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Zweiter Theil.

Erstes Capitel.

In dem man den Seigneur Keraban, aber wüthend, mit einer Eisenbahn gefahren zu sein, wiederfindet.

Der Leser erinnert sich wohl, daß Van Mitten in seinem Unmuthe, an der Besichtigung der Ruinen des alten Kolchis behindert gewesen zu sein, um sich schadlos zu halten, beabsichtigt hatte, den sagenhaften Phasis in Augenschein zu nehmen, der unter dem heutigen, minder wohlklingenden Namen des Rion bei Poti mündet und dessen kleinen Hafen am schwarzen Meere bildet.

Leider sah der würdige Holländer seine Hoffnungen noch einmal getäuscht. Wenn die hauptlose Gesellschaft auch den Spuren Jason's und der Argonauten nachging, die weltberühmten Gegenden durchzog, in welchen der kühne Sohn Aeson's um das goldene Vließ kämpfte, so hatte sie doch jetzt nichts Eiligeres zu thun, als Poti wieder zu verlassen und die Fährte des Seigneur Keraban aufzusuchen, um diesen an der russisch-türkischen Grenze wieder zu treffen.

Also nochmals eine Enttäuschung für Van Mitten. Es war schon um fünf Uhr Nachmittags, früh Morgens am 13. September sollte aufgebrochen werden. Van Mitten bekam von Poti also nichts zu sehen, als den öffentlichen Garten mit den Resten einer alten Befestigung, die auf Pfählen errichteten Häuser, welche eine Bevölkerung von sechs- bis siebentausend Seelen bergen, die breiten Straßen mit Gräben an den Seiten, aus welchen ein ununterbrochenes Froschconcert ertönt, und den ziemlich belebten Hafen, den ein Leuchtthurm erster Ordnung überragt.

Van Mitten tröstete sich über die wenige, ihm zu Gebote stehende Zeit nur durch die Erwägung, daß, wenn er diese inmitten der Sümpfe des Rion und der Kapatcha gelegene Stadt so schnell verließe, damit auch die Gefahr der Erkrankung an einem verderblichen Fieber beseitigt würde, was in den ungesunden Gegenden dieses Küstenstriches immer zu fürchten ist.

Während der Holländer sich solcherlei Gedanken hingab, suchte Ahmet Ersatz zu finden für den Postwagen, der ohne die unqualificirbare Unklugheit seines Eigenthümers gewiß noch lange Zeit gute Dienste geleistet hätte. In der so kleinen Stadt Poti aber einen neuen oder gebrauchten Reisewagen aufzutreiben, darauf war sicherlich nicht zu rechnen. Eine »Perecladnaïa« oder russische »Araba« gab es vielleicht eher, und die Börse des Seigneur Keraban war ja vorhanden, um jeden dafür geforderten Preis zu bezahlen. Die genannten Fuhrwerke erheben sich indeß nicht über mehr oder weniger primitive Karren, denen es an jeder Bequemlichkeit fehlt und die mit einer Reise-Berline nicht das Geringste gemein haben. Bespannt man sie auch mit noch so kräftigen Pferden, so können sie an Schnelligkeit der Bewegung eine Postchaise doch niemals erreichen. Welche Verzögerungen waren also nun bis zur Beendigung der Reise zu fürchten!

Ahmet hatte überdies jetzt gar keine Ursache, wegen der Wahl eines Fuhrwerkes in Verlegenheit zu kommen. Für den Augenblick war nichts, weder Wagen noch Karren, verfügbar. Da es ihm jedoch vor Allem darauf ankam, seinen Onkel aufzufinden, um diesen sich nicht etwa durch seine Starrsinnigkeit noch in schlimmere Lage bringen zu lassen, entschied er sich dahin, die etwa zwanzig Lieues betragende Strecke zwischen Poti und der russisch-türkischen Grenze zu Pferde zurückzulegen. Er war selbstverständlich ein tüchtiger Reiter, und Nizib hatte ihn häufig genug auf seinen Lustritten begleitet. Van Mitten erklärte auf Befragen, wenigstens mit den Elementarbegriffen der edlen Reitkunst vertraut zu sein, und versprach, ohne für Brunos Geschicklichkeit eintreten zu können, zu Pferde zu folgen.

Der Aufbruch sollte also am nächsten Morgen erfolgen, um die Grenze noch denselben Abend zu erreichen.

Nun schrieb Ahmet einen langen Brief unter der Adresse des Banquiers Selim, der natürlich mit den Worten: »Meine innigstgeliebte Amasia!« anfing. Er schilderte darin Alles, was sich neuerdings zugetragen, den Unfall bei Poti, wie er vom Onkel getrennt worden und wie er ihn wieder zu finden hoffe. Daran schloß er die Versicherung, daß die Rückkehr deshalb nicht verzögert und er Mittel finden würde, Menschen und Thiere in Athem zu halten, um in der noch übrigen mittleren Zeit täglich die entsprechende Wegstrecke zurückzulegen. Sie solle sich also, bat er inständigst, ja mit ihrem Vater und Nedjeb in der Villa zu Scutari zur rechten Zeit und womöglich noch ein wenig eher einfinden, um ihm bei der Heimkehr nicht die Freude des heißersehnten Wiedersehens zu verkümmern.

Diesen Brief voll zärtlicher Grüße an das junge Mädchen sollte das Packetboot, welches den regelmäßigen Dienst zwischen Poti und Odessa versieht, am folgenden Morgen mitnehmen. Vor Ablauf von achtundvierzig Stunden würde er dann an seinem Ziele angelangt, geöffnet, eifrig gelesen und vielleicht an ein Herz gedrückt worden sein, dessen Schläge Ahmet am anderen Ende des Schwarzen Meeres zu vernehmen glaubte. Die beiden Verlobten befanden sich jetzt am weitesten von einander, an den Enden der großen Achse einer Ellipse nämlich, deren Umfang zu folgen Ahmet der unbeugsame Starrsinn seines Onkels gezwungen hatte.

Und während er so schrieb, um Amasia zu beruhigen und zu trösten, was begann da Van Mitten?

Nachdem er im Hôtel gespeist, durchstreifte der Holländer neugierig die Straßen von Poti, lustwandelte unter den Bäumen des Stadtparkes, längs der Quais des Hafens oder der ihrer Vollendung nahen Molen. Aber er war allein; Bruno hatte ihn diesmal nicht begleitet.

Und weshalb ging Bruno nicht mit seinem Herrn, bereit, ihm ehrerbietige, aber richtige Bemerkungen über die jetzige fatale Lage, wie über die noch bedrohlichere Zukunft zu machen?

Bruno hatte einen Gedanken gehabt. Fände sich in Poti auch weder Berline noch Postchaise, so gab es hier doch wohl eine Wage. Für den abgemagerten Holländer bot sich demnach hier oder nirgends Gelegenheit, sich wägen, sein heutiges Gewicht mit dem ursprünglichen vergleichen zu lassen.

Der Diener hatte also das Hôtel verlassen, auch, ohne davon etwas zu sagen, den Reiseführer seines Herrn mitgenommen, mit dessen Hilfe er sich das ihm seinem Werthe nach unbekannte russische in holländisches Gewicht zu übersetzen hoffte.

Auf dem Quai eines Hafens, in dem Zollabfertigung stattfindet, trifft man stets einige so große Wagen, daß ein Mensch auf ihren Schalen bequem abgewogen werden kann.

Nach dieser Seite befand sich Bruno also nicht in Verlegenheit. Die Spendung einiger Kopeken bestimmte die Beamten, seiner Laune zu willfahren. Auf eine der großen Wagschalen wurde also ein beträchtliches Gewicht gelegt, und nicht ohne eine gewisse Unruhe bestieg Bruno die andere.

Zu seinem großen Mißvergnügen blieb die mit dem Gewichtsstücke beschwerte Schale am Boden haften. Wie Bruno sich auch selbst schwerer zu machen suchte – vielleicht glaubte er das durch Aufblähen zu erreichen – es gelang ihm nicht, dieselbe zum Steigen zu bringen.

»Alle Teufel! sagte er, das fürchtete ich eben!«

An Stelle des ersten kam jetzt ein leichteres Gewicht auf die Wage, aber auch jetzt rührte die Schale sich nicht von der Stelle.

»Ist es möglich?« rief Bruno, der sein ganzes Blut sich im Herzen zusammendrängen fühlte.

Da fiel sein Blick auf eine behäbige Persönlichkeit, deren Gesicht die wohlwollendste Theilnahme für ihn verrieth.

»Mynheer!« rief er erfreut und verwundert.

Wirklich war es Van Mitten, den bei seinem Spaziergange der Zufall nach dem Quai geführt hatte und auch genau dahin, wo die Beamten sich eben mit Feststellung des Gewichtes seines Dieners beschäftigten.

»Mynheer, wiederholte Bruno, Sie hier?

– Ich selbst, antwortete Van Mitten. Ich sehe mit Vergnügen, daß Du eben dabei bist ...

– Mich wiegen zu lassen ... ja.

– Und das Ergebniß?

– Das Ergebniß ist ein so trauriges, daß ich nicht weiß, ob es ein so geringes Gewicht giebt, welches anzeigen könnte, wie wenig ich zur Stunde wiege!«

Bruno gab diese Antwort mit einem so schmerzlichen Gesichtsausdruck, daß der darin liegende Vorwurf Van Mitten wirklich zu Herzen ging.

»Wie, rief er, seit unserer Abreise wärest Du so abgemagert, mein armer Bruno?

– Urtheilen Sie nur selbst, Mynheer!«

In der That wurde eben ein drittes, noch leichteres Gewicht als die beiden vorigen, auf die Wagschale gelegt.

Diesmal hob Brunos Körperlast es nach und nach empor, so daß die beiden Wagschalen in eine horizontale Linie zu stehen kamen.

»Endlich! rief Bruno, doch was für ein Gewicht ist das?

– Ja, was ist das für ein Gewicht?« wiederholte Van Mitten.

Dasselbe betrug nach russischem Gewicht genau vier Pud, nicht mehr und nicht weniger.

Sofort ergriff Van Mitten den Reiseführer, den Bruno ihm überreichte, und schlug die Gewichtsvergleichungstabelle für verschiedene Länder auf.

»Nun, Mynheer? fragte Bruno, eine Beute mit Angst gemischter Neugier, wieviel macht ein russisches Pud?

– Ungefähr sechszehneinhalb Pond holländisch, belehrte ihn Van Mitten nach kurzem Kopfrechnen.

– Und das macht?

– Das macht genau fünfundsiebenzigeinhalb Pond oder hunderteinundfünfzig Pfund!«

Bruno stieß einen Verzweiflungsschrei aus, sprang von seiner Wagschale, während die andere mit Gewalt auf die Erde schlug, und sank halb ohnmächtig auf einer Bank nieder.

»Hunderteinundfünfzig Pfund!« wiederholte er, als ob er nahezu ein Neuntel seines Lebens eingebüßt hätte.

Wirklich wog Bruno bei der Abreise seine vierundachtzig Ponds oder hundertachtundsechzig Pfund, jetzt aber nur noch fünfundsiebenzig und einhalb Pond oder hunderteinundfünfzig Pfund. Er war also um siebzehn Pfund abgemagert! Und das während sechsundzwanzig Tagen einer verhältnißmäßig bequemen Reise, ohne eigentliche Entbehrungen und größere Anstrengungen. Jetzt aber, wo das Unglück angefangen hatte, wo würde dasselbe aufhören? Was würde aus dem Bäuchlein werden, das Bruno sich selbst zugelegt und an dessen hübscher Abrundung er, unter Einhaltung eines wohlabgemessenen Regimes, fast zwanzig Jahre gearbeitet hatte? Wie tief sollte er noch unter das ehrbare Mittelgewicht sinken, in dem er sich bisher gehalten – vorzüglich jetzt, wo sich wegen Mangels eines Wagens diese sinnlose Fahrt durch Gegenden ohne Hilfsquellen, bei fortwährenden Anstrengungen und Gefahren unter neuen Bedingungen abspielen sollte?

Diese Fragen stellte sich der besorgte Diener Van Mitten's. Dabei trat ihm eine flüchtige Vision schrecklicher Zufälle vor das geistige Auge, inmitten derer sich ein ganz unerkennbarer, zum wandelnden Skelet herabgekommener Bruno zeigte.

Das ließ ihm keine Ruhe und schnell war sein Entschluß gefaßt. Er erhob sich, zog den Holländer, der nicht die Kraft besessen hätte, ihm zu widerstehen, mit sich fort und jagte, vor dem Wiedereintritt in's Hôtel auf dem Quai stehen bleibend:

»Mynheer, es hat Alles seine Grenzen, selbst die menschliche Thorheit! Wir gehen nicht mehr weiter mit!«

Van Mitten nahm diese Erklärung mit gewohnter Ruhe entgegen, aus der ihn eben nichts aufzurütteln vermochte.

»Wie, Bruno, erwiderte er, hier in diesem weltverlorenen Winkel des Kaukasus willst Du, daß wir bleiben sollen?

– Nein, Mynheer, nein! Ich schlage Ihnen nur einfach vor, den Seigneur Keraban nach Constantinopel zurückkehren zu lassen, wie es ihm beliebt, während wir uns gemächlich mit einem der Dampfer von Poti dahin begeben. Sie leiden nicht von der Seekrankheit, ich auch nicht, und ich laufe nicht Gefahr, noch mehr abzumagern, was unfehlbar der Fall sein müßte, wenn ich unter solchen Umständen noch weiter reiste.

– Von deinem Gesichtspunkt aus ist das vielleicht klug und weise, Bruno, antwortete Van Mitten, von meinem aus gesehen, liegt die Sache aber anders. Meinen Freund Keraban jetzt, wo drei Viertel der Fahrt überstanden sind, zu verlassen, verlangt einige Ueberlegung.

– Der Seigneur Keraban ist nicht Ihr Freund, antwortete Bruno. Er ist der Freund des Seigneur Keraban, nichts weiter. Der meinige kann er natürlich nicht sein, und ich habe nicht Lust, den mir übrig gebliebenen Rest von Embonpoint zur Befriedigung der Launen seiner Selbstliebe zu opfern. Drei Viertel der Reise wäre vollendet, sagen Sie, das ist wohl wahr: das letzte Viertel scheint mir aber, in Hinblick auf das halbwilde Land, ganz andere Schwierigkeiten zu bieten. Wenn Ihnen persönlich auch noch kein Unfall zugestoßen ist, so wiederhole ich Ihnen doch, Mynheer, daß Sie sich in Acht nehmen mögen ... Es wird Ihnen noch ein Unglück begegnen!«

Die Beharrlichkeit Brunos, ihm einen Unfall zu prophezeien, aus dem er nicht heil und gesund hervorgehen werde, quälte Van Mitten doch nicht wenig; diese Warnungen eines treuen Dieners übten auf ihn ihren Einfluß. In der That verlohnte es sich, bezüglich dieser Fahrt jenseits der russischen Grenze durch die verkehrsarmen Gegenden der Paschaliks von Trapezunt und des nördlichen Anatoliens, welche sich der Ueberwachung durch türkische Behörden fast gänzlich entziehen, wohl der Mühe, zweimal zu überlegen, ehe man dieselbe unternahm. Gerade bei seinem etwas schwachen Charakter fühlte sich Van Mitten ganz erschüttert, was Bruno deutlich genug bemerkte. Er verdoppelte seine Bitten, brachte all' und jedes Argument zur Unterstützung seiner Sache vor, zeigte ihm seine, in der Taille um ein von Tag zu Tag mehr verschwindendes Bäuchlein schlotternden Kleider und brachte in Folge der Beredsamkeit, die er über diesen, ihn tief berührenden Gegenstand entwickelte, seinen Herrn schon dahin, seine Ansichten über die Nothwendigkeit einer Trennung von seinem Freunde Keraban zu theilen.

Van Mitten dachte nach. Er hörte aufmerksam zu und zuckte manchmal mit den Achseln. Nach dem Schlusse dieser sehr ernsthaften Unterredung plagte ihn nur noch die Furcht, mit seinem unverbesserlichen Reisegesellschafter darüber eine Verhandlung führen zu müssen.

»Nun gut, meinte Bruno, der auf Alles eine Antwort wußte, die Umstände sind uns günstig. Da der Seigneur Keraban nicht da ist, verlassen wir ihn ohne Abschied, und sein Neffe Ahmet mag ihn allein an der Grenze aufsuchen.«

Van Mitten schüttelte verneinend den Kopf.

»Es liegt da nur noch ein Hinderniß vor, sagte er.

– Welches? fragte Bruno.

– Nun, ich habe Constantinopel fast ohne Geld verlassen, und jetzt ist meine Börse geradezu leer.

– Können Sie, Mynheer, sich nicht eine hinreichende Summe aus der ottomanischen Bank schicken lassen?

– Nein, Bruno, das geht nicht an. Mein Depot von Rotterdam kann da noch nicht eingezahlt sein ...

– Um also Mittel zur Rückkehr zu erhalten? ... fragte Bruno.

– Bleibt mir nichts übrig, als mich an meinen Freund Keraban zu wenden,« erklärte Van Mitten.

Das diente Bruno freilich nicht zur Beruhigung. Sah sein Herr den Seigneur Keraban erst wieder und kam er diesem mit dem bewußten Vorschlage, so mußte das zu einer Erörterung führen, und Van Mitten war dabei gewiß nicht der Stärkere. Doch was konnte sonst geschehen? Sich direct an den jungen Ahmet wenden? Nein, das nützte nichts. Ahmet würde es nimmermehr auf sich nehmen, Van Mitten das Geld zu gewähren, um seinen Onkel zu verlassen. Daran war also gar nicht zu denken.

Zwischen dem Herrn und dem Diener wurde endlich nach langem Hin- und Herreden Folgendes abgemacht. Sie wollten Poti in Gesellschaft Ahmets verlassen und den Seigneur Keraban an der türkisch-russischen Grenze aufsuchen. Dort wollte Van Mitten unter dem Vorwande von Gesundheitsrücksichten, die ihm schlimme Strapazen verböten, erklären, daß es ihm unmöglich sei, eine derartige Reise fortzusetzen. Unter solchen Umständen würde sein Freund Keraban nichts einwenden und nicht umhin können, ihm das nöthige Geld vorzustrecken, um über See nach Constantinopel zurückzugelangen.

»Gleichviel! dachte Bruno, eine Verhandlung über diesen Gegenstand zwischen meinem Herrn und dem Seigneur Keraban wird ein sehr heikles Ding werden!«

Beide kamen nach dem Hôtel zurück, wo Ahmet ihrer wartete. Sie erwähnten gegen diesen nichts von ihren Projecten, welche er doch zu bekämpfen gesucht hätte. Man aß, schlief und Van Mitten träumte, daß Keraban ihn wie Pastetenfleisch kurz und klein hackte. Früh am Morgen wachten Alle auf und fanden an der Thür vier Pferde, bereit mit ihnen davon zu jagen.

Es war merkwürdig zu sehen, was Bruno für ein Gesicht machte, als er rittlings auf das Pferd zu sitzen kam. Da gab es neue Vorwürfe auf Rechnung des Seigneur Keraban. Ein anderes Beförderungsmittel war aber nicht zur Hand und Bruno mußte sich also fügen. Zum Glück gehörte sein Pferd zu den frommen Lämmern, welche sich überhaupt nicht aufbäumen können und mit denen Jeder leicht fertig wird. Auch die beiden Pferde Van Mitten's und Nizibs brauchten diesen keine Angst einzujagen. Nur Ahmet hatte ein muthiges Thier; als guter Reiter machte ihm das aber keine andere Sorge als die, seine Geschwindigkeit zu mäßigen, um die Anderen nicht zu weit zu überholen.

Man verließ Poti um fünf Uhr Morgens. Um acht Uhr, nach einem Ritt von zwanzig Werst, wurde in Nikolaja ein Frühstück eingenommen, ein zweites in Kintryschi, fünfzehn Werst weiter, gegen elf Uhr, und etwa um zwei Uhr Nachmittags machte Ahmet nach Zurücklegung einer Strecke von weiteren fünfundzwanzig Werst in Saturn Halt, in jenem Theil des nördlichen Lazistan, der noch zum russischen Reiche gehört.

Dieser früher türkische Hafen liegt sehr günstig an der Mündung des Tschorock, des Bathys der Alten. Es ist bedauerlich, daß die Türkei ihn verloren hat, denn dieser geräumige Hafen mit vortrefflichem Ankergrund kann eine große Zahl Schiffe, selbst solche von großem Tiefgang, aufnehmen. Die Stadt selbst bildet eigentlich nur einen großen Bazar aus Holz, den eine lange Hauptstraße durchzieht. Die Hand Rußlands streckt sich aber stets weiter über diese transkaukasischen Gebiete aus, sie hat Batum ebenso weggerafft, wie sie einst die noch übrigen Theile von Lazistan umklammern wird.

Ahmet war also hier noch nicht zu Hause, wie er es einige Jahre früher gewesen wäre. Er mußte dazu erst Gümieh an der Mündung des Tschorock passiren und zwanzig Werst von Batum das Dorf Makrialos, um dann, zehn Werst weiter, endlich die Grenze zu erreichen.

An diesem Punkte wartete an der Seite der Straße unter den wenig freundlichen Blicken eines Kosakendetachements ein Mann, der mit beiden Füßen auf türkischem Boden stand, aber erfüllt von einer Wuth, die sich eher begreifen als schildern läßt.

Das war der Seigneur Keraban.

Es war jetzt gegen sechs Uhr Abends, und seit Mitternacht des Vortages – das heißt genau seit dem Augenblick, wo er außerhalb des russischen Gebietes wieder in Freiheit gesetzt worden war – hatte Keraban's Wuth sich noch immer nicht gelegt.

Eine armselige Hütte neben der Landstraße mit höchst dürftigen Bewohnern, schlechtem Dache und losen Fenstern, die noch weniger an Lebensunterhalt bot, hatte ihm als Obdach oder vielmehr als Zufluchtsort gedient.

Schon in der Entfernung einer halben Werst hatten Ahmet und Van Mitten, als der Eine seinen Onkel, der Andere seinen Freund erkannte, ihre Pferde zu schnellerem Laufe getrieben, und stiegen nur wenige Schritte von ihm ab.

Der Seigneur Keraban, der hin- und herlief, und lebhafte Gesten machte, der mit sich selbst sprach oder vielmehr stritt, weil Niemand da war, der ihm hätte entgegnen können, schien seine Gefährten nicht bemerkt zu haben.

»Liebster Onkel! rief Ahmet, ihm die Arme entgegenstreckend, während Nizib und Bruno sein Pferd und das des Holländers hielten, liebster Onkel!

– Mein lieber Freund!« setzte Van Mitten hinzu.

Keraban ergriff Beider Hände und rief, indem er nach den Kosaken zeigte, die längs der Grenze auf und ab ritten:

»In der Eisenbahn! Diese Elenden haben mich gezwungen, einen Dampfwagen zu besteigen! Mich! ... Mich!« ...

Zu dieser Art der Personenbeförderung erniedrigt worden zu sein, die ihm eines wahren Türken unwürdig schien, das hatte offenbar den Seigneur Keraban am meisten aufgebracht. Nein, das konnte er nicht verdauen! Sein Zusammenstoß mit dem Seigneur Saffar, sein Streit mit dem unverschämten Manne, und was dem folgte, die Zertrümmerung des Reisewagens, die Verlegenheit, in der er sich wegen Fortsetzung der Fahrt befand, Alles vergaß er gegenüber der Ungeheuerlichkeit, auf einer Eisenbahn gewesen zu sein! Er, ein Altgläubiger!

»O, das ist unwürdig! antwortete Ahmet, der es hierbei ganz besonders für angezeigt hielt, seinem Oheim nicht zu widersprechen.

– Ja, unwürdig! stimmte Van Mitten ein, aber Alles in Allem, Freund Keraban, ist Ihnen doch nichts Ernsthaftes zugestoßen ...

– Nehmen Sie Ihre Zunge in Acht, Herr Van Mitten! rief Keraban. Nichts Ernsthaftes, sagten Sie?«

Ein Zeichen Ahmets bedeutete den Holländer, daß er auf falschem Wege sei. Sein alter Freund behandelte ihn schon als »Herr Van Mitten« und fuhr fort, ihn in gleicher Weise zu interpelliren.

»Wollen Sie mir wohl sagen, was Sie mit den unqualificirbaren Worten »nichts Ernsthaftes« eigentlich meinen?

– Freund Keraban, ich hatte die auf den Bahnen so gewöhnlichen Unfälle im Sinn, eine Entgleisung, einen Zusammenstoß ...

– Herr Van Mitten, eine Entgleisung wäre vorzuziehen gewesen! rief Keraban. Ja, bei Allah, es wäre besser gewesen, zu entgleisen, Arme, Beine und den Kopf zu verlieren, als eine solche Schande zu überleben!

– Glauben Sie doch, Freund Keraban ... fuhr Van Mitten fort, der nicht wußte, wie er seine unvorsichtigen Worte wieder gut machen sollte.

– Es handelt sich hier gar nicht darum, was ich glauben könnte, antwortete Keraban, auf den Holländer losfahrend, sondern darum, was Sie glauben! Es handelt sich um die Art und Weise, wie Sie diese Mißhandlung eines Mannes betrachten, der sich seit dreißig Jahren für Ihren Freund hielt!«

Ahmet wollte ein Gespräch ablenken, dessen deutlich vorherzusehendes Resultat nur eine Verschlimmerung der Sache sein konnte.

»Lieber Onkel, sagte er, ich glaube versichern zu können, daß Du Herrn Van Mitten falsch verstanden hast ...

– Gewiß, gewiß!

– Oder daß Herr Van Mitten vielmehr sich falsch ausgedrückt hat. Ganz wie ich, fühlt er eine tiefe Indignation über die Behandlung, welche jene verwünschten Kosaken Dir haben angedeihen lassen.«

Glücklicher Weise wurde das Alles türkisch gesprochen, so daß die »verwünschten Kosaken« nichts verstehen konnten.

»Im Grunde, lieber Onkel, ist auch ein Anderer an all' diesem Unheil schuld, und ein Anderer für das verantwortlich, was Dir widerfahren ist. Jener unverschämte Mann, der uns den Uebergang bei der Eisenbahn von Poti versperrte. Jener Saffar ist es.

– Ja, Saffar! rief Keraban, der sehr zur rechten Zeit von seinem Neffen auf eine andere Fährte gelenkt worden war.

– Ja, tausendmal ja, der Saffar! beeilte sich Van Mitten hinzuzufügen, das wollte ich eben sagen, Freund Keraban.

– Der infame Saffar! sagte Keraban.

– Der infame Saffar!« wiederholte Van Mitten, der sich schnell zum Echo seines Widersachers verwandelte.

Er hätte gern einen noch derberen Ausdruck gebraucht, fand aber keinen.

»Wenn wir den je wieder treffen! ... sagte Ahmet.

– Und nun nicht nach Poti zurückkehren zu können, rief Keraban, um ihn für seine Unverschämtheit büßen zu lassen, ihn zu beleidigen, ihm die Seele aus dem Leibe zu reißen und ihn den Händen des Henkers zu überliefern! ...

– Ihn pfählen zu lassen!« glaubte Van Mitten hinzufügen zu müssen, der sich jetzt desto wilder gesinnt zeigte, um eine gefährdete Freundschaft wieder zu sichern.

Dieser echt türkische Vorschlag – wie man gern zugeben wird – brachte ihm einen Händedruck von seinem Freunde Keraban ein.

»Lieber Onkel, sagte da Ahmet, augenblicklich wäre es wohl unnütz, nach dem Seigneur Saffar zu forschen.

– Und warum, lieber Neffe?

– Der Mann ist nicht mehr in Poti, belehrte ihn Ahmet. Als wir dorthin kamen, hatte er sich eben auf einem Dampfer eingeschifft, der den Küstendienst längs Kleinasiens versieht.

– Den Küstendienst Kleinasiens? rief Keraban. Folgt unsere Reise nicht demselben Küstengebiet?

– Ganz recht, lieber Onkel.

– Nun, dieser Schurke Saffar, antwortete Keraban, wird mir also noch einmal in den Weg kommen, Vallah-billah tielah! Weh' ihm!«

Nachdem er diese Formel, welche »der Eid Gottes« ist, ausgesprochen, konnte der Seigneur Keraban nichts Schrecklicheres mehr sagen; er schwieg.

Wie sollte aber nun, da kein Wagen mehr zur Hand war, die Reise fortgesetzt werden? Den ganzen Weg zu Pferde zurückzulegen, das konnte dem Seigneur Keraban nicht im Ernste vorgeschlagen werden. Seine Corpulenz machte das unausführbar. Wenn er von einem Pferde hätte leiden müssen, so mußte gewiß das Pferd noch mehr von ihm leiden. Es wurde also beschlossen, sich nach Choppa, dem nächstgelegenen Dorfe, zu begeben. Bis dahin waren es nur wenige Werst, die Keraban zu Fuße überwinden wollte – Bruno aber auch, denn er war von dem Ritt so gerädert, daß er sein Thier unmöglich wieder besteigen konnte.

»Nun, und das Geldanlehen, welches Sie anbringen wollten? ... sagte er zu seinem Herrn, den er etwas zur Seite genommen hatte.

– In Choppa!« tröstete ihn Van Mitten.

Dieser sah nicht ohne einige Unruhe den Augenblick herannahen, wo er fast gezwungen war, diese delicate Frage zu berühren.

Wenige Minuten später begaben sich die Reisenden die Straße hinab, welche neben dem Ufer von Lazistan verläuft.

Zum letzten Male wendete sich der Seigneur Keraban, ihnen die Faust zeigend, zurück zu den Kosaken, die ihn so unhöflich in den Wagen gesteckt – ihn ... in einen Eisenbahnwagen, und bei einer Windung der Küste verlor er die Grenze des russischen Reiches aus den Augen.


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