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Das innerste Wesen des Nihilismus, denselben rein theoretisch als eine eigenthümliche Geistesrichtung betrachtet, hängt auf das tiefste mit dem Gesammtcharakter nicht bloss unserer Zeit, sondern unseres ganzen Jahrhunderts zusammen. Ein kritischer, destruktiver Trieb, dessen erste Impulse in der letzten Zeitperiode vor dem Jahre achtzehnhundert liegen, verleiht dem letzteren seine Signatur; je weiter es vorschreitet, desto energischer und bewusster neigt es zur Negation, es verrichtet im eigentlichsten Sinne eine Todtengräberarbeit, räumt mit dem Alten auf und wirft Schutt darüber. Ob es immer ein gesundes Leben ist, das aus den Ruinen blüht, – das bedarf nach den Erscheinungen im öffentlichen Leben unserer Tage keiner eingehenden Untersuchung.

Insbesondere seitdem die Schopenhauer'sche Philosophie zur Geltung gelangte und seit dem Auftreten der Lehren Darwin's mit ihren wissenschaftlichen und literarischen Konsequenzen hat sich der Trieb zur Negation immer weiterer Kreise bemächtigt; was man lange als unumstössliche Wahrheit geglaubt, man warf es mit kecker Selbstgenugthuung von sich hinweg, man hätte sich ja selbst für einen Thoren halten müssen, wenn man das Alte nicht belächelt und bespöttelt haben würde, es galt, mit einemmale über so viele bisherige »Vorurtheile« hinwegzukommen, – und neuerdings hat Lazar Hellenbach ein allerdings sehr ernsthaftes und gutes Werk über »die Vorurtheile der Menschheit« geschrieben. So befreiend das Alles auf der einen Seite zu wirken vermochte, so sehr förderte es naturgemäss auf der anderen den Hang zur Frivolität, und als unsere Gesellschaft in ihren höheren Schichten für den geistreichen Causeur, den »Philosophen des Unbewussten« sich begeisterte, – glücklicherweise scheint sie jetzt etwas ernüchtert zu sein – als die Philosophie als amüsante Plauderin sich die Salons zu erobern begann, als ihre ergreifendsten Lehren der Gegenstand pikanten Geschwätzes wurden und man ihr bei Wein und Champagner mit faunischem, blasirtem Lächeln in's Gesicht sah, damals war auch diese unsere deutsche Gesellschaft – wenn man es auch dem aufmerksamen Beobachter nicht glauben mögen wird – auf dem besten Wege, in eine Richtung hineinzugerathen, die der, welche das vornehme Russland heute kennzeichnet, auf ein Haar ähnlich gewesen wäre. In rein literarischer Beziehung hat die »geistreiche« Frivolität ihren ekelhaftesten und verderblichsten Auswuchs in Frankreich gezeitigt, – in jener schriftstellerischen Richtung, die man ganz kurzweg und treffend als »literarischen Nihilismus« bezeichnet, und an deren Spitze Emile Zola steht.

Es kommt immer darauf an, wie der Boden beschaffen ist, auf den solche Lehren fallen, wie die Kultur- und sozialen Verhältnisse eines Volkes bis dahin gestaltet waren, es hängt immer von diesen Umständen ab, bis zu welchem Grade jene ihre praktische Wirkung zu üben vermögen. Nicht bloss der Mensch, sondern, und in fast noch höherem Maasse, auch die Dinge sind das Produkt der Verhältnisse. Eine verwahrloste Familie wird immer verwahrloste Kinder haben; noch mehr aber gilt von einem ungesunden Staatsleben, dass die bösen Keime darin die meiste Nahrung finden und für das letztere zur grössten Gefahr werden müssen. So verhält es sich mit dem Nihilismus in dem grossen Czarenreiche; in keinem anderen Lande würden die ihm im Prinzip verwandten Strebungen zu einer so erschrecklichen äusseren Wirkung gelangen können, als eben in ihm. Und in der Geschichte Russlands liegt dafür die beste Erklärung.

Was war das ungeheure Reich der »Selbstherrscher aller Reussen« vor zweihundert Jahren noch?

Im Anfange des vorigen Jahrhunderts gehörten daselbst Schulen noch zu den grössten Seltenheiten, Universitäten kannte man nicht einmal dem Namen nach, und als zu Beginn des unserigen Czar Alexander I. die ersten ernstlichen Schritte that, sein Land auf eine höhere Kulturstufe zu heben, – er war es bekanntlich, der die Emanzipation der Bauern in den Ostseeprovinzen vollzog und sich auch mit dem Gedanken trug, Russland schon damals eine Konstitution zu geben – da war es bald darauf der Einfluss Metternich's, der, wie in ganz Europa, auch dort die finsterste Reaktion heraufbeschwor und alle freimüthigeren Bestrebungen niederdrückte. Charakteristisch für den Bildungsgrad des niederen russischen Volkes zu der Zeit, als Alexander I. mit Tode abging, ist jedenfalls die folgende wohlbezeugte Thatsache. Eine kleine Anzahl von Männern aus den ersten Familien des Reichs, zum grössten Theil aussergewöhnlich gebildete Gardeoffiziere, welche in den Kriegen gegen Napoleon mitgekämpft hatten, war zusammengetreten, um grössere politische Freiheit anzustreben. Am Morgen des 26. Dezbr. 1825 zogen sie in die Nähe des kaiserlichen Residenzschlosses und riefen nach einer Konstitution; das Volk stimmte nun zwar sofort in diesen Ruf ein, »Hurrah Constitutia« schrie es in einem fort, – wer aber möchte sich des Lachens erwehren wenn er erfährt, dass diese Leute »Constitutia« allen Ernstes für die Gemahlin Konstantine, des legitimen Nachfolgers Alexander's I., der aber seinen Rechten auf die Krone entsagt hatte, hielten, und dass andere, denen man von Republik sprach, ganz treuherzig erwiderten: »Gut, Republik, aber wer wird dann unser Kaiser sein, wenn es nicht Nikolaus ist?« –

Die Regierung dieses letzteren, Nikolaus', der im Jahre 1825 Alexander I. folgte, verschuldet so ziemlich alle die entsetzlichen Zustände, an denen Russland nachher krankte und zum Theil noch heute leidet. Als Charakter vielleicht ehrenwerth, aber als Monarch ein Mann, der nicht das geringste Verständniss für die Forderungen seiner Zeit besass und dessen Regiment einem vollständigen Despotismus gleichkam, hat er es verschuldet, dass damals in Russland »die Willkür zur Regel, die Gesetzlichkeit zum Ammenmärchen« wurde. »Grimmige politische Verfolgungssucht unter Einführung von Todesstrafe, Verbannung und Gefängniss für die sogenannten Staatsverbrecher, Organisation der geheimen Polizei, religiöse Unduldsamkeit, Presszwang und Censurdruck, schroffste Scheidung der Gesellschaftsklassen, komplete Absperrung nach aussen, Beschränkung jeder Bildung, das sind so die Kundgebungen jenes Regiments« (J. J. Honegger, »Russische Literatur und Kultur«). Zur Kennzeichnung dieser Willkürherrschaft diene z. B., dass Nikolaus nach dem polnischen Feldzuge befahl, die vom Flügeladjutanten Lwoff in der dritten Abtheilung seiner höchsteigenen Kanzlei komponirte nationale Hymne müsse in allen grossen Konzerten und Bühnenaufführungen gesungen werden, was ihn jedoch nicht gehindert haben soll, nachher zu verbieten, russische Opern zu schreiben, nachdem er die Werthlosigkeit der von demselben Gensdarmenobersten komponirten herausgefunden hatte.

Die Schulen wiesen zwar einen ganz ausgedehnten Stundenplan auf; nur wurde das Programm in den seltensten Fällen eingehalten; oft führte man es nur zur Hälfte aus, und es geschah sogar häufig, dass die Lehrer den einen oder den anderen Schüler unter irgend einem nichtigen Vorwande vom Griechischen oder selbst vom Lateinischen dispensirten. Auf diese Weise verlor das Gesetz für die Schüler jeden bindenden Zwang, und ihr Pflichtbewusstsein wurde, wenn sie es irgend besassen, frühzeitig untergraben. Das Schlimmste aber war jedenfalls, dass man in vielen Fällen den Gymnasien und anderen Gelehrtenschulen Offiziere als Direktoren vorsetzte, – Offiziere, die der Czar selbst ernannte, und die aus den Kadettenkorps hervorgegangen waren, in denen sie nur eine rein mechanische Ausbildung erhielten, und in deren Programm man die alten Sprachen vergebens gesucht hätte. Diese Leute also sollten Anstalten vorstehen, in denen Latein und Griechisch die Grundlage des ganzen Unterrichts ausmachten, und auch dadurch wurde jedes eifrigere und ernste Streben wieder beeinträchtigt, – waren doch jene Ernennungen – wie E. v. Ugény ganz richtig bemerkt – gewissermassen »ein Freibrief für Ignoranz, eine Prämie für Oberflächlichkeit und Halbwisserei:« was brauchte man sich mit Studien abzumühen, wenn man ohne dieselben doch eine gute, geachtete Stellung erlangen konnte? – »Welch' ein Universalgenie dort ein Kadettenkorps zu bilden vermochte, bewies ein Gardelieutenant, der dem Kaiser so gut gefiel, dass er ihn zuerst als Polizeidirektor nach Riga, von dort als Gouverneur nach Taganrog schickte und endlich nach Petersburg zurückberief, um ihn zum Direktor der Rechtsschule zu machen!« Dabei war dieser Herr immer im Militärdienste geblieben und bis zum Generallieutenant gestiegen.

Und wie stand es jetzt mit den Universitäten? Freilich hatte man deren im Jahre 1805 zufolge kurz vorher stattgehabter Reorganisation fünf (jetzt giebt es neun und ausserdem noch andere Institute, denen gleicher Rang beigelegt wird, – zusammen achtzehn), aber schon in den dreissiger Jahren wurde im Hinblick »auf den verdächtigen und verpönten Geist« an der Universität Moskau eine ganze Menge von Verordnungen und Reglements erlassen, »um Leben und Lernen einzudämmen und vor den Gefahren liberaler Verirrungen zu bewahren.« Und auch hier war es Prinzip, die klassischen Studien im weiteren Umfange nicht aufkommen zu lassen. In einem im Jahre 1848 (für die Militärlehranstalten freilich, aber es ist bezeichnend für die Prinzipien des gesammten höheren Unterrichts) ausgearbeiteten Programme heisst es mit einer Deutlichkeit, die nichts zu wünschen übrig lässt: »ganz besonders sei vor der geradezu unverantwortlichen Verehrung zu warnen, welche unbegreiflicherweise der Geschichte der alten Römer und Griechen in den Schulen gezollt werde und wesentlich zur Verbreitung republikanischer Grundsätze beigetragen habe. Bei jenen unglücklichen Völkern des Alterthums könne die Vorliebe für republikanische Staatsformen höchstens durch die Unkenntniss des Segens monarchischer Einrichtungen entschuldigt werden.« Ein Jahr später, 1849, als sich die Reaktion bis zum denkbar höchsten Grade gesteigert hatte, hegte man sogar die wahnwitzige Absicht, die längst unbequemen Universitäten ganz aufzuheben und statt ihrer noch mehr militärisch zugeschnittene und zerstreut auseinanderliegende Fachschulen zu errichten. Zur wirklichen Durchführung kam folgendes: den Universitäten ward das Recht der Rektorwahl genommen, die Lehrstühle für allgemeines europäisches Staatsrecht wurden aufgehoben, das Studium der Philosophie in die Hand von Priestern der griechisch-orthodoxen Kirche gelegt, die Aufsicht über Lehrer und Studenten verschärft. Die Professoren sollten sich von den Studenten streng abgesondert halten, diese in keinerlei wissenschaftliche oder gesellige Vereine zusammentreten; die Hefte der Professoren und die gebrauchten Handbücher wurden auf das schärfste kontrolirt, der Besuch bestimmter Kollegien vorgeschrieben und das Hospitiren als unnütz erklärt, unregelmässiger Kollegienbesuch, Beschäftigung mit heterogenen Fächern oder nicht genehmigten Büchern mit strengen Strafen belegt.

Entsetzlich war natürlich unter dem eisernen Zwange der Censur auch die Lage der Schriftsteller. »Ueber den Schriftstellern insbesondere« – drückt sich Turgenjew beissend sarkastisch aus – »hing es wie eine unheilverkündende Wolke; Denunziationen und Verdächtigungen waren unser tägliches Brot. Hatte man sich vormittags damit beschäftigt, von der rothen Tinte des Censors entstellte Korrekturbogen, die vielleicht auf die Hälfte ihres ursprünglichen Inhaltes gebracht worden waren, durchzusehen oder sich mit dem Censor in Erörterungen einzulassen und dessen irreparable, vielleicht völlig sinnlose und dazu noch verletzende Wahrsprüche hinzunehmen, und trat man dann auf die Strasse, so begegneten einem die liebenswürdigen Gestalten der Herren Bulgarin und Gretsch; diese Leute spielten die Generale und Vorgesetzten, sie durften unsereinen entweder zerzausen oder, was noch schlimmer war, loben und ermuthigen.« Es ist ganz richtig, wenn bemerkt wurde, dass politische Polizei und Censur nach dem Grundsatz geführt worden seien, den einst der erste Beamte in voller Sitzung des obersten Censurkollegiums ohne Hehl so formulirte: »Tout écrivain est un ours qu'il faut tenir enchaîné,« oder, was auf eins herauskam, nach dem andern auch in voller Sitzung des Ministerrathes von einem zweiten Chef vorgebrachten Worte: »Tout littérateur est un conspirateur né.«

Eines der Hauptübel des grossen Ostreichs auch noch heute ist, wie jedermann weiss, die Verkommenheit des Beamtenthums; auch sie fällt vorwiegend dem Willkür- und Knutenregiment des Czaren Nikolaus zur Last, der Gesetze nur gab, um sie nach Laune anzuwenden oder, wenn das nicht gehen mochte, von heut auf morgen durch andere zu ersetzen. Treffend und schneidend bemerkt Fürst Dolgoruki: »Kein Land der Welt ist reicher an Gesetzen, Verordnungen und Reglements aller Art; der russische Kodex ist der umfangreichste, indem er über tausend Seiten umfasst, und jedes Jahr erscheinen neue Ergänzungen. Aber dieser Kodex, so nützlich für das Gedeihen der Papierfabriken, ist für das Land ein todter Buchstabe. Der erste Artikel des ersten Bandes, welcher den Kaiser über alle Gesetze stellt, macht alle fünfzehn dicken Bände zum umfangreichsten aller schlechten Spässe.« Gegenüber der Verdorbenheit der Beamten war und ist der Czar völlig machtlos. Welche Korruption unter diesen ganz nothwendig Platz greifen muss, erhellt vor allem daraus, dass für den Eintritt in eine höhere Stellung nicht Kenntnisse und Fähigkeiten entscheidend sind, sondern dass dies wesentlich von dem Range abhängt, den man bisher schon auf der Stufenleiter des Beamtenlebens erreicht hat. Hierin ist die beste Erklärung für die mangelhafte Ausbildung, für die Kriecherei und Käuflichkeit des Beamtenthums gegeben. Bis zum Anfang des Jahrhunderts waren alle höheren Stellungen am Hof, im Civil und Militär, fast ausschliessliches Eigenthum der grossen Adelsfamilien, ohne spezielle Erziehung dafür, ohne Opfer und Dienst, weshalb es sich noch zu Alexander's I. Zeit ereignete, dass höhere Beamte »kaum wussten, wie die Thür ihres Kollegiums an der inneren Seite aussah.« Jetzt – und eben seit dem zuletzt genannten Kaiser – beruht zwar das Avancement und die ganze Beamtenordnung auf Prüfungen; doch sind auch heutigen Tages die Bestimmungen in dieser Hinsicht wenig danach angethan, die berufsmässige und Charaktertüchtigkeit innerhalb des Beamtenstandes zu fördern. Die Glieder desselben, von denen übrigens die unteren Klassen sehr gering, die oberen unverhältnissmässig hoch besoldet, die höchsten Rangstufen zudem noch überreich besetzt sind, erweisen sich auch gegenwärtig in ihrer Mehrheit noch als »diebisch, unthätig und unfähig, dem Trunke ergeben, ohne Einsicht in ihre Funktionen und Pflichten.« Von höchst beklagenswerthem Einfluss ist dabei der Umstand, dass der Chef einer Behörde seinen Untergebenen ohne weiteres des Dienstes entlassen kann, indem er ihn einfach als »unzuverlässig« bezeichnet, während eine Beweisführung dafür durchaus nicht als nöthig erachtet wird. Und dazu besteht auch heute noch das unselige System, dass fast durchweg Militärs der höheren Chargen, Generäle obenan, zu allen möglichen bürgerlichen Beamtenposten ohne weiteres tauglich erachtet und an solche Stellen befördert werden. »Die Regel ist,« – führt Honegger weiter aus – »dass der Beamte höchstens drei bis vier Stunden arbeitet, wenn er überhaupt arbeitet. Die Zahl der nutzlosen Beamten, die ohne allen Schaden für das Staatsganze entlassen werden könnten, ist Legion, die Gehalte aller höheren Chargen und die Pensionen an Personen, die dem Staate nichts leisten und kein reelles Verdienst haben, verschlingen heute noch ungeheure Summen.« Von dem Schlendrian, in dem sich die Beamten gehen lassen, wurde selbst kürzlich, nach der Katastrophe vom 13. März, noch ein charakteristisches Beispiel in den Zeitungen erzählt. Mit Recht wies man dabei darauf hin, wie kleinlich es Vorkommnissen gleich dem folgenden gegenüber erscheint, wenn man z. B., um den Anitschkow-Palast völlig gegen die Aussenwelt abzusperren, von Laternenpfahl zu Laternenpfahl Striche zog und das Trottoir zu beiden Seiten durch Strassensperrer nach Art der spanischen Reiter dem Verkehr verschloss. Als der neue Kaiser kürzlich eine über hundert Köpfe starke Deputation der russischen Städte empfing, musste sich jedes Mitglied derselben vorher mit einem Billet versehen, um zum gemeinsamen Empfang zugelassen zu werden. Der Sekretär Loris-Melikoff's hatte diese Billete auszustellen, es wurde ihm aber vermuthlich zu langweilig, jeden einzelnen Deputirten nach seinen Legitimationspapieren zu fragen, und er stellte daher nach blosser Namensnennung Karten aus, – und so soll es denn faktisch geschehen sein, dass wieder einmal ein neugieriger (»glücklicherweise nur ein solcher«, setzte man dazu) Schuster- oder Schneidergeselle sich mit den Deputationen hat empfangen lassen. Erst daraufhin wurde die Sache bekannt und der Sekretär Loris-Melikoff's auch bestraft.

Eine der hervorstechendsten Ursachen der unter den Beamten herrschenden Korruption ist die schon lange als Kronmonopol vorhandene Branntweinpacht, durch welche sich jene auf Kosten der Gesundheit und Wohlfahrt des Volks bereichern. Von den ungeheuren Summen, welche dieselbe einbringt, kann man sich einen Begriff machen, wenn man erwägt, dass die Einkünfte aus derselben, nachdem sie seit 1832 bis dahin gerade um das Vierfache gewachsen waren, im Jahre 1863 137 Mill. Rubel, d. h. ungefähr den dritten Theil des ganzen Reichsbudgets ausmachten. Nach einer ungefähren Berechnung soll der Pächter einer ganzen Provinz an die Beamten der verschiedenen Grade, vom Generalgouverneur an bis zum untersten Schreiber, eine Summe von nicht weniger als 50,000 Rubel (200,000 Frcs.) auszuwerfen haben, während ein Distriktspächter zu gleichem Zwecke etwa 5000 Rubel aufwenden müsse. In keinem Lande der Welt wird so viel Branntwein getrunken wie in Russland; die Zahl der Schänken, die bis zum Jahre 1865 in beständiger Steigerung begriffen war, – sie belief sich auf 139,970, auf 310 Einwohner eine Schänke – soll zwar neuerdings eine Verminderung erfahren haben; aber noch immer ist die Branntweinpest der Ruin des Volks und insbesondere der Bauern, und auch heute noch scheint es zuzutreffen, was Mickiewicz von Menschen, die unter solchen Verhältnissen aufwachsen, sagt: ihr Antlitz sei wie ihr Land, eine öde, flache, wilde Ebene, ihr Auge leer.

Ganz eigenthümlich – und das ist für die Erklärung und richtige Beurtheilung der heutigen Verhältnisse von ungemeiner Wichtigkeit – war auf ein Staatsleben dieser Art nun, oder, richtiger, auf die völlig haltlose Gesellschaft in diesem Staatsleben, die erste Wirkung der westeuropäischen Bildung im 18. Jahrhundert, – sie wurde ihm selbstverständlich von Frankreich aus vermittelt. Alex. Herzen hat uns davon die anschaulichste Schilderung gegeben, indem er in seinen Memoiren den eigenen Vater als ausgeprägten Repräsentanten jener Generation zeichnet und dabei sagt: die europäische Civilisation sei damals in seinem Lande so neu gewesen, dass man es allgemein für nöthig gehalten habe, so wenig wie möglich russisch zu sein, um civilisirt zu scheinen. Freilich, wie hätte man in einem Lande, das Jahrhunderte lang unter der härtesten Knutenherrschaft geseufzt, auch Liebe zu dem Heimischen, wie hätte man dort auch nur eine Spur von wirklichem Nationalgefühl erwarten können? – Sein Vater – so erzählt Herzen – habe bis zum letzten Augenblicke besser französisch gesprochen und geschrieben als russisch, und ganz wörtlich genommen, habe er nie ein russisches Buch vollständig durchgelesen, nicht einmal die Bibel (die er freilich auch in keiner anderen Sprache las). Im allgemeinen charakterisirt Herzen die Geschlechter von damals folgendermassen: »Sie wurden keine historischen Berühmtheiten, aber Sonderlinge. Fremdlinge zu Haus, Fremdlinge in Europa, unthätige Zuschauer, hatten sie nichts zu thun; für Russland verdorben durch die Aufnahme der occidentalen Ideen, für den Occident verdorben durch die russischen Gewohnheiten, stellten sie eine geistreiche Nutzlosigkeit dar und verloren sich in einem künstlichen Dasein, in Vergnügungen, in dem Kreise von Festen und Schmausereien, in einer Existenz mehr oder weniger reich und schön, aber völlig egoistisch.« Ausserordentlich lehrreich erscheint vor allem auch die Beobachtung, wie die wunderlichen Widersprüche jener Bildungsphase sofort in der kaiserlichen Familie selbst zu Tage traten. Die Erziehung der Söhne Paul's I. hatte diese mit den philosophischen Humanitätsideen der Zeit, welche der Vater fanatisch verfolgte, vertraut gemacht. Das Resultat davon war, dass der junge Alexander den Hof und seinen künftigen Herrscherberuf fürchtete, ja hasste, während seine jüngeren Brüder zu völligen Verächtern aller Bildung und ihrer Träger wurden.

Nach Frankreich war es Deutschland, von welchem – namentlich infolge der Ereignisse der Jahre 1812-15 – die bedeutendsten Kultureinflüsse auf Russland ausgingen. Als Beleg dafür pflegt man insgemein die Antwort des Generals Jermolow nach der Leipziger Schlacht, als man ihm eine Belohnung seiner Dienste in einer von ihm selbst zu bestimmenden Form anbot, zu citiren: »Macht mich zum Deutschen, und alles andere wird von selber kommen!« Seitdem ist die Wirkung des deutschen Elements in Russland immer eine hervorragende geblieben, und mit Fug hat man darauf hingewiesen, dass fast alle grossen Fakten entweder auf die Eingebung oder geradezu die unmittelbare Mitwirkung intelligenter Deutschen zurückzuführen seien. Möchten nur noch mehr, als es der und gerade infolge der letzteren Thatsache wider uns rege Fanatismus zulässt, daselbst die Worte des Grafen von Moltke (in seinen »Reisen in Russland«) Beachtung finden: »Die Russen werden noch lange nicht ohne die Hülfe der Fremden fertig werden, namentlich nicht ohne die Beständigkeit, das Geschick und die Pflichttreue der Deutschen; denn nur langjährige und eiserne Strenge wird redliche russische Beamte schaffen können.«

Das Bedenklichste war, dass man die fremden Kultureinflüsse nicht civilisatorisch zu verarbeiten, nicht richtig zu ordnen, zu verwerthen wusste; sie legten sich nur wie ein prunkvolles Gewand um einen todten Leib, und es bildete sich ein Chaos von heimischen und fremden Ideen, Anschauungen und Sitten, in welchem alle Individualität der Volksseele, wenn von einer solchen, d. h. von Individualität, überhaupt die Rede sein konnte, ihren Untergang finden musste. Von früh auf wird den Kindern die Kenntniss und der Gebrauch der fremden Kultursprachen vermittelt, und noch heute kann man finden, dass in einem vornehmen Hause deutsche Amme, englische Gouvernante und französischer Lehrer neben einander leben. So verstehen wir, wenn Koschelew bitter klagt: »Vormals glaubten wir an alles, was aus Frankreich und Deutschland zu uns kam. Wir waren Voltairianer, Anhänger von Rousseau, Helvetius und Locke (dieser natürlich in französischer Uebersetzung); wir waren Schellingianer, Hegelianer und Jünger der neuesten deutschen Philosophen. Wir waren Verehrer von Benjamin Constant, Royer-Collard, Adam Smith (wieder aus dem Französischen), Prud'homme und vielen anderen politischen Schriftstellern. Im Leben, in der Wissenschaft und Kunst nahmen wir alle möglichen Theorien ebenso leicht an, als wir uns von ihnen wieder lossagten. Zuerst betrachteten wir alles mit den Augen Frankreichs, hierauf setzte uns Deutschland seine Brillen auf; jetzt spricht Frankreich das eine, Deutschland das zweite, England das dritte, Amerika das vierte Wort; aber die eigene Sehkraft und den eigenen Verstand haben wir nicht geschärft, und deswegen befinden wir uns in dem kläglichsten, dem erbärmlichsten Zustande von der Welt.«

Was Wunder, wenn es unter diesen Verhältnissen zu keiner Volksgesittung, zu keinem Nationalgeiste kam, wenn die Sittlichkeit im öffentlichen – wie die Oeffentlichkeit im sittlichen Leben fehlte? – Die vornehme Gesellschaft gefiel sich in einem lediglich an leerem Schein und nichtigen Aeusserlichkeiten hängenden Treiben, und Graf Sollohub bemerkt inbezug auf Petersburg: »Wie soll man es anfangen in einer Stadt zu leben, wo die Gassen feucht, die Herzen trocken sind?« Und Custine, ein scharfsinniger Beobachter, urtheilt über die Daseinsweise in der Hauptstadt: »Man muss Russe sein und selbst Kaiser, um der Ermüdung und Langeweile dieses Lebens Stand zu halten; des Abends Festlichkeiten, wie man sie nur in Russland findet, des Morgens höfliche Glückwunschvisiten, Ceremonien, Besuchsempfang oder Paraden zu Wasser und zu Land ... In Petersburg langweilt man sich über alles, selbst über die Vergnügen. Uebrigens ist nicht das Vergnügen Ziel der Existenz – Kinder, Weiber, Diener, Verwandte, Günstlinge, alles muss hier dem Wirbel des kaiserlichen Hoftreibens folgen, indem man bis zum Tode lächelt; je näher eine Person der Sonne der Geister (dem Czaren) gestellt ist, desto mehr ist sie Sklave.« Und Fr. von Gagern sagt in seinen »Reiseerinnerungen«: »Zehnmal wird die Tagesordre gewechselt, damit niemand einen Augenblick der Sammlung, des Nachdenkens und der freien Disposition über seine Person behalte.«

So waren die Zustände und das öffentliche Leben unter dem vom Czar Nikolaus geschaffenen und gewollten Schablonenthum, – muss es nicht jedem als eine überaus natürliche Konsequenz solcher Verhältnisse erscheinen, wenn die heutige Generation ein Bild zeigt, wie es uns von dieser vornehmen Scheinwelt der geistreiche Verfasser der »Bilder aus der Petersburger Gesellschaft« entwirft? Es heisst da u. a.: »Je höher hinauf, desto erschreckender ist die sittliche und die ästhetische Verwilderung, die während der letzten Jahre platzgegriffen und die Traditionen besseren Geschmacks, welche in besseren Tagen bestanden, erschüttert, wenn nicht entwurzelt hat.« Man darf getrost sagen: »entwurzelt«, – denn die vornehme Gesellschaft Russlands, wie sie sich heutigen Tages darstellt, befindet sich in einem Zustand sittlicher Verwahrlosung, wie er grösser und abschreckender gar nicht gedacht werden kann.

Freilich hat der Sohn des Czaren Nikolaus, der schmählich hingemordete Alexander II., für sein Land unendlich viel gethan: er hat dreissig Millionen Menschen vom Joch der Leibeigenschaft: – wir möchten nicht mit dem offiziellen Ausdruck sagen: » Seelen« – befreit, er hat Eisenbahnen und andere Kommunikationswege in's Leben gerufen, er hat durch Errichtung niederer und höherer Schulen die Bildung des Volkes zu fördern unternommen, er hat der Presse grössere Unabhängigkeit gesichert, – allerdings besteht auch heute noch die erdrückende Mehrheit von Zeitungen und Zeitschriften in Russland aus offiziellen und offiziösen Organen, und die Censur wird nicht selten in der wunderlichsten Weise gehandhabt – er hat in religiöser Beziehung Toleranz geübt und mancherlei beschwerliche kirchliche Beschränkungen, die vor seiner Regierung noch bestanden, aufgehoben, er hat an Stelle des vorher üblichen geheimen Gerichtsverfahrens die Oeffentlichkeit und Mündlichkeit desselben gesetzt, er hat wenigstens den Versuch gemacht, die schmachvolle Branntweinsteuer zu reformiren, er hat noch mancherlei andere heilsame Einrichtungen für sein Land getroffen, und er musste es thun, ganz abgesehen von der zwingenden Nöthigung, die ihm der Zeitgeist auferlegte, schon um die Machtstellung des Czarenreiches gegenüber dem übrigen Europa nicht sinken zu lassen, – aber es ist ihm nicht gelungen, jene Gebrechen, an deren Beseitigung die Hauptsache lag, zu heilen, jene sittliche Fäulniss, die er nicht verschuldet, und von diesem, für den Kultur-Geschichtschreiber vor allem massgebenden Gesichtspunkte aus betrachtet, könnte man die Arbeit seines Lebens eine fast vergebliche nennen, denn Russland – das unterliegt jetzt nicht mehr dem allermindesten Zweifel – steht heute vor seinem moralischen Banquerott, es ist in diesen Tagen mehr denn je »der Koloss auf thönernen Füssen«, – das grösste Reich Europa's laborirt an einer Krankheit, ähnlich der sibirischen Pest, an der man gemeiniglich zu sterben pflegt. Ich will, unter Festhaltung des Gleichnisses, jetzt nicht weiter ausführen, welche Mittel etwa anzuwenden wären, um vielleicht eine wenigstens theilweise Heilung herbeizuführen; ich gedenke das vielmehr am Schlusse dieser Zeilen zu thun und will zunächst darlegen, in welcher Weise sich das geistige und öffentliche Leben unter Alexander II. entwickelte.

Zuvörderst das Unterrichtswesen angehend, fuhr man konsequent fort, den Klassizismus zu vernachlässigen, und speziell seitdem der Minister Golownin an's Ruder kam, musste er völlig einer ganz und gar realistischen Richtung weichen. So löblich es an sich war, den Naturwissenschaften insbesondere eine grössere Berücksichtigung im höheren Unterrichte zutheil werden zu lassen, so verderblich musste dieses Prinzip unter den obwaltenden Verhältnissen werden. Den Schülern, die sich von nun an hauptsächlich dem Studium der Zoologie, Physiologie und Anatomie widmeten, ging jedes Verständniss für andere Disziplinen verloren, jede höhere Geistesbildung wurde von vornherein unmöglich, und von moralischer Erziehung konnte keine Rede mehr sein. Es bemächtigte sich der Jugend allmählich der krasseste Materialismus, sie verschmähte es, die Gelehrtenlaufbahn zu betreten, oder sie verliess, wenn es geschehen war, dieselbe bald wieder, um sich einer geringere Anforderungen an Fleiss und Geist stellenden und dabei ungleich besser bezahlten, mehr praktischen Thätigkeit, vor allem als Inspektor oder Subinspektor bei der Branntweinpacht, zuzuwenden, und die Folge davon war, dass Jahre lang die Hälfte aller akademischen Lehrstühle in den russischen Städten unbesetzt bleiben musste und brauchbare Lehrer für die klassischen Sprachen an den Gymnasien zu den allergrössten Seltenheiten gehörten. Im Jahre 1871 waren von 420 höheren Lehrstühlen 202 unbesetzt, so dass an einigen Universitäten ein Drittel, an denen von Charkow und Kasan sogar die Hälfte der Lehrer fehlte. Auch um den Volksschulunterricht stand und steht es, trotz der Bemühungen Alexander's II. in dieser Hinsicht, noch traurig. Es giebt eine sehr grosse Anzahl von Lehrern, die kaum die nöthigen Kenntnisse im Lesen und Schreiben besitzen; die durchschnittlichen Leistungen beschränken sich überhaupt nur auf mechanisches Lesen und Schreiben. Noch im Jahre 1872 wurden 3138 Schulen erwähnt mit fast unbrauchbarem Lehrerpersonal, während 352 gar keine Lehrer hatten. Bei einer neuerlichen Rekrutenzählung stellte es sich heraus, dass von 130,150 nur 14,478, also genau ?, zu lesen vermochten. Russland hat im Durchschnitt 9 bis 10 Prozent, die lesen und schreiben können, Oesterreich 29, Frankreich 77 Prozent.

Ganz unverantwortlich leichtsinnig war und ist die Erziehung des weiblichen Geschlechts. Die Stellung der Frau ist in Russland von Alters her eine höchst unwürdige gewesen, im niederen Volk und im Bauernstande ganz ebenso wie in der vornehmen Welt. Man würde in den niederen Schichten der Gesellschaft ein gemüthvolles Familienleben umsonst suchen, die ganze Existenz ist kahl und nüchtern. Die Frau des russischen Bauern erscheint als die Sklavin des Mannes, der sich ihr gegenüber jegliche Rohheit erlauben zu dürfen meint und in einer ganzen Reihe auf das weibliche Geschlecht bezüglicher Sprüchwörter seiner Geringschätzung Ausdruck verleiht. »Das Haar ist lang, aber der Verstand ist kurz«, sagt er von ihr. »Die Frau hat keine Seele, sondern bloss Dunst.« »In zehn Weibern wohnt bloss eine Seele« ... Freilich werden unter den 761,129 Schülern, die es im Jahre 1872 in 19,658 Volksschulen gab, auch nur 135,345 Mädchen erwähnt. Nach den mönchischen Lehren sollte die Frau dem Gatten gehorchen wie der Sklave seinem Herrn, sie sollte sich als »die Sache« ihres Mannes betrachten, sich nicht Herrin (gospoja) nennen lassen, sondern in dem Gatten ihren Herrn sehen. Erhielt sie keine Schläge, so meinte sie sich vernachlässigt: »Ich liebe dich wie meine Seele und schlage dich wie meinen Pelz«, sagt das russische Sprüchwort.

Und dem gegenüber die Erziehung der Mädchen bei den vornehmen Ständen! – Ja, Russland ist das Land der äussersten Gegensätze, das zeigt sich auch hier.

In seinem berühmten, 1842 erschienenen Roman »Todte Seelen« meint Gogol: in den Mädchenpensionaten würden drei Dinge als Grundpfeiler aller menschlichen Tugenden betrieben, »die französische Sprache, welche für das häusliche Glück unentbehrlich ist, das Klavierspiel, dazu bestimmt, dem künftigen Gatten eine angenehme Unterhaltung zu bieten, und endlich die Kunst der Wirthschaftlichkeit, d. h. die Fertigkeit im Sticken von Börsen und Gegenständen der Ueberraschung.« Eine Dame, die eines der berühmten Staatspensionate besucht hatte, erklärte nachher, der Unterschied zwischen Viertheilen und Dritttheilen sei ihr nie recht klar geworden, und sie habe besondere Mühe gehabt, den Moses und Napoleon auseinander zu halten, da sie beide nur daran kannte, dass »ils ont été tous les deux en Égypte«. Ein Seitenstück dazu liefert folgende Episode. Eine Dame der Petersburger aristokratischen Gesellschaft rief ihr Söhnchen herbei und sagte pathetisch: »Ich segne meinen Sohn im Namen Lassalle's!« Als ein Herr sich benahm, als kenne er Lassalle gar nicht, und sie um Aufklärung bat, stellte sich heraus, dass die Dame keine einzige Schrift von ihm, keine einzige seiner Theorien kannte! Aber der Name Lassalle's wurde damals in der vornehmen Gesellschaft überall im Munde geführt, und das war Grund genug, ebenfalls mit ihm zu prunken. Die »Moskauer Zeitung« (1879, Nr. 15) erzählt, dass eine aristokratische Dame in grossem Cirkel und in Gegenwart ihrer Tochter ausgerufen habe: »Wera Sassulitsch ist eine grosse Citoyenne. Wie glücklich würde ich mich preisen, wenn meine Tochter ein Gleiches gethan hätte! ...«

Verhängnissvoll für die moralische Entwicklung der Mädchenwelt war die Einrichtung weiblicher Gymnasien und Untergymnasien im Jahre 1858, – verhängnissvoll unter den Verhältnissen, wie sie in Russland bestehen, so sehr es an sich anzuerkennen ist, wenn man auch dem weiblichen Geschlecht Gelegenheit zur Aneignung höherer Bildung und die Möglichkeit giebt, sich den Eintritt in öffentliche Aemter und Carrièren zu sichern. Noch grössere Gefahr schloss die Bewilligung, die Töchter zu den Universitätsstudien zuzulassen, in sich, – man gab ihnen damit die beste Gelegenheit, einen Weg zu beschreiten, auf dem sie jedes sittliche Prinzip als einen hemmenden Stein leichtfertig bei Seite warfen. Siebzehnjährige Mädchen verliessen das Haus, »um den Aeltern nichts zu danken zu haben«. Auch diese Mädchen wandten sich vorzugsweise der Beschäftigung mit den Naturwissenschaften und vorzüglich der Anatomie zu und trieben gleich ihren Kameraden dem Materialismus, und zwar dem praktischen Materialismus, in die Arme, – neunzig Prozent aller Russinnen studiren Medizin.

»Was soll man von unserer Jugenderziehung sagen?« – äussert sich eine konservative Stimme über die heutige Generation. »Die Intelligenz erzieht ihre Söhne und Töchter im Geiste des Occidents; das Kind plappert von der frühesten Jugend an französische, deutsche und englische Verse her, aber das Vaterunser kennt es nicht. Die unterste Volksklasse weiss nicht, wie ihre Kinder gelenkt werden, und in den Dorfschulen treiben materialistisch gesinnte Lehrer ihr Wesen. Unser Familienleben droht vollständig zu verschwinden. Die Kinder brauchen bloss in eine höhere Klasse ihrer Lehranstalt hinüberzukommen, um die Väter als abgelebt anzusehen und sich über sie lustig zu machen. Sechzehn- bis siebzehnjährige Jungfrauen suchen selbständige Arbeit und vertiefen sich bis über die Ohren in die Geheimnisse der Naturwissenschaft. Alles, was man früher in Gegenwart einer Jungfrau nicht beweisen durfte, setzt die moderne Jungfrau bis in's einzelne auseinander. Sie will bloss gleiche Rechte mit dem Manne besitzen, ohne sich darüber Rechenschaft ablegen zu können, worin diese Rechte eigentlich bestehen.«

Mit frappirender Schärfe und Wahrheit, und mit überaus düsteren Farben, so wie sie der düsteren Wirklichkeit entsprechen, hat schon der grosse Dichter Lermontow die Zustände seines Vaterlandes gezeichnet, – seine Worte scheinen unmittelbar dem Russland von heute gelten zu sollen, wenn er mit ergreifender Beredtsamkeit ausruft: »Ich betrachte unsere Generation mit Schmerz; ihre Zukunft ist leer und düster; sie wird altern in der Unthätigkeit, wird unter dem Gewichte des Zweifels und einer fruchtlosen Wissenschaft lahm werden. Das Leben ermüdet uns wie eine lange Reise ohne Ziel. Wir sind wie vorzeitige Früchte, die bisweilen, fremde Waisenkinder, sich unter die Blüten verirren; sie fallen ab in dem Augenblick, da sie reifen sollten. Wir stürzen uns dem Grab entgegen, ohne Glück und ohne Ruhm, und vor dem Ableben werfen wir noch einen Blick bitterer Verachtung auf unsere Vergangenheit. Wir werden unbemerkt über diese Erde weggehen, eine düstere, schweigsame und bald vergessene Masse. Wir werden unseren Nachkommen nichts hinterlassen, weder eine befruchtende Idee, noch ein Werk des Geistes, und sie werden unsere Asche durch einen verächtlichen Vers beschimpfen oder durch den Sarkasmus, den ein ruinirter Sohn seinem verschwenderischen Alten entgegenhält

Dieses Bild ist ungemein zutreffend, und wir kommen jetzt auf unsern Vergleich zwischen einer verwahrlosten Familie mit verwahrloster Nachkommenschaft und den Früchten eines schlechten Staatslebens zurück.

Was ist Russland gewesen? – Die vorstehende flüchtige Zeichnung dürfte es dargelegt haben.

Und was ist Russland geworden? – Was es nach dem, was es gewesen ist, werden musste.

Czar Nikolaus hatte keine politischen Ideale gehabt, und auf das Allgemeine gerichtete Ziele waren ihm fremd gewesen. Sein Regiment ist gleichbedeutend mit einem brutalen und zugleich bornirten Vernichtungskampf gegen jedwede Selbständigkeit der Bildung oder des Charakters. Er hatte seinem Volke keinerlei grosse Aufgaben gestellt, er sah es am liebsten, wenn es in gedankenlosen Zerstreuungen nicht zum Bewusstsein seiner selbst kam oder unter den scharfen Hieben der Knute nicht aufzusehen wagte, – es ist charakteristisch, dass in der Mitte der vierziger Jahre einmal das Spielen mit Seifenblasen salonfähig und der angebliche Erfinder dieser Kunst der Held des Tages war. Als dann der Krimkrieg kam, athmete alles wie erlöst von schwerem Drucke auf, und die schwersten und bittersten Anklagen, gepaart mit dem Rufe nach würdigeren Zuständen, richteten sich gegen das alte Regiment. Zwar Nikolaus' Nachfolger, Czar Alexander II., entzog sich nicht der Nothwendigkeit der geforderten Reform, sondern war staatsklug genug, sie gleich beim Antritt seiner Regierung in seine Hände zu nehmen, – aber sollte das Volk schon zufrieden sein, wenn man ihm solche Reformen vermittelst der Gesetze versprach und sie auch vollzog? – Hatte es nicht noch eben unter einer Regierung gelitten – und insgeheim geflucht, da jeder Tag »die bestehenden Rechte und Einrichtungen in Frage gestellt«, da morgen wieder aufgehoben, was heute angeordnet worden war? – Man hatte es durch die fortwährende Unbeständigkeit, die merkwürdiger Weise jenem Despotismus eigen gewesen, an ununterbrochene Neuerungen gewöhnt, – warum sollte es jetzt nicht selbst so ungestüm wie möglich nach Neuerungen in seinem Sinne verlangen? Für die Regierungsweise, wie sie in Russland von jeher üblich war, hat einmal jemand, dem es allerdings sehr schlecht bekommen, ein recht zutreffendes Bild gefunden. Katharina II. hatte die Isaakskathedrale zur Hälfte in Marmor aufgeführt; als Kaiser Paul auf den Thron gelangte, befahl er, dass sie in Ziegelsteinen ausgebaut werden sollte. Einem Manne fiel ein, auf das Gebäude ein Distichon hinzusetzen des Inhalts: In Marmor angefangen, in Ziegelsteinen vollendet, ist dieses Gebäude der treue Repräsentant der beiden Regierungen. Der Polizei angezeigt, wurde der Unglückliche nach Sibirien abgeführt, nachdem man ihm Zunge und Ohren abgeschnitten. Binnen kurzem bekam das Gebäude Spalten und musste abgetragen werden.Und es hasste den Staat. Er war ihm nichts als ein nothwendiges Uebel, gegen welches, um es möglichst unschuldig zu machen, das Volk durch kräftige Entfaltung der individuellen Selbstthätigkeit und freie gesellschaftliche Verbindung der einzelnen sich schützen müsse. Wie hätte es sich eine Freiheit innerhalb des Gesetzes denken können? – Hatte nicht der Czar gethan, was ihm beliebte, nicht seine Organe, die Beamten? – War dem Volke nicht gleichsam der Gedanke aufgedrungen worden, dass der Mensch immer gerade das thun dürfe, was er eben kann? – Weder durch Wort noch durch Beispiel hatte man ihm gelernt, »dass Freiheit die Fähigkeit ist, sich ungehindert innerhalb gesetzlicher Schranken zu bewegen, d. h. alles zu thun, was die Gesetze nicht verbieten, dass diese Schranken wohl auf regelmässigem, gesetzlichem Wege immer weiter und weiter gezogen werden dürfen, so dass der Mensch, je mehr seine Erfahrung wächst, auch einen weiteren Spielraum für seine Thätigkeit hat, dass er aber nothwendig die bestehenden Schranken achten und sich hüten muss, sie zu verletzen, bei Strafe, wieder in engere Grenzen eingezwängt zu werden, um Schutz gegen sich selbst zu finden.«

Hatte Nikolaus seine Herrschaft durch strikteste Aufrechterhaltung des absoluten, persönlichen Autoritätsprinzips gekennzeichnet, so wollte man nun das Gegentheil, die schrankenlose Freiheit des Individuums, – der halb von asiatischem und halb von europäischem Blute durchpulste Koloss überhastete, überstürzte sich, und mit einer Art dämonischer Wildheit suchte er von nun an den Grund zu zerstören, auf dem er bisher gestanden, und noch heutigen Tages gehen die Schwankungen, die seine heftige Bewegung hervorgerufen. »An diesem Punkte ist also zu notiren der denkbar umfassendste Zusammenbruch eines bis dahin allmächtigen politischen Glaubens; das ganze Fundament des Staatsbaues wurde zusammengerissen, und den im knechtisch gedankenlosen Staatsdienst Aufgewachsenen musste sein, als falle die Welt zusammen. Negation alles bis dahin Geltenden galt auch den besten Köpfen als das einzige Heil, die schärfste Form der Verurtheilung schien allen Denkenden die einzig richtige. Die unwiderstehliche Wendung drückte sich in einer Masse von prosaischen und metrischen Schriften, gedruckten und ungedruckt kursirenden Schriften aus, die um so eifriger gelesen wurden, je bitterer und höhnischer sie waren. Die Philippiken gegen alles Alte, Personen und Dinge, schossen aus dem Boden und circulirten in hunderten von Kopien. Eine wahre Fluth von Schriften über die brennenden Tagesfragen, in allen Formen, als Skizzen, Anekdoten und Erzählungen, Entwürfen, selbst Komödien, Monologen und Zwiegesprächen tauchte auf, und alles ward verschlungen, zumal die drastischen Zeichnungen von der Verdorbenheit der Beamten ...«

Freilich war diese Wendung der Dinge schon lange vorbereitet, – in der Literatur, die sich gerade unter dem despotischen Drucke des Czaren Nikolaus zur glänzendsten Blüte entfaltet hatte. Ihr Charakter wurde durch die staatlich-gesellschaftlichen Zustände von vornherein bestimmt, – sie musste eine Literatur des Widerspruches, des Protestes sein, der rebellische Geist Lord Byron's, der bittere Skeptizismus desselben waren es gewesen, die die Werke Puschkin's, des ersten grossen dichterischen Genius Russlands, durchdrungen, – und heute sind es Byron, Musset, Heine, Lenau unter den Poeten Westeuropa's, für welche das »bildungskranke Russland« die meiste Vorliebe hegt. Nichts natürlicher wieder, als dass die Literatur des Czarenreiches ein solches Gesicht zeigt. »Die schneidend pessimistische Weltanschauung, welche aus den Porträts der unerbittlichen Sittenzeichner herausschaut,« urtheilt Honegger über dieselbe präzis und treffend, »ist übrigens weiter nichts, als der natürliche Niederschlag aus der grundverderbten Staats- und Gesellschaftsordnung, dem Medium, in welchem die düsteren Maler leben und leiden, leiden, auch wenn sie den hohen, privilegirten Ständen zuzählen. Wenn wir diese Leute hören, so werden wir immer an das Losungswort jenes alten Dieners gemahnt: ›Wenn ich unser Haus so in Ordnung halten würde wie Gott die Erde, so verdiente ich dreimal täglich die Knute ... ‹ Nach einfacher psychischer Begründung steht neben dem melancholischen Hauptgrundzug als zweiter der satdische; die Verzweiflung ruft dem Spotte. Von Anfang bis heute ist diese Literatur in scharf ausgesprochener Weise mit bitterem Spotte gesättigt; sie trägt überwiegend satirische Richtung in sich. Und da sich in dieser die unmittelbare Beziehung auf's Leben kundgiebt, weil ja die historisch gewordene Lage der Gesellschaft unmittelbar die Satire herausforderte, so ist unbestreitbar, dass dieser Zug kräftigend auf die Literatur gewirkt hat. In einem Grade, der sich bei keiner zweiten findet, hat sie sich von Generation zu Generation tiefer in das verbissene Lachen über ein absurdes Gesellschaftsleben eingefressen, in eine unerbittliche Ironie, die jede Solidarität mit der seltsamen Welt, in der sie aufgewachsen, abwirft und alles schonungslos zersetzt, was ihr in den Wurf kommt. Diese Autosektion, leidenschaftlich im Zerstören, hält vor keiner Schranke still, anerkennt und schont in diesem Reichskörper nichts Heiliges; denn es ist in Wahrheit nichts Geweihtes da, was sie profaniren könnte. Den Ausgangspunkt bezeichnet die Satire des Fürsten Kantemir; die Komödien von Wisin gaben der Tonweise tiefere Grundlegung; seither hat sie sich unausgesetzt geschärft, hat das bittere Lachen Gribojedow's und die unerbittliche Ironie Gogol's durchlaufen und sich schliesslich in der scheu- und schrankenlosesten Negation neuester Schule – der Enthüllungs- und Anklageliteratur – zugespitzt, vergröbert und im schlechten Sinne popularisirt; sie ist pöbelhaft geworden ...«

In rapiden Fluss gelangte die radikale Strömung in Russland durch das Wirken Alexander Herzen's. Ein ungemein wahrer und aufrichtiger Charakter, – »wie vor seinen nächsten Freunden, so trägt er vor der ganzen Welt das Herz auf den Lippen,« hat jemand, der den viel berufenen, berühmten und verketzerten Mann in verschiedenen Verhältnissen zu beobachten Gelegenheit hatte, bezeichnend von ihm gesagt – von überaus klarem Geiste, den aber ein feurig sanguinisches Temperament oft zum Exzentrischen ablenkte, wurde er durch die Eigenart seines Naturells gleich sehr wie durch sein Schicksal in jene Bahnen getrieben, in denen er der russischen Regierung so gefährlich werden sollte. Auf der Moskauer Universität hatte er schon früh mit Eifer naturwissenschaftlich-mathematische Studien getrieben, war aber bereits als Student der Regierung verdächtig erschienen, wurde, wegen Theilnahme an einer Gesellschaft, in deren Aeusserungen man revolutionäre Gedanken gefunden, auf die Denunziation der geheimen Polizei hin 1834 mit mehreren Gefährten gefänglich eingezogen, ein Jahr in Haft behalten, nach dem im hohen Norden gelegenen Wjätka in's Exil geschickt, dann nach dem näheren Wladimir versetzt und im Jahre 1839 begnadigt. Die Zurückgezogenheit des Exils hatte er zu eingehenden Studien der Philosophie, insbesondere Hegel's, benutzt, und er machte aus seinen radikalen philosophischen und politischen Ansichten kein Hehl, selbst als er zu Petersburg eine Stelle im Bureau des Ministers des Innern erhalten. Er wurde deshalb wieder aus der Hauptstadt entfernt und als Regierungsrath nach Nowgorod versetzt. Im Jahre 1842 trat er aus dem Staatsdienst freiwillig aus und kehrte, durch den Tod seines Vaters in den Besitz eines beträchtlichen Vermögens gelangt, im Jahre 1847 Russland den Rücken, – vorher hatte er sich jedoch, wie es damals noch nothwendig war, ausdrücklich um einen Pass in's Ausland bewerben müssen. Unter Nikolaus I. kostete der nur mit ausdrücklicher Bewilligung zu erhaltende Pass in's Ausland – auch Turgenjew hatte nur infolge des Wegfalls der Schranken, durch welche früher russischen Staatsangehörigen das Reisen und Wohnen im Auslande so sehr erschwert worden war, in den fünfziger Jahren seinen dauernden Wohnsitz auswärts nehmen können – 250 Rubel; jetzt ist die Summe auf 10 ermässigt. Ueberdies bedarf es für Bauern, Arbeiter und Handwerker, die sich weiter als 30 Werst von der Heimath entfernen wollen, einer besonderen Passkarte. Von nun an lebte er abwechselnd in Italien, Frankreich, der Schweiz, Belgien und England (sein Tod erfolgte am 21. Januar 1870 plötzlich zu Paris).

Es ist eine stattliche Reihe geschichtlich-politischer, philosophischer und anderer Werke, die Herzen verfasste, und mit denen er vom Ausland her das Regierungssystem seines Vaterlandes bekämpfte, – jedes derselben glich einem schweren Steingeschoss, das kraftvoll gegen den russischen Staatsbau geschleudert wurde. Mit welcher unerschrockenen Offenherzigkeit Herzen auftrat, das mag u. a. nur eine Stelle aus jenem offenen Briefe vom 10. März 1855 zeigen, in welchem er vom Kaiser Alexander II. die Aufhebung der Leibeigenschaft forderte. Er redet darin zum Czaren: »Auf der Höhe, die Sie einnehmen, und inmitten des Weihrauchnebels, der Sie umgiebt, werden Sie sich vielleicht über meine Kühnheit wundern. Vielleicht lächeln Sie gar über das verlorene Sandkorn, welches sich von den siebzig Millionen Sandkörnern abgelöst hat, die Ihr granitenes Piedestal bilden. Aber Sie werden besser thun, nicht zu lachen. Meine Worte sagen Ihnen nur, was das allgemeine Schweigen bei uns Ihnen längst gesagt hat. Um dieses Schweigens willen habe ich die erste russische Tribüne hier auf freier Erde gegründet: dem Elektrometer gleich soll dieselbe die Thätigkeit und Spannung der gebundenen Kräfte anzeigen. Einige Wassertropfen, die nicht den rechten Abfluss finden, können hinreichend sein, eine Granitplatte auszuhöhlen. – Sire, wenn diese Zeilen bis zu Ihnen dringen sollten, lesen Sie dieselben ohne Aerger und – ohne Zeugen und ziehen Sie hinterher sie in Erwägung. Dass Sie die Stimme eines freien Russen zu hören bekommen, wird Ihnen nicht oft vorkommen.«

Den weitaus bedeutendsten Einfluss aller Unternehmungen Herzen's hatten fraglos die »Freie russische Presse«, eine von ihm in London begründete Buchdruckerei für Schriften, deren Veröffentlichung in Russland entweder gar nicht möglich war, oder die dort doch nur erst in einer durch die Censur sehr verstümmelten Gestalt hätten vor das Publikum gebracht werden können (es befanden sich darunter auch russische Uebertragungen freimüthiger Werke des Auslandes, so von Louis Blanc, Mazzini, Lelewel, dem berühmten polnischen Emigranten u. a.), – und vor allem seine Zeitung »Die Glocke« (»Kolokol«), die er im Jahre 1856 zu London ins Leben rief. Es ist ganz zweifellos, dass der Energie und Herzenswärme, mit der diese Zeitung für Aufhebung der Leibeigenschaft (dieselbe erfolgte am 3. März 1863) und körperlichen Züchtigung, für Einführung der öffentlichen mündlichen Rechtspflege eintrat, der schonungslosen Entrüstung, mit der sie die Gebrechen des Regierungssystems geisselte und die verwerfliche Handlungsweise einzelner hochgestellter Persönlichkeiten blossstellte, zum guten Theil die von Alexander II. in der Folge durchgeführten Reformen zu danken sind. Vielleicht hätte Herzen noch weit mehr erreicht, wenn er sich nicht später (seit 1860 etwa) in die haltlos radikalsten Phantasmen verirrt haben würde. »Die Glocke« war freilich strengstens verboten, nicht einmal der Name des Herausgebers durfte genannt werden, und seine Existenz schien von der Regierung vollkommen ignorirt zu werden, – durch alles dies aber wurde der Zauber des Geheimnisses, der dem Autornamen »Iskander« (mit diesem Pseudonym, unter dem er früher in Russland schon seine schriftstellerische Thätigkeit begonnen hatte, zeichnete Herzen) innewohnte, noch bedeutend erhöht. Es erscheint heute noch unbegreiflich, wie das verpönte Blatt in unzähligen Exemplaren über die Grenze befördert werden konnte, so dass es trotz des Verbots von jedermann gelesen wurde, vom Kaiser bis zum Droschkenkutscher herab. Allein auf der Nischni-Nowgoroder Messe von 1859 konnten 100,000 Exemplare davon konfiszirt werden. Die Korrespondenten an allen Ecken und Enden des Reichs, aus dem europäischen und aus dem asiatischen Russland, mussten zahllos sein, – und doch waren auch sie in undurchdringliches Dunkel gehüllt. Dabei zeigten sich Redakteur wie Mitarbeiter in allein bewandert, gleichsam allgegenwärtig und in die verborgensten Staatsgeheimnisse eingeweiht. Es sei hier mitgetheilt, was Eckardt in seinem Buche »Jungrussisch und altlivländisch« (I. »Die neue russische Aera«) darüber sagt, – wir finden diese Aufschlüsse vor allem auch darum so ausserordentlich interessant, weil sie vieles an den augenblicklichen Verhältnissen, und besonders was die geheimnissvolle Thätigkeit der Nihilisten betrifft, erklären. Der genannte Autor führt aus: »Staatsgeheimnisse, von denen nicht zehn Leute im Reich etwas ahnten, wurden von ihm (dem Redakteur des ›Kolokol‹) wie weltbekannte Dinge behandelt. Er kannte die Namen der politischen Gefangenen in den Kasematten von Petersburg und in den Minen von Nertschinsk, die ihren eigenen Wärtern nur als ›Nummern‹ bekannt waren. Er führte über Bestechungen und Uebergriffe der unbedeutendsten Polizeilieutenants ebenso genau Buch, wie über die Verhandlungen im Senat oder Reichsrath. Die Furcht, in den ›Kolokol‹ zu kommen, lähmte bald die Hände der kecksten und verhärtetsten Beamten von der dritten Abtheilung der kaiserlichen Kanzlei (der geheimen Polizei); ergraute Schergen der Gewalt, die kein Gesetz und keine Rücksicht kannten, wurden unruhig, wenn ihre Namen in dem gefürchteten Blatte zu lesen waren. Von dem ›Kolokol‹ als Reaktionär bezeichnet zu werden, war in den Augen aufstrebender Liberaler – und wer in Russland wäre damals nicht ›liberal‹ gewesen – das härteste Geschick, das einen Sterblichen treffen konnte; eine Missbilligung aus der Feder Iskander's galt für eine Art von Todesurtheil. Alle Mittel, diesem Dämon beizukommen oder ihn zu täuschen, erwiesen sich als vergeblich. Die Namen der gegen Herzen ausgesandten Agenten wurden im ›Kolokol‹ genannt, noch ehe dieselben den Ort ihrer Bestimmung erreicht und den Boden der englischen Küste betreten hatten; einem Beamten der geheimen Polizei, dem es gelungen war, unter falschem Namen bis in Herzen's Haus zu dringen, wies dieser bei dem ersten Besuch sein photographisches Porträt vor, indem er ihn spöttisch ersuchte, die unnütze Maske zu sparen. Da der Kaiser selbst zu den regelmässigen Lesern des ›Kolokol‹ gehörte, war seine Umgebung auf den ingeniösen Gedanken gekommen, eine Nummer, durch welche die Ehre eines angesehenen General-Adjutanten empfindlich kompromittirt war, heimlich umdrucken zu lassen. Die ursprüngliche Nummer ging dem verwunderten Monarchen einige Wochen später in geschlossenem Couvert mit einigen aufklärenden Zeilen zu!« –

Der Naturalismus, wie ihn Herzen predigte, fand damals in Russland den günstigsten Boden. Man hatte hier, wie wir sahen, niemals den Klassizismus recht kennen und würdigen lernen können, – wie willkommen waren da, die Auseinandersetzungen Herzen's, dass Westeuropa über eben jenen Klassizismus durch die materialistischen Schriften eines Büchner, Feuerbach u. a. schon längst hinweg wäre! Jede andere, tiefer gebildete, geistig reifere Nation würde, unbeschadet einer vollen Würdigung des in ihr liegenden wissenschaftlichen Gehalts, diese rasch emporblühende neue Literatur kritisch geprüft, das Falsche von dem Wahren darin geschieden, den werthvollen Kern herausgeschält haben, – die russische Gesellschaft aber machte sich mit einer wahren Gier die neuen Ideen zu eigen und zog deren praktische Konsequenzen, – waren es doch vor allem neue Ideen, und konnte man sich doch freuen; sich mit dem »Klotz am Fusse«, dem Klassizismus, nicht allzuviel abgegeben zu haben, jedenfalls nicht so viel, dass man Mühe gehabt hätte, ihn wieder los zu werden. Russland – rief man entzückt – ist den neuen fortschrittlichen Ideen viel zugänglicher, als der europäische Westen, weil es diese Art von »falscher« Bildung, die die Individualität mit lauter Irrthümern und Vorurtheilen ausfüllt und daher lediglich ein Hinderniss für den »wahren« Fortschritt ist, noch nicht so tief wie dieser in sich aufgenommen, und Russland ist eben deshalb berufen, die wirkliche Führerschaft in der nächsten Kulturepoche zu übernehmen! ... Die Gesellschaft gerieth in ein wahres Fieber des Disputirens, Kritisirens und Negirens hinein, und vor allem die Jugend verfiel demselben um so leichter und schneller, je weniger ihre Erziehung danach angethan war, ihr Charaktertüchtigkeit und sittlichen Halt zu verleihen. Die Aeltern freuten sich jetzt über den Lerneifer ihrer Kinder, die, kaum dass sie ausser dem Russischen etwas Französisch, Deutsch und Englisch gelernt hatten, schon unablässig über der Lektüre politischer, naturwissenschaftlicher und nationalökonomischer Schriften lagen und ihnen den ganzen Bau des menschlichen Körpers anatomisch zergliedern konnten, sie sahen in ihren Jungen, die eigentlich »alles« verstanden, das non plus ultra von Genialität, – »was sie selbst in ihrer Jugend nicht zu lernen vermochten, das versteht die heutige Generation aus dem ff, die liest ja ausserordentlich viel, in drei oder vier Sprachen, was man aus ihren häufigen Citaten ersieht, die zwar nur zu oft wie die Faust auf's Auge passen, aber gleichviel, es zeigt doch immer eine grosse Belesenheit ... Die Alten haben keine Ahnung von der Tragweite, noch von der Wirkung des Unsinns, den sie den Jungen vorschwatzen; sie wissen nie, dass das Wodka, das bei ihnen nur einen leichten Taumel hervorbringt, ihre Jungen stumpfsinnig oder rasend macht ... Wie sollten die Kinder nicht zu Verbrechern werden? Sie halten sich für berufen, die Welt zu reformiren, – hatten sie doch schon als Knaben am häuslichen Herde, d. h. beim dampfenden Samovar, unter der wohlthätigen Leitung ihrer Aeltern einen guten Anfang gemacht und die schwierigsten philosophischen, religiösen, moralischen und sozialen Probleme glücklich lösen hören. Jetzt stürzen sie sich auch auf das Feld der Politik, welches sie bis dahin unberührt gelassen hatten.« Es ist vielleicht mit Rücksicht auf die allgemein gesellschaftlichstaatlichen Verhältnisse in Russland, die einen grossen Theil der Schuld an diesen Uebelständen tragen, eine etwas zu schroffe Aeusserung, aber es birgt doch immerhin ein gut Stück Wahrheit in sich, wenn gesagt wurde, dass, wie in China die Aeltern jener Kinder, die sich um das Vaterland verdient gemacht haben, geadelt werden, nach demselben Prinzip die Aeltern der russischen Nihilisten mindestens dazu verurtheilt werden müssten, der Hinrichtung ihrer Söhne, deren sittliche Verwahrlosung ihnen zur Last fällt, beizuwohnen ...

Die russische Gesellschaft war reif für den Nihilismus. Die vollständigste Negation hatte sie schon Jahre lang beherrscht, – es bedurfte nur noch eines Schriftstellers, der ihr Glaubensbekenntniss gleichsam formulirte, die ganze Welt ihres Denkens und Empfindens, färben- und gestaltenbelebt, vor sie hinzeichnete: dieser Schriftsteller trat auf in dem scharfsinnigen, schlagfertigen Tschernyschewsky, und das Werk, welches das neue Evangelium beredt und ohne alle Scheu verkündigte, war sein bei den einen ebenso berüchtigter wie bei den anderen berühmter Roman: »Was thun?« – Die Figuren dieses letzteren, oder vielmehr diejenigen der darin auftretenden Personen, welche dem Werke seinen eigentümlichen Charakter verleihen, nennen sich selbst Nihilisten; Tschernyschewsky hat daher diesen Namen zuerst aufgebracht. Freilich erschraken jetzt viele vor den Konsequenzen, welche der kühne Autor darin aus den die Gesellschaft beherrschenden Ideen zog, – aber sie alle, auch die, die es um keinen Preis zugestanden haben würden, waren nahe daran gewesen, diese Konsequenzen für selbstverständlich zu halten. Der Roman Tschernyschewsky's ist bis heute die politische und soziale Bibel der russischen Jugend geblieben; der Verfasser desselben musste sein schriftstellerisches Wirken mit lebenslänglicher Verbannung in die Bergwerke Sibiriens büssen, wo der an sieh hochbegabte Mann zum Idioten geworden, – und gerade dieses politische Märtyrerthum des Autors von »Was thun?« hat wesentlich dazu beigetragen, dass die Macht des Nihilismus sich heute als eine so erschreckliche darstellt. Man muss die Jüngeren unter den Nihilisten – und es sind ja zumeist nur junge Leute, aus denen sich dieselben rekrutiren – das Schicksal Tschernyschewsky's beklagen, die Regierung wegen ihrer »Härte« gegen ihn verdammen gehört haben, um zu glauben, mit welchem Feuereifer, mit welcher Gluth und welcher Unerschrockenheit sie in der Agitation für die Ideen desselben beharren! ...

Auf der Höhe seiner exzentrischen Phantasterei, in die Alex. Herzen in den sechziger Jahren verfiel, 1869, definirte dieser im »Polarstern« den Nihilismus als »die vollkommenste Freiheit von allen fertigen Begriffen, von allen ererbten Hindernissen und Störungen, welche das Vorwärtsschreiten des abendländischen Verstandes mit seinem historischen Klotz am Fusse behindern.«

Eine zuweilen gegen die Studenten geübte, sehr ungerechte Härte hat mit dazu beigetragen, dass gerade diese Kreise ein starkes Kontingent von Agitatoren für die nihilistische Bewegung stellten. So untersagte z. B. eine Verordnung der zuständigen obersten Behörde den Studenten jede Manifestation gegenüber den Professoren. Als nun im Jahre 1859 an der Universität Kasan am Ende einer Stunde ein beliebter Professor beklatscht wurde, erklärte das der Kurator, »eine brutale Nullität«, als strafbare Gesetzesübertretung und relegirte acht Studenten. Darauf reichten acht Professoren mit nahezu 200 Studenten ihre Entlassung ein; 60 der letzteren wurden ergriffen und in verschiedene Städte an den Grenzen Sibiriens in das Exil geschickt. Der Unterrichtsminister Tolstoi, der nach Golownin das Ministerium der »Volksaufklärung« übernahm und die Fehler des letzteren durch strenge Zucht und, löblicher, aber vergeblicher Weise, auch durch Wiedereinführung der klassischen Studien gut zu machen suchte, veranlasste zahlreiche und ununterbrochene Relegationen unter den Studirenden und Gymnasiasten und lieferte gerade dadurch dem Nihilismus den stärksten Nachwuchs, – mancher irregeleitete und bis zur Verzweiflung aufgebrachte, in Noth und Elend verstossene Student wurde auf solche Weise eben erst recht fest an die Bewegung gekettet, deren verhängnissvollem Bann er, selbst wenn er es wünschte, dann nicht wieder zu entrinnen wagte.

Wie die Nihilisten über ihre Genossen wachen, mit welcher Rücksichtslosigkeit sie gegen vermeintliche »Verräther« vorgehen, bewies schon der Prozess Netschajew's, der zum ersten mal die Gefahr der nihilistischen Bewegung ahnen liess.

Als im Februar und März 1869 in Petersburg Studentendemonstrationen stattfanden, wurde dabei das radikal-politische Programm der Nihilisten in revolutionären Proklamationen, die in kurzen Zwischenräumen und in grossen Mengen erschienen und fast sämmtlich dieselbe Form und den gleichen Inhalt hatten, vor die Oeffentlichkeit gebracht. Diese revolutionären Cirkulare riefen eine ausserordentliche Erregung in der studirenden russischen Jugend hervor, und die Regierung fand sich daher zu vielfachen Verfolgungen veranlasst, die mit der Verhaftung des Hauptanstifters der Petersburger Unruhen, des Religionslehrers an einer Gemeindeschule der Hauptstadt, Sergius Netschajew, ihren Anfang nahmen.

Ich will die den Prozess Netschajew begleitenden Umstände nach einem von einer Anzahl russischer Emigranten Alex. Oelsiritz, Zemphiri Rally, Valerian Smirnow, Woldemar Holstein, Lazar Goldenberg, Michael Bakounin, Woldemar Ozerow. – Ist der mitunterzeichnete Goldenberg derselbe, welcher in den im November 1880 verhandelten Nihilistenprozess verwickelt und inzwischen in der Haft verstorben war? – Er stand bekanntlich zu Solowjew und Hartmann in intimer Beziehung und war einer der Hauptbetheiligten bei der Inszenirung der Attentate dieser beiden, – gewissermassen die Seele der ganzen Agitation. Er hat, seinem eigenen Geständniss zufolge, auch den tödtlichen Schuss auf den Fürsten Krapotkin abgefeuert. an »die Gerechtigkeit, das Gewissen und das gesunde Urtheil der freien Schweizer-Republik« gerichteten Appell wiedergeben, der, in Form eines 1872 zu Zürich gedruckten Flugblattes, mir vorliegt.

Im Eingange dieses Schriftstückes wird die russische Regierung und die nihilistische Propaganda wie folgt charakterisirt: »Die russische Regierung verfolgt Netschajew, wie überhaupt jede despotische Regierung einen Menschen verfolgen wird, der es gewagt hat, einen wenn auch schwachen und misslungenen Versuch zu machen, diese Regierung zu stürzen ... Es ist wohl allen bekannt, dass das russische Volk unter allen Völkern Europa's das am meisten gedrückte ist. Ein ertödtendes despotisches Joch erstickt jede lebendige gesellschaftliche Bewegung, noch bevor dieselbe aufkeimen kann; persönliche Freiheit ist in diesem Reiche der Knute etwas Unbekanntes. Ist es wohl nöthig, über die materielle Lage des russischen Volkes ein Wort zu sagen? – Ein jeder, welcher Russland kennt, weiss, dass von 80 Millionen Einwohnern – auf 70 Millionen, trotz der sogenannten Bauernemanzipation, die Last einer wahren Sklavenarbeit ruht, um die hohen Gehalte einer Beamtenwelt zu schaffen., welche jeden nützlichen Gedanken im Volke erstickt, jeden, der es versucht, das Bewusstsein der Selbständigkeit im Volke zu erwecken, – in's Verderben stürzt. Was das Volk selbst betrifft, so hält sich dasselbe für glücklich, so lange es ein Stück Brot hat, das halb aus schlechtem Mehl, halb aus trockener Baumrinde besteht.

»Es ist natürlich, dass ein solcher Zustand des Volkes vorzüglich die studirende Jugend, welche noch nicht durch die Korruption eines offiziellen Beamtenlebens verdorben ist, auf's lebhafteste ergreifen muss. Die gewissenlose Ausbeutung der Massen widerspricht zu sehr den Ideen von Gerechtigkeit, welche die Jugend im Studentenleben in sich aufnimmt (!). Die Leiden des Volkes sind zu bitter, als dass die Jugend dieselben ohne Theilnahme betrachten sollte; deshalb hat die russische Jugend auch stets auf der Seite des Volkes gestanden. Und nicht allein in Worten hat sie den unterdrückten Brüdern ihr Mitgefühl zu erkennen gegeben, – nein, der edlere und bessere Theil der studirenden Jugend ist vor keinen Opfern zurückgeschreckt, wenn dadurch dem Volke nur eine Hülfe erwachsen konnte. Gefängniss, Verbannung, ja selbst der Tod vieler von ihnen schwächte nicht die Energie ihrer Mitgenossen, und kaum war es der russischen Regierung gelungen, eine Bewegung zu Gunsten des Volkes zu ersticken, so entstand schon eine andere auf's neue.«

In dieser Sphäre also »trat Netschajew handelnd auf.« Er gründete im Jahre 1869 zu Moskau unter dem Namen »Volksgericht« einen geheimen Bund, dessen Mitglieder grösstentheils der studirenden Jugend angehörten. »Das Ziel desselben war (das Flugblatt spricht es unverhohlen aus), – eine Volkserhebung zu erwecken. Netschajew,« der durch eine in der That merkwürdige Energie alle übertraf, stand an der Spitze dieser Gesellschaft. Er war ein Fanatiker, welcher unter dem Einflusse der harten Bedingungen des russischen Lebens und der verzweiflungsvollen Lage des Volkes zu solchem herangebildet war. Die Mitglieder der geheimen Gesellschaft waren ihrer Sache von ganzer Seele ergeben; sie lebten nur für die Idee der Befreiung des Volkes und waren bereit, für dieselbe ihr Leben hinzugeben.«

Sehr richtig sprach sich daher der Prokurator des Gerichts schon damals über die Gefährlichkeit dieser Propaganda aus: »Und deshalb, meine Herren Richter, halte ich diese Verschwörung für gefährlich. Menschen von so verschiedenen Meinungen, von so verschiedenen Ansichten und Begriffen – verbinden sich fest in Eins. Und wenn sie für ein bekanntes Ziel alles opfern, so muss man gestehen, dass die von ihnen gebildete Verschwörung dem Staate Gefahr drohen kann, wenn auch die Gesellschaft nicht zahlreich und ihre Geldmittel nur gering sind. Deshalb, m. H., komme ich zu der Ueberzeugung, dass die genannte Gesellschaft nicht nach der Zahl ihrer Mitglieder, nicht nach der Grösse der gesammelten Gelder, sondern nach ihrer inneren Einrichtung, nach dem Geiste, welcher sie beseelt, nach der Kraft, welche sie bewiesen hat, wirklich gefährlich war.« (St. Petersburger Anzeiger 1871, No. 188.)

Als für die allgemeine Charakteristik der Sache von Bedeutung sei hier noch einiges über die Persönlichkeit und die Verhältnisse Netschajew's aus der Anklagerede des Gerichtsprokurators mitgetheilt. »Netschajew ist im Dorfe Iwanowo als Sohn eines armen Handwerkers geboren; nach der Mittheilung Prischow's (eines der Angeklagten) lernte er erst in seinem sechzehnten Jahre schreiben und lesen und erwarb weiter in Iwanowo eine sehr unvollkommene Ausbildung. Nichtsdestoweniger aber erwarb Netschajew gerade deshalb, weil er in einem Dorfe geboren, weil sein Vater ein armer Handwerker war und weil er endlich seine Kindheit und erste Jugend in diesem Dorfe zubrachte, diejenigen Kenntnisse und Erfahrungen, diejenigen Eigenschaften, welche für den Erfolg seiner Sache äusserst wichtig waren; er lebte sich in die volkstümlichen Begriffe ein, lernte die Bedürfnisse des Volkes kennen ... Aus Iwanowo begab sich Netschajew nach Moskau, wo er die dortige Universität besuchte (ein Beweis, welche unreife jungen Leute man damals zu den Universitätsstudien zuliess), nachher nach Petersburg, wo er Lehrer an einer Gemeindeschule wurde. In sehr kurzer Zeit verstand er es hier Bekanntschaften und Verbindungen anzuknüpfen, vollendete seine Ausbildung, erwarb über einige Gegenstände bedeutende, umfassende Kenntnisse und verstand es auch, wie es scheint, aus denselben Nutzen zu ziehen.« Einige der Angeklagten behaupteten, dass er überhaupt nur täglich zwei Stunden geschlafen.

Lassen wir nun das Flugblatt der Emigranten weiter reden.

»Von Anbeginn der Gründung der geheimen Gesellschaft trat ein Mensch in deren Kreis ein, welcher, nach dem Zeugniss der Mitglieder des »Volksgerichts« (?), vom Anfange an das gemeinschaftliche Interesse gefährdete und durch sein Benehmen den Verdacht der Mitglieder erweckte. Der Angeklagte Uspenski, welchem in der geheimen Gesellschaft die Pflicht oblag, Kunde über die Thätigkeit sämmtlicher Mitglieder derselben einzuziehen, erklärt, dass ihm von verschiedenen Seiten her Nachricht zugegangen, dass dieser Mensch, Iwanow genannt, mit der Absicht umgehe, die ganze Sache der Regierung aufzudecken (vgl. St. Petersb. Anzeig. 1871, No. 182, 183 und 209) ... Auf solche Weise waren die Mitglieder der Organisation in die Nothwendigkeit versetzt, über die Frage zu entscheiden, – sich eines für dieselbe gefährlichen Menschen zu entledigen – oder aber ihre Sache, die ganze Organisation und alle Mitglieder derselben einem sicheren Untergange auszusetzen. Da fassten fünf Mitglieder, unter ihnen Netschajew, den Entschluss, Iwanow zu tödten, und brachten diesen ihren Entschluss auch zur Ausführung. Bald jedoch wurde die Tödtung Iwanow 's, sowie auch die geheime Gesellschaft entdeckt; eine Reihe Haussuchungen und Arrestationen folgten unmittelbar. Netschajew war es indessen mit Hülfe seiner Freunde gelungen, in's Ausland zu entkommen.« Es waren übrigens im Ganzen 84 Personen als an der Sache Betheiligte herbeigezogen und 63 von ihnen in's Gefängniss gesetzt worden. – Die Tendenz dieses Flugblattes war, nachzuweisen, dass Netschajew keineswegs ein gemeiner Kriminalverbrecher, der aus persönlichen Motiven handelte, gewesen, sondern dass sein Vergehen wesentlich den Charakter eines politischen Verbrechens trage und er deshalb von der Schweiz, »dem Vaterlande Wilhelm Tell's«, der russischen Regierung nicht ausgeliefert werden dürfe. Bekanntlich lieferte die Bundesrepublik Netschajew dennoch aus und zwar unter der Bedingung, dass die russische Regierung ihn als gemeinen Verbrecher behandeln wolle. Ueber den weiteren Verlauf der Angelegenheit theile ich im Anschluss an das Vorstehende noch einen Bericht von nihilistischer Seite mit, ohne für die Thatsächlichkeit seines Inhalts irgend eine Bürgschaft übernehmen zu wollen oder übernehmen zu können. Er findet sich in einem Briefe, welchen ein ebenfalls in der Schweiz lebender Flüchtling, der vielgenannte Fürst Krapotkiu, als es sich um die Auslieferung des Attentäters Hartmann von Seiten Frankreichs handelte, an die Pariser »Justice« richtete. Es liegt in der Natur der Sache, dass solche den nihilistischen Kreisen entstammenden Darstellungen mit ebenso viel Vorsicht aufzunehmen sind wie die offiziösen russischen Berichte über Vorgänge dieser Art. Krapotkin schreibt: »In der That wurde Netschajew in Moskau nur wegen gemeinen Verbrechens von einer gewöhnlichen Jury abgeurtheilt. In der Folge kam aber erst der Unterschied zu Tage. Als er vor dem Gerichtshof protestirend von der geheimen Gesellschaft, an deren Gründung er mitgewirkt hatte, des Näheren sprechen und überhaupt ein politisches Glaubensbekenntniss ablegen wollte, wurde er sofort unterbrochen, und da er gleichwohl weiterzusprechen suchte, der Befehl ertheilt, ihn aus dem Saale abzuführen. Er leistete Widerstand und wurde mitten im Gerichtssaale von den Gensdarmen mit Faustschlägen und Ohrfeigen traktirt. Zur richtigen Beurtheilung dieser Handlungsweise der Gensdarmen wäre doch wohl festzustellen, in welcher Art Netschajew selbst vorher Widerstand geleistet hatte. Das ist eine in Moskau allbekannte Thatsache, und das amtliche Begierungsorgan hat sie sogar in seinem Berichte erwähnt. Netschajew wurde zu zwanzigjähriger Zwangsarbeit verurtheilt. Nach dem Gesetze sollte ihm das Urtheil auf einem öffentlichen Platze verkündet und er in einem Wagen, an den Schandpfahl gebunden, dahin geführt werden. Unterwegs suchte Netschajew das Volk, welches sich in den Strassen um ihn drängte, zu haranguiren. Mitten unter dem Wirbeln der Trommeln schrie er, warum er verurtheilt sei, und forderte das Volk zur Empörung auf. Wissen Sie, wie sich nun die Regierung an ihm rächte? Ein höherer Polizeibeamter von Moskau hat es mir selbst erzählt. Man telegraphirte nach Petersburg, und es erfolgte die Antwort: Gebt ihm dreihundert Knutenhiebe! ... Der Befehl wurde mit unerbittlicher Grausamkeit ausgeführt. Netschajew ist eine starke Natur. Im Anfange stiess er nicht einen Laut aus. Dann begann er zu schreien, und zuletzt verlor er das Bewusstsein. Was ist seitdem aus Netschajew geworden? Das weiss niemand, werden Sie sagen. Doch nicht; wir Sozialisten wissen es, da wir überall Sympathien finden, die uns selbst durch die dichtesten Festungsmauern blicken lassen (vgl. S. 27 die Bemerkungen über Alex. Herzen's ›Kolokol‹). Bis zum Jahre 1876, vielleicht sogar bis 1878 (doch ich will nur behaupten, was ich wirklich weiss), befand er sich in der Festung Peter und Paul in einer Art von Kerkergruft, wo das Wasser, wenn die Newa austritt, von der Mauer herabträufelt. Statt, wie alle wegen gemeiner Verbrechen Verurtheilten, nach Sibirien geschickt zu werden, wo sie im Freien in den Goldminen (Periiski) arbeiten, schmachtet er in dem Verliess einer Festung, die bisher noch nie gemeine Verbrecher gesehen hat. Eine Zeit lang war er an die Mauer angekettet, und vielleicht ist er es noch. Die Schweizer erröthen heute, den Versicherungen der russischen Diplomaten Glauben geschenkt zu haben ...« Wahr oder nicht, wird dieser Bericht des Fürsten Krapotkin den Beweis liefern, wie ungeheuer aufregend derartige Darstellungen – und sie cirkuliren, schriftlich und mündlich, unter den Nihilisten zu hunderten – auf die betheiligten Kreise wirken müssen.

Das vorhin angezogene Flugblatt der russischen Emigranten enthält gleich im Eingang auch die Bemerkung: »Zur Vermeidung aber jedes Missverständnisses halten wir für unsere Pflicht, das, was in unserem Proteste vom 16. August gesagt worden, noch bestimmter und klarer auszusprechen. – Wir stehen den Theorien Netschajew's, seiner Richtung und besonders deren praktischer Anwendung fern. Wir könnten, wenn solches nöthig wäre, beweisen, dass derselbe uns schon längst als seine politischen Gegner betrachtet.«

Nun wird aber jedermann die tiefe Sympathie für Netschajew und die durch ihn vertretene Sache aus dem Schriftstück herauslesen, und in der That ist der mitunterzeichnete, auch durch seine revolutionäre Thätigkeit in Deutschland wohlbekannte Michael Bakounin so recht eigentlich der Urheber der Propaganda, so zu sagen der Vater des praktischen Nihilismus, wie man Tschernyschewsky als den des theoretischen charakterisiren könnte.

Die Anschauungen Bakounin's erwiesen sieh schon bald so ausserordentlich radikal, dass der im Jahre 1872 im Haag versammelte fünfte Kongress der »Internationalen Arbeiter-Assoziation« sich veranlasst fand, ihn sammt meinen Anhängern durch ausdrücklichen Beschluss aus der Vereinigung förmlich auszuschliessen, worauf jener nun eine besondere »Züricher slavische Sektion« mit eigenem revolutionären Programm bildete. Nach diesem anarchistischen Programm soll die Aufgabe der Partei im allgemeinen in der Zerstörung sämmtlicher Staaten und jeglicher staatlicher Organisation, in der Vernichtung der Civilisation der »Bourgeoisie«, sowie im Kampfe gegen die Grundlagen derselben: Religion, Eigenthum und Familie, bestehen, – alles das zu Gunsten einer nicht genauer zu bestimmenden Ordnung, die in Zukunft durch freie Föderation unabhängiger produktiver Genossenschaften zu Stande kommen soll. Spezifisch für Russland betonte Bakounin die Nothwendigkeit einer allgemeinen Erhebung des Volkes gegen seine Regierung und suchte die Unvermeidlichkeit dieser Revolution zu beweisen. Diese Grundsätze wurden von den russischen Emigranten allgemein acceptirt und zur Vertretung derselben 1873 in Genf das Journal »Vorwärts«, jetzt »Die Gemeinde«, gegründet.

Die Verschiedenheit der Meinungen über das Verfahren, welches zur praktischen Verwirklichung des Bakounin'schen Programms in Russland einzuschlagen sei, führte bald eine Spaltung unter den russischen Emigranten in zwei Parteien herbei. Der eine, gemässigtere, Theil der Anarchisten, an ihrer Spitze der Oberst Lawrow, hielt dafür, die Zeit zur sozialen Revolution sei noch nicht gekommen, das russische Volk müsse erst über seine Lage aufgeklärt und durch mündliche und schriftliche Propaganda für die zukünftige Erhebung vorbereitet werden. Auch wollte Lawrow, da die Revolution nur durch die Masse durchgeführt werden könne, die zukünftige Organisation mit der Zustimmung und nach dem Willen des Volkes selbst eingerichtet wissen. Die extremere Richtung unter den Anarchisten aber stimmte nicht bei, sondern schaarte sich um den aus Sibirien in's Ausland entkommenen Tkatschew, der im April 1874 in einer Broschüre: »Die Aufgaben der revolutionären Propaganda in Russland« sich dahin aussprach: nicht die Vorbereitung der Revolution im allgemeinen, sondern die Verwirklichung derselben ohne allen Aufschub sei die Hauptsache. Auch die Anhänger dieser Richtung wollten »unter das Volk gehen«, wie der unter den Nihilisten übliche Ausdruck lautet, aber nicht um es zu belehren und vorzubereiten, sondern um es direkt zum Widerstande gegen die Regierungsgewalt zu reizen. Die Frage über die zukünftige Organisation des Staats und der Gesellschaft, nachdem die Revolution würde stattgefunden haben, wurde von dieser »Aktionspartei« nicht weiter erörtert; ihr einziges Ziel war »der Kampf mit der Regierung, der Kampf mit dem bestehenden System, der Kampf bis zum letzten Blutstropfen, bis zum letzten Athemzuge«. Ihr Organ, »Die Sturmglocke«, empfahl als Aktionsmittel lokale Aufstände und die systematische Ermordung aller hervorragenden Vertreter der Staatsgewalt. Welche Gestalt die Verhältnisse nach dem allgemeinen Blutbade und der Zerstörung der gesammten Kultur in Russland annehmen sollten, darüber haben sich weder Bakounin, noch seine Nachfolger beider Parteien bestimmt ausgesprochen; nur während der Agitation in Russland selbst sahen sich die Propagandisten hier und da genöthigt, wenigstens vage Andeutungen über die Zukunft zu geben und von allgemeiner Gleichheit, Aufhebung aller Steuern, gemeinsamem Landbesitz, Wahl eines Oberhauptes durch den Volkswillen u. s. w. zu reden.

Das zuverlässigste Urtheil über die Art und Weise der nihilistischen Propaganda ermöglicht ohne Zweifel folgendes Aktenstück, das im Jahre 1876 bei einer Haussuchung in Moskau im Quartier eines gewissen Sdanowitsch gefunden wurde, – » Programm der Thätigkeit, Statut des Revolutionärs und Organisation der geheimen Gesellschaft« betitelt sich das ausserordentlich interessante Dokument, welches als typisch für die innere Organisation der nihilistischen Gesellschaften unserer Tage überhaupt betrachtet werden darf.

Das Programm weist zwölf Abschnitte folgenden Titels und Inhalts auf:

I. »I. Prinzipien, auf denen die Organisation beruht. Absolute Gleichheit, volle Solidarität, volles Vertrauen und Aufrichtigkeit aller Glieder in allen Angelegenheiten der Organisation.

II. Art der Gründung einer Verbindung. Jede neue Verbindung wird von Gliedern einer der bestehenden auf Grund des Programms der letzteren gegründet.

III. Bedingungen der Aufnahme unter die Glieder der Verbindung. Zur Aufnahme ist Einstimmigkeit erforderlich. Qualifizirt sind Personen, welche sich ganz und voll der revolutionären Thätigkeit weihen, ihr alle Bande der Liebe und Freundschaft zu opfern bereit sind, Selbstentäusserung und die Fähigkeit besitzen, Geheimnisse zu wahren, und ausserdem vorher praktisch erprobt sind.

IV. Verpflichtungen der Glieder der Verbindung. Die Glieder sind verpflichtet, strenges Geheimniss zu wahren, alle Aufträge der Gesellschaft auszuführen, über ihre Thätigkeit Rechenschaft abzulegen und alle ihre Beobachtungen und Nachrichten der Gesellschaft mitzutheilen. Ohne spezielle Einwilligung seiner Verbindung darf kein Glied mit anderen Kreisen und Parteien in wichtigere Verhandlungen eintreten, noch auch sich von seinem Aufenthaltsort entfernen und ebensowenig aus einer Verbindung in eine andere übergehen. Die Glieder können kein persönliches Eigenthum besitzen.

V. Rechte der Glieder. Jedes Glied hat das Recht gleicher Theilnahme, sowie der Kontrole in allen Angelegenheiten der Verbindung und darf von der Verwaltung alle ihm nöthigen. Erklärungen fordern. Jedes Glied hat das Recht, ausserordentliche Versammlungen zu berufen.

VI. Administration. Alle Glieder der Verbindung sind verpflichtet, der Reihe nach in die Administration einzutreten, welche aus drei oder mehr Gliedern zusammengesetzt wird. Die Administration hat beständige Verbindungen mit den anderen Gesellschaften aufrecht zu erhalten, verwaltet die Kasse, sorgt für die Anschaffung und Vertheilung der Bücher, für Miethe und Einrichtung der Quartiere, führt die Korrespondenz, muss bei drohender Gefahr Warnungen ergehen lassen und im Falle ein Glied der Gesellschaft arretirt wird, davon sofort an alle Glieder und an alle anderen Gesellschaften Mittheilung machen, sowie auch sich mit den Gefangenen in Verbindung setzen. Die Administration darf von sich aus mit anderen revolutionären Kreisen Verhandlungen anknüpfen, und ihre Glieder sind für die Dauer ihrer Verwaltung von der ›Arbeit‹ auf den Fabriken etc. befreit.

VII. Bedingungen der Thätigkeit während der Propaganda. Inbetreff der Art ihrer revolutionären Thätigkeit haben die Glieder völlig freie Wahl, aber sie dürfen bei der Propaganda nur in ihrem eigenen Namen handeln und niemals das Geringste von der Existenz einer revolutionären Verbindung merken lassen, ja, vorkommenden Falls müssen sie selbst vor ändern Revolutionären ihre Bekannten verleugnen. Geschenke dürfen nicht angenommen werden, und ohne die Einwilligung der Verbindung darf kein Fremder in das Geheimniss der Organisation eingeweiht werden.

VIII. Gruppirung der wichtigsten Mittel der Propaganda. 1. Mündliches Gespräch; 2. Vorlesen von Büchern; 3. Aufreizung; 4. einfache Heranziehung zu einer Gruppe; 5. Bildung eines organisirten revolutionären Kreises. Im letzteren Fall sollen eine Kasse, eine Bibliothek und regelmässige Versammlungen eingerichtet werden.

IX. Von der Agitation. Zum Unterschied von der Propaganda, welche zur Aufklärung über die Ideen der Revolution dient, hat die Agitation zum Zweck, einzelne Personen und ganze Kreise zu revolutionärer Thätigkeit anzuregen. Diejenige Agitation, die mit der Propaganda Hand in Hand geht, besteht in der Veranlassung einzelner Personen oder ganzer Kreise zur Propaganda, in der Bildung von Artels, Kassen, Bibliotheken und neuer revolutionärer Verbindungen. Die reine Agitation wird in Friedenszeiten vermittelst organisirter Banden geführt. Diese sozial-revolutionären Banden haben den Zweck, die Regierung und die privilegirten Klassen in Schrecken zu setzen und das Volk aufzuwiegeln; ausserdem werden mit ihrer Hülfe Gefangene befreit und die nöthigen Geldmittel für die Verbindung beschafft. In Zeiten des Aufruhrs haben die Glieder der Verbindung die Aufstände zu leiten, ihnen eine sozialrevolutionäre Richtung zu geben und die ähnlichen Bewegungen anderer Kreise zu unterstützen.

X. Die pekuniäre Seite der Organisation. Jede Verbindung hat ihren selbständigen Fonds, welcher von der Administration aufbewahrt und verwaltet wird, und aus welchem die Ausgaben der einzelnen Glieder bestritten werden. Jedes Glied ist verpflichtet, aus allen ihm zugänglichen Quellen nach eigenem Gutdünken Gelder zu scharren; doch müssen die Mittel dazu derart sein, dass sie die Sicherheit und den Kredit der Organisation nicht gefährden.

XI. Bücherwesen Die Gesellschaft setzt sich durch ihre Emissäre mit den Herausgebern der Bücher in Verbindung. Die dazu zeitweilig entsendeten Personen besorgen den Transport der Bücher über die Grenze und liefern dieselben schliesslich an die Administration ab.

XII. XII. Versammlungen der Glieder. Versammlungen zur Berathung der laufenden Angelegenheiten werden von der Administration berufen und finden einmal im Monat statt. Eine Versammlung wird nur dann als giltig angesehen, wenn alle Glieder benachrichtigt worden sind und die nicht erschienenen die Gründe ihres Wegbleibens angezeigt haben ...«

Gewissermassen zur Ergänzung dieses Programms, aus welchem hier übrigens nur das Wesentliche wiedergegeben ist, schliessen wir daran folgende Stelle aus einem » Katechismus«, der (dem »Rhein. Kurier« vom 20. Dezember 1879 zufolge) bei den Nihilisten vorgefunden wurde. Man kann sich in der That kaum etwas Radikaleres, Tolleres, das noch dazu in der cynischesten Weise ausgesprochen wird, denken. » Der Nihilist«, heisst es da, » hat nicht bloss in Redensarten, sondern thatsächlich alle Bande zerrissen, welche ihn mit der bürgerlichen Ordnung verknüpfen können, und hat vollständig gebrochen mit der ganzen gebildeten Welt, mit allen Gesetzen, Anstandsregeln, allgemein giltigen Prinzipien und mit der Moral der bestehenden Weltordnung. Er ist der unversöhnliche Feind alles Bestehenden, und wenn er inmitten der bestehenden Ordnung verbleibt, so ist es nur, um sie zu zertrümmern, indem er bei Tag und bei Nacht keinen anderen Gedanken hat, als ihre rücksichtslose Zerstörung

Ueber die Art der Ausführung solcher Bestimmungen weiter nun belehren die Erzählungen der Zeugen in den politischen Prozessverhandlungen und die Aussagen der Betheiligten selbst. Wir geben einiges davon nach der Darstellung, wie sie sich, aus der Feder eines wohl unterrichteten St. Petersburger Journalisten, im »Rigaischen Almanach für 1880« findet.

Ein Gutsbesitzer im Nowo-Torshok'schen Kreise (Gouv. Twer), Namens Jarzew, – so wird dort erzählt – machte bei seinen Besuchen in der Kreisstadt in einer Leihbibliothek, deren Abonnent er war, die Bekanntschaft des Bibliothekars, eines gewissen Popow, welcher, früher Student des technologischen Instituts, die Anstalt verlassen hatte, ohne den Kursus zu beenden, und nun die Stelle des Schullehrers der städtischen Elementarschule in Torshok bekleidete. Diesen Popow trifft der Gutsbesitzer im Sommer 1873 auch in Petersburg und erzählt ihm im Laufe des Gesprächs unter anderem, dass er für seine Gutswirthschaft gern einen Gehülfen hätte. Das theilt Popow sofort seinem nihilistischen Kreise mit, und es erscheint infolge dessen auf Jarzew's Gut ein gewisser Krawtschinsky (zur Richtung der Tschaikowzen, über welche ich nachher näheres mittheilen werde, gehörig), der auch ohne Aufschub seinen Prinzipal im Sinne der Propaganda zu bearbeiten anfängt. Er spricht ihm von der elenden Lage des Volkes, überredet ihn von der Nothwendigkeit, »Bildung« unter demselben zu verbreiten, und gemeinsam machen sie sich daran, eine geheime Typographie auf dem Gute anzulegen, zu welchem Zwecke sie sich in den Kartoffelkeller begeben und eigenhändig eine Grube zu graben anfangen. Alsbald tritt auf dem Gut eine gewisse Obodowska aus Petersburg auf, durch welche Jarzew allmählig ganz in die Netze der Tschaikowzen verstrickt wird, mit denen er dann in Petersburg in lebhaften persönlichen Verkehr tritt, und deren anarchistische Ideen er vollkommen zu den seinigen macht Er vermittelt die Bekanntschaft der Propagandisten mit einer Steinhauer-Artel, vertheilt an seine Bauern gegen geringe Entschädigung Land und macht sich dann selbst in Gestalt eines wandernden Bücherkrämers zur Betreibung der Propaganda auf, bis er im Dezember 1875 in Petersburg verhaftet wird.

In einem andern Fall erscheinen auf der Lasarew'schen Fabrik in Moskau (Anfang 1875) zwei Frauenzimmer in ordentlicher Kleidung und bitten um Arbeit. Der Verwalter erkennt sogleich, dass er es nicht mit einfachen Arbeiterinnen zu thun hat, sondern mit Personen aus gebildeteren Ständen, erklärt ihnen darum, dass die Fabrikarbeit für sie ungeeignet und zu schwer sei, und fordert sie auf, doch lieber eine andere Beschäftigung, als Lehrerinnen oder in einem Comptoir, zu suchen. Als sie aber bei ihren Bitten beharren, lässt er sich überreden und nimmt sie zur Arbeit an. Die eine der Frauen, die sich Annuschka nennen liess, stellt sich am nächsten Tage in der Fabrik ein, giebt ihren Pass ab (der, wie sich später herausstellte, gefälscht war) und arbeitet eine Zeit lang still und fleissig. Nach zwei bis drei Wochen hat sie sich mit ihrer Umgebung vertraut gemacht und beginnt nun in Gesprächen mit den Mitarbeitern allmählich Propaganda für ihre nihilistischen Ideen zu machen. Sie schleicht sich nach Schluss der Tagesarbeit in die Schlafabtheilung der Männer ein, setzt sich auf ein Bett, zieht verschiedene Bücher hervor und liest den um sie versammelten Fabrikarbeitern aus der »Schlauen Mechanik«, der »Sammlung neuer Lieder und Gedichte« und ähnlichen aufrührerischen Schriften vor, wobei sie sich Mühe giebt, ihren Zuhörern alles, was ihnen etwa unverständlich bleibt, genau zu erklären. Danach fordert sie dieselben auf, doch selbst noch in den Büchern weiter zu lesen, und vertheilt zu diesem Zweck einige derselben unter den Fabrikarbeitern. Bald zieht das verdächtige Treiben die Aufmerksamkeit der Fabrikverwaltung auf sich, und eines Abends ertappt der Prikaschtschik Petrow die Annuschka in der Schlafkammer der Männer beim Vorlesen. Er macht ihr Vorwürfe, was sie da zu suchen habe, die Männer müssten schlafen, um am andern Morgen um vier Uhr wieder bei der Arbeit zu sein, sie solle sich entfernen. Als sie nicht gleich gehorchen will, zieht er sie mit Gewalt aus dem Zimmer, und sie muss die Fabrik verlassen. Am 16. April 1875 wurde die verkappte Nihilistin arretirt, wobei sich herausstellte, dass sie eigentlich Bardina hiess und ein thätiges Mitglied des Moskauer revolutionären Kreises war.

Die Gewohnheit der Fabrikarbeiter, sich in den Tracteurs zum Theetrinken zusammenzufinden, wurde von den Propagandisten mit Vorliebe zu ihren Annäherungsversuchen benutzt. So kam einst (im Jahre 1875 in Moskau) ein Bauer, mit Namen Jegorow, zu seinem Onkel Jermolajew auf die Tjuläjew'sche Fabrik und forderte ihn auf, mit ihm zusammen einen Schluck zu trinken; er solle auch ein paar von seinen guten Bekannten mitnehmen. Jermolajew erklärt ihm, sämmtliche Fabrikarbeiter seien seine guten Bekannten, worauf jener ihm sagte: »Lade sie alle ein, ich habe Geld für alle!« So begeben sich denn Jermolajew, Jegorow und mehrere andere Fabrikarbeiter in das nahegelegene Tracteur. Daselbst fanden sie zwei Unbekannte vor, einen schwarzen, der »nicht nach einem Russen aussah« und sich Michail nannte, und einen gewissen Feodor. Die beiden liessen Branntwein kommen und bewirtheten die Arbeiter; darauf wurde Thee getrunken, und es entwickelte sich ein Gespräch. Michail sprach von der Armuth und Noth der Arbeiter und dass man ihnen helfen müsse; er wisse von einer »Brüderschaft«, die ihnen helfen wolle. Wenn es derselben gelänge, ihre Pläne auszuführen, dann werde es keine »Herren« mehr geben, Arme und Reiche würden gleich sein; doch müssten dazu in einem allgemeinen Aufstande des Volkes die Regierung, die Beamten und alle Edelleute ausgerottet werden. Jegorow holte dann einen ganzen Packen Bücher hervor, vertheilte sie und steckte namentlich Jermolajew, der von der Sache wenig begriff, so viele in die Taschen, dass es diesem unbequem wurde und er sie sich lieber in ein Tuch einband und nach Hause auf die Fabrik nahm, wo er sie, wie ihm Jegorow gerathen hatte, arglos unter seinen Kameraden zu verbreiten anfing. Das plötzliche Erscheinen einer solchen Menge aufrührerischer Schriften fiel dem Prikaschtschik der Tjuläjew'schen Fabrik auf, und er zeigte es der Gensdarmerie-Verwaltung an. So kam die ganze Sache an den Tag. Der obengenannte Michail entpuppte sich als ein gewisser Dshabadari, einer der Verschworenen des Moskauer Kreises.

In dieser und ähnlicher Weise agitirten die Nihilisten allenthalben in den Fabrikstädten. Ueberall traten sie in grober, einfacher Kleidung auf, die Frauen gingen barfuss auf die Arbeit aus, und in nichts unterschied sich äusserlich ihre Lebensart von der gewöhnlichen der Fabrikarbeiter. Aber die Propaganda beschränkte sich keineswegs bloss auf die Fabrikbevölkerung, obwohl diese den Verschworenen als der günstigste Boden zur Aufnahme ihrer Ideen galt; sie suchten ebenso auf die Masse des Landvolkes zu wirken. Das gewöhnlichste Verfahren der Propagandisten auf dem Lande war dieses, dass von ihnen eine Werkstatt eingerichtet wurde, etwa eine Schlosserei oder noch lieber eine Schmiede als das unter den Bauern populärste Handwerk; die beständige Berührung, in die sie dadurch mit dem Volke kamen, benutzten sie dann, um es in mündlichen Gesprächen oder durch Vorlesen aus staatsfeindlichen Schriften mit ihren anarchistischen Plänen vertraut zu machen. Durch Bücherverleihung unter die besser gebildeten Bauern suchten sie auch hier die Gährung der Gemüther in weitere Kreise fortzupflanzen. In besonders grossem Massstabe war ein ebenso raffinirtes wie gefahrdrohendes Unternehmen angelegt, dessen Einzelheiten wir in den Akten der berüchtigten »Tschigirin'schen Sache« finden.

Im Tschigirin'schen Kreise (Gouv. Kiew) waren unter den früheren Domainen-Bauern schon 1875 bei Gelegenheit einer anderen Vertheilung von Land Unruhen ausgebrochen. Diese Agrarbewegung wussten sich drei Emissäre der nihilistischen Partei mit Geschick zu Nutze zu machen und organisirten unter den Bauern des genannten Kreises im Anfange des Jahres 1877 eine sogenannte »geheime Drushina«. Der ausgesprochene Zweck dieses Geheimbundes war die gewaltsame Besitzergreifung alles Landes im Kreise, welches dann zu gleichen Theilen unter die Bauern vertheilt werden sollte; verwirklicht werden sollte dieser Plan durch einen gemeinsamen Angriff auf die Gutsbesitzer, die Geistlichkeit und alle Angehörigen der besseren Stände und durch bewaffneten Widerstand gegen die Gewalten. Die »geheime Drushina« erhielt von den drei Verschworenen ein förmliches gedrucktes Statut und theilte sich in Kreise von je 25 Mann, sogenannte »Starostwa«, an deren Spitze je ein erwählter Starost stand. Die Staroste hatten die Aufsicht über die Mitglieder der Verbindung, sammelten die Geldbeiträge ein, warben neue Mitglieder und traten zu einem Starosten-Rath zusammen, welcher den gemeinsamen Kassirer und den »Ataman« zu wählen hatte. Den durch den Ataman vermittelten Befehlen der »kaiserlichen Kommissäre« (als solche gerirten sich die drei Verschworenen) musste von den Starosten und den einzelnen Drushinniks unweigerlicher Gehorsam geleistet werden; dazu verpflichtete jeden einzelnen ein förmlicher, bei der Aufnahme abgelegter Eid. Das Geheimniss des Bundes war durch eben diesen Eid und durch Todesandrohung gesichert. Die einzelnen Mitglieder der Drushina standen ausserdem unter den Befehlen des Starosten-Raths, welcher über die Verwendung der Gelder verfügte und Massregeln im Fall einer Gefahr zu treffen hatte. Um eine solche Organisation möglich zu machen, hatten die Anstifter fälschlich Gerüchte unter den Bauern ausgestreut, dass der Kaiser ihnen schon längst alles Land ohne jegliche Entschädigung verliehen habe, dass aber die Gutsbesitzer, die Geistlichkeit und die Beamten aus Eigennutz den kaiserlichen Ukas unterschlagen hätten. Zur Bekräftigung dessen wiesen die angeblichen »kaiserlichen Kommissäre« ein gefälschtes Manifest vor, in welchem der Kaiser erklärte, man verhindere ihn, seinen Willen auszuführen, und er fordere darum die Bauern auf, geheime Gesellschaften zu bilden, sich gegen die ungehorsamen Diener des Kaisers zu erheben und mit bewaffneter Hand sich ihre von Sr. Maj. verliehenen Rechte zu erobern. Um die Mitte des Jahres hatten sich schon circa 1000 Bauern in die »geheime Drushina« aufnehmen lassen; es wurden Waffen angeschafft, und der 1. Oktober 1877 war als Termin für die Erhebung angesetzt. Doch wurde der so fein angelegte verbrecherische Plan schon zuvor, in den letzten Tagen des August, entdeckt und vereitelt. Den dabei verhafteten drei Anstiftern gelang es später, sich durch Flucht aus dem Kiew'schen Gefängniss der Strafe zu entziehen.

Auch hinsichtlich der zehnten Bestimmung des vorhin mitgetheilten Programms, welche von der »Beschaffung der Gelder« handelt, griff man bisweilen zu höchst eigenthümlichen Mitteln. So gestand ein gewisser Fischer, ein Glied der Kiew'schen »Kommune«, vor Gericht selbst ein, dass er sich mit einer Genossin im Winter 1873 bis 74 längere Zeit auf dem Gute einer Verwandten der letzteren im Witebskischen aufgehalten habe, mit dem Zweck, die Besitzerin um ihr Geld zu betrügen; sein Verfahren dabei nennt er selbst »schmutzig«. Ein anderer aus demselben Kreise, Namens Larionow, suchte einen Genossen zu überreden, er möge die Stelle eines Postillons annehmen; mit seiner Hülfe wollten sie dann die Geldpost berauben. Idalia Polheim, auch eine Kiew'sche Nihilistin, erzählte, drei ihrer Genossen hätten ihr vorgeschlagen, die Konkubine eines wohlhabenden Greises, eines Kursker Gutsbesitzers, zu werden, welchen sie dann gemeinsam zu vergiften dachten, um sein Geld für die allgemeine Kasse an sich zu bringen.

Zur Förderung ihrer Zwecke werden unter den Nihilisten selbst Heirathen geschlossen. So schrieb eine, s. Z. ebenfalls in einen Prozess verwickelte Nihilistin, Werewotschkina, an einen Genossen, Namens Golouschew: »Du musst und bist verpflichtet, von mir zu denken wie von einem Genossen des gemeinsamen Werkes, und mein Glück und meine Ruhe musst Du schützen wie das Glück eines jeden der Unsrigen. Erlaube mir, Dir nun eine Frage vorzulegen: ›Kannst Du mich heirathen?‹ Ich brauche das deshalb, weil ich sonst nichts machen kann, weil ich gebunden bin. Ich brauche das deshalb, weil, wenn ich mich nicht verheirathe, man mich entdecken und auch die andern nicht in Ruhe lassen wird. Ich spreche jetzt nicht als ›Deine Mascha‹, sondern ich spreche einfach als eine der Unsrigen.« Eine andere Nihilistin entdeckt dem leitenden Komitee, dass sie, so lange sie unverheirathet sei, die ihr vererbten Gelder nicht herausbekommen könne, und bittet deshalb, ihr einen fiktiven Bräutigam aufzutreiben, welcher mit ihr »diese Komödie aufzuführen« gewillt wäre. Fiktive Ehen scheinen überhaupt ein häufiger angewendetes Mittel zu sein, um die Vereinskasse zu füllen. So wurde zwischen einer gewissen Tumanowa und einem Nihilisten Gamkrelidse am 25. Juli 1875 in Moskau eine Scheintrauung zu dem Zwecke vollzogen, von der Mutter der ersteren die Mitgift im Betrage von 1100 Rbl. zu erhalten. Der dabei als Trauzeuge fungirende Fürst Zizianow (auch ein Propagandist) vermählte sich zu demselben Zwecke am gleichen Tage in Odessa mit einer gewissen Chorshewska, d. h. da er natürlich nicht gleichzeitig in Moskau und in Odessa anwesend sein konnte, so hatte er seine Dokumente einem Genossen, Namens Kikodse, übergeben, der an seiner Statt bei der Trauung in Odessa die Rolle des Bräutigams spielte. In einem anderen Fall beabsichtigte man die Tochter eines Geistliehen in Moskau, die von der Gewalt der Aeltern loszukommen wünschte, gegen Ueberlieferung ihrer eventuellen Mitgift mit einem gewissen Josseliani zu vermählen; doch wurde der Plan durch die Vorsicht des Vaters zu nichte.

Um zu zeigen, mit welchem Raffinement man sich neuer Genossen zu versichern und sie zu fesseln sucht, findet man in No. 15 des »Deutschen Montagsblattes« (vom 11. April 1881) folgendes Beispiel aus dem Kreise der Züricher Nihilisten erzählt:

»Einer meiner Freunde, ebenfalls ein Deutscher, eine gute Seele, leicht zu politischer Schwärmerei geneigt, hatte hervorragende musikalische Fähigkeiten. Er spielte den Russen zuweilen kleinrussische Lieder und Tänze auf dem Klavier, an denen die letzteren ein wirkliches Gefallen fanden. Eines Tages führte einer derselben ein junges Mädchen bei ihm ein, das, gleichfalls musikalisch, wie er sagte, sehr begierig war, die Fertigkeiten meines Freundes kennen zu lernen. Sie kam dann oft allein zu dem letzteren, um ihn spielen zu hören, sie plauderten zusammen, und mein Freund sah ihre Besuche um so lieber, als sie, die sich bloss zur Gesellschaft ihrer an der Universität studirenden Schwester in Zürich aufhielt, ebenso schön und anziehend war wie diese hässlich und abstossend. Ich sehe sie noch vor mir: ein frisches, üppiges Mädchen mit etwas energischem Gesichtsausdruck und vollem, tiefschwarzem Haar, das frei über den Nacken hinabwallte, und in ihrer schwarzen Pelzkazabaika zumal konnte sie bestrickend sein. Dazu gehörte sie einer der ältesten und vornehmsten russischen Adelsfamilien an. Es fehlte weder von ihrer Seite, noch von der ihrer männlichen Landsleute an Bemühungen, eine noch grössere Annäherung zwischen den beiden herbeizuführen. Ich will auch nicht durchaus in Abrede stellen, dass sie meinem Freunde vielleicht ein wenig zugethan war; der letztere hingegen vermochte sich bei allem Vergnügen, das er an ihrem Umgange fand, nicht bis zu dem Grade für sie zu erwärmen, dass er ihr irgendwelche, ihn weiter verpflichtende Geständnisse zu machen sich gedrungen gefühlt hätte. Da unternahm derjenige, der sie bei ihm eingeführt hatte, folgendes Manöver.

›Die Pr–wa ist abgereist!‹ sagte er plötzlich eines Tages meinem Freunde.

›So? ... So schnell? – ‹ machte dieser, ohne irgendwie besonderes Bedauern darüber zu erkennen zu geben.

Fräulein Pr–wa war nicht abgereist, – aber sie kam seit dieser Zeit nicht mehr, um meinen Freund spielen zu hören, und auch die männlichen Russen, die sonst so häufigen Umgang mit ihm gepflogen, zogen sich gänzlich von ihm zurück.«

Schliesslich noch einen Beleg für die Art der Ausführung der Programm-Bestimmungen, und zwar derjenigen über die Befreiung der Gefangenen. Er ist vielleicht für den die nihilistischen Kreise beherrschenden Geist am meisten charakteristisch. Es hat sich nämlich ereignet, dass gefangene Propagandisten der Schildwache die Reize ihrer mitgefangenen Frauenzimmer angeboten haben, wenn sie ihnen zur Flucht behilflich sein wollten, und es ist gerichtlich konstatirt, dass ein solches Angebot in einem Falle – horribile dictu! – auch von Erfolg begleitet gewesen. Es war nämlich in Kiew der Polizei gelungen, eine Nihilisten-Versammlung zu entdecken, infolge dessen nach vielen gewechselten Revolverschüssen, wobei es Todte und Verwundete auf beiden Seiten gab, die Gesellschaft in's Gefängniss abgeführt wurde. Um sich mit den Verhafteten in Verbindung zu setzen (s. § VI des obigen Statuts), begaben sich ein paar Nihilistinnen nach dem Arresthause, und sie vollbrachten es wirklich, die Wächter in der angedeuteten Weise zu bestechen. »Es versteht sich, dass diese Damen den ›gebildeten Ständen‹ angehörten«, – bemerkt E. v. Ugény hierzu – »eine von ihnen trug einen deutschen Namen, und dass sie jung und hübsch waren, geht aus dem Faktum selbst hervor; die Gefängnisswärter hätten sich gewiss nicht durch alte oder hässliche Weiber auf diese Weise bestechen lassen. Also noch jung und hübsch und schon so tief gefallen, dass andere Dirnen sich mit Ekel von ihnen abwenden würden!«

Man kann die Erklärung und die Ursache für Vorkommnisse solcher Art in der That nur immer wieder in der gänzlich verwahrlosten Erziehung suchen, wie sie der Jugend in Russland, und gerade derjenigen der sogenannten vornehmen Gesellschaftsklassen, leider zu Theil wird. In welcher Weise die Angehörigen der letzteren ihre Pflichten gegenüber ihrer Familie vernachlässigen, mag noch folgender, geradezu ekelerregende Fall darthun, den sich die Feder fast zu schildern sträubt. Es ist mir daher erwünscht, ihn nach den Worten des eben zitirten Schriftstellers berichten zu können.

»Vor zwei Jahren« – erzählt E. v. Ugény in seinen »Bildern aus dem Familienleben der höheren Stände« – »spielte sich vor den Petersburger Assisen eine Cause célèbre ab, die ein gräuliches Bild der Verwahrlosung darbot, – das Bild eines Treibhauses für Nihilisten. Der sechzehnjährige Sohn eines Obristen ist von einer französischen Gouvernante zur Unzucht verleitet und dann aus Eifersucht mit Morphium vergiftet worden. Es stellte sich heraus, dass der Vater des unglücklichen Knaben nach ärztlicher Verordnung bisweilen Morphium nehmen musste, und dass er das Gift im Wohnzimmer offen stehen liess, dass er über die Beziehungen seines Sohnes zur Französin schon längst mehr als klare Andeutungen hatte und doch aus Bequemlichkeit der Sache kein Ende machte, dass der Knabe in Abwesenheit der Aeltern, aber im Beisein der Gouvernante, mit einer Anzahl anderer Knaben von zwölf bis sechzehn Jahren, die im Laufe der Verhandlungen als Zeugen erschienen, Gelage hielt, auf welchen ein Dutzend Flaschen Bordeaux und sogar ein paar Flaschen Cognac geleert wurden, und dass endlich der arme unreife und doch überreife Junge ein Tagebuch führte, in welchem er schon Ansichten über Gott und Religion, Staat, Liebe und Ehe aussprach, die vollkommen nihilistisch waren.

»Der Vater des jungen Menschen hatte den ganzen Morgen zu seiner Disposition, dann erst nahmen ihn seine Dienstgeschäfte in Anspruch, den Abend aber und einen grossen Theil der Nacht brachte er im Klub zu. Und die Mutter? Nun auch ihre Zeit war so in Anspruch genommen, dass ihr kein Augenblick übrig blieb, sich mit ihren Kindern zu beschäftigen; auch sie besuchte regelmässig den Klub, wo sie bis spät in der Nacht spielte, erst morgens zurückkehrte und dann natürlich den Vormittag im Bette zubrachte ... Schade um den Jüngling, der unter der Fürsorge dieser zärtlichen Aeltern sich so herrlich entwickelt hatte und zu den stolzesten Hoffnungen berechtigte. Kaum sechzehn Jahre alt, und schon waren seine Ansichten und Grundsätze die eines Vollblutnihilisten – sechzehn Jahre und schon so gebildet wie seine älteren Brüder in nihilo, welche alle an den Karaiben erinnern, dem James Cook einen zerrissenen Federhut und ein paar alte Epauletten geschenkt hatte; der Federhut hing dem rothfarbigen Gentleman über den Hals, dass er auf dem Genick hin- und herschwankte, die Epauletten, mit einem langen Bindfaden zusammengebunden und über die Schulter geworfen, baumelten auf Brust und Rücken. So herausgeputzt ging er mit Hahnenschritten auf und ab, die Keule schwingend und stets bereit, seinen Nächsten niederzuschlagen und ihn aufzufressen, aber immer wiederholte er stolz: ›Ich auch Weisser!‹«

Die leidige Gewohnheit der vornehmen russischen Gesellschaftskreise, die Erziehung ihrer Kinder ganz den Gouvernanten zu überlassen, sich zu Nutze machend, verwenden die Nihilisten eine ihrer hauptsächlichsten Bemühungen darauf, Frauenzimmer, die sie ihren Theorieen ergeben wissen, eben als Gouvernanten bei angesehenen Familien unterzubringen. Auf solche Weise wurden nicht nur viele junge Mädchen aus den besten Häusern für die nihilistische Sache geworben, sondern auch deren im Staatsdienste befindliche Väter, die nachträglich ihre Töchter nicht kompromittiren wollen, für die Nihilisten unschädlich gemacht. Als Beispiel dafür brachten mehrere deutsche Zeitungen vor zwei Jahren folgende »Thatsache«, bei deren Darstellung allerdings wohl einige Uebertreibung stattgefunden hat, die aber immerhin für die in Rede stehenden Verhältnisse recht bezeichnend ist:

»Bei einem General, Namens Samojow, in Charkow war Anfang dieses Winters« – vor dem April-Attentat (1879) auf den Kaiser – »eine Gouvernante zur Erziehung der Tochter angestellt worden. Sie war die Schwester eines Nihilisten und brachte ihrer Schülerin die politischen Anschauungen ihres Bruders bei. Als letzterer gelegentlich der letzten Studenten-Exzesse in Charkow verhaftet wurde, erhielt der General eine anonyme Anzeige, dass seine Tochter eine ›Nihilistin‹ sei, dass in dem Schreibtisch derselben nihilistische Schriften sich befänden, und dass dies der Staatsbehörde angezeigt werden müsse, falls er nicht trachte, die unverzügliche Freilassung des verhafteten Studenten zu bewirken. Der General nahm daraufhin in dem Schreibtische seiner Tochter eine Revision vor, fand wirklich die angedeuteten nihilistischen Broschüren und befreite den Bruder der bei ihm engagirt gewesenen Gouvernante ... So werden die Staatsdiener bis zu den höchsten Stellen hinauf wider ihren Willen zu Werkzeugen der ›geheimen Regierung‹ gemacht.«

Wir werden nachher noch auf die eigenthümliche und hervorragende Rolle, welche in der nihilistischen Bewegung gerade die Frauen spielen, zurückzukommen haben; zunächst aber sei die weitere Entwickelung der revolutionären Parteien flüchtig skizzirt. Es war bald bei den beiden, vorhin charakterisirten Richtungen unter den Propagandisten nicht geblieben, innerhalb derselben hatten sich vielmehr viele kleinere Gruppen mit von einander abweichenden Doktrinen gebildet, so dass einer der Angehörigen selbst in einem bei einer Haussuchung in Kiew aufgefundenen handschriftlichen Aufsatze von dieser Spaltung sagen konnte: so viel Revolutionäre, so viel Parteien. Indessen gewann die radikalere Richtung immer mehr die Oberhand, und daher ist auch die Doktrin Bakounin's für die Beurtheilung der gegenwärtigen Entwickelungsstufe des Nihilismus die wichtigste. Als die gemässigtere Gruppe durfte man bekanntlich die der »Semlja i Wolja« ansehen, die sich meist aus unzufriedenen kleinen Beamten, angeseheneren Leuten und vornehmlich aus Studenten zusammensetzte. Die Opposition dieser Partei galt vor allem der Willkür der das Volk aussaugenden »Tschinowniks« (Staatsdiener) und den Brutalitäten der geheimen Polizei. Auch ihre Anhänger griffen zur Gewalt, sie mordeten die Beamten des Czaren, aber die völlige Anarchie, der Fürstenmord aus Grundsatz, waren wenigstens nicht in ihrem Programm zu finden. Diese Partei kam wesentlich zurück, seitdem die durch die »Narodnaja Wolja« (den »Volkswillen«) vertretene Richtung die Maske abwarf und ihr bluttriefendes Antlitz enthüllte, – während sich ein Theil der einstigen Freunde von den extremen Genossen abwendete (die »Semlja i Wolja« hörte auf zu erscheinen), gingen die tollsten von ihnen – und das war die Mehrzahl – in das Lager der Radikalen über.

Diese, welche also die Ideen Bakounin's vertraten, wussten das Netz ihrer Propaganda nun vor allem über Petersburg auszubreiten. Hier war aus den Resten früherer politischer Vereinigungen (Dolguschin, Nathanson, Netschajew) und eben den Anhängern des Bakounin'schen Programms durch Tschaikowsky zu Anfang des Jahres 1873 ein revolutionärer Kreis gegründet worden, welcher hauptsächlich Studenten und Studentinnen zu seinen Mitgliedern zählte und nach dem Namen des Gründers genannt wurde. Die Richtung und die Ziele der Tschaikowzen sind am deutlichsten und schärfsten zum Ausdruck gelangt in einer Schrift des zu ihnen gehörenden, vorhin erwähnten Fürsten Krapotkin, welche den Titel führt: »Sollen wir uns mit der Untersuchung des Ideals der zukünftigen Verfassung beschäftigen? ...« Der Verfasser verneint diese Frage unbedingt. Ihm und seinen Genossen gelten die sämmtlichen bestehenden Staatssysteme als absolut untauglich, worauf sich ihre Ueberzeugung von der Nothwendigkeit einer vollständigen sozialen Umwälzung stützt, d. h. es sollen nicht bloss alle Regierungen zum Sturze gebracht, sondern auch die gesammte, jetzt bestehende gesellschaftliche Ordnung gewaltsam vernichtet werden. Was aber an deren Stelle treten solle, diese Frage werde seinerzeit schon durch den Willen des Volks die richtige und einzig berechtigte Entscheidung erfahren, – wir finden hierin also die Grundsätze Tkatschew's wieder. Die Tschaikowzen richteten eine gemeinsame Kasse ein, verschafften sich aus dem Auslande zur Vertheilung unter das Volk alles, was sich an revolutionären Schriften und Büchern finden liess, hielten geheime Zusammenkünfte ab und begannen sofort eine eifrige Propaganda unter den zahlreichen Fabrikarbeitern der Hauptstadt. Nach ihrem Muster erfolgte schon in demselben Jahre (1873) in Petersburg die Gründung einer ganzen Reihe ähnlicher geheimer Verbindungen: der »Kreis Lermontow's«, der »Kreis Kowalik's«, die »Artilleristen«, die »Orenburger« u. s. w., im Ganzen zehn solcher Gesellschaften, die ihre Prinzipien mit geringen Abweichungen sämmtlich dem vorhin skizzirten Bakounin'schen Programme entlehnten und in Petersburg die lebhafteste agitatorische Thätigkeit entwickelten.

Nachdem im Frühjahr 1874 eine aus Vertretern fast aller dieser geheimen Kreise gebildete Generalversammlung zum Zwecke gemeinsamer Berathung stattgefunden hatte, lenkte sich bald die Aufmerksamkeit der Regierung auf das verdächtige Treiben, und die letztere begann auf die Agitatoren zu fahnden. Infolge dessen verliessen mit dem Beginn des Sommers 1874 fast sämmtliche Theilnehmer der nihilistischen Kreise die Hauptstadt und wandten sich nach anderen Distrikten des Reichs, wo sie die Propaganda in nur noch grösserem Massstabe in Angriff nahmen. Zunächst war es Moskau, wo sich nach dem Muster der Tschaikowzen bald mehrere untereinander und mit Petersburg in Verbindung stehende geheime Genossenschaften bildeten. Die weitere Ausbreitung von hier aus fand vornehmlich in zwei Richtungen statt, – einer südwestlichen und einer östlichen. In den südwestlichen Gouvernements entstanden revolutionäre Kreise in Kiew (die »Kommune«), Charkow, Odessa und Taganrog. Die Hauptkräfte der vereinigten Petersburger und Moskauer Propaganda aber warfen sich auf das Wolga-Gebiet. Und es geschah dies mit kluger Berechnung. Der Mehrzahl der Nihilisten erschien nämlich der Schauplatz der grossen Aufstände von Stenka Rasin (1670) und Pugatschow (1772 bis 1775) als der günstigste Boden für ihre revolutionären Ideen, »als das klassische Land der Empörungen«. Hier gründete man in rascher Folge neue geheime Kreise zu Nischni-Nowgorod, Pensa, Samara, Saratow und anderen Orten. Den Bewegungen in diesen Gegenden stand ein gewisser Woinoralsky vor, ein durch seine verhältnissmässig bedeutenden Geldmittel, seinen Unternehmungsgeist und seine rastlose Energie hervorragender Mann. Alle genannten Kreise waren, wenn auch nach der geographischen Lage in zwei besondere Gruppen, die westliche und die östliche, zusammengefasst, doch durch den gemeinsamen Ursprung, die gemeinsamen Lehren und Ziele, sowie durch die persönlichen Beziehungen der Glieder solidarisch verbunden und bildeten im Grunde nur eine grosse revolutionäre Gesellschaft. Von den oben aufgeführten Centren ausgehend, zerstreuten sich die Genossen zu den Zwecken ihrer Propaganda über alle anliegenden Gouvernements, in den grösseren wie in den kleineren Städten, in den Dörfern und auf dem flachen Lande, um mit allen Volksklassen in Berührung zu treten und überall zur Unzufriedenheit zu reizen und zur Empörung aufzufordern. In welcher Art sie ihre Absichten zu erreichen wussten, ist oben an einigen Beispielen gezeigt. In Nikolajew und Cherson, in Poltawa, Kursk, Twer, Rybinsk, Kasan, Perm, Ufa, Orenburg, Astrachan und im Kaukasus tauchten sie auf, und vorübergehend schienen sie sogar den Plan zu erwägen, ihre Propaganda auch nach Sibirien zu verpflanzen. Doch sprachen sich verschiedene Stimmen gegen eine solche Absicht aus. »Von Sibirien« – schreibt z. B. einer der weiblichen Emissäre in einem Briefe aus dieser Zeit – »lohnt es sich nicht zu sprechen; dahin werde ich bestimmt nicht gehen. Hier sind wir mehr nöthig; aber dort?! Dorthin kommen wir schon noch!« – Diese letzten Worte sollten sich in der That schon schneller erfüllen, als die energische Briefschreiberin wohl geglaubt haben mochte: noch war das Jahr 1874 nicht zum Abschluss gelangt, so hatte die Regierung sich bereits der revolutionären Verbindung zu versichern gewusst, und die Mehrzahl der Propagandisten büsste in den Gefängnissen. Drei Jahre später standen 197 von ihnen vor dem Gerichtshof in Petersburg, und diejenigen, die man am schuldigsten fand, kamen in die Verbannung nach Sibirien.

Die Reste der gesprengten geheimen Kreise, darunter viele Frauen, stellten indessen die begonnene Thätigkeit keineswegs ein;, eben in der unerschütterlichen Ausdauer, ihrer durch nichts einzuschüchternden und zu zähmenden Tollkühnheit liegt ja zum guten Theil das Geheimniss des Erfolgs, durch den die Nihilisten die Welt in Schrecken setzen. Jetzt konzentrirten sie ihre ganze Kraft in Moskau. Hier wurde zu Anfang des Jahres 1875 bereits wieder eine sogenannte »Administration« in's Leben gerufen, welche eine Niederlage von Waffen, falschen Pässen (»Stiefeln«), verbotenen Büchern und Zeitungen, Wäsche u. s. w. errichtete und die Zweigvereine in den Provinzen, die ebenfalls bald wieder erstarkten, mit diesen Dingen versorgte; ferner leitete die Moskauer Centralverwaltung die Vertheilung der Propagandisten, die Aufnahme neuer, die Korrespondenz, etwaige Versuche zur Befreiung der Gefangenen u. s. w. Ausser Moskau waren die Hauptbrennpunkte dieser von neuem betriebenen Propaganda: Iwanowo-Wosnessensk (Gouv. Wladimir), Tula, Kiew und Odessa, lauter Städte mit lebhaft entwickelter Industrie, die sich also zur Agitation unter den Fabrikarbeitern besonders eigneten. Indess auch jetzt wieder kam die Regierung der Verbindung auf die Spur, und in der zweiten Hälfte des Jahres 1875 und zu Anfang 1876 wurde der grösste Theil der Mitgliedschaft verhaftet.

Viele hunderte von einstigen Genossen büssten nun bereits in den Gefängnissen oder in den Bergwerken Sibiriens, – ihr Schicksal aber warnte und entmuthigte die Freigebliebenen nicht. Gereizt und verbittert vielmehr durch die Leiden der Gefährten und die eigene Noth, erhofften die entschlossensten und kräftigsten Elemente unter ihnen jetzt alles von der Gewalt. Sie betonten die Nothwendigkeit dieses Mittels energischer als je, da sie zu der Einsicht gekommen waren, dass man mit der Losung »in's Volk gehen« nicht zum Ziele gelangte. Die Thätigkeit der Propaganda lag der Beobachtung zu sehr offen, und ehe noch irgend bedeutende Erfolge erzielt werden konnten, war die Verschwörung regelmässig schon entdeckt und befanden sich die Schuldigen in den Händen der Behörden. Ueberdies schien man, vielfachen Aeusserungen aus dem Munde von Anhängern des Nihilismus nach, allmählich zu der Ueberzeugung zu gelangen, dass auf Erfolg bei der Masse des Volkes überhaupt nicht zu rechnen war, dass ihre Absichten auf diesem Wege zum mindesten nur sehr langsam erreicht werden könnten. Die Ungeduld und das heisse Blut der Jugend aber drängten rastlos vorwärts, und so beschloss man, ohne das Volk zu handeln. Bei den Verhaftungen in Kiew am 23. Februar 1879 wurde in dem Quartier eines der eingeweihtesten Mitglieder der revolutionären Partei, eines gewissen Debogorij-Mokrijewitsch, ein von diesem verfasster, druckfertiger Aufsatz gefunden, betitelt: »Was wir sind und was wir sein sollen.« Hier wird der Gedanke durchgeführt, dass die Propaganda unter dem Volke Zeitverschwendung sei, und dass das Ziel nur durch eine Rebellion erreicht werden könne. Und für eine solche Rebellion hielt man eben die rechte Zeit gerade für gekommen. »Im gegenwärtigen Augenblick,« so schreibt schon 1878 ein Odessaer Nihilist (der am 6. August 1878 zum Tode verurtheilte Kowalsky), »beweisen diese Vorfälle (des bewaffneten Widerstandes gegen die Gewalten), wenn sie auch nicht immer gelingen, doch durch ihre gehäufte Folge, dass die revolutionäre Atmosphäre schon in genügendem Masse gereift ist, und dass wir jetzt von unseren Worten und Gedanken zur That übergehen können ...« Vor allem auch suchte man die durch den Türkenkrieg unter der Bevölkerung hervorgerufene und genährte Aufregung für die nihilistischen Zwecke zu benutzen. »Den gegenwärtigen Moment, wo die Kräfte der Regierung durch den Kampf mit dem äusseren Feinde absorbirt sind, finden die oppositionellen Elemente innerhalb Russlands höchst geeignet, um sich mit ihrer geheimen, unterminirenden Arbeit, mit der Organisation ihrer eigenen Kräfte zu beschäftigen. Da bei uns die revolutionären Ausbrüche immer unmittelbar nach dem Kriege erfolgten, wo sich überhaupt eine stärkere Erregung der Gemüther geltend zu machen pflegt, welche verschiedene Konzessionen von Seiten der Regierung hervorruft, so wünscht auch die revolutionäre Partei sich bei Zeiten in natürlichere Kreise zu gruppiren.« So lauten – geschraubt genug und beinahe einen komischen Eindruck hervorrufend – die Eingangsworte eines 1878 in Odessa bei einem Nihilisten gefundenen Aufsatzes: »Historische Skizze der revolutionären Bewegung in Russland.« Aus allen diesen eben mitgetheilten Umständen erklärt es sich, dass der Nihilismus in unseren Tagen einen immer gewalttätigeren, wilderen Charakter annimmt. Ueberall entdeckt man Niederlagen von Waffen, Sprengstoffen und starken Giften, wenn auch einzelne Mittheilungen, die die Zeitungskorrespondenten über solche Entdeckungen bringen, in manchen Fällen in das Reich der Fabel gehören mögen. Aber sicher ist, dass fast keine Haussuchung, keine Verhaftung erfolgt, ohne dass die Betroffenen mit Revolver und Dolch den verzweifeltsten Widerstand leisten und blutige Szenen herbeiführen. Kaum ein politischer Prozess spielt sich ab, ohne dass dabei nihilistische Strassenkrawalle stattfinden, bei denen es Verwundete und Todte giebt. Mit offener Gewalt haben die Nihilisten mehrfach ihre eigenen Gefangenen aus den Händen der Eskorte befreit, und noch unnachsichtlicher als früher übt man Rache, wenn in den eigenen Reihen Verrath gewittert wird. Ferner charakterisiren die Phase, in welche die nihilistische Bewegung in den letzten Jahren getreten ist, jene Drohbriefe, die man an hervorragende Staatsbeamte – und was sind die in der allerjüngsten Zeit an Czar Alexander III. gerichteten Proklamationen im Grunde anderes? – schickt, und welche mit dem Siegel des geheimen »Exekutiv-Komitées« (Dolch, Revolver und Beil) bedruckt sind.

Mit diesem Zuge der gegenwärtigen Agitation hängt auch das in der letzten Zeit immer mehr hervortretende Streben der Nihilisten, vor allem auch auf das Militär und die Marine einzuwirken, zusammen. Bei dem in Petersburg hingerichteten Lieutenant Dubrowin, der selbst seine Zugehörigkeit zur nihilistischen Partei bekannte, fand man z. B. eine im Sinne der letzteren abgefasste Handschrift: »Bemerkungen der russischen Offizier-Terroristen für das Jahr 1878« vor, bei einer Haussuchung in Kiew (Februar 1879) bekam man ein zum Druck vorbereitetes Manuskript in die Hände, betitelt: »Erzählung eines Soldaten von den Odessaer Unruhen«, – diese und ähnliche Schriften waren von den Nihilisten zur Vertheilung unter die Soldaten bestimmt. Durch einen im April 1878 vor dem Bezirksgericht zu Odessa verhandelten Fall wurde überdies nachgewiesen, dass man nihilistische Schriften unter den Gemeinen des 60. Samosz'er Infanterie-Regiments verbreitet hatte.

Die Ausbreitung der Propaganda auch auf die Marine bewiesen schon die Akten des im August 1879 verhandelten grossen Odessaer Prozesses, aus denen hervorgeht, dass wegen Theilnahme an der regierungsfeindlichen, sogen, »sozial-revolutionären Partei« unter anderen ein Midshipman, ein Bootsmann und zwei Matrosen der 2. Schwarzen-Meer-Flottenequipage in Nikolajew schuldig gesprochen worden waren und von ihnen der eine (Bootsmann Logowenko) wegen des in Nikolajew vorbereiteten Attentats zum Tode durch den Strang verurtheilt wurde.

Von Interesse dürfte folgende Uebersicht über die während der letzten Jahre durch die nihilistische Bewegung hervorgerufenen Ereignisse sein; sie stützt sich im Wesentlichen auf die Berichte des »Regierungs-Anzeigers« und der Grouvernementszeitungen von Kiew, Charkow, Moskau, sowie der Odessaer Polizeizeitung.

Wir beginnen mit dem Jahre 1876, in dessen letzten Monat ein Ereigniss fällt, durch welches einer der grössten sensationellen Prozesse herbeigeführt wurde, die die nihilistische Propaganda im Gefolge gehabt hat. Am 18. Dezember hatte sich auf dem Platze vor der Kasan-Kathedrale zu Petersburg ein Haufen junger Leute, meist den untersten Gesellschaftsklassen angehörig, zusammengerottet und unter aufrührerischen Reden eine rothe Fahne mit der Inschrift: »Land und Freiheit« entfaltet. Der mit Verhaftungen einschreitenden Polizei leistete man thätlichen Widerstand. Offenbar war das leitende Komitee damals noch der Ansicht, dass die herrschenden Klassen in Russland durch Strassendemonstrationen eingeschüchtert werden könnten. Der Prozess, mit dem die Regierung antwortete, gliederte sich in mehrere Verhandlungen, da das erst nach und nach herbeigeschaffte Material dies nicht anders zuliess. Die ersten fanden in der Zeit vom 30. Januar bis 6. Februar des folgenden Jahres zu Petersburg statt. Von den 21 Angeklagten wurden 18 schuldig gefunden, darunter 4 Frauen. Es erfolgte dann, ebenfalls in Petersburg, vom 5. bis 26. März desselben Jahres die Fortführung des Prozesses, in welchem diesmal 50 Personen insbesondere angeklagt waren, im Jahre 1875 eine gesetzwidrige Gesellschaft gegründet und aufrührerische Schriften unter der Fabrikbevölkerung von Moskau, Iwanowo, Tula, Kiew und Odessa verbreitet zu haben. 47 wurden schuldig gesprochen, darunter 16 Frauen. – Der dritte und letzte Theil dieses Prozesses spielte sich gegen das Ende des Jahres ab und zog sich bis in das folgende Jahr hinein. Er begann am 30. Oktober 1877 und fand seinen Abschluss erst am 4. Februar 1878. Angeschuldigt waren 197 Personen, darunter 36 Frauen, in den Jahren 1873 und 1874 bereits eine verbrecherische Propaganda und die Bildung geheimer Gesellschaften in Petersburg, Moskau, Kiew, Charkow, Odessa, Taganrog, Nischni-Nowgorod, Pensa, Samara, Saratow u. a. 0. betrieben zu haben. Als Schuldige gingen aus dem Prozess 100 Personen, darunter 14 Frauen, hervor. Der Umstand, dass die Verhandlungen bei verschlossenen Thüren stattfanden und die Angeklagten im Gefängniss durch Gewaltmittel zu Geständnissen gezwungen worden waren, scheint den fanatischen Hass der Verschwörer auf's höchste entflammt zu haben; denn sie gingen von nun an zum blutigen Mord in jeder Form über.

Namentlich richteten sie ihre Waffen gegen die Chefs der hauptstädtischen Polizei und der dritten Abtheilung. Am 5. Februar fand der durch Wjera Sassulitsch im eigenen Audienzzimmer des Generals verübte Mordversuch gegen den Petersburger Stadthauptmann Trepow statt, der sich als ein direkter Racheakt für das Verfahren der Polizeiorgane wider die verurtheilten Nihilisten darstellte. Und nach dem Resultat des sich daran knüpfenden. Prozesses schien es, als ob diese erste Blutthat den Beifall der Bürger- und Beamtenkreise gefunden hätte: das aus allen Kategorien der besseren Gesellschaft zusammengesetzte Geschworenengericht in Petersburg sprach Wjera Sassulitsch am 12. April bekanntlich frei. In dem Tumult, welcher daraufhin unter den vor dem Gerichtsgebäude angesammelten Massen ausbrach und das Einschreiten der Gensdarmen nöthig machte, wurde ein Student erschossen und eine Frau verwundet. Jener Urteilsspruch legte den Verschworenen die Meinung nahe, sich im Einverständniss mit den besseren Ständen des russischen Volkes zu befinden, und es folgte von jetzt an ein Mordversuch dem anderen.

Nachdem es am 11. Februar 1878 in Odessa bei einer Haussuchung zu einem heftigen Kampf zwischen den arretirenden Gensdarmen und mehreren Nihilisten (Kowalsky und Genossen, vergl. unten 1. bis 5. August) gekommen, wurde am 7. März zu Kiew von nihilistischer Seite ein Mordversuch wider den Gehülfen des Gouvernements-Procureurs, Kotljarewsky, ausgeführt.

Infolge von daraufhin vorgenommenen Verhaftungen Verdächtiger brachen unter den Studenten der Universität Kiew Unruhen aus (27. März bis 2. April), und das Universitätsgericht, vor welchem in den Tagen vom 3. bis 10. April die Sache verhandelt wurde, sprach 142 der Studirenden wegen verbotener Versammlungen und Widerstands gegen die Universitäts-Obrigkeit schuldig.

Von dieser Zeit an waren die Studentendemonstrationen an der Tagesordnung. Die nächste fand am. 15. April 1878 in Moskau statt, wo sich an dem genannten Tage ein Haufe Studirender auf dem Kursker Bahnhof aufgestellt hatte, um die erwarteten gefangenen und zur Verschickung nach Archangelsk verurtheilten Kommilitonen aus Kiew zu begrüssen. Als die letzteren eintrafen und in Kutschen unter militärischer Eskorte durch die Stadt transportirt wurden, geleiteten ihre Moskauer Kameraden sie in förmlichem Zuge unbedeckten Hauptes durch die Strassen, wobei den Gefangenen unter beständigem Hurrahgeschrei warme Kleider, Plaids, Geld u. s. w. in die Wagen geworfen wurden. Merkwürdigerweise wendete sich da das niedere Volk gegen die Demonstranten. Anfangs nämlich sah das Publikum bloss neugierig zu, ohne sich irgendwie an dem Auftritt zu betheiligen; als der Zug aber an den Markthallen vorüberkam und die Studenten auch das umstehende Volk aufforderten, die Mützen abzunehmen, da begannen eine Anzahl Fleischergesellen und dann auch allerlei Ladendiener und Handwerksburschen sich auf die Studenten zu werfen mit dem Rufe: »Das sind Rebellen, Herren! Auf sie! Haut sie!« Damit war das Signal zu einer allgemeinen Schlägerei gegeben, bei der die Studenten niedergeworfen, unbarmherzig geprügelt, bis in die entlegensten Buden und Häuser hinein verfolgt, aus jedem Versteck hervorgezogen und immer auf's neue wieder in der gröbsten Weise misshandelt wurden. Mitte Mai hatten sich wegen dieses Strassenskandals überdies 8 Studenten vor dem Friedensrichter in Moskau zu stellen.

Am 13. Juli 1878 wurde in der Nähe von Charkow eine Anzahl von Gensdarmen, die einen politischen Verbrecher aus letztgenannter Stadt transportirten, von bewaffneten Verschworenen überfallen, wobei einer der Gensdarmen eine tödtliche Verwundung erhielt. Ein Befreiungsversuch misslang, und einer der Verschworenen wurde später gefangen (s. unten 5. März).

Vom 1. bis 5. August verhandelte das Militär-Bezirksgericht zu Odessa gegen 8 Angeklagte, darunter drei Frauen (Kowalsky und Genossen). Wegen Vereinigung zum Sturz der Regierung, wegen Drucks von verbrecherischen Proklamationen und Widerstands gegen die Militärgewalt (s. oben 11. Februar) wurde über sämmtliche das Schuldig und über Kowalsky das Todesurtheil ausgesprochen. Nach der Verkündigung des Urtheils (5. Aug.) kam es auch hier zu einem Auflauf vor dem Gerichtsgebäude, das Militär war gezwungen, einzuschreiten, es wurde gefeuert, und es gab zwei Todte und mehrere Verwundete. Am 14. August wurde in Odessa das Todesurtheil an Kowalsky durch Erschiessen vollzogen.

Es folgte nun sofort wieder ein Attentat, und zwar gegen den Chef der Gensdarmen, General Mesenzew, der am 16. August 1878 auf offener Strasse von drei Männern angefallen und durch einen Dolchstich schwer verwundet wurde. Die Verbrecher bestiegen ein bereit gehaltenes elegantes Gefährt und entkamen, während der General bekanntlich seiner Wunde erlag. Die nächste Folge davon auf Seiten der Regierung war, dass ein kaiserlicher Ukas unter'm 21. August die Einsetzung des Kriegsgerichts für politische Verbrecher verfügte.

Der nächste Mordversuch richtete sich gegen den Czaren selbst. Am 30. August 1878 wurden in Nikolajew die Vorbereitungen zu einem solchen Attentate entdeckt, indem auf einer der Strassen, die der Kaiser passiren musste, eine Explosion vermittelst einer galvanischen Batterie hatte bewirkt werden sollen. Man brachte die beiden Hauptschuldigen in Gewahrsam; sie wurden hingerichtet (s. unten 6. und 23. August).

Die Regierung konnte jetzt über die Gefährlichkeit der nihilistischen Bewegung nicht mehr im Zweifel sein, und schon unter'm 1. September veröffentlichte sie einen dringenden Aufruf an die russische Gesellschaft aller Stände, zur Mitwirkung in dem Kampfe gegen den Nihilismus auffordernd, der zu so verbrecherischen Unternehmungen geführt habe.

In der Zeit vom 20. bis zum 28. November brachen in Charkow Unruhen unter den Studirenden des Veterinär-Instituts und dann auch der Universität aus, was zur Folge hatte, dass das erstere vorübergehend geschlossen wurde.

Kaum aber hatte die Petersburger studirende Jugend Nachricht von diesen Vorgängen, als wiederum eine heftige Gährung unter den Studenten der medico-chirurgischen Akademie und der Universität zu Tage trat (9. bis 12. Dezember 1878). Eine zahlreiche Schaar derselben zog vor das Palais des Grossfürsten-Thronfolgers, um diesem eine Bittschrift zu überreichen, wobei mehrere Verhaftungen erfolgten. Darauf kam es in der medico-chirurgischen Akademie zu einer Zusammenrottung von 300 Studenten, die Polizei schritt ein, und 142 der Tumultanten wurden arretirt.

Sofort zeigte sich die Bewegung wieder in Kiew, wo vom 21. bis 24. Dezember stürmische Versammlungen der Studenten stattfanden und zur Verhütung ernsterer Zwischenfälle der Schluss der Universität auf drei Tage erfolgte.

Schon am 26. desselben Monats wurde es jedoch in Charkow abermals unter den Studenten der Hochschule unruhig. Man schritt zur Verhaftung von ca. 40 der letzteren und schloss auch hier die Universität, und zwar bis zum 13. Februar 1879.

Inzwischen hatten auch wiederholte Meuchelmorde, von denen die meisten gar nicht an die Oeffentlichkeit gelangten, in den eigenen Reihen der Nihilisten stattgefunden; die Henker der Verschwörung suchten ihre Opfer, d. h. diejenigen Genossen, die man für Verräther hielt, in den Dachstuben, in den Werkstätten und Hörsälen, und ein wahres Schreckensregiment begann die Bevölkerung einzuschüchtern. So wurde im Dezember 1878 in Rostow a. D. ein gewisser Nikonow als Verräther ermordet: vorher schon hatte man gleiche Rache an einem gewissen Tawlejew in Odessa geübt und im Jahre 1876 ebendaselbst einen Mordversuch gegen den Gymnasiasten Gorinowitsch unternommen. Dasselbe Schicksal ereilte später in Petersburg einen anderen Nihilisten, Namens Fizogenow, und am 20. Februar 1879 machten wieder in Odessa zwei Nihilisten den Versuch, einen ihrer Genossen (Goschtowt) wegen Verdachts der Angeberei zu tödten. Das sind nur einige Beispiele, von denen die Oeffentlichkeit Kunde erhielt.

Ein Ereigniss, welches vor allem wieder die Verwegenheit der fanatischen Verschwörer darthat, war der Meuchelmord an dem Gouverneur von Charkow, Fürsten Krapotkin (21. Februar 1879), der wenige Tage danach an der erhaltenen Schusswunde starb.

Als am 23. Februar in Kiew eine geheime Druckerei entdeckt wurde, leisteten die Betroffenen mit Revolvern und Dolchen den heftigsten Widerstand; ein Gensdarm blieb todt, vier wurden verwundet, während von den Nihilisten ebenfalls vier schwere Verwundungen davon trugen. 7 Männer und 5 Frauen wurden verhaftet.

Wegen Theilnahme an dem Befreiungsversuche vom 13. Juli 1878 (s. oben) wurde am 5. und 6. März einem Nihilisten vom Militär-Bezirksgerichte in Charkow der Prozess gemacht. Am 9. desselben Monats entdeckte man auf der Gutujew-Insel in Petersburg eine geheime Typographie und fand verbrecherische Schriften, sowie kompromittirende Briefe vor. Tags darauf wurde in Moskau ein gewisser Roitenstein von seinen nihilistischen Genossen wegen Verdachts des Verrathes ermordet.

Grosses Aufsehen rief dann wieder das Attentat gegen den Nachfolger des Generals Mesenzew, den Leiter der dritten Abtheilung, General Drentelen, hervor, auf welchen am 25. März l879 ein Reiter seinen Revolver abfeuerte, ohne ihn zu verletzen. Der Thäter wurde in der Person Leo Mirsky's entdeckt, verurtheilt und begnadigt. Mittlerweile hatten auch die den Nihilisten zugeschriebenen Brände von Orenburg (dieses wurde zweimal angezündet), Uralsk, Irbit, Petropawlowsk, Perm, also aller grösseren Städte an der sibirischen Route, stattgefunden.

Die Nihilisten mochten glauben, durch all' diese Blut- und Schreckensthaten doch nicht ihr Ziel, die allgemeine Umwälzung und Verwirrung, erreichen zu können, und mit teuflischer Konsequenz suchten sie jetzt als ihr Opfer – den Czaren. Es war am 14. April 1879, als zu Petersburg auf den promenirenden Kaiser vier Revolverschüsse abgegeben wurden. Der letztere, der dabei eine seltene Unerschrockenheit gezeigt hatte, blieb unverletzt; der Attentäter wurde ergriffen und verhaftet. Er hiess Solowjew, war ehedem Student der Petersburger Universität gewesen und als verabschiedeter Hauslehrer aus der Stadt Toropez (Gouvernement Moskau) etwa ein Vierteljahr vorher in der Hauptstadt eingetroffen. Unter seinen Achselhöhlen fand man zwei mit Gift gefüllte Kapseln, die dort so geschickt mit Wachs angeklebt waren, dass sie wie ein paar grosse Warzen erschienen. Der Verbrecher hatte offenbar die Absicht gehabt, im Fall seiner Ergreifung sich zu vergiften. Der Schrecken, welchen dieses Attentat in Russland hervorrief, war ungeheuer. »Man kann es ohne Uebertreibung sagen,« – wurde damals aus Warschau geschrieben – »dass ganz Russland gegenwärtig viel mehr vor der ›geheimen Regierung‹ der revolutionären Propaganda, als vor dem Czaren und der dritten Abtheilung zittert. Mit einer beispiellosen Dreistigkeit bringt diese ›geheime Regierung‹ ihre Pläne zur Ausführung, und ihre ganze Organisation ist danach angethan, die Behörden in Furcht und Unthätigkeit zu versetzen.«

Von Seiten der Regierung wurde unmittelbar nach diesem Attentat (am 17. April) die Massregel getroffen, General-Gouverneure für Petersburg, Charkow und Odessa mit ausserordentlichen Vollmachten einzusetzen.

Am 25. April wurde über den Seconde-Lieutenant Dubrowin von dem Militär-Bezirksgericht in Petersburg wegen, Angehörigkeit zur sogenannten »russischen sozial-revolutionären Partei« und wegen bewaffneten Widerstandes bei seiner Arretirung (in Staraja Russa, 28. Dezember 1878), wobei er zwei Gensdarmen verwundete, das Todesurtheil ausgesprochen, und am 2. Mai in Petersburg durch Erhängen vollzogen.

In Kiew fand vom 12. bis 16. Mai der Prozess gegen 14 Nihilisten, darunter 6 Frauen, wegen Theilnahme an einer regierungsfeindlichen Gesellschaft und wegen bewaffneten Widerstandes gegen die Polizei (s. oben 23. Febr. 1879) statt, 12 der Nihilisten wurden schuldig gesprochen, über 2 die Todesstrafe verhängt. Am 18. Mai entdeckte man in Kiew eine geheime Niederlage von Waffen, Revolvern und Dolchen, sowie Kasten mit Sprengstoffen und Handgranaten. An demselben und dem folgenden Tage wurde in Kiew gegen drei Angeklagte verhandelt, die erklären, zur »russischen sozialrevolutionären Partei« zu gehören, und welche Widerstand gegen die Gensdarmen geleistet hatten. Unter zwei Todesurtheilen, die dabei ausgesprochen wurden, richtete sich eines gegen eine Frau: Sophie Löschern von Herzfeld. Gleichfalls in Kiew wurden am 20. und 21. Mai von demselben Gericht zwei Brüder (Isbizky) verurtheilt, die besonders auch der Flucht aus dem Gefängniss angeklagt waren. Am 26. Mai vollzog man in Kiew das Todesurtheil an drei politischen Verbrechern mittelst Strangs.

Die Verhandlungen des Petersburger Kriminalgerichts gegen den Attentäter vom 14. April begann am 6. Juni und endeten mit der Verurtheilung Solowjew's zum Tode. Das Urtheil wurde bereits am 9. Juni in Petersburg durch den Strang vollzogen. Von Interesse war die Aussage des Angeklagten, »dass er das Attentat verübt habe, weil auf ihn das Loos gefallen sei.« In den Prozess wurde Dr. Weimar (die Verhandlungen gegen diesen begannen am 18. Mai 1880) verwickelt, der im Palais verkehrte und dem Verurtheilten den Revolver geliefert haben soll.

In den Tagen vom 20. bis 22. Juni 1879 spielten sich vor dem Militär-Bezirksgerichte in Kiew die Prozessverhandlungen ab in Sachen der unter den Bauern des Tschigirin'schen Kreises Anfang 1877 gebildeten »geheimen Drushina« mit dem Zweck gewaltsamer Landvertheilung. Die drei Hauptschuldigen waren übrigens am 8. Juni aus dem Gefängniss entsprungen. Mit Rücksicht auf die in diesem Prozess zu Tage getretenen nihilistischen Wühlereien unter der Bauernbevölkerung fand sich der Minister des Innern veranlasst, unter'm 29. Juni eine Bekanntmachung des Inhaltes zu veröffentlichen, dass keinerlei neue Landvertheilung von der Regierung beabsichtigt werde und alle dahin gehenden Gerüchte Ausstreuungen verbrecherischer Persönlichkeiten seien. Zu der fortwährenden Unruhe und Verwirrung unter der Bauernschaft haben auch die wirthschaftlichen Bestrebungen der Slawophilen sehr viel beigetragen; die Agitation für deren Grundsätze, welche die Gefahr einer Verquickung mit nihilistischen Ideen in so hohem Grade in sich schliessen, hat die Bauern erst so recht eigentlich für die letzteren zugänglich und das allgemeine Chaos zu einem noch vergrösserten und erweiterten gemacht.

Am 8. August wurden in Odessa die beiden Nihilisten, die ihren Genossen Goschtowt ermordet hatten (s. oben 20. Febr.), verurtheilt. Vom 15. bis 18. Juli fanden in Charkow die Verhandlungen gegen sechs Angeklagte (darunter eine Frau) wegen Zugehörigkeit zur »sozial-revolutionären Partei« und Versuchs der Befreiung des Staatsverbrechers Fomin aus dem Gefängniss statt. In den Tagen vom 18. bis 20. Juli kam in Kiew die sogen. »Tschigirin'sche Sache« abermals vor Gericht. 13 Nihilisten, darunter eine Frau, wurden wegen Organisation einer gesetzwidrigen Gesellschaft unter der Bauernbevölkerung, Abfassung eines untergeschobenen kaiserlichen Manifestes und Verbreitung nihilistischer Schriften verurtheilt. Am 21. Juli wurde in Odessa ein Nihilist (Somow) wegen einer revolutionären Demonstration auf dem Nikolai-Boulevard verhaftet; ein paar Tage später nahm er sich durch Selbstverbrennung mittelst einer Petroleumlampe das Leben.

In Kiew wurde am 30. Juli an drei Staatsverbrechern die Todesstrafe durch Erhängen vollzogen.

Vom 6. bis 18. August spielten sich in Odessa die Prozessverhandlungen gegen 28 Angeklagte (darunter zwei Frauen) in Sachen des Strassenskandals vom 5. August 1878 ab; überdies waren die Angeklagten der Theilnahme an einer revolutionären Gesellschaft mit eigener geheimer Druckerei, sowie der Vorbereitung eines Attentats auf den Czaren (in Nikolajew, 30. August) beschuldigt. Ueber fünf der Theilnehmer wurde das Todesurtheil ausgesprochen; am 22. August fand die Vollziehung des letzteren an dreien der Verbrecher zu Odessa und am darauffolgenden Tage zu Nikolajew an den anderen beiden Verurtheilten durch Erhängen statt.

Eine Zeit lang wurde es jetzt still, und es gab Leute, die damals allen Ernstes meinten, die Nihilisten seien allmählich von der Erfolglosigkeit ihres verbrecherischen Treibens überzeugt worden. Diese letzteren sollten eine furchtbare Belehrung durch die Thatsache erfahren, dass die Nihilisten für die Rückkehr des Kaisers aus seiner Sommerresidenz Livadia nach Moskau eine Höllenmaschine, könnte man sagen, vorbereitet hatten, durch welche sie den ganzen Zug in die Luft zu sprengen beabsichtigten. Und in der That entging der Czar und sein Gefolge nur wie durch ein Wunder und infolge der angewandten äussersten Vorsicht am 2. Dezember 1879 vor der zweiten Hauptstadt seines Reiches der Vernichtung. Wie man weiss, war schon vorher in der Nähe von Alexandrowsk eine Mine angelegt worden, doch hatte der kaiserliche Zug – 30. November 1879 – die betreffende Stelle ungefährdet passirt, da die Leitung versagte; dann war auch noch eine zweite Mine für den Fall, dass der Czar vielleicht von Livadia aus einen Ausflug nach Odessa unternehmen sollte, bei letzterem Orte, den der Kaiser indess nicht besuchte, gegraben und alles für eine Explosion vorbereitet worden. Bekanntlich knüpfte sich an diese in der Geschichte einzig dastehenden Versuche, das Leben eines Monarchen zu vernichten, die Affaire Hartmann, welcher letztere einer hervorragenden Betheiligung an denselben äusserst verdächtig war, und dessen durch Russland verlangte Auslieferung von Seiten Frankreichs, wohin er sich zunächst gewendet hatte, verweigert wurde.

Das Misslingen auch dieses Anschlags hielt die Verschwörer keineswegs von weiteren frevelhaften Versuchen ab; sie rückten dem Czaren vielmehr mit ihren Mordgeschossen nur näher und suchten ihn in der eigenen Behausung auf. Es scheint heute noch rätselhaft, wie die Ausführung eines solchen Beginnens möglich war, oder man kann dafür doch immer nur die eine Erklärung haben, dass die Hausbeamten des Czaren, ob mit Willen oder nicht, mit voller Absicht oder durch ihre Nachlässigkeit, demselben förderlich gewesen sind. War doch ein förmlicher Plan vom Winterpalais aufgenommen worden, und hatte man doch bei einem schon Ende Dezember 1879 verhafteten Individuum nicht bloss ein ganzes Arsenal von Explosionsstoffen, sondern auch eine vollständige und genaue Karte des kaiserlichen Palastes vorgefunden! Nur einem Zufall war es diesmal zu danken gewesen, dass der Czar und ein Theil seiner Familie nicht dem wahrhaft teuflischen Plan der Verschwörer zum Opfer fiel. Immerhin aber hat jene Dynamit-Explosion unter dem Speisezimmer des Kaisers am 17. Februar 1880 fünfzehn Menschen, Soldaten und Palais-Dienern, das Leben gekostet.

Eine Menge von Verhaftungen, von denen eine Anzahl auch wiederum Frauen betraf, wurde infolge dieses letzten Attentats vorgenommen und namentlich in Warschau eine wahre Treibjagd auf alle von Russland anlangenden Fremden eröffnet, Loris-Melikow aber mit diktatorischer Gewalt ausgestattet und ihm zugleich die dritte Abtheilung unterstellt. Noch ehe er jedoch offiziell zum Chef der geheimen Polizei ernannt wurde (es geschah durch kaiserlichen Ukas vom 15. März), sandten die Nihilisten auch gegen ihn einen Meuchelmörder aus, dessen Angriff auf den Diktator (3. März 1830) indess ebenfalls misslang. Es geschah dies, wie gesagt, trotz der äussersten Verschärfung aller Repressions-Massregeln, trotz, oder vielleicht gerade wegen der wahren Schreckensherrschaft, die infolge des vorhergegangenen Attentats auf den Czaren etablirt worden war. Der Thäter – Mladetzky, der auf Loris-Melikow geschossen hatte – wurde ergriffen, ohne Aufschub abgeurtheilt und bereits am 5. März zu Petersburg mittelst Strangs öffentlich hingerichtet.

Kaum hatte diese Hinrichtung stattgefunden, so erschien wiederum ein neues Flugblatt der Nihilisten, in welchem Mladetzky als Märtyrer der Revolution gefeiert und die Fortsetzung der Mordarbeit angekündigt wurde. Es würde mich zu weit führen, hier nun noch alle Ereignisse der Folgezeit aufzuzeichnen. Kaum verging eine Woche, dass die Zeitungen nicht Nachrichten brachten von Exzessen, bewaffnetem Widerstand gegen die Polizeigewalt, Verhaftungen, Entdeckungen von geheimen Druckereien und Minen, mysteriösen Warnungen und Todesurtheilen durch die Vehme der Nihilisten, eine völlige Panik bemächtigte sich immer mehr nicht bloss der Petersburger, sondern der ganzen russischen Gesellschaft, und bald liess sich hier ein Stadthauptmann, dem sein Posten zu gefahrvoll erscheinen mochte, des letzteren entheben, bald wurde dort ein anderer, der nicht völlig verlässlich schien, versetzt oder wieder anderswo ein dritter durch höhere Verfügung genöthigt, gänzlich aus dem Amte auszuscheiden. Trotz Loris-Melikow, von dessen beabsichtigten »Reformen« so viel die Rede war, gelang es nicht, einen festeren, ruhigeren Stand der Dinge zu schaffen, je länger, desto energischer und leidenschaftlicher wirkten die staatsfeindlichen Gewalten fort, ein im November von 1880 verhandelter grosser Prozess, der zum Theil neues Licht in die Geschichte der bisherigen Attentate brachte, vergegenwärtigte wieder recht deutlich, mit welcher Schlauheit, mit welcher Thatkraft und mit welchem Raffinement die Verschwörer ihre frevelhaften Anschläge in Szene setzten, – und so war nicht viel über ein Jahr seit der furchtbaren Katastrophe im Winterpalais dahingegangen, als der Telegraph die offizielle Kunde mit den unter solchen Verhältnissen allerdings seltsam berührenden Eingangsworten brachte. »Der Wille des Allmächtigen ist geschehen,« – die Kunde, dass Kaiser Alexander Nikolajewitsch am 13. März 1881 nachmittags inmitten seiner Hauptstadt unter Umständen, wie sie bisher unerhört waren, durch Mörderhand gefallen. »Also doch!« – dieser Gedanke hat das Herz jedes Lesers, der das merkwürdige Telegramm überflog, wohl zuerst bewegt. Das Ziel, welchem seit zwei Jahren die verzweifeltsten Anstrengungen, die tollkühnsten Versuche der Nihilisten gegolten, jetzt hatten sie es erreicht. Der 13. März von 1881 wird immer eines der erschütterndsten und ohne alle Frage auch folgenschwersten Daten der an gewaltsamen Katastrophen überreichen russischen Geschichte bezeichnen.

Ich will hier nicht alle die Nachrichten, die über den Mord und die Mörder vor die Oeffentlichkeit gekommen sind, wiederholen, da sie noch jedermann in frischer Erinnerung trägt; nur soviel sei zur Vervollständigung des Mitgetheilten noch angefügt, dass der Prozess gegen die sechs Hauptangeschuldigten vom 7. bis 10. April währte und das über Ryssakow, Michailow, Kibaltschitsch, Jeljabow, Sophie Perowskaja und Jesse Helfmann verhängte Todesurtheil bereits am 15. April vormittags auf dem Semenow'schen Platze an den erstgenannten fünf durch Erhängen vollzogen wurde, während die Hinrichtung der Jesse Helfmann vorläufig ihrer erst abzuwartenden Entbindung wegen noch verschoben worden ist.

Ueberblicken wir nun in Gedanken noch einmal die Reihe aller dieser Ereignisse, die Attentate, die Verurtheilungen, und fragen wir uns: Wer sind die Leute, die mit solch' zäher Leidenschaftlichkeit die Hände zu verbrecherischen Werken rühren, so unerschrocken die Gefahr über ihr eigenes Haupt heraufbeschwören? – so tritt uns ganz besonders die Jugendlichkeit als ein gemeinsames Merkmal aller entgegen. In den grossen politischen Prozessen des Jahres 1877 z. B. gehörten im ersten von 47 Schuldigen 43 und im zweiten von 100 Schuldigen 74 dem Alter zwischen 17 und 25 Jahren an, ja, unter den Verurtheilten des zweiten Prozesses waren gar 10 Personen unter 17 Jahren. Und dieses Verhältniss darf als Regel gelten. Die grosse Mehrzahl der Nihilisten setzt sich zusammen aus entlaufenen Gymnasiasten, Seminaristen und hauptsächlich Studenten oder gewesenen Studenten der medico-chirurgischen Akademie, der Universität und des technologischen Instituts in Petersburg, der Universitäten und höheren Lehranstalten in Kiew, Charkow, Odessa, Moskau.

Damit ist zugleich dargethan, dass der Herd der Propaganda nicht im niederen Volke zu suchen ist, wenn es auch die thatsächlichen Verhältnisse verkennen hiesse, wollte man leugnen, dass namentlich unter der Fabrikbevölkerung und zum Theil auch unter der Bauernschaft infolge des nihilistischen Einflusses eine bedenkliche Gährung um sich gegriffen hat. Die meisten Anhänger und die treibenden Kräfte des Nihilismus sind in den höheren Gesellschaftsklassen zu suchen; dem bedeutenden Kontingent, welches die letzteren der Bewegung stellen, gegenüber, verschwindet auch der Antheil, den die Angehörigen der mittleren, bürgerlichen Stände daran haben. So gehörten z. B. von 198 Angeklagten im Petersburger Nihilistenprozess von 1877, um dieses Jahr festzuhalten, 82 dem Adelsstand, 19 dem Beamtenstand, 8 dem Militär, 33 dem Klerus, 11 dem höheren Kaufmannsstand, 23 dem Bürger- und 17 dem Bauernstand an. Ferner befanden sich unter den zahlreichen Verhafteten infolge des Februar-Attentats allein in Petersburg 4 höhere und 22 Subalternoffiziere, welche im Verdacht standen, Mitglieder des Nihilisten-Komitees gewesen zu sein; die Mehrzahl aller gefänglich Eingezogenen aber bestand auch damals aus Studenten. Sodann sind infolge des letzten Attentats, dem Czar Alexander zum Opfer fiel, fünf ehemalige Beamte der dritten Abtheilung verhaftet und überwiesen werden, dass sie die eifrigsten Helfershelfer der Revolutionäre waren, – es bestätigte sich also der lang schon gehegte Verdacht, dass Männer aus der Umgebung des Kaisers, Mitglieder der Polizei selbst, ihre Hand mit im verbrecherischen Spiele haben müssten; auch soll man als Theilnehmer an der nihilistischen Verschwörung inbezug auf dasselbe Attentat eine Anzahl Offiziere entdeckt haben. Eine ganz eigentümliche Illustration würden die gegenwärtigen Zustände in Russland erhalten, wenn es sich bestätigte, dass der auf Befehl Alexander's III. verhaftete und in Gewahrsam genommene Grossfürst Nikolaus Konstantinowitsch – der im Jahre 1850 geborene älteste Sohn des Grossfürsten Konstantin Nikolajewitsch, des ältesten Bruders des Kaisers Alexander's II., und derselbe, der namentlich dadurch, dass er vor etwa sechs Jahren seiner Mutter die Brillanten aus dem von ihm erbrochenen Tresor stahl, von sich reden machte, – in die nihilistische Bewegung verstrickt gewesen sei. Und es scheint diese sehr bestimmt aufgetretene Vermuthung allerdings gerade durch die neuerlichst vollzogene Verhaftung mehrerer Lieutenants der Marine, deren Oberleitung eben in den Händen des Grossfürsten Konstantin, des Vaters von Nikolaus, lag, bedeutend an Wahrscheinlichkeit zu gewinnen, – in Russland ist alles möglich! ... Man denke übrigens an die zahlreichen Hofintriguen und Palastrevolutionen, die in der Geschichte des russischen Kaiserhauses eine so traurige Rolle spielen. Im Generalstabsgebäude waren vier der letzteren verhaftet worden, und die angestellten Haussuchungen hätten die Richtigkeit des Verdachts ergeben. In dem neuesten Nihilistenprozess, der jüngst zu Kiew begann, schliesslich waren die Angeklagten zwei Edelleute, eine Edeldame, ein Priesterssohn, eine zur Doktorin promovirte Dame und eine Lehrersfrau.

Eine ganz besondere Eigentümlichkeit der nihilistischen Bewegung ist auch, wie schon oben hervorgehoben und wie aus der vorhin gegebenen Uebersicht über die Prozesse etc. erhellt, die starke Betheiligung des weiblichen Geschlechts an derselben. Es hat in den letzten Jahren keine irgendwie bedeutende Gerichtsverhandlung in politischen Angelegenheiten stattgefunden, in welcher nicht mehrere Nihilistinnen auf der Anklagebank gesessen hätten; sie schienen sich fast zu bestreben, es ihren männlichen Genossen noch zuvorzuthun, und in jüngster Zeit haben die Gensdarmen oft genug die Hände dieser unseligen Wesen an ihrer Kehle gespürt oder ihren Revolverschüssen Stand halten müssen. Ein Mädchen war es, Feiga Scheftel, die, nur 16 Jahre alt, sich bei der Petersburger Demonstration vom 18. Dezember 1876 mit dem Rufe: »Vorwärts! Mir nach!« an die Spitze der wankenden Schaar stellte; auch bei dem Auflauf in Odessa am 5. August 1878 ragte ein Mädchen, die gar erst vierzehnjährige Gukowska, als eifrigste Schreierin hervor; vor Gericht bewies sie eine gänzliche Respektlosigkeit und lehnte die Nachsicht, die man ihrer unerfahrenen Jugend zu zollen geneigt war, mit dem grössten Trotze ab, da sie alles »mit Bewusstsein und ihrer Ueberzeugung gemäss« gethan habe. Es genüge, hier noch an Sophie Löschern von Herzfeld, die sich mit ihrer fünfjährigen unermüdlichen revolutionären Thätigkeit den verbissensten und rührigsten ihrer Genossen an die Seite stellen konnte, zu erinnern, an Wjera Sassulitsch, Sophie Perowskaja, die bereits im Jahre 1872 in die revolutionäre Bewegung eingetreten, wiederholt festgenommen, selbst nach Sibirien verschickt, aber auf dem Wege dahin entflohen war und auch in Gemeinschaft mit Joljabow an den Eisenbahnattentaten bei Alexandrowsk (30. Nov. 1879) und Moskau (2. Dez. 1879) sich in hervorragender Weise betheiligt hatte, sowie an Jesse Helfmann, die ebenfalls schon früher der Verbreitung revolutionärer Schriften angeklagt und deshalb mit zwei Jahren Zuchthausarbeit, die sie bis zum Mai 1879 verbüsste, bestraft worden war.

Wir wiesen schon darauf hin, dass diese Verhältnisse ihren Grund vor allem in der ganz eigenthümlichen Erziehung der russischen Mädchen haben. Hauptsächlich fallen die Schülerinnen in den Petersburger weiblichen medizinischen Kursen, den Hebammen-Instituten und den höheren Frauen-Kursen dem Nihilismus anheim. Eine in die Augen springende Erscheinung dabei ist, dass eine auffallend grosse Anzahl der Frauen, die sich zu diesen Anstalten drängen, jüdischer Herkunft sind, und diese haben sich denn auch immer als besonders rührige Propagandisten hervorgethan. Auch von den männlichen Nihilisten gehört übrigens ein bedeutender Theil dem mosaischen Bekenntniss an, woraus natürlich nicht folgt, dass deshalb den Juden im Allgemeinen ein Vorwurf gemacht werden darf.

Die weiblichen Zöglinge der oben erwähnten Anstalten kommen durch ihre Beschäftigung und durch ihre Lebensart am innigsten mit der studirenden Jugend in Berührung und müssen dadurch dem durch diese vermittelten nihilistischen Einfluss am zugänglichsten sein. Durch den von ihnen ergriffenen Lebensberuf dem engen, aber gesicherten Kreise gewöhnlichen Frauenlebens entrückt, glauben sie auf die hergebrachte Denkweise ihres Geschlechts mit Geringschätzung herabsehen zu dürfen und suchen alles spezifisch Weibliche schon im äusseren Gebahren nach Möglichkeit zu verleugnen. Nun werden aber auch anderswo Mädchen in nicht geringer Anzahl in weiblichen Anstalten erzogen und unterrichtet, ohne dass dieselben in dem Grade sich zu Emanzipirten entwickeln, wie wir es an jenen Russinnen bemerken, und in der That ist auch hier wieder die gegenwärtige Gestalt der Dinge ein Rückschlag theils früherer, theils jetzt noch bestehender abnormer Verhältnisse. Die weibliche Jugend Russlands, empört über die Missachtung, die ihr Geschlecht in ihrem Vaterlande erfuhr und, besonders in dem niederen Volke, noch erfährt, sie konnte nur mit namenloser Verachtung auf den bisherigen Zustand herabsehen, sobald sie einige Intelligenz in sich aufgenommen, und sie musste sich über diesen Zustand und alle mit ihm zusammenhängenden Anschauungen und Gewohnheiten gänzlich hinwegsetzen, in ein entgegengesetztes Extrem verfallen, sobald Lehren wie die nihilistischen auf sie zu wirken versuchten, – Lehren, deren gerade für sie bestrickendem Reiz sie um so schneller verfiel, je mehr die äusseren Umstände ihrer Erziehung dem Einfluss derselben günstig waren. Die jungen Mädchen werden in der Regel durch den jahrelangen Besuch der von ihrer Heimath entfernten höheren Anstalten der Familie gänzlich entfremdet, in ihrer frühen Selbständigkeit und infolge des fortwährenden Umgangs mit männlichen Genossen legen sie bald die »Vorurtheile«, die man weibliche Ehre, Ehe, Sitte nennt, von sich ab, und wenn dies einmal geschehen, so wollen sie wie in ihren wissenschaftlichen Studien so auch in allen übrigen Stücken von den Studenten als ihres gleichen, als ebenbürtige Kameraden angesehen und behandelt werden. Mit Eifer nehmen sie dann deren politische Ideen in sich auf, und es wird sich zwar nicht leugnen lassen, dass manche von den weiblichen Aposteln der nihilistischen Propaganda von durchaus edlen Motiven, von gerechtem Zorn über die öffentlichen Zustände, von echtem Mitleid für das gedrückte Volk, von aufrichtigem Glauben an die politischen »Ideale« des Nihilismus und dem missleiteten Drang nach nützlicher Thätigkeit geleitet werden; aber viele werden lediglich durch Eigenliebe, durch die eitle Sucht, als gefährliche Menschen oder als Leiter des Volkes eine Rolle zu spielen, bei ihrem propagandistischen und agitatorischen Treiben bestimmt. Sie kommen sich in ihren Augen wichtig vor, für eine »grosse Sache« unter dem Volke zu wirken und zu entbehren, und fühlen sich als »Märtyrerinnen«, wenn sie von den Gewalten beobachtet und verfolgt werden. So schrieb z. B. jene oben erwähnte Werewotschkina im Jahre 1874 in einem Briefe an einen Genossen, Schtschigolew, mit offenbarem Behagen von ihrer Ankunft in Ufa: »Die ganze Stadt interessirte sich, zu erfahren, was das für eine geheimnissvolle Persönlichkeit sein möge etc.« Die Bauern des Ufa'schen Gouvernements lösten übrigens recht bald in ihrer Weise das Räthsel dieser »geheimnissvollen Persönlichkeit«, indem sie die Werewotschkina einfach als eine Hexe bezeichneten, wodurch sie genöthigt wurde, schleunigst ihre »Arbeit« einzustellen und sicherere Gegenden aufzusuchen.

An Cynismus geben die Nihilistinnen ihren männlichen Genossen nichts nach. So rühmte sich beispielsweise eine derselben, zu ihrer geheimen Chiffreschrift einen Schlüssel zusammengestellt zu haben, der aus lauter unanständigen Worten bestand; andere zertrümmerten im Gefängniss von Kiew den Ofen und schlugen mit den Ziegelsteinen Thüren und Fenster ein. Und wie gestaltet sich nun vollends das Zusammenleben dieser völlig entarteten Wesen mit ihren Kameraden? Es bietet sich uns in dieser Hinsicht ein Bild dar, wie es ekelhafter und abstossender kaum gedacht werden kann. Nach den Aussagen eines der Angeklagten in dem Monstre-Prozess des Jahres 1877 kam es in einem Hause zu Kiew, dem geheimen Hauptquartier der »Kommune« vor, dass zwei, drei Paare Männer und Frauen durcheinander schliefen, unter denen die zwei Schwestern Kaminer, Löwenthal und Axelrode waren; Iljassewitsch, der einmal auf die Aufforderung Axelrode's gegen 10 Uhr morgens in die »Kommune« kam, fand daselbst fünf, sechs Paare Männer und Frauen durcheinander, in einem schmutzigen stinkenden Zimmer, schlafend, mitten unter zerstreuten Lederabfällen und Instrumenten des Schusterhandwerks. Dem Zeugen Jurjew erzählte Fischer, dass er in Kiew gemeinsam mit anderen Studenten und Frauenzimmern gewohnt habe, – dass die Männer mit den Frauen zusammen schliefen, und dass ihre Beziehungen zu einander vollkommen freie gewesen wären, worauf Jurjew dem Fischer bemerkte, dass das eine wahre Hölle voll Unsittlichkeit gewesen sei.

Die Nihilisten lassen es sich aber auch angelegen sein, Genossinnen für »ihre Sache« zu gewinnen. So suchte der vorhin genannte Schtschigolew seine Schwester Anna auf den »rechten Weg« zu bringen, indem er einen Genossen ersuchte, sie zu »entwickeln«, ihr revolutionäre Schriften zur Lektüre sandte und ihr in seinen Briefen rieth, »ein produktives Glied der Gesellschaft« zu werden, sich »loszureissen aus dem gewöhnlichen Gleise des Weibes und herauszutreten auf den Weg der Menschen etc.«

Ein Brief, den die Mutter dieses Schtschigolew, von Kummer gebeugt, an den Sohn unter'm 7. Juli 1874 nach Petersburg schreibt, giebt uns übrigens einen Einblick in die sorgenvolle Lage, welche die nihilistische Bewegung für manche noch ehrenhafte Familie zuweilen heraufbeschwört. »Ich und der Vater,« klagt jene, »verbringen die Nächte schlaflos, schwarze Träume drängen sich in unserem Kopfe wegen der falschen Richtung, die Du eingeschlagen hast ... Wir sehen hier schon Gefängniss, Ketten etc. vor Augen, und dass Du das ganze Jahr nichts gelernt hast und Dich fortwährend mit der G. abgegeben hast. Noch ist es Zeit, brich alle Verbindungen mit der G. ab, vergiss alles Schlechte und Falsche, das unter Euch gewesen sein mag, wie der Vater Dir räth etc. ...«

In Zürich hatten die Russen, von denen die meisten Anhänger der nihilistischen Parteien waren, ein eigenes Haus, welches man daselbst noch heute bei Gelegenheit als das »russische« bezeichnet, käuflich erworben und darin ihr Ideal einer kommunistischen Lebensführung in sehr realer Art zu verwirklichen unternommen. Man führte nicht bloss gemeinsame Wirthschaft, wohnte und speiste zusammen, sondern es gab in diesem Hause auch manche Ehen, mit mehr Rechten wohl als Pflichten, von denen weder der Altar, noch das Standesamtsregister etwas wusste. Es haben sich dort in diesem völlig zwanglosen Zusammenleben beider Geschlechter die haarsträubendsten Episoden ereignet.

A propos – die »Züricher Studentinnen«! ... Man konnte ihnen im Anfang der siebenziger Jahre oft begegnen, auf der Strasse, in den Vorlesungen, in Privatzirkeln, im Foyer des Theaters, wo sie in Gesellschaft ihrer männlichen Kommilitonen ungenirt den blauen Rauch echter Cigarretten vor sich hinbliesen, im Lesezimmer der Bibliothek, – die Russen in Zürich besitzen selbst eine solche, natürlich fast nur mit Werken ihrer eigenen Richtung – wo sie mit ihren männlichen Landsleuten sehr erregte politische Debatten führten, im Seziersaal der Anatomie und anderswo. Sie sind fast durchgehends, mit verschwindenden Ausnahmen, bis zum Abscheu abstossend, diese jungen und älteren Emanzipirten, Jungfrauen und – Nichtjungfrauen mit den kleinen schwarzen Hütchen, dem lang herab wallenden oder kurz geschnittenen Haar und nicht selten mit blauer Brille und in sehr derangirter Toilette, – diese verkörperten Ideale von dem, was ein richtiger Nihilist unter einem wirklichen, dem Manne ebenbürtigen Weibe begreift. Ganz selbstverständlich kann bei diesen Damen von irgendwelcher weiblichen Empfindung edlerer Art, von Gefühlsinnigkeit und seelischer Anmuth keine Rede mehr sein.

»Ich habe längere Zeit in Russland gelebt und dort sehr gebildete und achtungswerthe Frauen kennen gelernt«; – äusserte sich im Jahre 1871 ein Züricher Professor – »Dirnen, wie diejenigen, die sich jetzt hier herumtreiben, unter dem Vorwand, Medizin zu studiren, habe ich weder in Moskau noch in Petersburg gesehen; es scheint eine ganz besondere Spezies zu sein, die entweder von ihrem Vaterlande ausgestossen sind, oder nur herkommen, um es in Verruf zu bringen. Ich habe immer gefunden, dass die Russen sich von anderen Völkern dadurch unterscheiden, dass diese in der Fremde nur die besten Seiten herauskehren, indess jene bisweilen alles thun, um Verachtung zu verdienen ... Die Frauen der Branntweinpächter verspielen die Millionen, die ihre Männer durch die Vergiftung des Volkes zusammengescharrt haben, und führen in Homburg und Baden-Baden, in Lausanne und in Nizza ein so skandalöses Lehen, dass man sie für Loretten halten könnte, und einige der sogenannten Studentinnen hier sind ein so gemeines Gesindel, dass kein ordentlicher Hauswirth einer Russin mehr ein Zimmer vermiethen will. Sie sind durchaus unvorbereitet und vermöchten keinem einzigen Kurse zu folgen, selbst wenn sie Lust dazu hätten; aber sie denken auch gar nicht daran, sie kommen nur her, um ihrer unfläthigen Phantasie beim Anblick nackter Leichen freien Lauf zu lassen, – proterva fronte petit maritum – sie bummeln herum, die unvermeidliche Cigarrette im Munde und begleitet von einem oder mehreren der liederlichsten und unwissendsten Studenten. Einige von ihnen wohnen sogar mit Studenten zusammen und machen morgens ganz gemüthlich ihre Toilette mit einander – sie in Unterröcken, die andern in Unterhosen. Letztens veranstalteten die Studenten ein Indignationsmeeting, um gegen dies Treiben zu protestiren, und ein Pole sagte sogar, dass eine der Nihilistinnen, wie sie genannt werden, die Sommerferien dazu benutzt habe, um in einem unnennbaren Hause physiologischen Studien zu dienen. Darob erhob sich ein gewaltiger Sturm unter den Russen, sie forderten Beweise, und ich weiss nicht, wie die Sache geblieben ist; eins aber ist gewiss, diese Dämchen sind fast durchschnittlich elendes Gesindel. Ich habe nie eine in meinem Kolleg geduldet, und wir wären glücklich, sie alle los zu werden.«

Mit Recht weist dieser Züricher Professor, den wir soeben reden liessen, auch auf russische Damen hin, wie man sie in den grossen Bade- und Erholungsorten beobachten kann, ... jene äusserlich vornehm erscheinenden Frauen, denen man an der Spielbank von Monaco als den leidenschaftlichsten Spielern begegnet, die durch den Reichthum und den Prunk ihrer Toiletten die Promenaden von Nizza, Vevey, Homburg, Baden-Baden und anderer berühmter europäischer Bäder und Vergnügungsstationen beleben, – sie unterscheiden sich ihrem inneren Wesen nach nahezu durch nichts von jenen anderen Emanzipirten, deren äusserer Schmutz und ihre zur Schau getragene geistige und sittliche Unordnung sie uns in demselben Grade widerwärtig machen, wie die anderen durch die kostbare Pracht ihrer Kleidung und den gefälligen Reiz ihrer Manieren den Unerfahrenen und Leichtgläubigen nur zu oft blenden und täuschen.

Und die Ursachen der gemeinsamen Verwahrlosung – das muss immer wieder hervorgehoben werden – sind die gleichen: die schlechte Erziehung, der Mangel an moralischer Ausbildung und infolge dessen die völlige Verwirrung und Versumpfung des gesammten öffentlichen Lebens, – eine trübe Dunstatmosphäre, deren trüber Niederschlag eben jene Erscheinungen sind ...

Von der wirklich unglaublichen Herzlosigkeit, bis zu welcher manche jener vom Nihilismus eingenommenen Mädchen gekommen sind, dürfte folgendes Beispiel, aus den Kreisen der russischen Studentinnen in Zürich, überzeugen, welches Dr. Max Vogler im »Deutschen Montagsblatt« erzählt:

»In einem ebenfalls zahlreich von Russen bewohnten Hause starb der noch jungen Pensionswirthin das einzige Kind. Weinend um den herben Verlust sass die letztere in ihrem Zimmer. Da trat eine jener russischen Studentinnen, die bei ihr wohnten, – nebenbei bemerkt, ein Unikum von Hässlichkeit zu ihr und suchte ihr auseinanderzusetzen, dass sie keinen Grund zur Trauer habe, da sich der wahre Mensch von allen persönlichen Beziehungen losreissen müsse, um frei zu sein und der ›grossen, allgemeinen Sache‹ zu dienen – die Aeltern von den Kindern wie die Kinder von den Aeltern ... Welche Gefühle wohl in dem Herzen der armen Frau, als sie diesen, ›Trost‹ vernahm, gegenüber der, die ihn spendete, aufgestiegen sein mögen?

Die kluge Studentin – sie galt unter den Nihilisten für ein besonderes Lumen, und ihr Bruder ist ein hervorragender Publizist in Russland, dessen Namen ich nennen könnte Soviel wir wissen, – und wir haben keinen Grund, es zu verheimlichen – war sie die Schwester Pissarew's. – ist übrigens so ›frei‹ geworden, wie sie es wünschte; sie hat im Leben jeden Stützpunkt, allen Halt verloren und sich einige Zeit später, wie ich bald darauf von jemand, der ihren Lebensweg weiter als ich beobachten konnte, in Berlin erfuhr, auf einer der Rhonebrücken zu Genf erschossen, – an einem öffentlichen Orte also, vermuthlich um ihr Dasein mit jenem Eklat abzuschliessen, in dem alle ihre Genossen die nothwendige Form ihres Wirkens und auch ihrer politischen Bethätigung zu erblicken und aufrecht zu erhalten scheinen« ...

Von einer anderen, noch jungen Nihilistin, welche ihrem Manne nach Sibirien gefolgt war, wird erzählt, dass sie dort vor einer, aus Gleichgesinnten bestehenden Versammlung einen Vortrag über freie Liebe hielt und dabei Grundsätze an den Tag legte, die so cynisch waren, dass selbst ihre Zuhörer dagegen protestirten. Ist es doch bekannt, dass die Nihilisten jene Mädchen, die noch zu viel Scham besitzen, um sich zu den Dogmen derselben zu bekennen und ihnen praktisch nachzuleben, als »Unzeitgemässe« und »Unentwickelte« einfach mit dem in ihren Augen einen Mangel an Freiheit des Urtheils bezeichnenden Ausdruck »Harems« und »Boudoirstandpunkt« bei Seite schieben. Es ist überdies charakteristisch für die Anhänger des Nihilismus, dass von heimischer und fremdländischer Literatur vor allem das Pikante, Frivole, Cynische ihren Beifall findet und sich ihrem Gedächtniss am leichtesten und dauerndsten einprägt; so fand ich z. B. unter den studirenden Russen in Zürich eine besondere, und nach dem, was oben in dieser Hinsicht gesagt ist, an sich leicht erklärliche Vorliebe für Heine, deren Gegenstand aber nun eben in hervorragendem Grade wieder die Cynismen der »Neuen Gedichte« desselben waren.

Ueber das russische Studententhum im Allgemeinen, wie es sich früher noch mehr als gegenwärtig in Zürich darstellte, sei hier noch einiges nach dem »Deutschen Montagsblatt« mitgetheilt.

»Es wäre ein grosser Irrthum, zu glauben, dass alle die, welche man kurzweg unter dem Namen russischer Studenten und Studentinnen zusammenfasst, nach Zürich kämen, um hier auch wirklich die Universität zu besuchen: ein grosser Theil derselben würde schon aus dem Grunde zu der in jeder Hinsicht vorzüglichen Hochschule nicht zugelassen werden, weil er nicht die erforderliche Reife dazu besitzt. Die meisten halten sich nur hier auf. um ungestört ihren politischen Idealen leben zu können. –

»Von irgendwelchen klassischen Studien kann natürlich keine Rede sein, höchstens trifft man eine unklare Schwärmerei für Plato's ›Republik‹ unter ihnen an.

»Man soll aber nun auch nicht glauben, dass diese Sorte ›Studirender‹ sich allzu strenge Pflichten auferlegten, mit allzu grossem Eifer sich ihren Studien widmeten.

»Ich will gerecht sein und anerkennen, dass immerhin manche von ihnen, von tiefem Mitleid über die Lage ihrer ärmeren Landsleute ergriffen, von edlem Zorn über die Korruption im russischen Beamtenleben und in der höchsten Aristokratie erfasst, vom ernsten Willen, hier bessernd und reformirend einzugreifen, beseelt, aus vollster Ueberzeugung und mit kräftiger Ausdauer sich ihrer Sache hingeben, – und es stellt mir in diesem Augenblicke ein in den Jahren schon vorgerückter Mediziner deutschen Namens, mit durchgeistigten, schwärmerischen Zügen, einem Gesicht, das, von dichtem schwarzen Haar umrahmt, an das Antlitz des leidenden Christus gemahnen konnte, vor Augen, der in unermüdlichem Lerneifer Tag und Nacht über den Büchern sass ... Man darf auch nicht übersehen, dass andere, infolge eines allzu harten Geschicks in frühzeitige Verbitterung verfallen, mit allein nur möglichen Fleiss danach ringen, sich eine gesicherte Lebensstellung zu verschaffen, wie jener ernste, verschlossene Pole, der mir in seinem langen, abgetragenen Rock und dem vollen Bart eine Zeit lang bei Tische gegenüber sass, dieser stille, schweigsame Mann, der wegen eines ziemlich harmlosen Jugendstreichs vom Gymnasium nach Sibirien hatte wandern müssen und nun, dem vierzigsten Lebensjahre nahe, nach Zürich gekommen war, um als Hörer im eidgenössischen Polytechnikum sich noch die Fähigkeiten für einen praktischen Beruf zu erwerben. Aber solche rühmliche Ausnahmen bei Seite gesetzt, ist die Mehrzahl jener ›studirenden‹ Russen nur zu sehr dem Müssiggang ergeben, und ihre Zeit fliesst zwischen politischen Deklamationen, Spazierengehen und – Schlafen dahin. Für das letztere scheinen viele von ihnen eine ausserordentliche Vorliebe zu haben, wenigstens ist es gewiss, dass sie ihre ›Studien‹ am liebsten treiben, wenn ihr überkluges Haupt dabei auf weichen Federn ruht und auf dem Tischchen daneben der Beutel mit türkischem Tabak liegt und der Theekessel brodelt. Es kommen einem hierbei unwillkürlich die in genial realistischer Weise dem Leben nachgezeichneten Gestalten der Turgenjew'schen Skizzen in's Gedächtniss, und vor allem die Worte, die der gefeierte Dichter seinem »Hamlet des Stschigorow'schen Kreises« in den Mund legt: »Ich lernte das giftige Vergnügen der Verzweiflung kennen; ich erfuhr, wie süss es ist, im Verlauf eines ganzen Morgens, träg auf dem Bett liegend, den Tag und die Stunde seiner Geburt zu verfluchen; ich konnte nicht auf einmal demüthig werden« ...
Wir wollen bei dieser Gelegenheit noch darauf hinweisen, dass von deutschen Autoren vor allem die leider zu früh verstorbene Klara Bauer (Karl Detlef) lebendige und völlig der Wirklichkeit entsprechende Bilder aus der russischen Gesellschaft geliefert hat; mit ganz besonderer Treue sind die unter dem Einfluss des Nihilismus stehenden Charaktere namentlich in ihrer auch sonst nach scharfsinnigster Beobachtung gearbeiteten Novelle: »Meine Nachbarn auf dem Lande« wiedergegeben.

»Ich habe ganz entsetzlich widerwärtige Persönlichkeiten unter ihnen kennen gelernt, absolute Müssiggänger, deren ganzes Wesen so defekt und schmutzig war wie die Wäsche, die sie trugen. – Leute, die nichts gelernt haben und nichts lernen wollen und ohne Unterlass von dem ›Elend des Volkes‹ und der ›Rettung der Gesellschaft‹ faselten, – sie, die mit einer solchen ›Rettung‹ doch vernünftigerweise zuerst bei sich selbst den Anfang machen müssten, und die desto anspruchsvoller und heftiger auftraten, je grösser und offenbarer ihre geistige und sittliche Armuth sich erwies. Einer dieser Taugenichtse, die, unsittliche Lieder trällernd, bummelnd und faulenzend von einem Tage in den anderen leben, machte, als ich mir erlaubt hatte, seinen Phrasen zu widersprechen, einmal auf einem Spaziergange gegen mich die schmeichelhafte Bemerkung, dass ich werth sei, ›an den nächsten Laternenpfahl aufgeknüpft zu werden‹. Und wenn man den verkommenen Burschen dabei ansah, so konnte man ihm wohl zutrauen, dass ihm die Ausführung einer solchen Absicht nicht allzu viel Kopfschmerzen verursachen werde.

»Die Anhänger des Nihilismus, wie man sie in der schweizerischen Universitätsstadt findet, bestehen übrigens nicht bloss in Angehörigen der russischen Nation, man trifft darunter auch Serben und Armenier an. Die letzteren sind noch am wenigsten abschreckend; sie zeigen sich, ausserordentlich gut beanlagt, fast durchweg als liebenswürdige, strebsame und massvollere Naturen.

»Selbstverständlich rekrutiren sich alle diese Ausländer zumeist aus den vornehmeren, besser situirten Kreisen, denen es eben nur möglich ist, die Kosten ihres Aufenthaltes in Zürich zu bestreiten; betrachtet man jedoch die immerhin nicht unbeträchtliche Anzahl armer Schlucker, die sich zugleich hier aufhalten, und denen grösstentheils durch die pekuniär besser Gestellten mit fortgeholfen wird, so kann man sich nicht verhehlen, dass die Nihilisten alles thun, jedes Opfer bringen, um sich zu verstärken. Jeder Unzufriedene zählt und wird gern in ihre Gesellschaft hineingezogen, – nach den moralischen Qualitäten fragt man nicht ...«

Es war nicht eben staatsklug von der russischen Regierung, als sie die in Zürich studirenden Frauenzimmer, unter denen sich übrigens selbst solche befanden, die verheirathet und deren Männer in Russland in öffentlichen Stellungen waren, aufforderte, entweder heimzukehren oder nach einer anderen Universität zu gehen. Denn abgesehen davon, dass sie durch diese jedenfalls sonderbare Massregel den Spott der Schweizer ihr gegenüber hervorrief, konnte die letztere nicht nur nichts nützen, sondern für Russland bloss Schaden anrichten. Diejenigen Russinnen, die, weil sie andernfalls in ihrem Vaterlande weder angestellt werden, noch einen öffentlichen Beruf ausüben dürfen sollten, Zürich verliessen, um eine andere Hochschule zu beziehen, wandten sich nach Bern und Genf und blieben auch so mit dem Emigrantenthum, dessen Einfluss man sie entziehen wollte, in ununterbrochener Verbindung, während die nach Russland heimkehrenden dort die eifrigsten Mitglieder der revolutionären geheimen Gesellschaften wurden und als die rührigsten und leidenschaftlichsten Apostel des Nihilismus fraglos bei allen Attentaten der letzten Jahre ihre Hände mit im Spiele gehabt haben. –

Wir wollen zum Schluss einen Umstand nicht unberücksichtigt lassen, der zum Theil die Heftigkeit und Rücksichtslosigkeit im Auftreten der Nihilisten erklärt: es ist die offenbare Wendung, welche seit dem Jahre 1863 in den Regierungsmaximen Alexander's II. eintrat, und zwar infolge von Umständen, welche klar zu Tage lagen.

Bereits im Jahre 1860 hatte der »Kolokol« Alex. Herzen's dem vorher hochbegrüssten Czaren spottend zugerufen: »Adieu Alexandre Nikolajewitsch, bon voyage«, – es war, als das so ausserordentlich einflussreiche Blatt die bäuerlichen Erneuten in Schutz nahm; dazu kamen der polnisch-litthauische Aufstand und die von der Polizei ohne weiteres den »Rothen und Sozialisten« zugeschriebenen Petersburger Feuersbrünste im Frühjahr 1862, um einen vollständigen Umschwung hervorzurufen. Seit dieser Zeit haben die das Land beherrschenden Repressivmassregeln begonnen. Der Polenaufstand hatte den Hass gegen jedwede abendländische Kultur in solchem Grade hoch gespannt, dass selbst die lateinischen Lettern, welche die Litthauer von den Polen angenommen hatten, förmlich verboten wurden und durch kyrillische Schriftzeichen ersetzt werden sollten, die doch kein litthauischer Bauer zu verstehen vermochte. Der exklusiv nationale Fanatismus, der die Verachtung alles nicht urrussischen Lebens zu seiner Devise machte, – die Partei der »Moskauer Zeitung« (Katkow) kam oben auf, und ungeheuer war der Terrorismus, mit welchem die letztere die öffentliche Meinung zu beherrschen anfing. Sie hatte die bestechenden Stichwörter: »Nationalität, uniforme Einheit des Staates, Volkswillen« auf ihre Fahne geschrieben, und so brachte auch diese, gleichfalls aus der Ueberzeugung von dem unhaltbaren und unheilsamen Stande der Dinge hervorgegangene, aber im tiefsten Grunde reaktionäre Richtung die nationalen Kräfte in eine verhängnissvolle Bewegung, die nothwendig auf die Gesellschaft verwirrend wirken und namentlich durch ihre zur Schau getragene Verachtung aller abendländischen Kultur der nihilistischen Frivolität ihre Wirkung erleichtern musste. Unter diesen Verhältnissen wurden die Fäden der angebahnten ruhigen inneren Entwickelung abgerissen, um seitdem nicht wieder aufgenommen und angeknüpft zu werden. Und die früheren Reformen und Gesetze, mit denen Alexander II., so reiche Hoffnung weckend, seine Regierung begonnen? – Jeder Unterrichtete weiss, dass ein grosser Theil davon eben nur auf dem Papier gestanden, Schein und Buchstabe geblieben, anderes, wie die Gesetze über die Reorganisation des Unterrichts, über Herstellung provinzieller Selbstverwaltung, über die neue Gerichtsordnung, seit sechzehn Jahren fortwährend umgewandelt, in Frage gestellt, gänzlich widerrufen worden ist. In welcher Weise z. B. die »Aufhebung der Leibeigenschaft« thatsächlich zur Wirklichkeit geworden ist, wird dadurch illustrirt, dass nach mehr als fünf Jahren seit dem betr. Erlass von nahezu 10 Millionen männlichen Privatbauern nur etwa 5,8 Mill. frei und selbständig waren, während 4,1 Mill. noch im Pflichtverhältniss zu den Gutsherren verharrten und von den ersteren sich bloss 514,710 ohne Staatshülfe losgekauft hatten. »Im russischen Leben ist alles Rauch und Dunst!« – sagt Turgenjew in seinem Roman »Rauch«. »Ueberall sieht man neue Gestalten in der Bildung begriffen; eine Erscheinung jagt die andere; im Wesentlichen aber bleibt alles, wie es gewesen. Alles treibt und stürmt irgendwohin, und nirgends wird etwas erreicht. Der Wind schlägt um, und die Masse wirft sich auf die entgegengesetzte Seite, um dasselbe ruh- und zwecklose Spiel zu beginnen ... Rauch und Dunst, nichts weiter! ...«

Das Gerichtsverfahren ist auch heute noch geradezu ungeheuerlich, besonders durch »das prinziplose Durcheinanderwerfen der richterlichen und administrativen Gewalt, so zwar, dass die zweite durchweg prädominirt.« So steht den Gouverneuren der Provinzen das Recht zu: die Distriktstribunale zu revidiren, die Richter und Assessoren in Anklagezustand zu versetzen, ihre Meinung abzugeben über die vom Kriminalgerichte der Provinz abgeurtheilten Gegenstände, welche Meinung dann zusammen mit dem ganzen bezüglichen Aktenstoss an den Senat wandert. Und jeder Generaladjutant des Kaisers hatte das Recht, auf seine Verantwortung hin die Ausführung von Strafurtheilen zu suspendiren. Das Gerichtsverfahren weist nicht weniger als elf Instanzen auf, »und wenn nach jahrelangem Sollizitiren, das reichliche Spenden aus gefüllter Hand fordert, die zehn ersten überwunden sind, so langt man auf der letzten schliesslich beim willkürlichen Entscheide des Kaisers an.«

Sehr treffend kennzeichnet daher der Verfasser des kürzlich erschienenen Buches »Russland vor und nach dem Kriege« – es ist derselbe, der die beiden Serien »Bilder aus der Petersburger Gesellschaft« geschrieben – den Stand der Dinge von heute: »Auf der einen Seite Oeffentlichkeit und Mündlichkeit der Gerichtsbarkeit und Geschworenengerichte – auf der anderen Seite eine Praxis, welche missliebige Personen allen Gerichten entzieht und auf ›administrativem Wege‹ nach Sibirien sendet; auf der einen Seite jährliche Veröffentlichung des Budgetvoranschlags – auf der andern Mangel an aller Kontrole über Innehaltung desselben; auf der einen Seite Abschaffung der körperlichen Züchtigung als Kriminal- und Disziplinarstrafe – auf der andern unaufhörliches Prügeln in der Stille; auf der einen Seite Anerkennung des Prinzips der Selbstverwaltung von Städten, Provinzen und Kreisen – auf der andern Unmöglichkeit, von dieser Selbstverwaltung irgendwelchen Gebrauch zu machen, der dem Gouverneur, dem Gouvernements-Gensdarmerie-Chef, dem Minister oder einem Ministerialrath missfällig wäre; auf der einen Seite strenge Abgrenzung der den einzelnen Behörden zustehenden Befugnisse, Trennung der Justiz von der Verwaltung bis in die kleinsten bäuerlichen Gemeindebehörden hinab – auf der andern schrankenlose Willkür der höheren Verwaltungsstellen, die zwischen ihnen unterstellten Polizeibehörden und unabhängigen Gerichten keinen Unterschied machen, und über denen eine geheimnissvolle, gleich gewissen Gottheiten nie bei ihrem Namen genannte ›oberste Ober-Instanz‹ (die dritte Abtheilung) waltet, welche unter Umständen zugleich Administration und Gericht, judex a quo und judex ad quem ist!«

Die Erklärung aller dieser Erscheinungen liegt – wie hier nochmals nachdrücklich hervorgehoben werden soll – eben in der noch ganz rohen Vergangenheit des grossen Reiches. »Dass hinter den glatten, eleganten Gardeoffizieren, Aristokraten, Beamten u. s. w., die der Ausländer als Repräsentanten der russischen Nation kennen lernt,« – äussert sich der eben genannte Autor auch darüber richtig – »nicht selten asiatische Despotennaturen lauschen; dass die gewandten, mit der Technik des westeuropäischen Verkehrs vertrauten Geschäftsleute und Händler Moskaus und Petersburg's sich mitunter als religiöse Tollhäusler schlimmster Art entpuppen; dass der sanfte, liebenswürdige und geduldige Mushik (Bauer) unter Umständen Türken und Tscherkessen an Wildheit und Barbarei übertrifft, dass an der Newa, Wolga und Moskwa immer wieder Dinge passiren, die im übrigen Europa ›unmöglich‹ gewesen wären: das hört nicht auf, Gegenstand endloser Verwunderung von Deutschen, Franzosen, Engländern etc. zu sein,« – und doch falle die Erklärung alles dessen nicht schwer, »so bald man nur die Antezedentien des heutigen Russland nicht ausser Acht lasse, des kaiserlichen Hauses, des Adels und der Beamtenkaste, der Geistlichkeit, des Bürger- und Bauernstandes.« So seien, um nur eines herauszuheben, heute noch fast alle russischen Kaufleute Söhne von Leibeigenen, deren Väter die Erlaubniss zur Abwesenheit vom Herren-Gut oder -Dorf mit einer nach der Erwerbsfähigkeit und dem Belieben des Gutsherrn bemessenen Kopfsteuer (Obrok) erkaufen mussten ...

Aus den hier dargelegten Thatsachen folgt unwiderleglich, dass das grosse Czarenreich nothwendig Zuständen immer weiterer und unabsehbarer Verwirrung entgegengehen wird, wenn es sieh etwa in Zukunft mit absichtlicher Gewaltsamkeit der westeuropäischen Civilisation entgegenzustemmen versucht. Für eine innerlich nationale Kultur bietet sich gar keine Grundlage dar; nur aus der abendländischen Bildung können die Lebensströme kommen, die dem kranken Koloss Gesundung zu bringen im Stande sind, wenn auch der Prozess der Einführung dieser Lebensströme dem letzteren immerhin zunächst ein noch erhöhtes Fieber und weitere heftige Zuckungen verursachen wird.

Vor allem ist es nöthig, dass die leitenden Kreise zunächst ein klares, der Wirklichkeit entsprechendes Bild der Verhältnisse im Lande zu gewinnen suchen, was leider bis auf die jüngste Zeit herab seither fast ganz unmöglich war. Hatte man unter Czar Nikolaus die »Zeitschrift für Ethnographie« kurzweg verboten, so wurden selbst im Jahre 1859 noch Cirkulare mit folgenden, fast unglaublichen Bestimmungen erlassen: es sei jedermann verboten, in Russland zu reisen, um statistische oder ethnographische Erkundigungen einzuziehen, es sei denn mit spezieller Autorisation der Regierung. Die Folgen solcher Massregeln haben sich jetzt gezeigt: es entwickelten sich Zustände, von denen die Regierung auch nicht im Entferntesten eine Ahnung hatte. Die nächsten Punkte, an denen man etwa, um eine Besserung herbeizuführen, einzusetzen hat, sind dann: vor allem die Erziehung, denn es ist eine traurige Wahrheit, dass – wie drastisch, doch treffend gesagt wurde – die russischen Kinder bis jetzt eine eigentliche Mutter nach unseren »philiströsen« deutschen Begriffen noch nicht gehabt haben, Revision des Schulgesetzes, Gründung von Lehrerseminarien, Volks- und Ackerbauschulen, völlige Trennung der richterlichen von der administrativen Gewalt, gänzliche Reform der Gesetzgebung, ganz besonders volle Verantwortlichkeit der Minister, Verminderung und veränderter Erhebungsmodus der ländlichen Abgaben und Prästanden, Verminderung der Zahl der Schnapsschänken, Organisation des Kreditwesens, Einführung von landwirtschaftlichen Maschinen und Ausbau des Eisenbahnnetzes – und endlich konstitutionelle Formen irgendwelcher Art. Einzig davon, ob Russland den hiermit angedeuteten Weg bald entschlossen und mit ehrlichem Willen betreten oder noch länger zweifelnd und zögernd hin- und herschwanken wird, hängt die Gestaltung seiner nächsten Zukunft ab. Das aber ist vor allem gewiss, dass das ungeheuere Land unter den heutigen europäischen Verhältnissen dem mächtigen Einfluss des Zeitgeistes sich auf die Dauer überhaupt nicht widersetzen und keinesfalls eine »vom modernen Kulturleben abgelöste Insel« werden kann, gleichviel, ob es sich sträubt oder nicht, ob diese oder jene Partei für die nächste Zeit zu massgebender Geltung darin zu gelangen sucht. Und darum dürfte es gut sein, insbesondere denjenigen Leuten, die dem angeblichen Testamente Peter's des Grossen die Richtschnur ihres politischen Handelns entnehmen, den Geist in's Gedächtniss zu rufen, den ein Testament des Gründers von St. Petersburg, wenn es als solches wirklich existirte, ganz sicherlich athmen würde, und sie eindringlichst zu mahnen:

»Der deutsche Laut (in den Namen Schlüsselburg und Petersburg) mag nur immerhin für alle Zeiten die Russen Peter's des Grossen daran erinnern, dass sie dem Ziel, welches er ihnen vorgesteckt hat, getreu sein sollen, und dass sie es nie erreichen können, wenn sie nicht fortwährend die ausländischen und zunächst die deutschen Bildungselemente in sich aufnehmen.«

Freilich erscheint es gerade jetzt mehr als zweifelhaft, ob man in den bestimmenden russischen Kreisen dieser ernsten und ehrlich gemeinten Mahnung sonderliches Gehör schenken wird, – im gegenwärtigen Augenblicke ist Russland nichts anderes, als ein ungeheueres – Fragezeichen ...

 

Druck von C. G. Röder in Leipzig.

 


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