Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Vorwort.

Was wird aus Russland werden? Wie wird es sich der verwegenen, rücksichtslosen Kräfte, welche, wie jetzt nicht mehr zu leugnen, die Ruhe und Ordnung des grossen Reichs in der ernstesten Weise gefährden, erwehren, – und welches wird der Rückschlag der weiteren Entwicklung seiner Verhältnisse auf die Zustände in ganz Europa sein?

Das sind die inhaltschweren Fragen, welche gegenwärtig die öffentliche Meinung aller, selbst der aussereuropäischen, Länder beschäftigen.

Es war eine ungeheuere Aufregung, die sich nach dem Attentate des 13. März der Petersburger Gesellschaft bemächtigte. Die verbrecherische Kühnheit des nihilistischen Treibens, Gerüchte über zahllose Verhaftungen, Minenentdeckungen, allerhand neu zu erwartende, bis zum Aeussersten gesteigerte Repressivmassregeln, bevorstehende grosse Veränderungen in der Staatsverwaltung, – alles dies bildete, in den mannigfachsten und einander widersprechendsten Variationen, den Inhalt der Tagesgespräche, in denen die allgemeine Bestürzung sich wiederspiegelte. Ja, man wunderte sich gar nicht, – wenn nicht etwa über sich selbst, dass die eigenen Nerven so lange Stand hielten – zu hören, dass infolge der furchtbaren Erschütterung, die durch alle Ksreise der Hauptstadt ging, wiederholte Fälle von Wahnsinn konstatirt seien, – was wird noch alles kommen? war die auf allen Gesichtern zu lesende Frage, – was nun?

Diese furchtsame, ungewisse Stimmung ist bis heute geblieben, – nur ist zweierlei noch hinzugekommen: Argwohn und Misstrauen bei den unteren Schichten der Bevölkerung, und eine grenzenlose Apathie, eine Art von verzweifeltem Fatalismus in den höheren Kreisen derselben, in denen man auf das Ausland schimpft, das angeblich den Hauptstamm der Revolutionäre birgt, vor der Zukunft ein Kreuz schlägt und mit den Achseln zuckt. »Schlechter als es ist, kann es nicht werden!« – hört man häufig äussern, und es scheint von der einzigen Hoffnung zeugen zu sollen, mit der man sich trägt, wenn gesagt wird: »Il n'y a rien à faire, il faut laisser marcher les choses, tout cela s' arrangera avec le temps« ...

Selbst die Polizei ist auch jetzt noch völlig rathlos, was sich darin zeigt, dass sie bald mit wahrer Gier nach Verschwörern spürt und eine Verhaftung der andern folgen lässt, bald in der Durchführung der angeordneten Massregeln sehr lässig verfährt. Drei bis vier Tage bleiben die letzteren zuweilen in Anwendung, dann werden sie fallen gelassen oder durch andere Verordnungen ersetzt. Was könnte es noch Furchtbares geben, die Bevölkerung zu überraschen und noch mehr in Schrecken zu setzen?

Das geräuschvolle, geschäftige Leben der Hauptstadt geht seinen Gang, – aber da sieht man hier einen Cordon Militär oder Gensdarmen vorüberziehen, die vielleicht zu einer Verhaftung schreiten, da das Pflaster der Strasse aufreissen und nach Minen suchen, und man erinnert sich des Sturmes, dessen Gewalt man gespürt, und der sich jeden Augenblick aufs neue erheben kann, man fühlt die furchtbare Nähe des Gewitters, – nur weiss man kaum, ob man seinen Ausbruch von unten oder von oben zu fürchten hat. Wer es irgend kann, geht nach dem Auslande, und wem das seine Verhältnisse nicht ermöglichen, sucht wenigstens in den Provinzen ein sichereres Asyl.

Ich glaube in der nachfolgenden Darstellung mit völliger Unbefangenheit die Ursachen gezeigt zu haben, die es allein erklären, wie der Nihilismus in Russland zu einer Wirksamkeit so erschreckender Art gelangen konnte, und ich denke, ich habe damit auch den Beweis geliefert, dass man ihn mit anderen, westeuropäischen Richtungen, deren Prinzipien auf flüchtigen Anblick hin den seinen ähnlich scheinen, nicht ohne weiteres in gleiche Linie stellen darf. Der russische Justizminister Nabokow hat ihn in seiner Anklagerede im Solowjew'schen Prozess selbst als eine von den letzteren infolge seines exorbitant radikalen, völlig anarchistischen Charakters ganz wesentlich verschiedene Erscheinung gekennzeichnet, Oberst Streljnikow, 1879 Procureur des Kiew'schen Militär-Bezirksgerichts, betonte ausdrücklich, dass der Nihilismus »nichts Gemeinsames mit den Lehren und Ansichten« der westlichen Richtungen, die man ihm vergleiche, habe, und auch J. J. Honegger, dem man ein durchaus freies, objektives Urtheil zugestehen muss, bemerkt: »Der Nihilismus ist wieder etwas spezifisch Russisches.« ... Jedenfalls aber ist es absolut unzulässig, bei uns daheim in Deutschland die gerade missliebigen Parteien durch den Hinweis auf ihre angebliche Verwandtschaft mit den russischen Verschwörern vor der Oeffentlichkeit anzuklagen und blossstellen zu wollen und beispielsweise »der politischen Negation in allen Formen«, »mag sie sich nun radikale Demokratie, Fortschritt oder Nihilismus nennen,« die gleichen schlechten Eigenschaften anzudichten, sowie daran ebenso wohlfeile wie seichte, in gewissem Sinne selbst frivole Auslassungen über »moderne parlamentarische Weltverbesserung« anzuknüpfen; wenn aber nun vollends die freihändlerischen Doktrinen und Strebungen den nihilistischen Grundsätzen an die Seite gestellt werden, wie es von einem Theile der deutschen offiziösen Presse geschieht, so kann man das kaum anders als absurd, – als ein leichtfertiges Spiel bezeichnen. Man soll in Deutschland doch ja recht sorgsam jede unnöthige Beunruhigung der öffentlichen Meinung – und etwas anderes sind jene völlig willkürlichen Zusammenstellungen und Parallelen nicht – vermeiden und sich recht sehr hüten, bei dem gemeinen Volke den Schein zu erwecken, als suche man mit ränkesüchtiger Schlauheit die freisinnigen Elemente auf Bahnen hinüberzuschieben, deren Betreten nicht bloss für diese, sondern für uns alle äusserst verhängnissvoll werden müsste ... In diese Kategorie frivoler Unterstellungen gehören auch gewisse von Zeit zu Zeit in einem Theil der deutschen Presse auftauchende Sensationsgerüchte, wie z. B. die neuliche Mittheilung der »Post«, – die es ja überhaupt zu lieben scheint, dann und wann recht aufregende »Briefe«, – »In-Sicht-Artikel« zu bringen – dass sich infolge der angeblich vom Reichskanzler ausgegangenen Anregung zur Beschränkung des Asyls politischer Verbrecher durch die Mächte »eine besondere Erregung der internationalen Mordverschwörer gegen die deutsche Regierung« geltend mache und »in Kreisen, in welchen man um die verschiedenen in Russland geplanten Attentate vorher zu wissen pflegte, das Wort umgehe, es müsse sich ein deutscher Ryssakow finden«, – eine Ausstreuung, welche schon durch die geschraubte Form, in welcher sie sich giebt, das Merkmal einer völlig aus der Luft gegriffenen an der Stirn trägt, und die doch nur den Zweck haben kann, auch in Deutschland eine Erregung der Gemüther herbeizuführen, die ebenso überflüssig und unnöthig wie schädlich wäre. Es dürfte kaum zu verantworten sein, durch solche systematisch betriebene Gespenstermalerei die Köpfe zu erhitzen und, zumal in einer Zeit wie der unseren, der Phantasie des Volkes Bilder nahe zu bringen, die an sich – Gott sei Dank – Schemen sind.

Dem gegenüber lassen es leider die seit dem Attentate gegen Czar Alexander erlassenen Proklamationen der Nihilisten fast zur Gewissheit werden, dass die letzteren durchaus nicht gesonnen sind, ihr verbrecherisches Treiben einzustellen, und eine in der Druckerei des »Tocsin« in London hergestellte und von der Redaktion dieses russischen Revolutionsblattes ausgehende, ausserordentlich dreiste Kundgebung, die jüngst der »Pester Lloyd« zuerst reproduzirte, spricht unter deutlicher Anspielung auf »denjenigen, der unglücklicherweise Alexander's II. Stelle eingenommen hat«, ganz offen aus, dass man »bald sehen« werde, »wem der Sieg vorbehalten, dem Tyrannen oder der Gerechtigkeit! ...«

Was denkt Alexander III. diesen Unausgesetzten, energischen Drohungen gegenüber zu thun, – welchen Weg wird er einschlagen, – und diese Frage hängt ja auf das innigste mit der vorausgeschickten zusammen – um die schweren Schäden, an denen sein grosses Reich krankt, zu heilen?

Ueber zwei Monate sind jetzt seit jenem 13. März verflossen, und nur weiss man erst soviel, dass die äussersten Repressivmassregeln gegen die Verschwörer fortgesetzt werden sollen, dass der neue Czar das »Selbstherrscherprinzip« in vollem, strengstem Umfang aufrecht erhalten will, aber an Einführung liberaler Institutionen nicht im Entferntesten zu denken ist. Man hat freilich dann und wann von Dingen gesprochen, die nach den letzteren aussehen sollten; wirklich geschehen ist nichts, man müsste denn von der dem Militär gnädigst gewährten Freiheit hinsichtlich des Tragens von Bärten reden wollen. Dass heute, im Jahre 1881 nach Christi Geburt, grossmüthig eine solche Erlaubniss in einem europäischen Staate überhaupt erst zu gewähren war, reicht allein für sich schon völlig aus, um über Russland und seine Zustände den Stab zu brechen.

In einem leistet die neueste Regierung in Russland noch etwas Besonderes: die Presse wird durch den schon in den letzten Jahren Alexander's II. wieder erheblich gesteigerten Druck der Censur mehr und mehr eingeschränkt, und die Massregelungen derselben sind an der Tagesordnung.

Man kommt auch jetzt aus dem alten, schon so verhängnissvoll gewordenen System des ungewissen Schwankens, der Neuerungen, die bald Vor-, bald Rückschritte sind, des ziellosen Hin- und Hertastens nicht heraus. Die »Reformen im grossen Stile«, mit denen sich Loris-Melikow trug, sind gerade so weit gediehen, ihre Durchführung war so aussichtsvoll, dass es der »Reformer« für gut fand, die Hand vom Werke zu lassen und zu gehen, – und der, wenn auch nur zum Minister des Innern ernannte, so doch in jeder Hinsicht faktisch an Loris-Melikow's Stelle getretene Graf Ignatiew ist gerade der Mann, die Verwickelungen bis in's Unabsehbare zu steigern, goldene Berge zu versprechen, – um nichts davon zu halten. Er ist das Muster eines russischen Diplomaten, – und man rühmt den Staatsmännern des Ostreichs wohl viel jesuitische Schlauheit, von Ehrlichkeit aber sehr wenig nach ... Der Zweck heiligt das Mittel, – lautet insbesondere Ignatiew's Grundsatz.

Es kann nicht dem mindesten Zweifel unterliegen, dass mit dem vielgewandten Grafen die panslawistische Richtung, die Partei der »Moskauer Zeitung«, Katkow's und Aksakow's an's Ruder gekommen ist, d. h. die Partei des fanatischesten Nationalrussenthums, des Deutschenhasses, der tollen Feindschaft gegen den Westen und seine Kultur. Vor nicht viel länger als einem Monat Hess Aksakow wieder eine feurige Rede gegen diesen »faulen Westen« und seine »Lügenlehren«, an denen sich die Russen »den Magen verdorben«, vom Stapel und schob bei dieser Gelegenheit die ganze Schuld am Nihilismus auf Europa, dessen »westlichen Plunder und Konstitutionalismus, deren nothwendige Folge die soziale Revolution sei.« Unter der sehr distinguirten Zuhörerschaft befand sich auch der nunmehrige leitende russische Staatsmann Ignatiew. Ja wirklich, es fehlt nur gerade noch, dass sich das panslawistische Hirngespinnst wieder mehr ausbreitet, um den Russen jeden klaren Einblick und Ausblick zu nehmen, dass dieser Geist sich höher und höher emporreckt und sich spreizt, um das russische Chaos noch mehr durcheinander zu wühlen und es zu einem völlig bodenlosen und undurchsichtigen zu machen. Kein Wunder, wenn infolge jenes neuesten Vorgangs, der Ernennung des Grafen Ignatiew, die Gährung in Petersburg und im ganzen Reiche von Tag zu Tag zunimmt, hunderte von Gerüchten sich kreuzen und durcheinander schwirren, der Handel sich mehr und mehr beunruhigt und die Lage eine immer ungewissere wird.

In Deutschland wird man gut thun, sich gar keiner Täuschung hinzugeben: alles in Russland spitzt sich auf einen Zusammenstoss mit uns, – mit dem deutschen Geiste, auf ein gewaltsames Vordringen gegen den deutschen Einfluss in kultureller und politischer Hinsicht zu. Was sind in Augenblicken, wie die jetzigen, wo der neue Czar die Beileids- und Freundschaftsbezeigungen von Seiten Deutschlands doch nicht ohne weiteres mit kriegerischen Herausforderungen beantworten kann, offiziöse Versicherungen? – Das Band, das die beiden Nationen während der letzten Zeit wenigstens äusserlich – denn die Volksinstinkte sind sich im tiefsten Grunde zuwider – verknüpfte, hat mit dem Hingang Alexander's II. seine Haltbarkeit zum grössten Theil verloren, – das ist die bestimmte Ueberzeugung aller Einsichtigen, die in der Lage sind, ohne Nebenrücksichten urtheilen zu können, und niemand in Russland, der offenherzig ist, wird zu leugnen wagen, dass man sich jenseits der Memel einer stürmischen Zukunft gegenüber fühlt. Wenn freilich die neue Regierung glaubt, durch einen kriegerischen Ausbruch den sie bedrohenden unheimlichen Kräften eine andere Richtung zu geben, die angesammelten Leidenschaften abzulenken, so irrt sie sich darin ganz entschieden; denn allem Anscheine nach würden die nihilistischen Parteien gerade die durch einen Krieg herbeigeführten Umstände der Ausführung, dem Erfolg des geplanten allgemeinen Volksaufstandes besonders günstig und förderlich erachten (vgl. den S. 61 angezogenen Eingang der nihilistischen Skizze »über die revolutionäre Bewegung in Russland«). Russland aber im Krieg, Russland in der Revolution: – die Folgen davon für ganz Europa würden unberechenbar sein ...

Ende Mai 1881 .
Der Verfasser.

 

*

 


 << zurück weiter >>