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Fünftes Kapitel

Sturm, Schiffbruch, Erdbeben und was mit dem Doktor Pangloß, Candide und dem Anabaptisten Jakob geschah

Alle Passagiere waren schwach und fühlten sich dem Tode nahe durch den seltsamen Aufruhr der Angst, den das Rollen eines Schiffes in den Nerven und den durcheinandergerüttelten Körpersäften bewirkt. Der einen Hälfte fehlte sogar die Kraft, sich über die Gefahr zu beunruhigen. Die andere schrie und betete. Die Segel waren zerrissen, die Masten gebrochen, das Schiff gespalten. Manche versuchten zu helfen, niemand verstand sich, niemand befahl. Der Anabaptist half auch ein wenig bei den Rettungsarbeiten. Er war auf Deck. Plötzlich versetzt ihm ein wütender Matrose einen rohen Schlag und streckt ihn zu Boden. Aber dieser Schlag brachte eine so heftige Erschütterung mit sich, daß der Matrose selber, den Kopf voran, über Bord fiel. Er blieb an einem Stücke des zerbrochenen Mastes hängen und hielt sich fest. Der gute Jakob springt ihm bei, zieht ihn herauf und stürzt bei dieser Anstrengung vor den Augen des Matrosen ins Meer, was dieser ruhig geschehen ließ, ohne ihn auch nur eines Blickes zu würdigen. Candide kommt dazu, sieht seinen Wohltäter in einem Nu wieder auftauchen und dann für immer verschwinden. Er will sich ihm ins Meer nachstürzen. Der Philosoph Pangloß hindert ihn daran, indem er ihm beweist, daß die Reede von Lissabon eigens dazu erschaffen worden sei, damit der Anabaptist hier ertränke. Während er dies a priori bewies, birst das Schiff entzwei. Alles geht unter außer Pangloß, Candide und dem brutalen Matrosen, der den tugendhaften Anabaptisten ertränkt hatte: der Schurke schwamm glücklich bis zum Ufer; Pangloß und Candide wurden auf einem Brett dorthin getragen.

Als sie ein wenig zu sich gekommen waren, machten sie sich auf den Weg nach Lissabon. Sie hatten noch etwas Geld, mit dem sie sich vor dem Hunger zu retten hofften, nachdem sie dem Sturm entgangen waren.

Kaum haben sie unter Tränen über den Tod ihres Wohltäters den Fuß in die Stadt gesetzt, als sie die Erde unter ihren Schritten beben fühlen. Das Erdbeben von Lissabon am 1. November 1755. Das Meer erhebt sich brausend im Hafen und zerschellt alle Schiffe, die vor Anker liegen. Flammen- und Aschenwirbel hüllen Straßen und öffentliche Plätze ein, die Häuser brechen zusammen, die Dächer stürzen auf die Fundamente, und die Fundamente bersten. Dreißigtausend Einwohner jedes Alters und Geschlechtes werden unter den Trümmern zermalmt. Pfeifend und fluchend rief der Matrose; »Hier wird es etwas zu holen geben.« – »Welches mag der zureichende Grund für dieses Phänomen sein?« fragte Pangloß. – »Dies ist der Weltuntergang«, rief Candide. Der Matrose läuft sofort zwischen den Trümmern umher, trotzt dem Tode, um Geld zu finden, findet welches, berauscht sich, schläft seinen Rausch aus und erkauft sich die Gunst des ersten besten gefälligen Mädchens, das er zwischen den Ruinen der zerstörten Häuser, mitten unter Toten und Sterbenden, antrifft. Pangloß zupfte ihn am Ärmel und sagte: »Mein Freund, das ist nicht recht, Ihr sündiget an der göttlichen Vernunft und nehmt Eure Zeit schlecht wahr.« – »Rindvieh,« antwortete der andere; »ich bin Matrose und in Batavia geboren. Ich habe auf vier Reisen nach Japan viermal das Kreuz niedergetreten. Du hast deinen Mann gut gewählt für deine göttliche Vernunft.«

Herabfallende Steinsplitter hatten Candide verwundet; er lag unter Trümmern auf der Straße und sagte zu Pangloß: »Ach! verschaffe mir ein wenig Wein und Öl; ich sterbe.« »Dieses Erdbeben ist nichts Neues,« sagte Pangloß; »die Stadt Lima in Amerika erlitt dieselben Erschütterungen im vorigen Jahre. Dieselben Ursachen, dieselben Wirkungen. Es gibt sicher eine unterirdische Schwefelader von Lima bis Lissabon.« – »Nichts ist wahrscheinlicher,« sagte Candide; »aber um Gottes willen etwas Öl und Wein.« – »Wie, wahrscheinlicher?« versetzte der Philosoph; »ich behaupte, daß die Sache bewiesen ist.« Candide verlor die Besinnung, und Pangloß brachte ihm ein wenig Wasser von einem nahen Brunnen.

Nachdem sie am nächsten Tage, zwischen den Trümmern umherrutschend, ein bißchen Mundvorrat gefunden hatten, kamen sie wieder etwas zu Kräften. Darauf arbeiteten sie wie die anderen, um den dem Tode entronnenen Einwohnern zu helfen. Einige Bürger, denen sie beigestanden hatten, gaben ihnen ein so gutes Mahl, wie es bei solch einem Unglück nur möglich war. Zwar ging es traurig zu; die Speisenden benetzten ihr Brot mit Tränen, aber Pangloß tröstete sie, indem er versicherte, die Dinge könnten gar nicht anders sein. »Denn«, sagte er, »all dieses ist aufs beste eingerichtet; wenn ein Vulkan in Lissabon ist, konnte er nirgend anders sein; es ist unmöglich, daß die Dinge nicht da sind, wo sie sind. Denn alles ist gut.«

Ein kleiner schwarzer Mann, ein Vertrauter der Inquisition, der neben ihm saß, bat höflich ums Wort und sagte: »Offenbar glaubt der Herr nicht an die Erbsünde; denn wenn alles gut wäre, gäbe es weder Sündenfall noch Verdammnis.« – »Ich bitte Eure Exzellenz ergebenst um Verzeihung,« antwortete Pangloß noch höflicher, »der Sündenfall und die Verdammnis kamen notwendigerweise in die beste aller möglichen Welten.« – »Der Herr glaubt also nicht an die Freiheit des Willens?« sagte der Vertraute der Inquisition. – »Eure Exzellenz werden entschuldigen,« versetzte Pangloß, »die Willensfreiheit verträgt sich mit der absoluten Notwendigkeit; denn es war notwendig, daß wir frei wurden, da der vorausbestimmte Wille ...« Pangloß war mitten in seinem Satz, als der Inquisitionsvertraute seinem Diener, der ihm Wein aus Porto oder Oporto einschenkte, ein Zeichen gab.


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