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Sechstes Kapitel

Wie man, um Erdbeben zu verhindern, ein schönes Autodafé veranstaltete und Candide verprügelt wurde

Nach dem Erdbeben, das dreiviertel von Lissabon zerstört hatte, wußten die Weisen des Landes kein wirksameres Mittel, um eine vollständige Zerstörung zu verhüten, als dem Volke ein schönes Autodafé Nach dem Erdbeben von Lissabon am 20. Juni 1756 veranstaltete man in der Tat ein Autodafé. zu geben. Die Universität Coïmbra hatte sich dahin geäußert, daß das feierliche Schauspiel einiger bei kleinem Feuer schmorender Menschen ein unfehlbares Mittel sei, um die Erde am Beben zu hindern.

Man hatte demgemäß einen Biskayer ergriffen, der überführt war, seine Gevatterin geheiratet zu haben, und zwei Portugiesen, die beim Essen eines Huhnes das Fett entfernt hatten. Nach jenem Mahle kam man zum Doktor und seinem Zöglinge Candide, um sie zu fesseln, den einen, weil er gesprochen, den andern, weil er mit beifälliger Miene zugehört hatte. Beide wurden getrennt in Räume von äußerster Kühle geführt, in denen die Sonne einen nie belästigte. Acht Tage später wurden sie beide mit einem Sterbehemd bekleidet und ihre Köpfe mit Papiermützen geschmückt. Candides Hemd und Mütze waren mit umgekehrten Flammen und mit Teufeln bemalt, die weder Schwänze noch Krallen hatten, wogegen auf Pangloß' Mütze die Teufel Krallen und Schwänze besaßen und alle Flammen in die Höhe standen. So gekleidet gingen sie in Prozession und hörten eine pathetische Predigt, der eine summende Musik folgte. Candide bekam während des Gesanges Prügel im Takt. Der Biskayer und die beiden Männer, die kein Fett hatten essen wollen, wurden verbrannt, Pangloß wurde gehängt, obgleich dies nicht Sitte war. Am selben Tag bebte die Erde von neuem mit furchtbarem Getöse.

Candide war erschüttert, bestürzt, verwirrt, mit Blut bedeckt und zitterte. Er sagte sich: »Wenn dies die beste aller möglichen Welten ist, wie sind dann die anderen? Es mag noch hingehen, daß ich gepeitscht wurde, ich kenne das schon von den Bulgaren. Aber mein teurer Pangloß, größter aller Philosophen! mußte ich dich hängen sehen, ohne zu wissen, warum? Und du, mein geliebter Anabaptist, bester aller Menschen! war es nötig, daß du im Hafen untergingst? Ach! und Fräulein Kunigunde, Perle aller Mädchen, warum mußte dein Leib aufgeschlitzt werden?«

So schleifte er sich fort, durch die Predigt vermahnt und geprügelt, absolviert und gesegnet, als eine Alte ihn anhielt und sagte: »Mein Sohn, fasse Mut und folge mir.«


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