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Nun wartete die Witwe Thoma schon Wochen. Aus Rom, der großen Stadt in Italien, wo Seine Heiligkeit Papst Pius X. thronte, war der Brief gekommen, der der Mutter verhieß, daß nun bald ihr Sohn bei ihr sein werde. Ihr Joseph, ihr Letztgeborener!

Und mit ihr wartete das ganze Dorf. Wie eine frohe Botschaft war es durch die Stille von Hof zu Hof geflogen; wie eine Verkündigung war es hinter die Hainbuchenhecken, die, giebelhoch, Haus und Stall und Weide gegen Sturm und Schnee, gegen die ganze Welt schützen, gedrungen. Hell klang es wie Posaunenton, feierlich und froh zugleich: der Joseph Thoma, der nun schon an die sieben Jahre zu Rom geistlich studierte, der im St. Petersdom schon die Weihen empfangen hatte, der kam nun her aus der weiten Ferne, um hier, in der kleinen Kirche des Heimatdorfes, seine erste Messe zu lesen und allen Gläubigen Gruß und Segen zu entbieten vom heiligen Vater der Christenheit.

Glückliche Mutter!

Da war kein Weib im Dorf, das nicht die Witwe Thoma selig gepriesen hätte. Gesegnete Mutter, deren Schoß einen solchen Sohn getragen hatte! Begnadete Mutter, die es erleben durfte, daß er im Priestergewand zu ihr eintrat! Selige Mutter, die im Sohn, den sie liebte, zugleich den Geweihten des Herrn verehren durfte!

Alle die braunen, stattlichen Jungen, die das Vieh versorgten, das Heu mähten, die Kartoffeln hackten, den Torf fuhren, galten den Müttern jetzt nichts. Ja, die Witwe Thoma, die hatte einen Sohn! Das war einer, auf den man stolz sein konnte!

Ein armer Junge war er gewesen wie die andern auch, auf der gleichen Schulbank hatte er gesessen mit denen, die jetzt als Mäher, als Torfstecher, als Waldarbeiter sich plagten oder hinunter in die Fabriken rannten, dort am Webstuhl saßen, gebückt und krumm; alle, alle waren sie das geblieben, was ihre Väter auch gewesen waren, nur er, er allein war auserkoren.

Mit Genugtuung warf sich am Sonntag beim Glase Dünnbier manch einer in die Brust: o ja, er war auch mit dem Joseph zusammen in die Schule gegangen, und gute Freunde waren sie immer gewesen, und klug war er schon dazumal. Wer weiß, am Ende wurde der noch einmal ein Kardinal!

Ein anderer wußte es für gewiß, daß der Joseph dann dem Dorf eine neue Kirche bauen lassen würde, groß wie der St. Petersdom, einen herrlichen Eifelerdom, der bekannt wurde durchs ganze Land.

Alle hatten sie ihre Vermutungen, ihre Erwartungen, ihre Hoffnungen, und alle waren sie sicher, der Joseph würde ihnen erfreut die Hand schütteln: ›Tag zusammen! Ei, guten Tag, Peter! Tag, Mathes! Tag, Klos! Was macht denn deine Schwester, dat Zuphie? Geht sie noch Lumpen sortieren in die Fabrik?‹ Und: ›Tag auch, Huppert, was macht denn dein Schatz, et Mariechen? Was, verheirat seid ihr als lang? Kotztausend! Drei Kinder habt ihr als, und weischen taufen. wollt ihr als bald wieder? Ei, wenn't 'ne Jung wird, dann nennt hän doch ›Joseph‹; et wird mich sehr freuen!‹

Die Mädchen waren voll einer brennenden Neugier: wie mochte er aussehen, der Pater Joseph, der einstmals mit ihnen auf dem Schlitten den Hang hinuntergesaust war, daß sie rechts flogen, er links, und sie alle miteinander die Beine gen Himmel streckten? Oftmals hatten sie sich geknufft und mit Schneeballen, in die Steine gedreht waren, in den Nacken geworfen, aber später, als sie schon größer waren und verständiger, und er auswärts auf einer höheren Schule lernte und nur zu den Ferien heimkam, da hatten sie sich auch oftmals geküßt; abends hinter der Kirche oder draußen auf den Viehweiden hinter den Hecken. Da gab's nicht eine, die sich von dem feinen und hübschen Jung nicht gern hätte ein ›Bützchen‹ Küßchen. gefallen lassen.

Das war ja nun alles lange vorbei, aber die Erinnerung daran war geblieben. In der Stille des eintönigen Dorflebens, in dem nur der Wechsel von Winter und Sommer das Ereignis ist, lebte der Joseph so lebendig, als sei er erst gestern aus den Ferien geschieden, rundwangig und braun, mit zögernden Tritten das Pflaster stampfend, die Augen voller Tränen beim schmerzlichen ›Adjüs‹.

Jene Gespielinnen des Joseph, die verheiratet und schon Mütter waren, erhofften sich dazu heimlich noch eine ganz besondere Gunst von dem geistlichen Herrn. Da war manch eine, die ein ›Josephchen‹ hatte, das mußte er doch ganz besonders segnen, denn einer jeden kam es nun so vor, als habe sie ihren Knaben nur nach dem Joseph Thoma ›Joseph‹ genannt.

Die Stube der Witwe Thoma wurde nicht leer von Besucherinnen. »Hela! Wann kömmt hän dann, Euren Joseph?« Hatte er denn nichts Genaues geschrieben, den Tag und die Stunde? Je, was dauerte das so lang!

Dann holte die Witwe Thoma jedesmal mit spitzen Fingern den Brief des Sohnes aus der Kommode unter dem Muttergottesbild, wischte sich die Augen mit dem Zipfel der Schürze und las zwinkernd und stockend und heiß und rot die Zeilen, die sie doch längst auswendig wußte. –

Sie hatte alles schon fertig für ihn. Ihr Haus mit dem tiefhängenden Strohdach, das bunt war von Moos, war schön neu geweißt, die braun gestrichenen Balken hoben sich kräftig ab; das Gadder mit dem Klopfer zeigte frisches Grün, die Brettertür der Scheune ein freudiges Tiefblau. So froh lag das farbige Haus hinter der jung treibenden Hainbuchenhecke, als wären nie Stürme und Regen darüber hingesaust, als hätte man den Hauswirt, den Leonhard Thoma, nicht schon zu früh durch den Heckenausschnitt auf die lange Dorfstraße und von da zum Kirchhof getragen.

Wenn der Leonhard das noch erlebt hätte! Das sagte sich die Witwe mit Wehmut und Freude zugleich, wenn sie morgens ihre Kühe auf die Weide hinaustrieb, wenn sie sie abends wieder hereinholte, wenn sie dem Briefträger, der von der Station heraufkam, ein gut Stück des Wegs entgegenlief, wenn sie nachts wachlag, vom Pochen ihres Herzens aufgeweckt. Er kam jetzt, der Joseph, der Joseph – wie sollte sie nun so ganz allein all diese Freude tragen?!

Da waren freilich noch die Geschwister. Aber der Lennerd, der Älteste, der die Wirtschaft führte, der wollte demnächst eine junge Frau ins Haus holen, des Försters Tochter oben aus dem Venn, der war so verliebt in seine Angenies, als wäre er noch so viel in den Zwanzig, wie er in die Dreißig ging. Und die Els und das Drückchen waren schon verheiratet, hatten selbst Kinder, fühlten auch nicht mehr mit. Und der Gerred war bei den Soldaten geblieben, und der Bärtes war Werkführer zu Steele in einer großen Fabrik. Sie hatten alle gar nicht mehr so recht den Sinn. Wenn sie auch stolz auf den Bruder waren: wie sie, die Mutter, so fühlte doch keines von ihnen!

Els und Drück waren aus ihren Häusern gekommen und hatten beim Reinmachen geholfen; es war kein Plätzchen zwischen Dachsparren und Kellersohle, das nicht mit Sand und Seife bearbeitet worden wäre und mit Wasser beschwemmt. Alle blanken Kessel waren noch blänker gerieben worden, die alten verbuckelten Melkgefäße glänzten wie pures Gold. Und nicht nur außen war das Haus frisch geweißt worden, auch innen hatte der Lennerd in Stall und Flur gekalkt, und ein feiner Tapezierer aus der Stadt hatte die große Stube unten, wo sie essen würden bei der Primiz, mit einer schönen Tapete ausgeklebt; und auch oben die Giebelstube, darinnen der Joseph schlafen sollte, hatte eine Tapete, hellblau mit lauter Rosenknospen, gekriegt. Das kostete alles viel Geld, aber an solch einem seltenen Fest durfte man die Spargroschen nicht festhalten; zudem hatte die Maiblume, die braune Kuh, ein herrliches Kalb geworfen, das würde man denn eben verkaufen, wenn's nicht anders war.

Das Schwein, das eigentlich für des Lennerd Hochzeit gemästet worden war, wurde jetzt schon geschlachtet. Jedes Ei sparte die Mutter auf, und jedes Stück Butter, das sie am Essen abknappen konnte, drückte sie in den großen Steintopf – das war alles, alles fürs Kuchenbacken zu der Primiz.

Lennerd war gutmütig, sonst hätte er wohl aufbegehrt, daß sein Essen jetzt so wenig geschmälzt war. So aber fand er es ganz gerechtfertigt, daß die Mutter zusammenscharrte auf das große Fest; etwas würde ja doch noch übrig sein für seinen Hochzeitstag. Im geheimen trug er sich mit einem großen Wunsch, aber er wäre nicht so kühn gewesen, ihn jemandem zu offenbaren, der Mutter am allerwenigsten; die hätte es gewiß ganz unverschämt gefunden, daß er sich's anmaßte, mit seiner Angenies vom geistlichen Herrn Bruder getraut zu werden.

Sie erwarteten sich alle etwas.

Der Gesangverein, den der Lehrer leitete, hatte jetzt alle Abend Übung. Es war ein hartes Stück Arbeit, diese Kehlen harmonisch zu stimmen, die Wind und Wetter und der Staub im Websaal und der Rauch der Schlöte heiser gemacht hatten.

Über die stille Dorfstraße, die unterm Sternenhimmel ihren weißlich schimmernden, gewölbten Buckel dehnte, irrten oft noch um die Mitternachtstunde verworrene Klänge; Klänge von Liedern, Klänge der heiligen Messe. Vom Schulhaus kamen sie her. Da mühten die müden Arbeiter des Tags, die reifen Männer sich ab wie Kinder, noch am späten Abend die Einsätze zu erlernen, sich nicht zu verwirren beim mehrstimmigen Chor, den Ton reinzuhalten und stark und schwach, wie es erforderlich war. Sie, deren kaum einer die Noten kannte, hielten andächtig in schwieligen Fäusten die Notenblätter, entzifferten mit trüben, schlafbedürftigen Augen den darunter geschriebenen Text, lauschten mit gespitztem Ohr der Melodie, die der Lehrer auf der Violine unermüdlich vorgeigte, und merkten zugleich angestrengt auf den Küster, der, trotz der dünnen Altmännerstimme, wegen seiner langen Übung doch noch des Chors Stütze war. Rauh und ungefügig drangen das Kyrie eleison, das Gloria und Credo aus den Schulstubenfenstern hinaus in die lauschende Nacht; aber der Wind, der da leise ging, nahm die Klänge auf seine Schwingen und wehte sie hin übers schweigende Dorf, über Weiden und Gründe und über betaute Tannen hinauf zum Venn und noch höher hinauf zum Sternenzelt. Und das Sanktus und Benediktus verklärten sich, wurden reiner und edler, je höher er sie trug, bis sie eins wurden mit der Harmonie der Nacht, bis das Agnus Dei verschmolz mit dem großen heiligen Einklang von Himmel und Erde.

Und wenn die eifrigen Sänger dann endlich nach Haus schlichen, um beim frühen Hahnenkrähen schon wieder sich aufzuraffen, dann fühlten sie doch ihre Müdigkeit kaum, dann waren sie alle stolz und gehoben. Wer hätte nicht mitsingen mögen am Fest der Primiz: ›Gebenedeit sei, der da kommt im Namen des Herrn!‹

* * *

Frühlingsglanz lag über den begrünten Hecken des Venndorfs, als der Pastor und der Lehrer miteinander den Weg zur Bahnstation machten. »Se jehn erunter, hän holen,« sagten die Leute, hielten still am Weg und guckten den beiden nach.

Beide Herren waren in Sonntagsröcken, auf ihren Gesichtern lag eine gewisse Feierlichkeit. Es war doch immerhin kein kleines Ereignis, den Joseph Thoma, den einstmaligen Schüler, dem der Pastor das erste Latein beigebracht hatte und der Lehrer in seinen wenigen Mußestunden Geschichte und Mathematik – alles das aus uneigennütziger Freude am hellen Kopf – diesen Joseph, den Sohn des Dorfes, nun begrüßen zu dürfen als geistlichen Herrn.

Während der Stunde Wegs, die sie zu gehen hatten, unterhielten sie sich nur vom Joseph. Sie sprachen mit Genugtuung, mit einer tief inneren Befriedigung, die ihren Augen einen blanken Schimmer von Freude lieh. Ob das wohl aus dem Joseph geworden wäre, wenn sie beide nicht frühzeitig seine Begabung erkannt und ihm zu den Stipendien verholfen hätten, die allein es dem Dorfjungen ermöglicht hatten, zu lernen, sich zu bilden, einzutreten ins Priesterseminar?!

In einer gewissen Verlegenheit fuhr der Pastor sich durch das schlohweiße Haar: der Joseph sollte ja sehr gelehrt sein, versprechen, eine Leuchte zu werden in der katholischen Wissenschaft – nun, der würde ihm ja wohl nicht alsogleich auf den Zahn fühlen!

Unwillkürlich griff des Greises Hand, wie eine Stütze suchend, nach dem Arm des Lehrers. Dieser war noch ein gerader und aufrechter Mann, wenn auch sein Haar grau im Wind flatterte; seine starke Hand hatte der Joseph einstmals zu spüren gekriegt. Dem war auch jetzt nicht so bange.

»Voran, Herr Pastor!« sprach er, »Sie sind wohl müd? Gleich sind wir da, gleich haben wir ihn!« – –

Und noch eine andere war unten an der Bahnstation, den Joseph abzuholen. Das war die Mutter.

Schon vor Stunden war die Witwe Thoma von Haus aufgebrochen; viel zu früh, längst schon war sie hier. Den Lennerd, der sie hatte begleiten wollen, hatte sie zurückgewiesen. Allein, ganz allein wollte sie ihren Sohn empfangen. Nun gab es ihr einen Stich; ein eifersüchtiger Schmerz durchzuckte sie, als sie Pastor und Lehrer sah. Die kamen auch, den Joseph zu holen! Rasch ging sie beiseite, hinter das Bahnstationshaus. Aber dann war es ihr doch ein Stolz, daß der Herr Pastor und der Herr Lehrer selber kamen.

Zwischen den Felsen der Talschlucht, durch deren Spalt sich das schmale Bahngleis windet, zwängte sich jetzt Dampf heraus, zerfetzt und flattrig; noch sah man den nahenden Zug nicht, aber donnern hörte man ihn schon. Jetzt befuhr er die Brücke über dem Bach – jetzt bog er um die schwarze Felsenecke oben – jetzt rasselte er nieder ins sich erweiternde Tal, lang und schwarz. Ein nervenerschütternder Pfiff – jetzt, jetzt!

Der Mutter stand das Herz still – jetzt war er angekommen, ihr Joseph!

Sie sah nichts, die Sonne blendete so. Die stand am lichtblauen Himmel so klar, wie sie selten über dem Venngebiet steht. Sonst war es um diese Zeit oft noch wie Winter, grau und kaltfeucht; dieses Jahr war alles schon sonnig und warm.

»Kennen Sie's noch?« fragte lachend der Lehrer und wies hinauf zur Höhe, wo neben der Kirche das Schulhaus steht, nicht wie die übrigen Dorfhäuser hinter Hecken versteckt, sondern weithin sichtbar, ein dunkler Steinwürfel mit glitzerndem blauem Schieferdach.

»Meine Augen haben etwas gelitten,« antwortete flüchtig lächelnd der Heimgekehrte, dessen schlanke Gestalt noch länger, noch schlanker erschien im römischen Priesterkleid, im langfaltigen schwarzen Rock, mit der zur Seite geknüpften langen Schärpe. »Ich sehe nicht mehr so scharf wie früher!«

Er sprach mit einer eigentümlich deutlichen Betonung der Endsilben und als hinge noch ein e hinten an jedem Wort, fast wie bei dem Italienischen, das dadurch etwas Singendes und Rhetorisches in sich trägt. »Sie haben es noch kalt hier. Bei uns war es schon bedeutend wärmer!« Er fröstelte und kniff leicht die geröteten Lider zusammen.

Was – was hatte er denn – sah er denn nicht mehr gut?! Die Witwe Thoma, die zur Seite des Weges, hinter der Hecke, die Weide und Straße trennt, unsichtbar nebenher schlich, kam eine jähe Angst an. Sah er wirklich so schlecht, ihr Joseph? Jesus Maria, sein Augenlicht mußte sehr gelitten haben, es mußte schwach sein, viel schwächer als das ihre noch. Sie hätte ihn doch durch die dickste Hecke hindurch erkannt – und er sah sie nicht!

Jetzt blieb er stehen, holte Luft – jetzt sah er sich um. Da faßte sie sich ein Herz. Ob der Herr Pastor, ob der Herr Lehrer neben ihm gingen, sie war seine Mutter, sie hatte doch auch ein Recht! Und hastig sich durch eine Lücke der Hecke zwängend, stürzte sie auf den Weg und stand plötzlich vor ihm, tief Atem holend, sah ihn an und sagte kein Wort.

Der junge Priester blickte ein wenig erstaunt.

Da schrie sie laut: »Joseph!« fiel ihm an die Brust und küßte ihn sonder Scheu. Sieben Jahre, sieben lange Jahre war er in Rom gewesen, aber er war doch noch immer ihr Sohn, ihr Jüngster, den sie mehr liebte, als alle die Kinder vor ihm. Wie war er gewachsen, und wie war er blaß geworden!

Zitternd strich sie mit der arbeitsharten Hand seine zarte Wange, und dann, als habe sie sich vergessen, errötete sie tief bis unter ihre eisgrauen Haare, bückte sich hastig und küßte demutsvoll die Hand, die so weiß in den Falten des schwarzen Priesterrocks hing – der Herr Sohn.

Pastor und Lehrer sahen es voller Rührung! Das war ein Wiedersehen nach so langer Trennung! Die gute Frau, wie froh sie war! Sie schüttelten ihr die Hand und beglückwünschten sie.

Wie eine selige Braut an ihrem Ehrentag, so schritt die Mutter an der Hand des Sohnes dem Dorf zu. Er hatte sie auch geküßt; auf ihrer erhitzten Stirn hatte sie seine Lippen gefühlt, diese Lippen, die so bartlos waren, daß es sie unter deren Kuß seltsam fremd durchschauerte. Fest wie ein liebendes Mädchen die Hand des Geliebten, umklammerte sie des Sohnes Hand. Er ließ ihr die seine, aber vorm ersten Haus gab sie ihn von selber frei: das paßte sich nun nicht mehr, daß sie Hand in Hand mit ihm über die Gasse schritt! Die Leute sahen's ja auch so, wie glückselig, wie begnadigt sie war!

* * *

Die Glocken im Dorf läuteten diesen Samstagabend länger als sonst, eine volle Stunde, und wenige Ruhepausen nur gönnte sich des Glöckners ermüdeter Arm. Es läutete, läutete immerfort. Morgen war der große Tag, morgen war ein Festtag für alle, morgen war Primiz!

Schon waren fremde Geistliche ins Dorf gekommen und beim Herrn Pastor abgestiegen; nicht nur die beiden Pastoren aus den Nachbarpfarreien, sogar ein geistlicher Herr, ein ganz hoher, aus der Abtei zu Cornelimünster. Sie alle würden dem Primizianten, wenn der seine erste heilige Messe las, zur Seite stehn. Vier Geistliche am Altar der kleinen Dorfkirche auf einmal, wer hatte je so etwas Festliches erlebt?!

Die Häuser unweit der Kirche: das Schulhaus, das Wirtshaus und die Bürgermeisterei, hatten geflaggt. Kleine, schmale, dünne Fähnchen, die aufgeregt bei jedem Windhauch flatterten; aber weit leuchteten die päpstlichen Farben im Abendsonnenglanz.

Frauen trugen langgehegte Blumentöpfe in die Kirche, Kinder schleppten Körbe voll Tannengrün. Die ersten schüchternen Blumen waren in die Girlanden hineingebunden: gelbe Narzissen, die wie goldene Sterne im Moor leuchten, und zartes Wiesenschaumkraut, das, kaum gepflückt, schon vergeht. Stark roch das kräftige Tannengrün; der Küster, der die Gewinde anschlug, war wie betäubt vom Duft. Die Wälder schickten ihren Weihrauch zur Primiz. Die ganze Kirche war erfüllt davon, es hätte keines andern Räucherwerks bedurft. Daß die alte Kirche so schön noch sein könnte, hatte selbst der Herr Pastor, der das Werk seines Küsters nachprüfen kam, nicht gedacht. Das beste Gerät war herausgetan, auf dem Hochaltar lag die neue, von der Frau Bürgermeister mit vielen Hohlsäumen ausgenähte Decke. Die Statue der Gottesmutter auf dem Seitenaltärchen trug statt des weißen, von den Fliegen schon arg versehrten Rosenkranzes einen neuen auf dem mildlächelnden Haupt. In der Sakristei lüfteten die besten Stolen und Meßgewänder, und durch all die kleinen, bleigefaßten trüben Scheiben fiel ein so sieghafter Sonnenschein, daß Kanzel und Altar wie verklärt standen.

Auch das Haus der Witwe Thoma war umkränzt.

Dünne Festons mit blauen und roten Papierblumen hingen zwischen den Fenstern der nach der Straße gekehrten Giebelwand, und selbst die Stallseite, halb verhangen vom tief sich senkenden Strohdach, hatte einen Feston abgekriegt. Über dem Gadder baumelte ein Kranz mit der Inschrift: ›Willkommen in der Heimat!‹ Das hatten sich die Nachbarn so schön ausgedacht, um das Nachbarskind zu erfreuen.

Im Flur, der zugleich die Küche war, hatte man einen neuen eisernen Herd aufgestellt; wie sollte man denn auf dem altmodisch gemauerten, auf dem das Feuer seinen Rauch noch offen hinaufsandte in den geschwärzten Rauchfang, in dem die Speckseiten schaukelten, all das braten und kochen, was morgen nottat?! Die Kuchen freilich, die waren schon gebacken: Reiskuchen, Grießkuchen, Käsekuchen mit Sirup darauf und Korinthen darin. Aufgereiht, in mächtigen Fladen, standen sie schon auf dem mit weißem Linnen festlich gedeckten langen Tisch drinnen in der Stube.

Die Witwe Thoma hatte einen hochroten Kopf, sie hatte alle Hände voll zu tun. Die Töchter waren auch zu gar nichts nütze! Oder war sie nur so unwirsch, daß sie die Els und das Drückchen immer beiseite schob, ihnen alles aus den Händen riß und einen herrischen Ton anschlug, der ihr sonst ganz fremd war? Wie ein Kreisel drehte sie sich um sich selber; was sie eben noch hatte vornehmen wollen, hatte sie jetzt schon wieder vergessen. Es war zu viel für ihren alten Kopf – alle die geistlichen Herren morgen zum Mittagsmahl! Jesus Maria, wenn nur alles auch lecker war, die Braten nicht anbrannten, der süße Reis auch süß genug war und nichts versalzen! Man war es doch nicht gewohnt, so was Feines zu kochen.

Ihre Füße brannten; die ganze vorige Nacht war sie in kein Bett gekommen; aber das machte nichts, sie hätte ja doch nicht schlafen können. In ihr war eine große Unruhe. Ihr Leonhard selig hatte vor seinem Tode oft geklagt, das Herz quäle ihn so, das klopfe gegen die Rippen, wie der Specht mit dem Schnabel gegen die Baumrinde hämmert – so tat es das ihre nun auch. Das kam von der Freude. Ja, ja, die Freude machte das, all die Freude! So große Freude kann ja kein Mensch aushalten. –

Die erste Nacht daheim hatte der Joseph wunderherrlich geschlafen; als sie abends an der Tür der hellblauen Giebelstube lauschte, hörte sie seine ruhigen Atemzüge. Mit verklärtem Gesicht hatte sie draußen gestanden und gelächelt: ja, es schlief sich doch sanft daheim! Und wie gut war er mit Bruder und Schwestern. Der Lennerd war doch nur ein einfacher Bauer, aber er hatte ihn auf beide Wangen geküßt, und den Schwestern hatte er die Hände gereicht, und als deren Kinder mit Sträußchen gekommen waren, hatte er ihnen die Hand aufgelegt und sie gesegnet. Ach, der Joseph! Sie konnte es nicht fassen, das Glück mit dem Joseph.

Ein Zorn über sich selbst kam die Mutter an, sie schrie ihr Herz förmlich an: Still! Das sollte nicht so klopfen. Was war sie doch so dumm, daß sie gemeint hatte, ihr Joseph müsse noch gerade so sein wie ehemals! Wie dazumal, als er in die Ferien heimkam: ›Mutter, essen! Ha, wat schmeckt dat bei dir eso jut!‹ Jetzt aß er wie ein Vogel. Wahrhaftig, da hatte es sich ja gar nicht gelohnt, das Schwein zu schlachten!

An diesem Samstagabend war sie schon dreimal hinaufgestiegen zur Giebelstube. Er hatte nichts zum Abend gegessen. Sie hörte ihn drinnen mit leisem Schritt auf und nieder gehen – ah, er betete, er bereitete sich vor auf den morgenden Tag. Da durfte sie nicht stören. Und behutsam schlich sie wieder hinab.

Aber es ließ ihr unten keine Ruh. Er tat sich zu viel, der Joseph! Zart war er nur; er strengte sich viel zu viel an. Und sie nahm Milch und Brot, mit Butter bestrichen und mit Schinken belegt, und trug's ihm hinauf. Ängstlich pochte sie an, sie traute sich nicht einzutreten im eigenen Haus.

Auf der Schwelle blieb sie stehen. »Willste nühst essen,« fragte sie schüchtern und ein wenig verlegen lächelnd dabei.

»Danke,« sprach er. »Danke! Ich esse nichts.« Er sagte es freundlich und sanft, aber sie fühlte doch eine Abweisung in seinem Ton. Kaum wagte sie es, ihn noch einmal zu drängen.

Da winkte er mit der Hand, nur leise wehrend, sah aber nicht mehr auf von seinem Brevier, schritt wieder auf und nieder in der Stube und hob seinen Blick nicht mehr.

Das Fenster war geschlossen, das Rouleau mit der Spitze, die die Els gehäkelt hatte, heruntergelassen; kein Strählchen Abendsonne konnte herein. Und in dem Dämmerlicht, das die Stube erfüllte, erschien die schlanke Gestalt im schwarzen Priesterkleid noch schwärzer und höher, viel zu hoch für den niedrigen Raum. Wie bleich seine Stirn war, wie ernst seine Augen blickten, gar nicht, als sei er noch so jung, erst fünfundzwanzig Jahr!

Von einem Schauer der Ehrfurcht erfaßt, kniete die Mutter außen vor der Tür nieder. Während der Sohn drinnen betete, betete sie draußen.

Sie war ganz versunken, sie hatte es nicht acht, daß die Katze leise geschlichen kam, den Schinken stahl und die Butter vom Brot leckte. Die Stirn gegen das Holz der Türe geneigt, lauschte die Witwe Thoma, während ihre Lippen sich betend bewegten, auf des Sohnes Stimme. Wenn er fertig war mit seinem Brevier, ob er dann wohl nach ihr rief? Oder war er ärgerlich ob ihrer Störung? O nein! Aber es dünkte ihr, es wäre ihr doch fast lieber gewesen, er hätte sie angefahren: ›Scher dich eraus!‹ oder ›Haal dei Muul!‹ So grob waren sie ja hierzuland. Er hatte nur abweisend die Hand gehoben. Immer sah sie sie vor sich, diese weiße und wohlgepflegte Hand, die schmal war, mit dünnen Fingern. Wo der Joseph nur die Hand her hatte?! Keins der andern Kinder hatte solch eine Hand. Dicke, kurze, braune Finger hatten der Lennerd und der Gerred und der Bärtes, und bei Els und Drückchen waren auch alle Nägel abgestumpft. Aber er hatte eine schöne Hand, eine wunderschöne Hand!

Eine Inbrunst kam die Mutter an, diese Hand zu küssen. ›Bitt für uns,‹ murmelten ihre Lippen, ›bitt du für uns!‹ – –

Heute abend mäßigte der Lennerd seinen stampfenden Schritt, und die Schwestern in der Küche, samt den Weibern, die zur Hilfe gekommen waren, wagten nur zu flüstern. Wie eine Dämpfung lag es über Haus und Menschen. Selbst Els, die lustigste der Thomas, eine, die gern lachte, machte ein ernsthaft-würdiges Gesicht: oben bereitete der Herr Bruder sich vor auf den morgenden Tag! O, was war er doch ein Stolz für die Familie! Sie fühlten sich alle mit ihm gehoben.

... Die Nacht vor dem Fest war vorgeschritten, verstummt waren hinter den Haushecken die murmelnden Aves von Müttern und Kindern; alle schliefen sanft. Einzig hinter der Hecke der Witwe Thoma blinkte noch Lämpchenschein. Oben im Haus wachte der Sohn, unten im Haus wachte die Mutter.

Frau Thoma betete nicht mehr, sie schaffte, aber all ihr Tun war ein Gebet. Bei jedem Löffel Mehl, den sie einquirlte, bei jedem Ei, das sie zerrührte, bei jedem Stück Speck, das sie zerschnitt, dankte sie Gottvater und der heiligen Jungfrau für den Sohn, den die ihr beschert hatten.

Je näher sie der Stunde kam, in der sie den Sohn am Altar sehen sollte, die Monstranz in der hocherhobenen Hand, der Gemeinde den Segen erteilend, desto demütiger wurde ihre Seele. War sie es denn wert, seine Mutter zu heißen? War sie nicht zu einfältig, zu armselig, zu sündig dazu?! Ach, wenn er jetzt zu ihr einträte, zu ihr ganz allein, hier hinein, wo niemand sonst war, dann würde sie sich doch ein Herz fassen und ihn befragen, ob er sie überhaupt denn noch liebhabe? So lieb wie dazumal, als er vor seiner Abreise ins fremde Rom zum letztenmal bei ihr gewesen war, sie um den Hals gefaßt hatte so zärtlich, wie man's sonst kaum gewohnt ist hierzuland?! Und geweint hatte er, seine Tränen hatte sie verspürt an ihrem Gesicht. Wenn er nun abreiste, wieder nach Rom, ob er da wieder weinen würde?!

Eine Flut von Zweifeln überströmte das einfältige Herz. Aber der verständige Sinn kämpfte dagegen an: ei, Männer dürfen doch nicht wie Knaben mehr sein, und der Joseph, der nun ein geheiligter Priester war, der durfte nicht mehr wie ein Kind an Mutter und Heimat hängen!

Aber warum er sich nur so gar nichts mit ihr zu erzählen hatte?! Wenn der Bärtes und der Gerred nach Hause kamen, dann rannten die gleich in den Stall oder hinaus auf die Weide, besahen alles, fragten nach allem, wollten von jedem wissen, und es war immer so, als wären sie gar nicht fortgewesen. Und die blieben doch auch oft lange fort. Ach, wie konnte sie den Joseph denn nur mit denen vergleichen?! Mit dem Joseph war das doch eine ganz andere Sache. Der war ihr bester Sohn, ihr Stolz, ihre Freude, ihre Gnade von Gott!

Sich demutvoll neigend und sich bekreuzend dabei, stand das Weib in der Küche – da hörte es einen Tritt und erschrak.

Er kam von oben herunter. »Mutter, Ihr seid noch auf?«

Sie stammelte etwas.

»Ihr solltet zu Bett gehn, Mutter! Es ist längst Mitternacht. Ihr werdet sonst morgen zu müde sein.«

O, wie besorgt er war! »Nee,« sagte sie glücklich lachend, »ich bin nit müd!« Und dann wurde sie recht vertraulich: »Herrje, wie hunnerdmal hab ich als eso lang aufjeseffen un für euch Jungens die Buxen geflickt!«

Sie lächelte ihn an, alle Runzeln auf ihrem Gesicht schienen sich zu glätten.

Er lächelte auch; aber es war ein Lächeln, von dem die Seele nichts wußte, ein Lächeln, das die Augen nicht erhellte.

Sie haschte nach einem Blick von ihm, sie lauerte darauf; sie wußte nicht, daß sie ihn ansah wie ein Durstender, der eine Quelle sucht.

Enttäuscht schlug sie ihren Blick nieder. Sie hatte ihn erinnern wollen, wie viele Hosen er zerrissen hatte, als er noch auf die Hainbuchen kletterte, um junge Elstern auszunehmen, und auf die höchsten Tannen kroch nach Eichkätzchen. Und als er noch im Venn Preiselbeeren las und den Kiebitzen die Eier stahl, und noch zwischen den Hecken mit Weidenruten und Pferdshaaren die Drosseln fing, und als er noch ganz so war wie andere Jungen auch. Aber sie erinnerte ihn jetzt nicht.

Er sagte: »Schläft der Bruder schon? Die Schwester auch? Und Ihr allein seid noch wach? Das ist unrecht, Mutter!«

Allein – allein?! Sie war ja gar nicht allein. Er war doch auch noch wach – und er war bei ihr!

Und von der Fülle ihrer Liebe jäh übermannt, vergaß die Bauersfrau alles, was sich schickt, und wie es sich ziemt, ließ den Wasserschöpfer, den ihre Hand grade hielt, fallen, schlang beide Arme um des Sohnes Brust, drückte ihn an sich und schluchzte auf: »Daß ich dich nu wiederhab, daß ich dich nu wiederhab! Wenn das dein Vadder selig noch hätt erlebt, ach der« – sie konnte nicht weitersprechen vor Weinen.

»O ja, es würde ihn auch sehr gefreut haben,« sprach der Sohn. »Wir wollen morgen seiner im Gebet gedenken!«

Heftig fühlte das Weib eine plötzliche Erschütterung: im Gebet gedenken –?! Im Gebet – sicher und gewiß – ja, ja – aber gesprochen vom Vater, von seinem Vater gesprochen hatte er doch noch kein einziges Mal! Und ihr, die ihren Leonhard selig noch immer liebte, obgleich er nun schon mehr als zehn Jahre im Grabe lag, tat es weh im Herzen, wenn sie an den Vater in der einsamen kalten Grube dachte.

Sie ließ die Arme, die die Brust des Sohnes umfingen, sich lockern. Und dann wischte sie die Augen mit dem Schürzenzipfel, rieb sie unsanft trocken: nein, nicht weinen! Sie hatte doch wahrlich keine Ursache dazu!

Schwerfällig setzte sie sich auf den nächsten Schemel. Jetzt fühlte sie's plötzlich: man war alt, man wurde doch leichter müde als zuvor.

Der junge Priester lächelte: hatte er's nicht gesagt, daß sie sich schonen sollte auf morgen? »Zu Bett, zu Bett,« mahnte er. »Damit Ihr Euch morgen recht freuen könnt!« Er machte das Zeichen des Kreuzes über sie. »Der Herr sei mit Euch!« Und dann reichte er ihr die Hand. »Schlaft wohl, Mutter!«

Aber sie schlief nicht wohl. Etwas nagte in ihrer Brust, das ließ sie nicht zur Ruhe kommen.

* * *

Die Glocken läuteten. Es strömte zur Kirche. Von weit her war man gekommen, eine Stunde weit, noch weiter; aus all den Gehöften, die, hinter ihren Schutzhecken versteckt, dem Auge nicht mehr sichtbar, einsam im Heidemeer des Venns sich ducken.

Die Männer waren frisch rasiert; mit den Stoppeln war auch manch Fetzchen Haut hingegangen. Spitz, blaß und verarbeitet guckten die Gesichter der Weiber aus den schweren, von Wolle und Seide gewirkten Kopftüchern, unter denen die noch vollen Wangen der Mädchen röter hervorglänzten. Kinder im höchsten Staat belagerten die Straße. Menschen, Menschen ohne Ende. Feierlichkeit auf allen Mienen.

Das war ja auch ein Fest, wie man ein größeres kaum erleben konnte. Hei, wie mußte es der Mutter des Joseph Thoma zumute sein?! Hela, da kam sie ja einher! Kotztausend, wie stolz! Die tat einen wohl gar nicht mehr kennen?!

Die Witwe Thoma kam aufrecht und langsam die ansteigende, breite Straße zur Kirche herauf. Sie trug ihr bestes Kleid, das schwarze, und ein schönes und buntes Kopftuch, das ihr der Bärtes eigens zu diesem Tag hergeschickt hatte. Rechts und links von ihr schritten die Töchter, auch in schönen, bunten Kopftüchern und schwarzen Kleidern; wie die Mutter hatten auch sie den Rosenkranz ums Gebetbuch geschlungen und trugen das so vor sich her mit beiden Händen. Und wie die Mutter verzogen auch sie keine Miene, lächelten nicht, sprachen nicht, erwiderten nur stumm mit ernsthaftem Nicken die Grüße der Vorübergehenden. Heute waren sie die, auf die sich aller Blicke richteten, heute waren sie Hauptpersonen, heute an diesem Ehrentag!

Auch Lennerd, der mit den beiden Männern der Schwestern hinter den Frauen herschritt, war ernsthaft, kaum wagte er aufzusehen; ihn drückten die neuen Stiefel, mehr aber noch drückte die Ehre ihn. – – – –

Der letzte Ton der Glocke verhallte schon, als die Witwe Thoma erst zur Ruhe gekommen war in ihrer Bank. Unaufhörlich hatte ihr Feierkleid über dem steifen Moirérock gerauscht und geraschelt. Schier unwillig hatten die Töchter von links und rechts nach ihr geblickt: warum war denn die Mutter so wenig andächtig heute?!

Eine fieberhafte Unruhe war in der Frau – gleich kam er aus der Sakristei! Gleich stand er vorm Altar! Sie vergaß das Gebet. Ihre Lippen bewegten sich wohl, aber nicht in den Worten des gewohnten Betens; dieses krampfhafte, unaufhörliche Zittern der Lippen kam von innen heraus. Und brennend heiß wie die Lippen waren die Wangen der alten Frau, auf ihnen flammte es.

Die Orgel spielte vor, voll und kräftig; der Lehrer hatte heute alle Register gezogen. Brausend erklang es vom Chor:

»Kyrie eleison!«

Und um die zitternde Frau brauste es weiter:

»Christe eleison!«

Da stand er vorm Altar! Lang wallte das weiße Gewand ihm auf die Füße, die Stola hing ihm vom Nacken herab über die Schultern. Und rechts von ihm ein Priester, links von ihm ein Priester, und der alte Pastor auch noch dabei. Die Chorknaben waren ihm flink zur Hand, knicksten und knieten und wendeten sich, wohin er sich wendete; setzten das heilige Buch auf dem Ständer bald hierhin, bald dorthin, neigten die Stirnen bis auf die Stufen, beteten an und schwangen Weihrauch, daß er eingehüllt ward in himmlischen Duft. Und wie aus einer Wolke des Himmels erklang seine Stimme, stark und durchdringend – man hätte dem Schmächtigen gar nicht solch eine Stimme zugetraut –: › Gloria Patri et Filio et Spiritui sancto‹ ...

Ja, er hatte auch früher schon so schön Kirche gespielt, immer hatte er das sehr gut gekonnt! Die Mutter neigte das Gesicht tief auf die Hände. Sie hatte ihn oftmals belauscht. Hinter der Scheunentür hatte sie gestanden, durch den Spalt in den Brettern hineingesehn. Da waren der Hund und die Katze und die Schwalben unterm Dach seine Gemeinde gewesen, denen hatte er gepredigt; ein kindisches Geschwätz, aber es war so herzbeweglich gewesen, so lieb. Und auf dem verstreuten Kleeheu hatte er sich niedergekniet, die Händchen gefaltet, die Augen so strahlend gegen die alte Balkendecke aufgeschlagen, daß ihr jetzt noch ganz absonderlich wurde, wenn sie daran gedachte. Noch jetzt fühlte sie, wie ihr Herz sich damals bewegt hatte in Freude und Hoffnung.

Die kniende Frau fuhr sich nach dem Herzen.

Wurde der Mutter unwohl? Die Töchter, die verstohlen nach ihr hinschielten, wunderten sich, wie bleich die Mutter auf einmal wurde; nur zwei glühende Flecke brannten ihr auf den Backen.

Das Kyrie ging vorüber und das Gloria. Die Sänger auf dem Chor strengten sich gewaltig an, so gut hatten sie noch nie gesungen.

Die Witwe Thoma hörte nichts davon. Als seien all ihr Verstand, all ihr Leben nur in den Augen, so hingen ihre Blicke an dem jungen Geistlichen und folgten jeder seiner Bewegungen. Jetzt schritt er um den Altar, jetzt verschwand er in der Sakristei; jetzt erschien er wieder in der prächtigen Kasel, golden prangte das große Kreuz auf seinem Rücken. Wie ruhig und abgemessen er sich bewegte, als hätte er all sein Leben da vorm Altar gestanden. Und wie sicher seine Stimme klang! Die Kirche war schier zu klein für ihren durchdringenden Ton. Und früher, in der Scheune, da hatte der Joseph gezwitschert wie ein Vögelchen. Jetzt – die Mutter empfand das – jetzt war die Stimme hart fürs Ohr.

» Benedictus, qui venit
In nomine Domini

Was, was sangen sie jetzt da oben auf dem Chor? Fast erschrocken starrte das Weib zum Altar hin. Aha, sie begrüßten ihn! Gebenedeit sei, der da kommt im Namen des Herrn!

Ein plötzlicher Stolz schwellte die Seele der Mutter: ja, singt nur, singt, er, der da steht, ist ein Geweihter des Herrn, ein Priester der Kirche, einer, der höher ist als alle Menschen in der Welt!

Hatte der geistliche Herr aus der Abtei zu Cornelimünster eben bei der Predigt nicht auch gesprochen: »Nicht die Heiligen im Himmel, nicht die Engel können euch reinwaschen, wenn eure Sünden schreien blutrot vor Gottes Thron, nicht die heilige Gottesmutter selbst vermag es. Nur der Priester allein, der da steht an Gottes Statt, kann sprechen: ›Ich spreche dich los, deine Sünden sind dir vergeben!‹«

Und ihr Joseph, ihr Sohn, der war so einer, der Sünden vergeben konnte, der da opferte das Brot und bereitete das Opfer des Kelches, der da betete in der Mitte des Altars – o, es war Sünde, etwas anderes von ihm zu verlangen!

Das Glöckchen klingelte, der Weihrauch duftete. Männer, Weiber, alle lagen demütig auf den Knien, nur er, er allein stand aufgerichtet, hoch über allen!

Sie sah nichts mehr, brennende Tränen füllten ihre Augen.

»› Agnus Dei,
Qui tollis peccata mundi,
Miserere nobis!
‹«

Miserere – miserere – das gellte vom Chor herab, das gellte von unten aus dem Schiff der Kirche nach oben zur Wölbung; das gellte aus allen Ecken. Der Mutter Seele wußte nichts mehr von Stolz. Erbarme dich unser! Tief, tief neigte sie die Stirn auf den Rosenkranz. Sie atmete zittrig: wäre es nur schon zu Ende, ach, was dauerte das heute so lang!

Endlich, endlich hob der Priester vor der Mitte des Altars seine Hände, erteilte den Segen mit dem Allerheiligsten Sakrament in der Monstranz. Tief neigten die Weiber die Köpfe in den buntfarbigen Tüchern; ein Blumenfeld, das der himmlische Wind neigt. Alles bekreuzte sich Stirn und Brust. Ein murmelndes Beten erhob sich ringsum.

» Ite missa est!«

Wirr blickte die Witwe Thoma um sich – Gott sei gelobt, nun war es gleich aus! Schweiß perlte ihr auf der Stirn, sie mußte seufzend nach Luft ringen, sie konnte nicht einfallen ins betende Murmeln.

Die Orgel brauste wieder. Es dröhnte mit Jubelton, es erhob sich rings wie Freudengeschmetter: ›Großer Gott, wir loben dich!‹ Alle sangen, sie allein sang nicht mit.

Stumm, den Kopf gesenkt, schritt die Witwe Thoma aus der Kirche. –

Sie kam nicht zu sich den ganzen Tag, sie hatte keine Muße, einen Augenblick nachzudenken. Das Haus hinter der Hecke war wie ein Taubenschlag, ein flog's und aus; es kamen so viele Gratulanten, alle Verwandten und Gefreunde, selbst von weiterher. Stumm saßen sie in der Stube mit verlegenfeierlichen Mienen, tranken ein Gläschen süßen Wein, aßen ein Stück Kuchen, sagten, sie wollten nicht stören, und blieben doch sitzen beim festlich gedeckten Tisch.

Bald nachdem es Mittag geläutet hatte, erschienen die geistlichen Herren. Joseph ging ihnen entgegen bis zur Haustür; sie küßten ihn mit dem Bruderkuß, und dann nahmen sie miteinander Platz an der Tafel. Mutter und Geschwister sollten natürlich mitessen, aber sie hatten so viel zu tun mit Aufträgen und Abtragen, mit Nötigen und Einschenken, daß sie gar nicht zum Sitzen kamen; und es war ihnen auch ganz lieb so, recht behaglich fühlten sie sich doch nicht. Nur der Lennerd mußte drinnen aushalten, er saß oben bei den Herren und konnte nicht leicht zur Tür. Er schwitzte, und verlangend glitt sein Blick, so oft sich die Tür auftat, hinaus, wo draußen in der Küche, rotangestrahlt vom prasselnden Herdfeuer, seine Braut, die junge Angenies, Waffeln buk.

Heute morgen in aller Frühe schon war Angenies erschienen, um hauszuhalten, während die Frauen in der Kirche waren. Aushelfen und arbeiten, ja, das wollte sie herzlich gern, aber um Jesu willen nur nicht hinein in die Stube! Oben in ihrem Venn, unter den schwarzen Urwaldtannen, zwischen den tiefen Mooren kannte sie keine Scheu; da schreckten sie kein Dunkel und kein Sumpfloch, kein Ebergrunzen und kein Hirschbrüllen, kein Sturmgeheul und keine Todeinsamkeit, aber hier, hier! Das Rot auf ihren Wangen verblaßte förmlich, wenn sie daran dachte, daß sie hineingehen und bei den schwarzen Herren am Tisch sitzen sollte. Jesus Maria, nein! Ihren Lennerd konnte sie gar nicht um die Ehre beneiden. Aber wart, nachher, wenn alles vorbei war, dann wollte sie ihn in ihre Arme nehmen, ihn entschädigen für so viel Ehre, die er ausgestanden hatte!

Ein Lächeln lag auf ihrem blühenden Gesicht, heiter sah sie auf ihr Waffeleisen. Ach, was lag ihr daran, daß der Herr Bruder sie nun nicht trauen würde, wie der Lennerd sich's so gewünscht hatte! Was bekümmerte es sie, daß der geistliche Herr so bald schon wieder abreisen würde, viel eher, als es jemand gedacht hatte! Wenn sie nur überhaupt bald getraut wurde mit ihrem Lennerd! Die Zeit wurde ihr lang.

Sie summte ein Liebeslied. Da rückten drinnen die Stühle, und sie verstummte jäh. Wohin sollte sie sich flüchten?! Gott sei's gedankt, es war nur die Schwiegermutter! Die kam heraus, ganz außer Atem und dunkelrot.

»Angenies, mach rasch, jetzt wollen die Hähren den Kaffee! Rasch, den Kaffee un Waffeln derbei!«

Was war die Angenies froh, daß sie nicht die Schwiegermutter war. Alle Weiber im Dorf beneideten die Witwe Thoma, Angenies konnte sie nicht beneiden. O, es mußte gar nicht leicht sein, einen geistlichen Herrn Sohn zu haben!

Es war Mitleid in der Fürsorglichkeit, mit der das Mädchen der alten Frau Kaffee und Waffeln auf das Tablett stellte, das die zitternden Hände ungeschickt hielten. »Ihr seid janz durchenander – jebt obacht – eso!«

»Du bis jut, du bis jut!« Die alte Frau nickte und lachte; aber es war, als hätte sie lieber geweint denn gelacht.

... Nun hatten sie drinnen den Kaffee getrunken, nun gingen sie alle miteinander noch einmal zur Nachmittagskirche, die Glocke läutete schon. Frau Thoma atmete auf. Sie war nicht mitgegangen, am Nachmittag brauchte sie das ja nicht. Nun konnte sie doch niedersitzen und zu sich selber kommen und zu ihrem Leonhard. Immer wieder zog es ihre Gedanken zu dem einsamen, kalten Grab.

Still hockte sie in einem Winkel der Küche, wo die junge Angenies unter schallendem Singen die Töpfe scheuerte, damit es wieder von neuem ans Braten gehen konnte zur Abendmahlzeit. Der lustige Mädchengesang wurde der alten Frau schier zur Qual. Die schmetterte ja wie ein Vogel zur Lockzeit – ja, ja, die hatte noch keinen Sohn unter Schmerzen geboren!

Die Mutter schüttelte verwirrt den Kopf, und dann schlich sie hinaus zur Küche, nebenan in den Stall. Dort stand sie lange regungslos in der geöffneten Stalltür, sah durch die Lücke der Hecke hinaus über Weide und Anger und fühlte es nicht, daß von da ein Frühlingslüftchen sich herstahl und ihre verwelkte Wange küßte. Sie fühlte sich unendlich müde heute, so wunderlich müde wie einer, dem's gar nicht unlieb wäre, einzuschlafen und nicht mehr aufzuwachen. Schwere Gedanken, deren Grund sie nicht wußte, bedrückten sie.

»Jesus, Maria, Joseph!« Mit einem Stoßseufzer wankte sie zurück in den Stall, hinein zu ihrem Vieh. Da stand die Maiblum, der man den Tag, bevor der Joseph gekommen war, das Kalb wegverkauft hatte, drehte den Kopf beim Geräusch der Tritte wie suchend herum und brüllte klagend.

»He, Maiblum,« sagte die alte Frau. Und dann noch einmal ganz weich: »Ja, ja, Maiblum!«

Die mußte besonders gut gefüttert werden und auch ein wenig geliebkost! Sie ging hin und klopfte der Kuh den glatten, braunen Rücken: die suchte ja noch immer ihr Kalb, das man ihr wegverkauft hatte, vier Stunden weit weg!

* * *

Die Sterne blinkten am Himmel, als ein heimliches Sichregen im Dorf begann. Wie Diebe schlichen sie sich hervor unter ihren tiefhängenden Dächern hinter den dunklen Schutzhecken. Männer und Weiber, Burschen und Mädchen tuschelten und schienen freudig erregt, und die Kinder, die auch mitrannten, lachten und wurden zur Ruhe gewiesen und konnten ein heimliches Schwatzen voll froher Neugier nicht unterlassen.

Alle strebten dem Haus der Witwe Thoma zu. Der Lehrer erwartete sie dort schon, er sortierte seine Leute: vorn hin die Sänger, rechts und links von diesen und dahinter die Laternenträger. Ah, wie die bunten Ballons, die die sechs Mann trugen, rot, blau, grün und gelb schimmerten und rund waren wie riesige Kürbisse – ah, das war einmal wunderschön! Die Knaben und Mädchen reckten sich auf den Zehen, jedes von ihnen wollte recht nahe daran sein. Welch eine Pracht!

Im Eingang der Hecke, vor der Tür des Hauses, das heute so hell dalag wie sonst nie, stellten sie sich auf. St, nur leise! Kein Räuspern durfte sich hören lassen, kein Tritt auf den Pflastersteinen.

Glücklich der Junge, dem es gelungen war, am verknoteten, knorrigen Astwerk der Hecke ein wenig hinanzukriechen; glücklich das Mädchen, das einen Prellstein ergattert hatte, um sich darauf ein wenig erhöht zu stellen! Dicht drängte man sich und dichter.

Kein Flüstern war hörbar, alles still, feierlich still; nur der Nachtwind säuselte in der Hainbuchenhecke und raschelte mit den dürren Blättern vom vorigen Jahr. All diese Menschen, jung und alt, harrten stumm; all diese Herzen, deren sonst so ruhiger Schlag heute aus dem Gleichmaß gekommen war, pochten erwartungsvoll: was würde der Joseph dazu sagen, wie würde der Joseph sich darüber freuen?!

Das leise Lispeln des Nachtwindes in der Hainbuchenhecke wurde zum heiligen Rauschen, und der tiefe Atemzug all dieser Freudevollen wurde ein einziger, warmflutender Strom der Liebe.

Der Lehrer reckte den Arm – da stieg es empor zum nächtlichen Sternenchor, schwach nur im Klang, fast zerflatternd in der großen Weite und doch eindringlich durch die Hingebung, mit der es gesungen ward:

»Die Himmel rühmen des Ewigen Ehre!«

Zuhörer und Sänger waren gleich erregt: der Joseph, der Joseph Thoma, der hochwürdige Herr! – da stand er!

In der geöffneten Haustür, den hellerleuchteten Flur hinter sich, haftete wie ein Schatten die schlanke schwarze Gestalt. Der junge Priester stand da ganz allein; er war der Geehrte, die andern hielten sich im Hintergrund. Den Kopf geneigt, das schwarze Barett auf der Tonsur, schien er andächtig zu lauschen. Oder was dachte er? Vergeblich suchte der Lehrer in den Mienen des einstigen Schülers zu lesen: es war zu dunkel hier.

Lied folgte auf Lied. Unbeweglich verharrte der Gefeierte.

Da hieß der Lehrer den Gesang enden, und noch ein paar Schritte vortretend und seine große, kraftvolle Gestalt vor der schmalen Priestergestalt verneigend, hub er an:

»Hochwürdiger Herr! Wir haben uns erlaubt, heute abend vor Ihnen zu erscheinen, um Ihnen am Schluß des Tags, der in den Annalen der Gemeinde eingetragen sein wird mit unverwischbaren Lettern als das größte Fest, das wir seit langem gefeiert haben, um Ihnen, hochwürdiger Herr, an diesem Abend zu danken für die Freude und Ehre, die uns durch Ihr Erscheinen hierselbst zuteil geworden ist!«

Der Lehrer stockte einen Augenblick, er hatte erst eine kleine Verlegenheit zu überwinden; der Gefeierte stand ja immer noch so still, hob den gesenkten Kopf gar nicht. Aber dann, die wohlgesetzte Steifheit verlierend, mit der er begonnen hatte, fuhr er wärmer werdend fort:

»Sie sind nach sieben langen Jahren zurückgekommen in die Heimat – o, wie muß Ihnen das Herz geklopft haben, als Sie unsere Eifelberge auftauchen sahen! Es zieht doch jeden Eifler gewaltig in die Heimat, er kann nicht leben anderswo. Unsere Söhne, unsere Töchter müssen in die Fremde, um ihr Brot zu verdienen – unser armes Land kann nicht alle ernähren – aber haben sie da draußen sich etwas erworben, so kehren sie mit Jauchzen wieder heim; sie fügen sich gern ins bescheidenste Los, nur froh, wieder Eifelhöhen zu sehen, wieder Eifelluft zu atmen.

Hochwürden, es sei ferne von mir, Sie mit jenen vergleichen zu wollen. Ihr Sinnen ist ja nicht aufs Irdische gerichtet, Ihre Augen suchen anderes. Und man sagt ja mit Recht: die Erde ist überall des Herrn, aber doch –« mit einem tiefen Aufatmen sah der Eifelsohn sich plötzlich um und reckte den alternden und doch noch so kräftigen Bau – »doch, Joseph, hier muß dir doch so wohl sein wie sonst nirgendswo in der Welt! Als du die erste Schutzhecke zu sehen kriegtest, da hast du dir gesagt: Rom ist eine prächtige Stadt, und das Klima ist dort besser als hier; aber hier, hinter so einer Hecke, fühlt man auch nichts von Schnee und Sturm, und dahinter habe ich sicher in meiner Wiege gelegen, hab ich im Butzenkleidchen froh gespielt. Und da hat mich meine Mutter zur Kirche angehalten und hat mich ihre Liebe fühlen lassen allezeit! Und da hab ich mein erstes A und O geschrieben, und der Lehrer, Joseph, der Lehrer, der dich – der Sie,« verbesserte sich der Redner rasch – »der Sie, hochwürdiger Herr, die Ehre hatte zu unterrichten, zog Ihnen die Hosen stramm!«

Ein unterdrücktes, wohlgefälliges Lachen ließ sich vernehmen unter der dichtgedrängten Zuhörerschaft: ei, was war der Lehrer doch für ein Redner, der konnte es schön und laut heraussagen, was ein jeder dachte, was ein jeder still bei sich im Herzen fühlte!

Über das Gesicht des Heimgekehrten huschte kein Lächeln.

Aber der Lehrer sah das nicht. Die Liebe zur Heimat war ihm zu Kopf gestiegen, er redete wie im Rausch:

»Sie haben viel Neues in der Welt gesehen. Hochwürden, Sie haben viel Neues gelernt – da!« Er hob die Hand und winkte wie abwehrend in die Ferne. »Wir haben nicht viel Neues gesehn derweilen. Wir sind auch nicht emporgestiegen, wie Sie es sind, wir sind nur die Alten geblieben. Aber, Joseph, wir haben dir darum auch die alte Liebe bewahrt!«

›Ja, das ist wahr! Ja, das haben wir!‹ Ein zustimmendes Raunen ging durch die Menge, ein freudiges Murmeln. Die Kleider raschelten, die Füße trappelten. Das war ein Näherkommen, ein Zudrängen, ein Heranrücken. Sie hätten ihm ja alle so gern die Hand geschüttelt.

»St! st!« mahnte irgendeiner.

Und der Lehrer, von einer Rührung, deren er sich nicht erwehren konnte, nun er des Wiedersehens der Mutter mit dem Sohn gedachte, weich gemacht, fuhr leiser fort, als habe er dem Sohn etwas Geheimes, etwas Heiliges anzuvertrauen:

»Und deine Mutter vor allem hat dir ihre Liebe bewahrt! Sie hat dich allzeit auf betendem Herzen getragen, Joseph! Fern waren Sie, hochwürdiger Herr, und ihr doch nicht fern! ›Mein Joseph‹, wie oft hat sie das gesprochen! O, es war ein rührender Anblick, die glückselige Mutter vor dem heimgekehrten Sohne zu sehen! Ihr Stolz, ihre Freude, ihr höchstes Glück – da war er nun, ihr Joseph!«

Ein plötzliches Aufschluchzen ließ sich vernehmen. Der Lehrer stutzte: wer weinte denn, sollte das den Joseph so gerührt haben? Nein, der stand unbeweglich mit seinem ernsten Gesicht.

Die junge Angenies war es gewesen. Sie hatte sich vorhin, von hinten ums Haus herum, herangeschlichen; sie hatte doch auch etwas sehen wollen. Nun zupfte sie Lennerd ganz erschrocken am Rock: »Biste still, Angenies!« Was fiel ihr denn ein?! Aber sie merkte nicht auf ihn. Auf den Zehen gereckt, den heißen Kopf vorgestreckt, lauschte sie.

Die Angenies weinte sonst nie; aber heute abend, da der Herr Lehrer so schön von der Mutter redete, war's ihr zum Weinen. Durch ihre harmlose Seele zog ein zartes Verstehen, ihr selbst unklar; sie wußte nicht, warum ihr gar so wehmütig zu Sinn ward. Sie ließ die Tränen über ihre Wangen rinnen.

»Hochwürdiger Herr,« Hub der Lehrer noch einmal an, sah sich aufmunternd um im Kreis und verstärkte die Stimme, »wir, die wir Zeugen von der Mutter Freude waren, freuen uns mit ihr. Es freuen sich hier Mann und Weib, jung und alt, Geschwister und Nachbarn, die ganze Gemeinde, das ganze Dorf. Wir alle begrüßen Sie froh. Es grüßt Sie das Kreuz auf Ihres seligen Vaters Grab. Und es grüßen Sie die Höhen, die auf Ihre Kinderspiele heruntergeschaut haben. Es grüßen Sie die Weiden, auf denen Sie das Vieh hüteten. Es grüßen Sie die Bäche unserer Täler, es grüßen Sie unsere Tannen, deren Rauschen Ihnen weit, dort im fernen Land, unter besseren Bäumen mit goldenen Früchten, doch oft, oft in den Ohren geklungen haben mag. Sie sollen hoch leben!«

Der Begeisterte reckte den Arm in die Höhe, wie er zu tun pflegte, wenn der Chor einfallen sollte.

»Der Sohn unserer Eifel, das Kind unseres Dorfes, der Stolz unserer Gemeinde, der hochwürdige Herr, er lebe hoch! Und wieder hoch! Dreimal hoch!«

Sie schrien alle; sie rissen die Mützen vom Kopf und schwenkten sie. Die Lampionträger reckten ihre Leuchten höher – rot, blau, grün und gelb schimmernd und rund wie riesige Kürbisse. Die Kinder jauchzten, Frauen- und Mädchenstimmen ertönten hell. Und alle, alle drängten sich dicht heran. Und nun setzten die Sänger ein, frisch und schwungvoll, es hätte kaum des aufmunternden Zeichens ihres Dirigenten bedurft:

»O Täler weit, o Höhen,
O schöner, grüner Wald!«

Das konnten sie am besten, das war das Lieblingsstück von Lehrer und Sängern, das kannten alle im Dorf, das mußte auch dem Joseph noch bekannt sein.

Der junge Priester hob den Kopf und blickte zum erstenmal um sich. Und als der letzte Ton verklungen war, trat er von der Schwelle herunter, reichte dem Lehrer die Hand und trat dann wieder hinauf auf die Schwelle.

Die Sänger waren ein wenig enttäuscht; es waren so viele alte Bekannte vom Joseph unter ihnen, sie hatten gehofft, auch einen Händedruck zu bekommen. Aber – »St!« – nachher, nachher! Jetzt wollte der Joseph reden! Er räusperte sich.

Weit vernehmlich klang die Stimme. Der Pater Joseph sprach sehr deutlich, jede Silbe, besonders die letzte, betonend:

»Verehrter Herr Lehrer! Verehrte Anwesende! Ich danke Ihnen aufrichtig für die freundliche Begrüßung, danke auch aufs beste für die mir freundlich dargebrachten Gesänge. Beides war mir eine frohe Überraschung. Bin ich doch so lange von hier abwesend gewesen, in einem den meisten hier gänzlich fremden Lande, daß ich nicht annehmen durfte, noch in so guter Erinnerung bewahrt worden zu sein. Mich hierin getäuscht zu haben, ist mir eine große Genugtuung und Freude, denn auch ich habe für die Stätten meiner Kindheit und für alle jene, die die Schritte meiner Jugend behüteten und leiteten, ein bleibendes Interesse bewahrt. Möge unser Herz und Sinnen noch so sehr auf das Einzigbleibende – das Ewige – gerichtet sein, die Neigung zum Irdischen läßt sich, solange wir noch auf dieser Welt atmen, doch nicht gänzlich abstreifen. Als mich das Dampfroß durch die mittelrheinische Ebene trug, suchten meine Blicke vergeblich die schöngeschwungenen Linien der Albanerberge, die Kuppel des herrlichen Doms von St. Peter. Aber als ich dann das Eifelplateau sich erheben sah, bescheiden nur und unfruchtbaren Charakters, aber auf seiner Höhe das Dörfchen tragend, in dem ich geboren wurde, fühlte sich meine Seele bewegt. Und als mir hier ein so freundlicher Empfang zuteil wurde, empfand ich mit Stolz und Freude, daß – mögen auch unendliche Strecken Landes, mögen auch Sprache und Lebensführung, Nationalität und Charakter Völker trennen – daß der allein seligmachende Glaube ein festverbindendes Band schlingt von dem Tiber bis zum Rhein, von der herrlichen Metropole der Christenheit bis zum armseligen Eifeldörfchen. Wenn ich nun binnen wenigen Tagen wieder zurückkehre zum Stuhl Seiner Heiligkeit, nehme ich mit mir in jenes schöne Land, das mir zur neuen Heimat geworden ist, die freundliche Erinnerung an die alte Heimat, nehme mit mir die Gebete von Hunderten – euer aller Gebete! – und werde sie auf fürbittendem Herzen tragen. Das sei mein Gruß für die Heimatgemeinde im Eifelland. Das sei mein Dank!«

Er hatte ohne Stocken gesprochen, flüssig, rhetorisch, für jeden vernehmlich, wenn auch vielleicht nicht ganz verständlich. Oder hatte man ihn doch verstanden?!

Still blieb's. So still, daß man jetzt einen zitternden Atemzug laut vernahm und deutlich ein geflüstertes, wohl nur dem Nebenstehenden ins Ohr gerauntes: ›De hat ja kein Herz!‹

Man guckte sich um, man stieß sich an: wer hatte das gesprochen? Warum? Wieso? Woher wußte die denn das?!

Scheu drückte sich die junge Angenies auf die Seite. O weh, das war ihr so entfahren, sie hatte das ja nur bei sich ganz heimlich gedacht! Nun schämte sie sich. Ihren Lennerd hinter sich herziehend, hielt sie nicht eher an, als bis sie weit vom Haus und seinem Festgedränge, als bis sie ganz weit draußen auf der Weide standen, wo, durch die Hecken geschützt, die den Vennwind abhalten, schon jungduftendes Gras sproßte. Wonniges Leben nach karger Winterzeit.

Unter der ragenden Hainbuche hielt die junge Angenies ihren Liebsten umfangen. Der Lennerd wollte erst brummen. Das mochte er doch nicht, daß man was gegen den Herrn Bruder sagte. Freilich, daß der so bald abreisen wollte, übermorgen schon, ohne ihn erst mit der Angenies getraut zu haben, das war gar nicht schön, aber er war eben so ein sehr –

Er kam nicht dazu, weiter etwas zugunsten des Herrn Bruders zu sagen, sein Mädchen verschloß ihm den Mund mit liebenden, heißen Lippen. »Ich hab dich eso lieb! Jott sei gedankt, dat wir nit eso zu sein brauchen wie den! Nit säen un mähen un ernten kann de wie wir, darum hat de kein Herz. Hän kann nix dafür – aber wir, Jott sei gelobt!«

Und die Liebende umschloß den Liebenden noch fester und drückte ihn mit kräftigen Armen an die pochende, warme, lebendige Brust. – – –

Das Dorf lag ganz im Dunkel, dunkel das Haus, dunkel die Hecke. Die Laternenträger mit ihren Lampions waren heimgegangen; erloschen der Glanz, verklungen der Sang, aus das Fest. Aber es strahlten die ewigen Sterne; sie standen ganz still und leuchteten mit mildem, versöhnendem Glanz hernieder auf alles Irdische. Auf Liebe und Leid.

Im Stall, hinterm festlich geschmückten, girlandenumkränzten Haus, stand die Witwe Thoma. Sie stand da schon eine geraume Weile. Hier suchte sie keiner. Man hatte sie gerufen, sie hatte es wohl gehört; aber sie hatte nicht geantwortet. Was sollte sie denn noch? Geschafft hatte sie und gerüstet, gehofft hatte sie und sich gefreut – sieben Jahre, sieben lange Jahre.

– – ›De hat kein Herz!‹ – –. Ihr war es, als sollte ihr das eigene Herz brechen. Laut aufgeschrien hätte sie fast vor Schrecken, als der Angenies Stimme das laut kundgetan, was sie dumpf gefühlt hatte, was ihr so weh getan hatte, heute, gestern, ehegestern schon. All die Tage schon, seitdem er wieder da war, der Joseph. Kaum, daß sie sich auf schwachen Füßen hatte davonschleichen können, unbemerkt von der lauschenden Menge.

Mit einem Stöhnen stützte sich die alte Frau gegen die Stallwand. Sie konnte nicht mehr stehen, ihre Füße waren zu müde und matt. Bei der Kuh, die dumpf klagend brüllte um das Kalb, das man ihr wegverkauft hatte, vier Stunden weit weg, fiel die Mutter in die Knie. Den Hals des Tieres mit beiden Armen umschlingend, sich daran klammernd in ihrem Schmerz, stammelte sie weinend:

»Maiblum, ach, Maiblum – mein Joseph – der Joseph – ach nee, mein Herr Sohn!«


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