Jules Verne
Eine Überwinterung im Eise
Jules Verne

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Elftes Capitel.

Eine Rauchwolke.

Als die Seeleute andern Morgens erwachten, war Alles um sie her dunkel; die Lampe war ausgegangen. Johann Cornbutte weckte nun Penellan und bat ihn um Feuer, worauf dieser sich schnell erhob, um den Ofen anzuzünden, dabei aber heftig gegen die Decke stieß. Er erschrak furchtbar, denn noch am Abend zuvor hatte er aufrecht stehen können. Als das Feuer im Ofen brannte, sah der Untersteuermann beim unbestimmten Schimmer der Spiritusflamme, daß die Decke um einen Fuß tiefer gesunken war.

Penellan machte sich mit Ueberanstrengung seiner Kräfte von Neuem an die Arbeit. Marie hatte den Untersteuermann beobachtet, und als sie jetzt den Ausdruck tiefer Verzweiflung und angespanntester Willenskraft auf seinen rauhen Zügen las, kam sie auf ihn zu, ergriff seine beiden Hände und drückte sie zärtlich. Penellan fühlte, wie ihn der Muth wieder belebte.

»Gott wird sie so nicht sterben lassen!« rief es in ihm.

Er kroch in die enge Oeffnung, stieß mit kräftiger Hand den Eisenstab hinein und – fühlte keinen Widerstand. War er bis an die weichen Schneeschichten gelangt? Er zog seinen Stock zurück, und ein Lichtstrahl drang in das Eishaus.

»Hilfe, Hilfe! Freunde!« rief er.

Und mit Händen und Füßen stieß er den Schnee zurück. Aber die äußere Hülle war nicht aufgethaut, wie er geglaubt hatte; mit dem Lichtstrahl kam eine heftige Kälte in's Zimmer und ließ alle feuchten Theile sofort starr und steif frieren. Er vergrößerte nun mit seinem Messer die Oeffnung und konnte endlich wieder frische Luft athmen. Er sank auf seine Kniee, um Gott für die Rettung aus dieser Gefahr zu danken, und bald schlossen sich ihm das junge Mädchen und seine übrigen Reisegefährten an.

Prächtiger Mondschein erhellte ringsum die Gegend, aber es war so kalt, daß die Seeleute die Temperatur nicht ertragen konnten und alsbald wieder in das Haus zurückkehrten. Penellan jedoch blickte sich vorher um und suchte vergebens das Vorgebirge; die Hütte befand sich inmitten einer unermeßlichen Eisebene. Er wollte nun seine Schritte nach dem Schlitten mit den Proviant-Vorräthen lenken, aber auch dieser war verschwunden.

Die Kälte zwang ihn nun einzutreten, doch theilte er den Begleitern noch nichts von seinen Beobachtungen mit. Jeder beschäftigte sich nun damit, die Kleider an der Spiritusflamme zu trocknen. Als man das Thermometer einige Augenblicke der Luft ausgesetzt hatte, zeigte es dreißig Grad unter Null.

Nach einer Stunde beschlossen André Vasling und Penellan, der Kälte zu trotzen und sich hinaus zu begeben. Sie hüllten sich so fest wie möglich in ihre feuchten Kleider ein und traten durch den Gang, dessen Wände bereits wieder felsenfest gefroren waren, in's Freie.

»Wir sind in nordöstlicher Richtung fortgerissen,« begann Andre Vasling und suchte sich nach den Sternen, die in außerordentlichem Glanze leuchteten, zu orientiren.

»Daran wäre nichts Schlimmes,« erwiderte Penellan, »wenn uns nur der Schlitten begleitet hätte!«

»Wie, der Schlitten ist nicht mehr da?« rief Andre Vasling; »dann sind wir unrettbar verloren!«

»Lassen Sie uns suchen«, schlug Penellan vor.

Beide gingen um die Hütte herum, die einen Eisblock von mindestens fünfzehn Fuß Höhe bildete. Während der Dauer des Sturmes war eine ungeheure Menge Schnee gefallen, und der Wind hatte ihn an der einzigen erhöhten Stelle der Ebene zusammengeweht. Das Eishaus war vom Orkan fünfundzwanzig Meilen weiter nach Nordosten geschleudert, und die Gefangenen hatten das Loos ihres gleitenden Kerkers getheilt. Der von einer anderen Eisscholle getragene Schlitten mußte wohl in anderer Richtung fortgeweht sein, denn man bemerkte keine Spur von ihm; die Hunde waren jedenfalls dem furchtbaren Wetter erlegen.

André Vasling und Penellan fühlten, wie Verzweiflung sich ihrer bemächtigte. Sie wagten nicht wieder in das Schneehaus zurück zu kehren, aus Furcht, den Begleitern diese verhängnißvolle Botschaft überbringen zu müssen. Beide erkletterten, um Ausschau zu halten, den Eisblock, der die Hütte enthielt, aber sie bemerkten nichts, als nach allen Seiten hin unendliche weiße Strecken. Die Kälte hatte ihre Glieder bereits wieder gelähmt, und die Feuchtigkeit in ihren Kleidern war in eisige Zacken verwandelt, die um sie herum hingen. Eben als Penellan von dem Hügel herabsteigen wollte, warf er einen Blick auf André Vasling und sah, wie dieser starr nach einem bestimmten Fleck ausschaute, zusammenfuhr und erbleichte.

»Was ist Ihnen, Herr Vasling?« fragte er.

»O, nichts!« antwortete Dieser; »wir wollen jetzt hinabsteigen und so schnell wie möglich aus diesen Breiten fliehen, die wir nie betreten hätten, wenn man meinem Rath gefolgt wäre.«

Aber statt zu thun, wie der Obersteuermann vorschlug, stieg Penellan noch einmal, und höher wie zuvor hinauf, um genau nach dem Orte auszuspähen, der die Aufmerksamkeit des Obersteuermanns in so auffallender Weise erregt hatte. Und gleich darauf brachte dieser Ausblick bei ihm eine total andere Wirkung hervor als bei seinem Gefährten; er schrie laut auf vor Freude und rief:

»Gott sei gedankt und gepriesen!«

In nordöstlicher Richtung stieg ein leichter Rauch auf, dort mußten also menschliche Wesen leben und athmen! Auf den Freudenruf Penellan's waren auch die anderen Seeleute herbei geeilt, und Alle überzeugten sich, daß die Behauptung des Untersteuermanns richtig war.

Ohne noch des Mangels an Lebensmitteln zu gedenken oder sich durch die strenge Kälte zurückhalten zu lassen, rückte nun die ganze Gesellschaft, fest in ihre Mäntel gehüllt, nach Nordosten vor.

Ihr Ziel war etwa fünf bis sechs Meilen entfernt, und die Schwierigkeiten, es zu erreichen, erwiesen sich als sehr bedeutend. Der Rauch erhob sich nicht mehr in die Lüfte, und keine Bodenerhebung konnte den Wandernden als Merkzeichen dienen, denn die Eisfläche bildete eine vollständige Ebene. Es kam darauf an, nicht von der geraden Linie abzuweichen.

»Nach entfernten Gegenständen können wir uns nicht richten,« begann Johann Cornbutte; »so müssen wir andere Hilfsmittel suchen: Penellan geht voran, Vasling folgt ihm auf etwa zwanzig Schritte, und ich gehe wieder ebenso weit hinter diesem her. Auf diese Weise werden wir beurtheilen können, ob Penellan in gerader Linie bleibt.«

Der Marsch hatte so eine halbe Stunde gewährt, da stand Penellan plötzlich horchend still. Die Seeleute umringten ihn.

»Habt Ihr Nichts gehört?« fragte er.

»Nein, nicht das Geringste.«

»Sonderbar!« meinte Penellan; »es kam mir vor, als ob ich von dieser Seite her Geschrei vernähme.«

»Geschrei?« fiel das junge Mädchen ein; »danach wären wir unserm Ziel ganz nahe!«

»Wir haben noch keinen Grund, das anzunehmen,« entgegnete André Vasling; »in diesen hohen Breiten und bei so strenger Kälte trägt der Schall außerordentlich weit.«

»Nun, wie dem auch sein mag,« mahnte Johann Cornbutte, »laßt uns weiter gehen, denn sonst erfrieren wir.«

»Nicht doch!« rief Penellan! »hört doch!«

Einige schwache, kaum vernehmliche Laute wurden hörbar. Es klang herüber wie Angst- und Schmerzensrufe. Zwei Mal wiederholte sich der Ton; man hätte glauben können, es riefe Jemand um Hilfe. Dann wieder tiefes Schweigen rings umher.

»Ich habe mich nicht geirrt, weiter!« sprach Penellan.

Und er begann in der Richtung, aus der die Rufe kamen, vorwärts zu laufen.

Als er ungefähr zwei Meilen zurückgelegt hatte, fand er zu seinem größten Erstaunen einen Mann auf dem Eise liegen, und als Penellan sich näherte, rang er verzweiflungsvoll die Hände.

André Vasling war ihm mit den anderen Matrosen auf dem Fuße gefolgt; er eilte jetzt gleichfalls herbei und rief:

»Es ist einer der Schiffbrüchigen! unser Matrose Cortrois!«

»Er ist todt – erfroren!« klagte Penellan.

Auch Johann Cornbutte und Marie traten jetzt zu der Leiche, die schon starr vor Frost war. Auf allen Gesichtern malte sich Entsetzen. Der Todte war ein Begleiter Ludwig Cornbutte's gewesen.

»Vorwärts!« rief Penellan.

Und wieder waren sie, ohne ein Wort zu sprechen, eine halbe Stunde gelaufen, als sie eine Bodenerhebung bemerkten, die unbedingt Land sein mußte.

»Das ist die Insel Shannon«, sprach Johann Cornbutte.

Etwa eine Meile weiter bemerkten sie deutlich Rauch, der aus einer mit hölzerner Thüre verschlossenen Schneehütte hervorkam. Sie riefen, um sich bemerklich zu machen, und sofort stürzten einige Männer aus der Hütte ihnen entgegen. In einem derselben erkannte Penellan Pierre Nouquet.

»Pierre!« rief er.

Doch sein ehemaliger Kamerad stand wie stumpfsinnig, und als ob er nichts von Allem, was um ihn her vorging, bemerke. André Vasling aber konnte ein teuflisches Lachen nicht verbergen; er sah unter den Bewohnern der Hütte, die nach und nach hervorgekommen waren, nicht Ludwig Cornbutte.

»Pierre, ich bin's! Dein Freund Penellan!« rief dieser.

Der Matrose kam jetzt zu sich und fiel seinem alten Kameraden fast ohnmächtig vor Freude um den Hals.

»Mein Sohn! mein Ludwig!« schrie jammernd, in tiefster Verzweiflung der arme alte Kapitän.

 


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