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Siebzehntes Capitel.

In dem es zu einem sehr ernsthaften Abenteuer kommt, welches den ersten Theil dieser Erzählung abschließt.

Abkasien bildet inmitten des kaukasischen Gebietes eine eigenartige Provinz, in der noch keine Civilverwaltung eingerichtet und die also nur den Militärbehörden unterworfen ist. Im Süden derselben verläuft der Fluß Ingur, dessen Gewässer die Grenze Mingreliens, eines der Hauptkreise des Gouvernements von Kutaïs bilden.

Es ist eine reiche, vielleicht eine der reichsten Provinzen des Kaukasus, nur verhindert das hier herrschende Regierungssystem eine vernünftige Verwerthung ihrer Schätze. Kaum können die Bewohner heutzutage rechtliche Eigenthümer von Grund und Boden werden, der bisher allein den regierenden Fürsten, Abkömmlingen einer persischen Dynastie, zugehörte. Die eigentlichen Eingeborenen sind noch heute

Halbwilde, haben keinen Begriff von der Zeit, besitzen keine Schriftsprache und reden eine Art Kauderwälsch, das nicht einmal ihre Nachbarn verstehen – einen so armseligen Dialekt, daß ihm die Worte für Bezeichnung der elementarsten Begriffe abgehen.

Van Mitten bemerkte auch bei der Durchreise sehr wohl den einschneidenden Unterschied zwischen dieser Landschaft und den in der Civilisation schon etwas fortgeschritteneren Gebieten, durch die er vorher gekommen war.

Zur Linken von der Straße dehnen sich meist Maispflanzungen, seltener Kornfelder aus. Scharf gehütete Ziegen und Schafe, frei aus den Weiden sich herumtummelnde Büffel, Pferde und Kühe, schöne Bäume, wie Silberpappeln, Feigen- und Nußbäume, Eichen, Weiden und Platanen, ferner hohe Gebüsche von Buchsbaum und Stechpalmen – das sind die Einzeltöne des Bildes, welches Abkasien bietet. Eine unerschrockene Reisende, Frau Carla Serena, sagt ganz richtig: »Vergleicht man die drei mit ihren Grenzen aneinanderstoßenden Provinzen Mingrelien, Samurzakan und Abkasien unter sich, so kommt man zu der Ueberzeugung, daß deren respective Civilisation auf derselben Stufe steht, wie die Cultur der sie einschließenden Gebirge. Mingrelien, das in socialer Hinsicht an der Spitze marschirt, hat bewaldete und nutzbringend bewirtschaftete Höhen; Samurzakan, welches schon zurücksteht, zeigt noch halbwilde Bodenerhebungen; Abkasien endlich, das fast noch im Urzustände beharrt, besitzt nur ganz uncultivirte Berge, welche die Hand des Menschen noch nicht berührt hat. Von allen kaukasischen Bezirken wird es auch Abkasien sein, das am spätesten in den Genuß der Wohlthat persönlicher Freiheit eintritt.«

Den ersten Halt nach Ueberschreitung der Grenze machten die Reisenden in Gagri, einem hübschen Dorfe mit schöner Kirche der heiligen Hypata, deren Sacristei augenblicklich als Speisegewölbe diente, einem Fort, welches auch das Militärkrankenhaus enthält, einem zu dieser Jahreszeit trockenen Bergstrom, der Gagrinska, und mit dem Meere auf der einen und fruchtbaren Landstrichen auf der anderen Seite, wo viele Akazienbäume wachsen und da und dort Gebüsche von süßduftenden Rosen blühen. In der Ferne, aber mindestens fünfzig Werst von hier, ragt der Grenzgebirgskamm zwischen Abkasien und Cirkassien empor, dessen im blutigen Feldzuge von 1859 von den Russen hart mitgenommene Bewohner den schönen Küstenstrich fast gänzlich verlassen haben.

Um neun Uhr Abends angelangt, hielt der Wagen hier die Nacht über still. Der Seigneur Keraban und seine Begleiter ruhten in einem der Dukhaus des Ortes aus und reisten am folgenden Morgen weiter.

Zu Mittag lieferte ihnen Pizunda, sechs Lieues von hier, frische Pferde. Van Mitten gewann dadurch eine halbe Stunde Zeit, um die Kirche zu bewundern, in der einst die alten Patriarchen des westlichen Kaukasus residierten. Es verdient übrigens dieses Bauwerk mit seiner aus Backstein aufgeführten, früher mit Kupfer bedeckten Kuppel, mit der Anordnung der, ein griechisches Kreuz nachahmenden Schiffe, den schönen Wandmalereien und seiner, von Jahrhunderte alten Ulmen beschatteten Façade unter die hervorragendsten Denkmäler der byzantinischen Baukunst des sechsten Jahrhunderts gezählt zu werden.

Am nämlichen Tage fuhren die Reisenden noch durch die Ortschaften Guduati und Gunista, und gegen Mitternacht gönnten sie sich, nach schneller Zurücklegung einer Wegstrecke von achtzehn Lieues, einige Stunden Ruhe in dem Städtchen Sukhum-Kale, das an einer langen, offenen, nach Süden zu bis zum Cap Kodor reichenden Bai erbaut ist.

Sukhum-Kale bildet den Haupthafen Abkasiens. Der letzte Krieg im Kaukasus zerstörte freilich theilweise diese Stadt, in der sich eine, der Mehrzahl nach aus Griechen, Armeniern, Türken und Russen mit wenigeren Abkasiern gemischte Bevölkerung zusammen drängte. Jetzt überwiegen hier kriegerische Elemente, und die Dampfer von Odessa oder Poti bringen immer neue Insassen für die, neben den alten Festungswerken errichteten Kasernen. Jene alten Werke wurden übrigens im sechzehnten Jahrhundert unter der Regierung Amurah's zu einer Zeit erbaut, wo die Türkei noch die Vormacht dieser Ländergebiete war.

Ein Imbiß von echt georgischer Art, bestehend aus einer etwas scharfen Suppe von Hühnerbouillon, einem Ragout von farcirtem Fleisch und saurer, mit Safran gewürzter Milch – ein Essen, das bei zwei Türken und einem Holländer nur sehr mittelmäßige Anerkennung fand – ging noch der, um neun Uhr des Morgens erfolgten Abreise vorher.

Nachdem sie den hübschen Flecken Kelasuri, der in dem schattigen Thale von Kelassur liegt, hinter sich gelassen, kamen die Reisenden, siebenundzwanzig Werst von Sukhum-Kale, über Kodor. Der Wagen rollte alsdann durch ungeheure Gehölze, die man mit Recht wirklichen Urwäldern vergleichen konnte, mit unentwirrbaren Lianen und dichtem Buschwerk, das nur mit der Axt oder mit Feuer zu überwinden war und dem es weder an Wölfen und Schlangen, noch an Bären und Schakals fehlte – ein Stück, an der Küste des Schwarzen Meeres verlorenes tropisches Amerika. Schon dringt aber die Axt der Holzfäller durch die Jahrhunderte lang völlig unberührten Wälder und die schönen Bäume derselben werden von den Bedürfnissen der Industrie, als Nutzholz für den Häuser- und Schiffsbau, in nicht ferner Zeit verschlungen werden.

Otchemchiri, der Hauptort des Bezirks, der Kodor und Samurzakan umfaßt, ein nicht unwichtiger Seeplatz an zwei Flüssen; ferner Ilori, dessen byzantinischer Tempel wohl einen Besuch verdiente, unter den gegebenen Verhältnissen aber nicht besichtigt werden konnte, und endlich Gajida und Anaklifa wurden an diesem Tage passirt, an dem man die größte Anzahl Stunden gefahren war, aber bei andauerndem Galopp des Gespanns auch die größte Strecke zurückgelegt hatte. Zu Anfang der Nacht, gegen elf Uhr, erreichten die Reisenden die andere Grenze Abkasiens, setzten durch eine Fuhrt über den Fluß Ingur und hielten, fünfundzwanzig Werst weiter, in Redut-Kale, dem Hauptorte Mingreliens, einer der Provinzen des Gouvernements Kutaïs.

Die wenigen noch übrigen Stunden der Nacht wurden dem Schlafe gewidmet. Trotz seiner Müdigkeit erhob sich Van Mitten doch sehr frühzeitig, um vor der Abfahrt noch einen nützlichen Ausflug zu machen. Er fand indeß Ahmet schon ebenso früh auf den Füßen, während der Seigneur Keraban in einem ziemlich guten Zimmer des Gasthauses noch weiterschlummerte.

»Ah, schon aus dem Bette? sagte Van Mitten, als er Ahmet, der schon ausgehen wollte, wahrnahm. Hat mein junger Freund etwa die Absicht, mich bei einem Morgenspaziergange zu begleiten?

– Hab' ich denn Zeit dazu? erwiderte Ahmet. Muß ich nicht für Wiederersatz des Reiseproviants Sorge tragen? Sehr bald überschreiten wir nun die russisch-türkische Grenze, und es möchte nicht leicht sein, sich in den Wüsteneien von Lazestan und Anatolien neue Lebensmittel zu verschaffen. Sie sehen also ein, daß ich keine Minute zu verlieren habe.

– Doch würden Sie, fragte der Holländer weiter, nicht nachher über einige Stunden verfügen können?

– Wenn ich fertig bin, Herr Van Mitten, muß ich nach dem Wagen sehen und mich mit einem Stellmacher in's Einvernehmen setzen, damit dieser einige Schraubenmuttern anzieht, die Achsen schmiert, nachsieht, ob Zaum und Zügel nicht zu abgenützt sind, und die Hemmschuhkette auswechselt. Jenseits der Grenze müssen wir sicher sein, keiner Reparaturen zu bedürfen. Ich hoffe, den Wagen in ganz tadellosen Zustand gesetzt zu sehen, und rechne darauf, daß er uns dann bis zum Ende dieser wunderlichen Reise Dienst thut.

– Schön! Aber wenn das geschehen ist? ... wiederholte Van Mitten.

– Dann hab' ich mich nach Wechselpferden umzuthun und werde mich nach der Post begeben, um das Nöthige zu ordnen.

– Sehr schön! Aber dann? ... sagte noch einmal Van Mitten, der von seiner Idee nicht abging.

– Dann wird es Zeit sein, abzufahren, erwiderte Ahmet, und wir werden abfahren. Ich verlasse Sie also ...

– Noch einen Augenblick, mein junger Freund, fuhr der Holländer fort, und gestatten Sie mir eine Frage.

– Sprechen Sie; aber schnell, Herr Van Mitten.

– Sie wissen ohne Zweifel, daß dieses Land die merkwürdige Provinz Mingrelien ist?

– Ja, so beiläufig.

– Es ist das Gebiet, welches der poetische Phasis bewässert, dessen Goldflittern sich einst an die Stufen des Marmorpalastes an seinen Ufern hefteten.

– Richtig.

– Hier liegt vor uns das sagenhafte Kolchis, wo Jason und seine Argonauten, mit Unterstützung der Zaubrerin Medea, um das kostbare Vließ kämpften, welches ein furchtbarer Drache bewachte, ohne von den schrecklichen Stieren zu reden, die Feuer und Flammen spieen.

– Ich widerstreite dem nicht.

– Hier endlich, in jenen am Horizont aufstrebenden Bergen, an dem Felsen von Khoneli, der die neuzeitliche Stadt Kutaïs beherrscht, war es, wo Prometheus, der Sohn des Iapethos und der Klymene, nachdem er kühn aus dem Himmel das Feuer geraubt, auf Befehl des Jupiter angeschmiedet wurde und ihm ein Geier alltäglich die Leber, den Sitz der bösen Begierden, abnagte.

– Alles völlig wahr, Herr Van Mitten; aber ich wiederhole Ihnen, ich hab' es eilig. Was bezwecken Sie mit diesen Reminiscenzen?

– Sehr einfach, mein junger Freund, antwortete Van Mitten, den liebenswürdigsten Ausdruck annehmend, ich wollte damit zeigen, daß ein Aufenthalt von wenigen Tagen in diesem Theile Mingreliens und bis nach Kutaïs hin uns recht nutzbringend sein würde und daß ...

– Sie schlagen damit also vor, unterbrach ihn Ahmet, einige Zeit in Redut-Kale zu verweilen?

– O, vier bis fünf Tage würden hinreichen ...

– Würden Sie das auch meinem Onkel Keraban vorschlagen? fragte Ahmet nicht ohne einige Bosheit.

– Ich? ... Niemals, mein junger Freund, erklärte der Holländer; das gäbe Veranlassung zu einem Wortwechsel, und seit dem beklagenswerten Auftritte mit den Nargilehs wird es mir, das versichere ich Ihnen, nie wieder in den Sinn kommen, mich mit diesem vortrefflichen Manne in irgend welche Erörterung einzulassen.

– Woran Sie sehr wohl thun dürsten.

– Augenblicklich wende ich mich hiermit aber nicht an den schrecklichen Keraban, sondern an meinen jungen Freund Ahmet.

– Darin irren Sie doch, lieber Herr Van Mitten, antwortete Ahmet, diesen an der Hand fassend. Es ist nicht Ihr junger Freund, mit dem Sie eben reden.

– Und wer denn sonst?

– Nun, der Verlobte Amasias, Herr Van Mitten, und Sie wissen doch, daß dieser keine Stunde zu verlieren hat.«

Damit empfahl sich Ahmet, um die Vorbereitungen zur Weiterreise zu treffen.

Ganz enttäuscht, sah Van Mitten sich darauf beschränkt, in Gesellschaft des treuen, aber ziemlich niedergeschlagenen Bruno eine wenig belehrende, kurze Promenade durch das Städtchen Redut-Kale zu unternehmen.

Zu Mittag waren alle Reisenden zum Aufbruch bereit. Der sorgfältig untersuchte, an einzelnen Stellen ausgebesserte Wagen versprach unter wünschenswerthesten Verhältnissen noch für eine lange Wegstrecke auszuhalten. Bei der Fülle von Lebensmitteln in den Kutschkästen hatte man in dieser Hinsicht nichts zu fürchten, wenn es auch eine große Anzahl Werst oder vielmehr »Agatchs« zurückzulegen galt, denn auf diesem zweiten Theile der Rundfahrt durchzogen die Reisenden ja Provinzen der asiatischen Türkei; Ahmet, als vorsorglicher Mann, konnte sich gewiß nur Glück wünschen, alle Zufälligkeiten bezüglich der Nahrung und der Weiterbeförderung in Rechnung gezogen zu haben.

Zur größten Befriedigung sah der Seigneur Keraban die Fahrt sich ohne Unfälle wie ohne Zwischenfälle vollenden. Wie er sich als Alttürke in seiner Eigenliebe geschmeichelt fühlen würde, wenn er am linken Ufer des Bosporus erschien und die ottomanischen Behörden und die Erfinder jenes ungerechten Personalzolles verspotten konnte, das brauchen wir wohl nicht weiter auszumalen.

Da Redut-Kale übrigens nur vierundzwanzig Werst von der türkischen Grenze lag, so rechnete der starrsinnigste aller Osmanlis darauf, vor Ablauf von vierundzwanzig Stunden den Fuß wieder auf ottomanischen Boden zu setzen. Dann erst würde er wieder zu Hause sein.

»Vorwärts, lieber Neffe, und möge Allah uns auch ferner schützen! rief er in bester Laune.

– Vorwärts denn, lieber Onkel!« antwortete Ahmet.

Beide nahmen Platz im Coupé; ihnen folgte Van Mitten, noch immer vergeblich bemüht, jenen mythologischen Gipfel des Kaukasus zu erkennen, auf dem Prometheus sein himmelschänderisches Unterfangen büßte.

Unter dem Peitschengeknall des Jeneschik und dem Wiehern eines muthigen Rossepaares ging die Reise weiter.

Nach einer Stunde überschritt der Wagen die Grenze von Guriel, das seit 1801 mit Mingrelien verbunden ist. Sein Hauptort ist Poti, ein ziemlich wichtiger Hafen des Schwarzen Meeres, den ein Schienenstrang mit Tiflis, der Hauptstadt von Georgien, verbindet.

Die Straße bog jetzt ein wenig nach dem Inneren einer fruchtbaren Landschaft ab. Da und dort zeigten sich Dörfer, deren Häuser nicht nebeneinander, sondern weit in Maisfeldern zerstreut errichtet sind. Diese Bauwerke bieten einen höchst merkwürdigen Anblick, da sie nicht aus Holz, sondern aus geflochtenem Stroh, ähnlich den Erzeugnissen der Korbmacherei, hergestellt sind. Van Mitten versäumte nicht, diese Eigenthümlichkeit in seinem Reisenotizbuch aufzuzeichnen. Und doch waren es keineswegs solche immerhin unbedeutende Einzelheiten, welche er gelegentlich der Fahrt durch das alte Kolchis schriftlich aufzubewahren erwartete. Nun, vielleicht lächelte ihm das Glück mehr, wenn er nach den Ufern des Rion kam, jenes Flusses bei Poti, der kein geringerer als der berühmte Phasis des Alterthums, und, wenn man verschiedenen gelehrten Geographen glauben darf, einer der vier Ströme des Paradieses ist.

Nach einer weiteren Stunde hielten die Reisenden vor den Geleisen der Poti-Tifliser Eisenbahn an einer Stelle, wo die Straße den Schienenweg kreuzt, etwa eine Werst unterhalb der Station Sakario.

Hier befand sich ein Niveauübergang, den man benutzen mußte, um unter Abkürzung des Weges am linken Flußufer nach Poti zu gelangen.

Die Pferde standen also vor der eben geschlossenen Bahnbarrière still.

Die Wagenfenster waren herabgelassen worden, so daß der Seigneur Keraban und seine zwei Begleiter bequem sehen konnten, was draußen vorging.

Der Kutscher klatschte und rief nach dem Bahnwärter, der doch zunächst gar nicht erschien.

Keraban steckte den Kopf durch die Thüre.

»Untersteht sich diese verwünschte Eisenbahngesellschaft, rief er, auch noch, uns die kostbare Zeit zu stehlen? Warum ist dieser Schlagbaum herabgelassen, wenn ein Wagen kommt?

– Wahrscheinlich, weil binnen Kurzem ein Zug zu erwarten ist, bemerkte Van Mitten gelassen.

– Ja, weshalb soll denn ein Zug kommen?« versetzte Keraban.

Noch immer wiederholte der Kutscher vergeblich seine Rufe. Kein lebendes Wesen erschien in der Thür des Wächterhäuschens.

»Mög' ihm Allah den Hals umdrehen! rief Keraban. Wenn er nicht kommt, werd' ich schon selbst zu öffnen wissen! ...

– Etwas Geduld, lieber Onkel! bat Ahmet, indem er Keraban, der schon aussteigen wollte, zurückhielt.

– Geduld? ...

– Ja; da ist schon der Bahnwärter!«

Wirklich trat der Mann eben aus seinem Häuschen und kam langsamen Schrittes aus das Gespann zu.

»Können wir hinüber fahren? Ja oder nein? fragte Keraban kurz angebunden.

– Ja, es geht noch, erklärte der Wärter. Unter zehn Minuten kann der Zug von Poti noch nicht hier sein.

– So öffnen Sie die Barrière und halten Sie uns nicht unnütz auf. Wir haben Eile.

– Ich werde sogleich öffnen, antwortete der Bahnwärter.

Mit diesen Worten begab er sich zunächst nach der jenseitigen Barrière, die er beseitigte, und dann erst nach der, vor welcher der Wagen hielt; Alles ging aber so gemächlich, wie es nur ein Mann ausführen kann, der gegen die Anforderungen von Reisenden mit vollkommener Gleichgiltigkeit gepanzert ist.

Der Seigneur Keraban kochte schon vor Ungeduld.

Endlich lag der Weg nach allen vier Seiten frei und der Wagen setzte sich wieder in Bewegung.

Da tauchte auf der andern Seite eine Gruppe Reisender auf. Ein vornehmer Türke auf stolzem Rosse, gefolgt von vier Reitern, die ihn wie eine Leibwache begleiteten, wollte eben den Niveauübergang passiren.

Es war das offenbar eine hervorragende Persönlichkeit. Etwa dreißig Jahre alt, zeigte seine hohe Gestalt jenen der asiatischen Race eigenthümlichen edlen Anstand. Dazu besaß er ein hübsches Gesicht, mit Augen, die sich gewiß am Feuer der Leidenschaft entzünden konnten, eine glanzlose Stirn und schwarzen, bis halb auf die Brust niederwallenden Vollbart, einen Mund mit blendend weißen Zähnen und Lippen, welche nicht zu lächeln verstanden: kurz, er machte den Eindruck eines befehlerischen Mannes, dem Lebensstellung und Vermögen eine gewisse Machtfülle verliehen und der an die Erfüllung seiner Wünsche, wie an die Beachtung jeder Willensäußerung gewöhnt war, während jeder Widerstand ihn zu schrankenlosen Gewaltmitteln trieb. In dieser Natur, deren türkischer Typus noch Verwandtschaft mit arabischem Typus zeigte, steckte noch ein guter Theil Wildheit.

Der vornehme Herr trug einfache Reisekleidung nach der Mode derjenigen reichen Osmanlis, welche mehr Asiaten als Europäer sind. Unter einem dunkelfarbigen Kaftan suchte er offenbar seine wichtige Persönlichkeit nur vor Anderer Augen zu verbergen.

Der Wagen hatte angesichts der ebenfalls die Pferde parirenden Reiter wieder gehalten; es schien aber nicht als ob der Fremde Lust habe, dem Seigneur Keraban den Weg zu überlassen.

»Machen Sie Platz! rief Keraban den Reitern zu, deren Pferde denen des Wagens Kopf an Kopf gegenüberstanden.

– Machen Sie selbst Platz! antwortete der Neuangekommene, der entschlossen schien, keinen Schritt zurückzuweichen.

– Ich war zuerst hier!

– So werden Sie zu Zweit' hinüberkommen!

– Ich weiche aber nicht vom Flecke!

– Ich auch nicht!«

Bei dieser Tonart angelangt, schien der Wortwechsel eine recht üble Wendung zu nehmen.

»Lieber Onkel, bat Ahmet, was kann es uns denn schaden? ...

– Herr Neffe, es schadet wohl sehr viel!

– Lieber Freund ... mischte sich auch Van Mitten ein.

– Laßt mich in Ruhe!« polterte Keraban in einem Tone hervor, der den Holländer gleich wieder in seine Ecke zurückschreckte.

Jetzt gab auch der Bahnwärter sein Wort dazu und rief:

»Schnell, schnell! Beeilen Sie sich! ... Der Zug von Poti muß jede Minute kommen. Beeilen Sie sich!«

Der Seigneur Keraban freilich hörte kaum noch. Nachdem er den Wagenschlag aufgestoßen, war er auf den Strang hinaus gesprungen und Ahmet wie Van Mitten thaten desgleichen, während Nizib und Brutto eiligst aus dem Cabriolet flüchteten.

Der Seigneur Keraban trat gerade auf den Reiter zu, dessen Pferd er am Zügel packte.

»Wollen Sie mich vorbeilassen? rief er mit einer Heftigkeit, die er nicht zu beherrschen vermochte.

– Niemals!

– Wir werden ja sehen!

– Sehen?

– Sie kennen den Seigneur Keraban nicht!

– Und Sie nicht den Seigneur Saffar!«

Es war in der That der Seigneur Saffar, der sich, nach einem schnell erledigten Ausflug durch die Gebiete des südlichen Kaukasus, eben nach Poti begab.

Der Name Saffar aber, der Name des Mannes, der ihm in Kertsch die Wechselpferde vor der Nase weggenommen, war nur zu sehr geeignet, den Zorn des Seigneur Keraban noch weiter zu steigern. Diesem Manne, den er schon auf dem Kerbholz hatte, sollte er weichen! – Nimmermehr! Er hätte sich eher unter den Hufen seines Pferdes zermalmen lassen!

»Ah, Sie sind also jener Seigneur Saffar? rief er. Nun denn, zurück, Seigneur Saffar!

– Vorwärts!« sagte Saffar, indem er den Reitern ein Zeichen gab, den Uebergang mit Gewalt zu nehmen.

In der Ueberzeugung, daß nichts den Seigneur Keraban werde zum Nachgeben vermögen, beeilten sich Ahmet und Van Mitten, ihm zu Hilfe zu kommen.

»So fahren und reiten Sie doch vor oder rückwärts, rief der Bahnwärter etwas ängstlich, aber räumen Sie das Geleise! Da kommt der Zug!«

Wirklich hörte man schon das Pfeifen der Locomotive, welche eine scharfe Curve noch verbarg.

»Rückwärts! rief Keraban.

– Rückwärts!« befahl auch Saffar.

Schon war das Keuchen der Locomotive ganz deutlich zu vernehmen. Der Wärter wußte sich kaum noch Rath und schwang seinen Hut, um den Zug womöglich zum Stehen zu bringen ... Es war zu spät ... die Wagenschlange donnerte hinter der Curve hervor ...

Der Seigneur Saffar, welcher einsah, daß er unmöglich noch über den Schienenstrang kommen konnte, riß sein Pferd zurück. Bruno und Nizib hatten sich zur Seite geworfen. Ahmet und Van Mitten packten Keraban und zerrten ihn mit sich weg, während der Kutscher auf die Pferde einhieb und über die Barrière hinauszugelangen suchte.

Da sauste der Zug mit furchtbarer Schnelligkeit vorüber. Dabei stieß er jedoch noch an den hinteren Theil des Wagens, der noch nicht über das Geleise hinausgekommen war, zertrümmerte denselben vollständig und brauste davon, ohne daß die Passagiere desselben von dem geringfügigen Hinderniß auch nur einen leichten Stoß empfunden hätten.

Ganz außer sich, wollte der Seigneur Keraban auf seinen Gegner losstürzen; dieser aber trieb sein Pferd an, ritt verächtlich und ohne ihn eines Blickes zu würdigen, über den Schienenstrang und verschwand mit den vier andern Reitern im Galopp auf der andern Straße, welche neben dem rechten Ufer des Flusses sich hinzieht.

»Der Schurke! Der Elende! ... rief Keraban, den sein Freund Van Mitten noch zurückhielt, wenn ich ihm je wieder begegne! ...

– Ja wohl, aber vorläufig haben wir keinen Reisewagen mehr, antwortete Ahmet, der traurig die formlosen, über den Strang hinausgeschleuderten Reste des Gefährtes betrachtete.

– Zugegeben, lieber Neffe; aber ich bin doch, und zwar als der Erste über die Bahn gekommen!«

Daraus sprach wieder der waschechte Keraban.

Da nahten sich einige Kosaken von denen, welchen in Rußland die Bewachung der Landstraßen und Schienenstränge obliegt. Sie hatten Alles mit angesehen, was eben an der Bahnbarrière vorgefallen war.

Ihre erste Bewegung bestand darin, zu dem Seigneur Keraban heranzureiten und ihn am Kragen zu nehmen. Das veranlaßte natürlich einen Protest des genannten Keraban, eine unnütze Intervention seines Neffen und seines Freundes, damit noch heftigeren Widerstand des größten Trotzkopfs der Menschheit, der nach einer Zuwiderhandlung gegen die bahnpolizeilichen Vorschriften seine Lage durch Widersetzlichkeit gegen die Befehle der Obrigkeit noch zu verschlimmern drohte.

Kosaken widerspricht man am besten ebenso wenig, wie Gendarmen; noch weniger leistet man ihnen Widerstand. Wie er sich auch geberdete, wurde der jetzt vor Wuth schäumende Keraban nach der Station Sakario hineintransportirt, während Ahmet, Van Mitten, Bruno und Nizib höchst bestürzt neben dem zertrümmerten Wagen zurückblieben.

»Da sitzen wir hübsch in der Klemme! sagte der Holländer.

– Und nun gar mein Onkel! antwortete Ahmet. Verlassen dürfen wir ihn auf keinen Fall!«

Zehn Minuten später brauste der von Tiflis nach Poti hinabgehende Zug an ihnen vorüber. Sie sahen sich denselben an ...

Da, am Fenster eines der Waggons erschien – der Kopf Keraban's mit verwirrtem Haar, roth vor Wuth, mit blutgefüllten Augen und ganz außer Fassung, nicht weniger wegen der Thatsache, verhaftet worden zu sein, sondern vorzüglich auch, weil diese wilden Kosaken ihn zum ersten Male in seinem Leben gezwungen hatten, auf einer Eisenbahn zu fahren.

Es schien jedoch von Wichtigkeit, ihn in dieser Lage nicht sich allein zu überlassen. Es galt, ihn aus der Klemme zu ziehen, in welche ihn allem sein harter Kopf gebracht, und nicht durch eine Verzögerung, welche sich möglicherweise in die Länge ziehen konnte, die richtige Ankunft in Scutari auf's Spiel zu setzen.

Die Trümmer des Wagens, der nun doch nicht mehr zu gebrauchen war, liegen lassend, mietheten Ahmet und seine Begleiter einen Bauernkarren; der Kutscher spannte seine Pferde vor, und mit größtmöglicher Schnelligkeit fuhren sie auf der Straße nach Poti hin.

Die sechs Lieues bis zur Stadt wurden binnen zwei Stunden zurückgelegt.

Gleich nach der Ankunft daselbst begaben sich Ahmet und Van Mitten nach dem Polizeigebäude, um den unglücklichen Keraban zu reclamiren und ihn wieder in Freiheit setzen zu lassen.

Hier erhielten sie jedoch einen Bescheid, der sie, wenigstens in gewisser Hinsicht, ebenso bezüglich des, des Uebelthäters harrenden Schicksals, wie etwa gefürchteter unliebsamer Verzögerungen beruhigte.

Nachdem der Seigneur Keraban eine tüchtige Geldstrafe für jene Contravention und wegen Widerstandes gegen die Staatsgewalt erlegt, war er den Kosaken wieder übergeben und von diesen zur Grenze geschafft worden.

Jetzt handelte es sich also darum, ihn baldmöglichst wieder zu treffen und zu dem Ende ein Fortschaffungsmittel zu erwerben.

Ahmet wünschte auch zu wissen, was aus dem Seigneur Saffar geworden sei.

Der Seigneur Saffar hatte Poti schon verlassen und sich sofort auf dem Dampfer eingeschifft, der die verschiedenen Küstenplätze Kleinasiens anläuft. Ahmet konnte aber nicht erfahren, wohin sich jene wichtigthuende Persönlichkeit begab, und sah am Horizont nichts weiter, als die sich lang hinziehende Rauchsäule des Schiffes, das ihn nach Trapezunt beförderte.

 

Ende des ersten Theiles.


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