt ihr die Weiber nicht, sagte er, aber jeglicher von ihnen den halben Hinterbacken ablösen, das laß ich gelten; auf die Art werdet ihr Essen die Fülle haben; gebricht's euch wieder an Proviant, nun so wißt ihr ja, wo eure Vorratskammer liegt. Ihr könnt sodann mit Zuversicht hoffen, daß euch Allah wegen einer solchen Barmherzigkeit nicht ohne Beistand lassen wird.

Da dieser Priester ein guter Schwadronör war, so drang er durch, und man nahm die grausame Operation vor. Der Iman bestrich uns in eigner Person mit Beschneidungsbalsam. Wir waren allesamt todsterbenskrank.

Kaum hatten die Janitscharen die Mahlzeit hinter, die wir ihnen verschafften, so waren die Russen in flachen Fahrzeugen da und stürmten die Schanze. Kein Janitschar blieb am Leben. Uns schleppten die Sieger mit, ohne sich um unsern Zustand im mindesten zu kümmern.

Französische Wundärzte findet man allenthalben. Sonach hatten sie einen in der Kunst gar wohlerfahrnen Franzmann bei sich, der nahm uns in die Kur und heilte uns glücklich. Er suchte uns dadurch zu trösten, daß dergleichen Kriegsgebrauch wäre und sich schon bei vielen Belagrungen ereignet hätte. Wie meine Wunden völlig zugeheilt waren, verlangt' er von mir Minnesold. Ich werde den Antrag in meinem Leben nicht vergessen.

Als meine Gespielinnen gehn konnten, mußten sie nach Moskau wandern. Ich fiel einem Bojaren zuteil, der mich zu seiner Gärtnerin machte und mir täglich zwanzig Hiebe mit der Knute gab. Allein nach zwei Jahren wurde dieser Herr mit dreißig andern Bojaren gerädert, weil sie am Hofe ein gar hübsches Rührei gemacht hatten.

Diese Begebenheit benutzt' ich, wipste davon, durchstrich ganz Rußland, war lange Zeit zu Riga Aufwärterin in einem Wirtshause, bekleidete den Posten auch zu Rostock, Wismar Leipzig, Kassel, Utrecht, Leiden, Haag, Rotterdam, ward im Elend und in der Schande alt und grau; schleppte allenthalben meinen halben Hintern mit herum, und die Erinnerung, daß ich die Tochter eines Papsts sei. Hundertmal war ich Willens, mich zu töten, aber immer siegte die Liebe zum Leben.

Diese lächerliche Schwäche ist eine unsrer unseligsten Triebe. Kann man sich wohl etwas Törichters denken als ein Geschöpf, das eine Last immer mit sich herumschleppt, die es gern alle Augenblicke von sich werfen möchte? Das sein Dasein verabscheut und doch platterdings nicht daran will, ihm ein Ende zu machen? Kurz das eine Schlange hätschelt, die immer in ihm fortnagt, bis sie ihm das Herz abgefressen hat.

In all' den Ländern, wohin mich das Schicksal getrieben, und in allen Wirtshäusern, wo ich Aufwärterin gewesen, hab' ich Personen die Menge gefunden, die ihr Dasein verfluchten, aber nur ein Dutzend gesehn, die ihrem Elende ein freiwilliges Ende machten. Das waren drei Mohren, vier Engländer, vier Genfer und ein Leipziger Professor, Namens Robeck.

Mein letzter Dienst war bei dem Juden Don Isaschar. Ich lernte ihn vor zwei Jahren in Rotterdam kennen, wo er in dem Gasthofe logierte, worin ich diente. Ein niedlicher Bettwärmer, den er mit sich gebracht, hatte sich in alle seine Kostbarkeiten und in seine vollgepfropfte Börse so stark verliebt, wie er sich in dies Kreatürchen, und den Anschlag gemacht, durch meine Beihilfe damit über alle Berge zu gehn. Diese Zumutung verdroß mich; ich steckte dem Juden das Projekt seines Madchens; er verhinderte sie an dessen Ausführung, indem er sie sitzen ließ, und mich nahm er zur Belohnung meiner Redlichkeit mit nach Portugal, wo er mir Zeit Lebens Unterhalt zu geben versprach.

Bald darauf kamen Sie in sein Haus, und er gab mich Ihnen zur Bedienung. Sie wissen, wie ich stets an Ihnen gehängt, gnädge Baroneß, wie ich über Ihre Schicksale ganz die meinigen vergessen habe, die um so härter sind, da mein Elend nur erst mit meinem Leben ein Ende nehmen kann. Denn Sie müssen noch wissen, bei Verlust des Kopfs darf ich mich in den Landen meines verstorbnen Vaters nicht wieder sehn lassen. Sein Nachfolger auf dem päpstlichen Stuhl, ein geschworner Feind meiner Mutter und des Hauses Massa Carrara, hat nicht nur alle unsre Güter eingezogen, sondern auch bei Landesverweisung verboten, meiner in Gesellschaft zu erwähnen. Durch ihn, teils bestochen, teils durch niedrige Schmeichelei bewogen, haben verschiedne Geschichtsschreiber nicht nur meinen Vater aus der Liste der Päpste weggelassen, sondern auch sogar öffentlich im Druck meine und meiner Mutter Existenz glatt weggeleugnet.

Urteilen Sie nun selbst, wer von uns beiden das Mehrste erlitten hat, und gleichwohl hätt' ich Ihnen nie meine Unglücksfälle erzählt, wenn Sie mich nicht durch Ihre bittern Klagen dazu aufgefordert hätten, und wenn's nicht im Schiff, so gut wie auf der Landkutsche Mode wäre, der lieben Langeweile halber Historien zu erzählen.

Machen Sie sich 'mal das Vergnügen, gnädige Baroneß, und nötigen Sie jeden aus unsrer Reisegesellschaft, seinen Lebenslauf zu erzählen; ich behaupte — und ich habe mir Erfahrung genug gesammelt, um das mit Grund behaupten zu können —, daß kein einziger darunter ist, der nicht sein Dasein verflucht, sich oft selbst gesagt hat, daß er der unglücklichste unter allen Menschen sei. Finden Sie einen, der das nicht getan hat, nun so stürzen Sie mich kopfüber ins Meer.


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