Jules Verne
Eine Überwinterung im Eise
Jules Verne

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Zweites Capitel.

Johann Cornbutte's Plan.

Sobald das junge Mädchen unter der Obhut liebender Freunde die Brigg verlassen hatte, theilte der Obersteuermann André Vasling Johann Cornbutte des Näheren das Ereigniß mit, durch welches er des Wiedersehens mit seinem Sohn beraubt worden war, und das in dem Schiffsjournal folgendermaßen verzeichnet stand:

»Unser Schiff, das bei schlechtem Wetter und stürmischen Südwestwinden beigelegt hatte, bemerkte am 26. April auf der Höhe des Maëlstroms Nothsignale, die ihm von einem Schooner unter dem Winde gemacht wurden. Dieser Schooner, der seines Fockmastes beraubt war, ließ sich willenlos vom Winde auf den Strudel zutreiben. Als Kapitän Cornbutte sah, wie das Schiff einem gewissen Untergang entgegenging, beschloß er, sich an Bord zu begeben; trotz der Vorstellungen seiner Leute ließ er die Schaluppe in's Meer setzen und stieg mit dem Matrosen Cortrois und dem Untersteuermann Pierre Nouquet ein. Die Mannschaft folgte ihnen mit den Augen, bis sie im Nebel verschwanden. Die Nacht kam heran, und das Meer ging immer höher. Die Jeune-Hardie lief, von den in diesen Breiten herrschenden Strömungen angezogen, Gefahr, vom Maëlstrom verschlungen zu werden, und sah sich genöthigt, vor dem Winde zu fliehen. Es war vergebens, daß sie mehrere Tage an dem Orte des Unheils kreuzte: die Schaluppe der Brigg sowohl, wie der Schooner und Kapitän Ludwig nebst den beiden Matrosen blieben verschwunden. André Vasling versammelte nun die Mannschaft, ergriff den Oberbefehl über das Schiff und segelte nach Dünkirchen zurück.«

Als Johann Cornbutte diese Erzählung, die mit der trockenen Kürze eines einfachen See-Erlebnisses in das Schiffsbuch eingetragen war, gelesen hatte, konnte er seine Thränen nicht zurückhalten; er weinte lange und schmerzlich, und wenn irgend etwas ihm Trost geben konnte, so war es der Gedanke, daß sein Sohn das Opfer seines Edelmuths geworden war. Der Anblick des Schiffes, der ihn zuerst mit so großer Freude erfüllt hatte, verursachte dem armen Vater Schmerz, und so kehrte er in sein verödetes Haus zurück.

Bald verbreitete sich die Trauerkunde in ganz Dünkirchen, und die zahlreichen Freunde des alten Seemanns fanden sich ein, um ihm ihr lebhaftes, herzlich gemeintes Beileid zu bezeugen. Sodann gaben die Matrosen von der Jeune-Hardie die genauesten Details über das Ereigniß, und Marie ließ sich von André Vasling die Aufopferung ihres Bräutigams mit allen Einzelheiten erzählen.

An dem folgenden Tage, als Johann Cornbutte seine Thränen getrocknet hatte, beschied er André Vasling in sein Zimmer und sprach:

»Sind Sie fest überzeugt, daß mein Sohn umgekommen ist, André?«

»Leider ja, Herr!« antwortete der Obersteuermann.

»Und haben Sie alle nur möglichen Anstrengungen gemacht, um ihn wieder aufzufinden?«

»Gewiß! wie können Sie daran zweifeln, Herr Cornbutte! Es ist aber leider nur zu gewiß, daß er und seine beiden Matrosen vom Strudel des Maëlstroms verschlungen sind.«

»Wollen Sie die Obersteuermannschaft bei meinem Schiffe noch ein Mal annehmen, André?«

»Das würde davon abhängen, wer der Kapitän ist, Herr Cornbutte.«

»Der werde ich sein, André; ich will mit möglichster Eile mein Schiff ausladen, meine Mannschaft zusammenbringen und in See stechen, um nach meinem Sohn zu suchen,« erwiderte der alte Seemann.

»Ihr Sohn ist todt!« bemerkte nachdrücklich André Vasling.

»Das ist möglich, André,« versetzte Johann Cornbutte lebhaft; »aber es ist auch eine Möglichkeit, daß er sich gerettet hat. Ich bin fest entschlossen alle Häfen Norwegens zu durchsuchen, in die er getrieben werden konnte, und erst wenn ich die Gewißheit erlangt habe, daß ein Wiedersehen mit ihm auf dieser Erde nicht mehr zu hoffen ist, will ich zurückkehren, um hier zu sterben.«

Als André sah, wie unumstößlich die Entscheidung des Seemanns war, drängte er nicht mehr und zog sich zurück.

Johann Cornbutte ließ alsbald seine Nichte wissen, welchen Entschluß er gefaßt hatte, und sah, wie ein Hoffnungsstrahl durch ihren Kummer brach. Das junge Mädchen war bis jetzt noch nicht darauf gekommen, daß der Tod ihres Bräutigams in Zweifel gezogen werden könnte, aber kaum hatte Cornbutte diesen Gedanken gegen sie ausgesprochen, als sie sich demselben rückhaltlos hingab.

Der alte Seemann beschloß, daß die Jeune-Hardie alsbald wieder auslaufen sollte. Die fest gebaute Brigg hatte sich mit keinen Ausbesserungsarbeiten aufzuhalten, und so machte Johann Cornbutte bekannt, daß die Mannschaft ganz dieselbe bleiben solle, wenn die Matrosen nichts dawider hätten, die Fahrt noch einmal mitzumachen; an die Stelle seines Sohnes als Commandeur des Schiffes gedenke er selbst zu treten.

Nicht ein Einziger von Ludwig Cornbutte's Begleitern zog sich bei diesem Aufruf zurück, und so fanden sich lauter muthige, erprobte Matrosen, wie Alain Turquiette, der Zimmermann Fidèle Misonne, der Bretagner Penellan als Untersteuermann und Vertreter Pierre Nouquet's, und außerdem Gradlin, Aupic, Gervique an Bord der Jeune-Hardie ein.

Johann Cornbutte schlug André Vasling noch ein Mal vor, seine Stelle an Bord wieder einzunehmen. Der Obersteuermann war ein geschickter, in der Führung eines Schiffes wohl erfahrener Mann, der seine Probe rühmlich bestanden hatte, indem er die Jeune-Hardie sicher in den Hafen zurück geleitete. André Vasling, machte indessen, aus welchen Gründen konnte man nicht errathen, allerlei Schwierigkeiten und erbat sich Bedenkzeit.

»Nun, wie Sie wollen, André,« erwiderte ihm Cornbutte; »aber vergessen Sie nicht, daß Sie uns willkommen sind.«

Johann Cornbutte hatte in dem Bretagner Penellan einen treu ergebenen Mann, der lange Jahre hindurch sein Reisegefährte gewesen war. Die »kleine Marie« hatte so manchen Winterabend auf den Knieen des Untersteuermanns gesessen, wenn er an Land gewesen war, und er hatte eine väterliche Freundschaft für sie bewahrt, während Marie mit kindlicher Liebe an ihm hing. Penellan beeilte die Ausrüstung der Brigg, so sehr es ihm möglich war, und um so mehr, als er zu glauben schien, daß André Vasling nicht die äußersten Anstrengungen gemacht habe, um die Schiffbrüchigen wieder aufzufinden; andererseits aber war dieser durch die Verantwortlichkeit, die auf ihm als Kapitän lag, wohl zu entschuldigen.

Noch waren nicht acht Tage verflossen, da war die Jeune-Hardie wieder in Bereitschaft, um von Neuem in See zu stechen. Anstatt mit Waaren, hatte man sie auf's Vollständigste mit gesalzenem Fleisch, Schiffszwieback, Mehlfässern, Kartoffeln, Schweinefleisch, Wein, Branntwein, Kaffee, Thee und Tabak verproviantirt.

Die Abreise wurde auf den 22. Mai anberaumt. Am Abend zuvor begab sich André Vasling, von dem Johann Cornbutte noch immer keinen definitiven Bescheid erhalten hatte, in die Wohnung des Alten. Er war noch immer unentschieden und mit sich uneins, welchen Entschluß er fassen solle.

Johann Cornbutte war nicht daheim, obgleich die Thüre zu seinem Hause offen stand, und so drang André Vasling bis in das gemeinsame Wohnzimmer vor, an das unmittelbar Mariens Stube grenzte. Das Wohnzimmer war, wie sich André sofort überzeugte, leer; aber von nebenan ertönte eine lebhafte Unterhaltung, und als er aufmerksam hinhorchte, erkannte er die Stimme des jungen Mädchens und Penellan's.

Ohne allen Zweifel hatte sich die Erörterung schon längere Zeit hingezogen, denn Marie schien den Bemerkungen des bretagnischen Seemannes eine unerschütterliche Festigkeit entgegenzusetzen.

»Wie alt ist Onkel Cornbutte?« fragte Marie.

»So etwa sechzig Jahre,« antwortete Penellan.

»Begiebt er sich nicht in große Gefahr, um seinen Sohn aufzusuchen?«

»Unser Kapitän ist noch ein durch und durch kräftiger Mann,« versetzte Penellan; »sein Körper ist fest wie Eichenholz, und er hat Muskeln, so hart wie eine Reservestenge. Mir ist nicht davor bange, daß er jetzt wieder in See geht.«

»Ach, mein guter Penellan, wenn man liebt, ist man stark,« erwiderte Marie; »was mich angeht, so habe ich mein ganzes Vertrauen auf Gott gesetzt; er wird uns beistehen!«

»Es ist unmöglich, Marie!« rief jetzt der Angeredete; »wer kann wissen, wohin wir auf unserer Fahrt verschlagen werden, und was wir erdulden müssen! Wie oft habe ich erlebt, daß kräftige Männer ihr Leben in diesen Meeren lassen mußten!«

»Penellan, ich kann nicht anders,« sagte schließlich das junge Mädchen; »es wird geschehen, ob Sie dagegen sind oder nicht. Wenn Sie aber in dieser Beziehung gar so sehr gegen mich ankämpfen, muß ich glauben, daß Sie mich nicht mehr lieb haben!«

André Vasling hatte nun begriffen, was Marie beabsichtigte. Er dachte noch einen Augenblick nach; dann war auch seine Entscheidung getroffen.

Er trat dem alten Seemann, der eben jetzt nach Hause kam, entgegen und sagte:

»Ich melde mich zu Ihrer Mannschaft, Johann Cornbutte; die Gründe, von denen ich bis jetzt zurückgehalten wurde, sind beseitigt, und so können Sie auf mich und meine Ergebenheit zählen.«

»Ich habe niemals an Ihnen gezweifelt, André Vasling,« erwiderte Cornbutte, indem er die Hand des Obersteuermanns ergriff. »Marie! mein Kind!« rief er dann mit lauter Stimme.

Marie sowie auch Penellan erschienen sofort.

»Morgen mit Tagesanbruch werden wir mit eintretender Ebbe absegeln,« sagte der alte Mann. »Es ist dies also der letzte Abend, den wir mit einander verleben, mein liebes Kind!«

»Ach, mein guter Onkel!« rief Marie und schmiegte sich an Johann Cornbutte.

»Nun, Marie, mit Gottes Hilfe gedenke ich Dir Deinen Bräutigam zurück zu führen!«

»Ja, wir werden den Kapitän Ludwig wiederfinden!« fügte André Vasling zuversichtlich hinzu.

»So werden Sie mit uns in See gehen?« fragte lebhaft Penellan.

»Ja, Penellan; André Vasling fährt als unser Obersteuermann mit,« erwiderte statt seiner Johann Cornbutte.

»So! Ah so!« meinte der Bretagner mit eigenthümlichem Blinzeln.

»Seine Rathschläge werden uns von großem Nutzen sein, hoffe ich,« fügte Cornbutte hinzu; »er ist kühn und sehr geschickt.«

»Nun, Sie selbst sind uns Allen im Wissen und Können voraus, Herr Kapitän,« entgegnete Vasling.

»Also auf morgen, meine Freunde! Geht jetzt an Bord und trefft die letzten Anordnungen. Auf Wiedersehen, André, auf Wiedersehen, Penellan.«

Obersteuermann und Matrose gingen mit einander fort, und Johann Cornbutte blieb mit Marie allein zurück. An diesem Abend floß noch manche Thräne bitteren Schmerzes, und Cornbutte, der seine Nichte so tief betrübt sah, faßte den Entschluß, das Haus am andern Morgen früh zu verlassen, ohne ihr etwas davon zu sagen, damit sie so über den Abschied hinaus käme. Er gab ihr noch am Abend den letzten Kuß und war um drei Uhr schon wieder auf den Beinen.

Zur Abfahrt der Jeune-Hardie waren alle Freunde des alten Seemanns auf dem Hafendamm versammelt; der Pfarrer, von dem Ludwig und Marie hatten getraut werden sollen, spendete dem Schiff einen letzten Segen, und manch rauher Händedruck wurde schweigend ausgetauscht, als Johann Cornbutte an Bord stieg.

Die Mannschaft war jetzt vollzählig; André Vasling gab die letzten Befehle zur Abfahrt; die Segel wurden aufgehißt, und die Brigg entfernte sich schnell mit einer guten Nordwestbrise, während der Pfarrer, hoch aufgerichtet unter den knieenden Zuschauern stehend, Gottes Schutz auf die Seefahrer herab flehte.

Wohin geht das Schiff? Es verfolgt die gefährliche Straße, auf der so viele Schiffbrüchige zu Grunde gegangen sind, und muß auf alle Gefahren gefaßt sein, der Herr allein weiß, wo ihm sein Landungsplatz winkt. Es fährt keinem bestimmten Ziel entgegen; möge es allen Unfällen kühn die Stirn bieten, möge Gott es geleiten!

 


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