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Sechzehntes Capitel.

Der Kapitän Nemo. – Seine ersten Worte. – Die Geschichte eines Helden der Unabhängigkeit. – Der Haß gegen die Eroberer. – Seine Genossen. – Das Leben unter dem Meere. – Allein. – Der letzte Hafen des Nautilus an der Insel Lincoln. – Der geheimnißvolle Genius der Insel.

———

Bei diesen Worten erhob sich der daliegende Mann und erschien sein Antlitz in vollem Lichte: ein prächtiger Kopf, eine hohe Stirn, stolzer Blick, weißer Bart, reichliches, nach rückwärts gestrichenes Haar.

Dieser Mann stützte sich mit der Hand auf die Rücklehne des Divans, den er soeben verließ. Sein Blick war ruhig. Man sah, daß eine heimliche Krankheit ihn nach und nach gebrochen hatte, doch erschien seine Stimme voll und stark, als er auf englisch und in einem Tone des höchsten Erstaunens sagte:

»Ich habe keinen Namen, mein Herr!

– Ich kenne Sie«, erwiderte Cyrus Smith.

Kapitän Nemo richtete einen glühenden Blick auf den Ingenieur, als wolle er ihn vernichten.

Dann sank er in die Kissen des Divans zurück:

»Doch, was thut es, murmelte er, ich werde ja doch bald sterben!«

Cyrus Smith näherte sich dem Kapitän Nemo, und Gedeon Spilett ergriff seine Hand, welche er brennend heiß fand. Ayrton, Pencroff und Harbert hielten sich in ehrerbietiger Ferne in einer Ecke des prächtigen Salons, dessen Luft mit elektrischen Effluvien gesättigt schien.

Kapitän Nemo hatte seine Hand zurückgezogen und nöthigte den Ingenieur und den Reporter durch ein Zeichen, Platz zu nehmen.

Alle betrachteten ihn mit erklärlicher Neugier. Er war es also, den sie den »Genius der Insel« nannten, das mächtige Wesen, dessen Intervention bei so vielen Gelegenheiten sich so wirksam erwiesen; der Wohlthäter, dem sie so viel Dank schuldeten. Vor ihren Augen sahen sie nur einen Mann, wo Pencroff und Nab fast einen Gott zu sehen gehofft hatten, und dieser Mann war dem Tode nahe!

Wie kam es aber, daß Cyrus Smith den Kapitän Nemo kannte? Warum erhob sich dieser so rasch, als er seinen Namen, den er gänzlich unbekannt wähnte, nennen hörte?…

Der Kapitän hatte auf dem Divan wieder Platz, genommen, und auf seinen Arm gestützt sah er den Ingenieur an, der neben ihm saß.

»Sie kennen den Namen, den ich geführt habe? fragte er.

– Ich kenne ihn, antwortete Cyrus Smith, ebenso wie den Namen des wunderbaren unterseeischen Apparates…

– Den Nautilus? sagte halb lächelnd der Kapitän.

– Den Nautilus.

– Aber wissen Sie… Wissen Sie, wer ich bin?

– Ich weiß es.

– Fast dreißig Jahre sind verflossen, seitdem ich keine Verbindung mit der bewohnten Welt mehr habe, dreißig Jahre, die ich in den Tiefen des Meeres verlebte, die einzige Umgebung, in der ich die Unabhängigkeit fand! Wer hat mein Geheimniß verrathen?

– Ein Mann, der Ihnen nie unterthan war, Kapitän Nemo, und der folgerichtig des Verraths nicht angeklagt werden kann.

– Jener Franzose, den der Zufall vor sechzehn Jahren an meinen Bord führte.

– Derselbe.

– Dieser Mann nebst seinen zwei Gefährten ist also nicht in dem Maelstrom umgekommen, in den der Nautilus gerathen war?

– Sie sind nicht umgekommen, und unter dem Titel: ›20,000 Meilen unter dem Meere‹ ist ein Werk erschienen, das Ihre Geschichte erzählt.

– Meine Geschichte während weniger Monate, mein Herr! entgegnete lebhaft der Kapitän.

– Es ist wahr, antwortete Cyrus Smith, doch wenige Monate dieses eigenthümlichen Lebens haben hingereicht, Sie kennen zu lernen…

– Als einen Schuldbeladenen ohne Zweifel? erwiderte Kapitän Nemo, indem über seine Lippen ein überlegenes Lächeln spielte. Ja, als einen Empörer, der von der Menschheit in Bann gethan war!«

Der Ingenieur schwieg.

»Nun, mein Herr?

– Ich habe über Kapitän Nemo nicht abzuurtheilen, antwortete Cyrus Smith, mindestens nicht über seine Vergangenheit. Wie aller Welt sind auch mir die Beweggründe für ein solch' abenteuerliches Leben unbekannt, und ich kann über die Folgen nicht urtheilen, wo mir die Ursachen derselben fehlen; das aber weiß ich, daß eine wohlthätige Hand seit unserer Ankunft auf der Insel Lincoln stets über uns waltete, daß wir Alle unser Leben einem guten, edelmüthigen, mächtigen Wesen verdanken, und daß Sie, Kapitän Nemo, dieses gute, edelmüthige und mächtige Wesen waren!

– Ich war es!« erwiderte einfach der Kapitän.

Der Ingenieur und der Reporter hatten sich erhoben. Ihre Gefährten näherten sich, und schon wollte die Erkenntlichkeit ihrer Herzen sich in Bewegungen und Worten Luft wachen, als Kapitän Nemo sie durch ein Zeichen mit der Hand zurückhielt und mit bewegterer Stimme, als man von ihm erwartet hätte, sagte:

»Erst wenn Ihr mich angehört habt!« Die Geschichte des Kapitän Nemo ist wirklich unter dem Titel: »20,000 Meilen unter dem Meere« veröffentlicht worden. Wir erinnern hier an die schon bei Gelegenheit der Erzählung von Ayrton's Abenteuern gemachte Bemerkung wegen der Nichtübereinstimmung der Daten, und verweisen wir die Leser auf jene Notiz.

(Anmerkung des Herausgebers.)

In wenigen kurzen und verständlichen Worten er zählte der Kapitän sein ganzes Leben.

Seine Erzählung nahm keine lange Zeit in Anspruch, und doch mußte er alle ihm verbliebene Energie zusammen raffen, um sie zu Ende zu führen. Offenbar kämpfte er gegen eine ungeheure Schwäche. Mehrmals bat ihn Cyrus Smith, sich zu erholen, aber er schüttelte den Kopf, wie ein Mann, dem der morgende Tag nicht mehr gehört, und als der Reporter ihm seine Hilfe anbot, antwortete er:

»Sie ist unnütz; meine Stunden sind gezählt.«

Kapitän Nemo war ein Indier, der Prinz Dakkar, Sohn eines Rajahs des früher unabhängigen Territoriums Bundelkund und Neffe des indischen Helden Tippo-Saïb. Sein Vater schickte ihn schon im zehnten Lebensjahre nach Europa, um ihn eine möglichst gute Erziehung genießen zu lassen, und mit der zu Grunde liegenden Absicht, eines Tages mit gleichen Waffen gegen Diejenigen kämpfen zu können, welche er als die Unterdrücker seines Landes betrachtete.

Vom zehnten bis zum dreißigsten Jahre unterrichtete sich Prinz Dakkar in Folge seiner hervorragenden Geistesgaben nach allen Seiten, in den Wissenschaften und Künsten, die er sich alle in hohem Grade aneignete.

Prinz Dakkar bereiste ganz Europa. Seine Geburt und seine Reichthümer machten, daß er überall gesucht wurde; aber die Versuchungen der Welt gingen an ihm vorüber. Jung und schön, blieb er immer ernst, verschlossen, verzehrt von einer nie gestillten Lernbegierde und mit unversöhntem Haß im Herzen.

Der Prinz Dakkar haßte. Er haßte das Land, an das er nie den Fuß zu setzen gewünscht hatte, die Nation, deren Fortgeschrittensein er unablässig leugnete, er haßte England und desto mehr, je mehr er es in mancher Hinsicht bewunderte.

Dieser Indier vereinigte in sich den ganzen wilden Haß des Besiegten gegen den Sieger, der niemals Gnade vor ihm finden konnte. Als Sohn eines der Souveräne, welche sich das vereinigte Königreich immer nur dem Namen nach zu unterwerfen vermochte, wollte dieser Sprößling der Familie Tippo-Saïb's, der, in der Idee der Wiedervergeltung und Rache erzogen, eine unauslöschliche Liebe zu seinem poetischen Vaterlande im Herzen trug, niemals den Fuß auf das von ihm verfluchte Land setzen, dem Indien seine Unterwerfung verdankte.

Prinz Dakkar ward ein Künstler, dem die Wunder der Kunst das ganze Herz erfüllten, ein Gelehrter, dem keine Wissenschaft fremd war, ein Staatsmann, gebildet an den Höfen Europas. In den Augen Derer, welche ihn oberflächlich betrachteten, konnte er für einen jener Kosmopoliten gelten, die begierig sind Alles zu wissen, aber es verachten, etwas zu thun; für einen jener reichbegüterten Reisenden, jener stolzen platonischen Charaktere, welche ohne Rast die ganze Welt durchfliegen und keinem Lande angehören.

Dem war aber nicht so. Dieser Künstler, dieser Gelehrte war Indier geblieben in seinem Herzen, Indier durch seinen Wunsch nach Rache, Indier durch die Hoffnung, welche er nährte, eines Tages die Rechte seines Landes wiederherzustellen, daraus den Fremdling zu vertreiben und ihm seine Unabhängigkeit wieder zu geben.

Im Jahre 1849 kam Prinz Dakkar nach Bundelkund zurück. Er verehelichte sich mit einer vornehmen Indierin, deren Herz, wie das seine, bei dem Unglücke des Vaterlandes blutete. Er hatte zwei Kinder, welche er zärtlich liebte. Ueber dem häuslichen Glücke vergaß er aber nie die Demüthigung Indiens. Er wartete auf eine Gelegenheit. Sie kam.

Zu schwer lag Englands Joch auf den indischen Völkern. Prinz Dakkar lieh den Unzufriedenen Worte. Er flößte ihren Herzen den ganzen Haß ein, der ihn gegen die Fremden erfüllte. Er durchzog nicht allein die noch unabhängigen Gebiete der indischen Halbinsel, sondern auch die, welche schon direct unter englischer Herrschaft standen. Er erinnerte an die großen Tage Tippo-Saïbs, der bei Seringapatam den Heldentod für's Vaterland gestorben war.

Im Jahr 1857 brach der große Aufstand der Sepoys aus. Der Prinz Dakkar wurde die Seele desselben. Er organisirte die ungeheure Erhebung und brachte seine Talente und seine Reichthümer dieser Sache zum Opfer. Er trat selbst mit seiner Person ein; er stand stets im ersten Treffen und wagte sein Leben wie der geringste dieser Helden, die sich erhoben hatten, ihr Vaterland zu befreien; zehnmal ward er bei zwanzig Gefechten verwundet und hatte doch den Tod nicht finden können, als die letzten Kämpfer für die Unabhängigkeit unter den englischen Kugeln fielen.

Niemals war die Herrschaft Englands über Indien in größerer Gefahr, und hätten die Sepoys, wie sie hofften, von auswärts Hilfe erhalten, so wäre es in Asien wahrscheinlich um den Einfluß und die Herrschaft des vereinigten Königreichs geschehen gewesen.

Der Name des Prinzen Dakkar lebte damals in Aller Munde. Der Held, der ihn trug, verbarg sich nicht und kämpfte mit offenem Visir. Auf seinen Kopf wurde ein Preis gesetzt, doch es fand sich kein Verräther, der ihn ausgeliefert hätte, und sein Vater, seine Mutter, sein Weib und seine Kinder zahlten mit ihrem Leben, bevor er noch von der Gefahr Kenntniß hatte, die ihnen um seinetwillen drohte…

Noch einmal unterlag das Recht der Gewalt; aber nie schreitet die Civilisation rückwärts, und es scheint, daß sie alle Rechte der Nothwendigkeit entlehnt. Die Sepoys wurden besiegt, und das Land der früheren Rajahs verfiel unter das noch strengere Regiment der Briten.

Prinz Dakkar, der nicht hatte sterben können, kehrte in die Berge Bundelkunds zurück. Dort, allein, erfaßt von Ekel gegen Alles, was sich Mensch nannte, Haß und Abscheu vor der civilisirten Welt im Herzen, wollte er sie für immer fliehen, sammelte die Reste seines Vermögens und etwa zwanzig der treuesten Anhänger um sich, und eines Tages waren Alle verschwunden.

Wo hatte Prinz Dakkar jene Unabhängigkeit gefunden, die er auf Erden vergebens suchte? Unter den Wassern, in der Tiefe des Meeres, wohin ihm Keiner zu folgen vermochte.

An Stelle des Kriegers trat jetzt der Gelehrte. Eine verlassene Insel des Pacifischen Oceans diente ihm als Werft; dort wurde nach seinen Plänen ein unterseeisches Schiff gebaut. Die Elektricität, deren ungemessene Kraft er durch Mittel, welche dereinst noch allgemein erkannt sein werden, zu benutzen wußte und welche er unerschöpflichen Quellen entnahm, fand für alle Zwecke seines Verwendung als motorische, als Licht- und als Wärmequelle. Das Meer mit seinen ungezählten Schätzen, seinen Myriaden von Fischen, seinen Feldern voll Varec und Sargasso, seinen enormen Säugethieren, nicht allein mit alle dem, was die Natur demselben verlieh, sondern auch mit dem, was die Menschen je darin verloren hatten, deckte vollkommen die Bedürfnisse des Prinzen und seiner Begleitung, und hiermit war sein innigster Wunsch erfüllt, da er mit der Erde ferner keinerlei Verbindung haben mochte. Seinen unterseeischen Apparat nannte er den Nautilus, sich selbst Kapitän Nemo, und so verschwand er unter den Meeren.

Eine Reihe von Jahren hindurch besuchte der Kapitän alle Meere von Pol zu Pol. Ein Paria der bewohnten Erde, sammelte er ungeheure Schätze dieser unbekannten Welten. Die im Jahre 1702 von den spanischen Gallionen in der Bai von Vigo verlorenen Millionen lieferten ihm unerschöpfliche Reichthümer, über die er uneingeschränkt verfügte zu Gunsten der Völker, welche für ihre Unabhängigkeit kämpften. Es bezieht sich das auf den Aufstand der Candioten, welche Kapitän Nemo wirklich unerkannt unterstützte. Schon lange Zeit war er gänzlich außer Verbindung mit Seinesgleichen, als in der Nacht des 6. November 1866 drei Personen an seinen Bord geworfen wurden. Das waren ein französischer Professor, dessen Diener und ein canadischer Fischer. Diese drei Menschen wurden durch einen Zusammenstoß zwischen dem Nautilus und der ihn verfolgenden Vereinigten-Staaten-Fregatte Lincoln in das Meer geschleudert.

Von diesem Professor vernahm Kapitän Nemo, daß der Nautilus einmal für ein Seeungeheuer gehalten werde, das andere Mal für einen submarinen Apparat, der eine Besatzung von Seeräubern verberge und des halb in allen Meeren verfolgt werde.

Kapitän Nemo hätte die drei Menschen, welche der Zufall ihm zuführte, einfach dem Ocean wieder überliefern können; er that es aber nicht, er behielt sie als Gefangene, und während sieben Monaten konnten sie alle Wunder einer Reise kennen lernen, welche sich 20,000 Meilen weit unter dem Meere fortsetzte.

Eines Tages, am 22. Juni 1867, gelang es diesen drei Männern, die nichts von der Vergangenheit des Kapitän Nemo wußten, zu entfliehen, nachdem sie sich eines Bootes des Nautilus bemächtigt. Da das Schiff aber gerade nahe der Küste Norwegens in den Strudel des Maëlstromes gerissen war, durfte der Kapitän glauben, daß die Flüchtlinge in dem schäumen den Abgrunde den Tod gefunden hätten. Es blieb ihm also unbekannt, daß der Franzose und seine beiden Gefährten auf wirklich wunderbare Weise an die Küste geschleudert worden waren, daß Fischer von den Lofoten sie auffingen, und daß der Professor nach seiner Rückkehr nach Frankreich ein Werk veröffentlicht hatte, in dem sieben Monate jenes sonderbaren Lebens und Treibens im Nautilus der Welt bekannt gemacht wurden.

Noch lange Zeit lebte Kapitän Nemo in derselben Weise und durchstreifte die Meere. Nach und nach starben aber seine Gefährten und fanden im Grunde des Pacifischen Oceans ihr Grab in ihrem Korallenfriedhofe. Im Nautilus ward es leer, und endlich war Kapitän Nemo nur noch allein von allen denen übrig, die mit ihm in die Tiefen des Oceans geflohen waren.

Jetzt zählte Kapitän Nemo sechzig Jahre. Als er wieder allein stand, führte er seinen Nautilus nach einem der unterseeischen Häfen, die ihm dann und wann als Ruheplatz dienten.

Einer jener Häfen dehnte sich unter der Insel Lincoln aus, und dieser war es, der jetzt das Asyl des Nautilus abgab.

Seit sechs Jahren befand sich Kapitän Nemo hier, schiffte nicht mehr umher, und erwartete den Tod, d.h. den Augenblick, da er wieder mit seinen Gefährten vereinigt werden sollte, als er zufällig Zeuge wurde von dem Falle des Ballons, der die Gefangenen der Südstaatler daher trug. Mit seinem Skaphander bekleidet erging er sich gerade wenige Kabellängen vom Ufer unter dem Wasser, als der Ingenieur in das Meer geschleudert wurde. Eine edle Regung ergriff den Kapitän Nemo, er rettete Cyrus Smith.

Zuerst wollte er die fünf Schiffbrüchigen fliehen, aber sein Hafen hatte sich geschlossen, und in Folge eines Aufsteigens des Basalts, den vulkanische Kräfte empor trieben, konnte er nicht mehr durch den Eingang der Höhle hinausdringen. Wo noch genug Wasser stand, um ein leichtes Boot passiren zu lassen, fand sich doch nicht genug für den Nautilus, dessen Tiefgang nicht unbeträchtlich war.

Kapitän Nemo blieb also hier und beobachtete die ohne alle Hilfsmittel auf die wüste Insel geworfenen Männer, aber er wollte nicht gesehen sein. Nach und nach, als er sie als rechtschaffene Leute erkannte, welche voller Energie sich zu helfen suchten und Einer treu zum Andern hielten, gewann er Interesse an ihren Bemühungen. Fast gegen seinen Willen ward er zum Mitwisser aller ihrer Geheimnisse. Mit Hilfe des Skaphanders wurde es ihm leicht, auf den Grund des Brunnenschachtes im Granithause zu gelangen, und indem er an den Felsvorsprüngen bis zur oberen Mündung desselben emporstieg, hörte er die Colonisten von ihrer Vergangenheit erzählen, die Gegenwart und die Zukunft besprechen. Er hörte durch sie von den ungeheuren Anstrengungen Amerikas gegen Amerika, um die Sklaverei abzuschaffen. Ja, diese Männer waren würdig, den Kapitän Nemo mit der Menschheit, die sie so tadellos auf der Insel vertraten, wieder auszusöhnen!

Kapitän Nemo hatte Cyrus Smith gerettet; er war es, der den Hund nach den Kaminen brachte, der Top aus dem Wasser des Sees schleuderte, der an der Seetrifftspitze jene Kiste mit den vielen nützlichen Gegenständen stranden ließ, der das Boot die Mercy hinunterschickte, der bei dem Kampfe der Affen den Strick von der Höhe des Granithauses herunterwarf, der mittels des in der Flasche eingeschlossenen Documentes Ayrton's Aufenthalt auf der Insel Tabor verrieth; der die Brigg durch einen in den Grund des Kanals gelegten Torpedo sprengte, der Harbert durch schwefelsaures Chinin von einem gewissen Tode rettete und der endlich die Sträflinge mit elektrischen Kugeln traf, die sein alleiniges Geheimniß waren, und deren er sich bei seinen unterseeischen Jagden bediente. So erklärten sich alle scheinbar übernatürlichen Ereignisse, welche von, dem Edelmuthe und der Machtfülle des Kapitäns Zeugniß gaben.

Den großen Menschenhasser dürstete es, gut zu thun. Jetzt blieb ihm nur noch übrig, seinen Schützlingen mit weisem Rathe beizustehen, und da er sein Herz bei der Annäherung des Todes laut klopfen fühlte, berief er, wie wir wissen, die Colonisten aus dem Granithause mittels eines Drahtes, durch den er den Nautilus mit der Hürde in Verbindung setzte… Vielleicht hätte er es nicht gethan, wenn er voraus wußte, daß Cyrus Smith seine Geschichte kannte und ihn mit dem Namen Nemo begrüßen würde.

Der Kapitän hatte den Bericht von seinem Leben beendet. Cyrus Smith ergriff das Wort; er sprach von allen den Ereignissen, bei denen er einen für die Colonie so heilsamen Einfluß geübt hatte, und in seinem und seiner Gefährten Namen drückte er dem edelmüthigen Wesen, dem sie so vieles schuldeten, seinen Dank aus.

Kapitän Nemo dachte aber gar nicht daran, einen Preis für die von ihm geleisteten Dienste zu fordern. Ein letzter Gedanke bewegte seinen Geist, und bevor er die Hand drückte, die der Ingenieur ihm darbot, sagte er:

»Jetzt, mein Herr, jetzt kennen Sie mein Leben; nun urtheilen Sie darüber!«

Offenbar spielte der Kapitän hier auf jenes gräßliche Ereigniß an, dessen Zeugen einst die an Bord geworfenen Männer geworden waren, – ein Ereigniß, das der französische Professor unzweifelhaft erzählt hatte, und das einen schrecklichen Widerhall gefunden haben mußte.

Einige Tage vor der Flucht des Professors und seiner zwei Gefährten hatte sich der im Norden des Atlantischen Oceans von einer Fregatte verfolgte Nautilus wie ein Widder auf diese gestürzt und sie ohne Gnade in den Grund gebohrt.

Cyrus Smith verstand die Anspielung und schwieg.

»Es war das eine englische Fregatte, mein Herr, rief da der Kapitän Nemo, der einen Augenblick wieder Prinz Dakkar geworden war, eine englische Fregatte, verstehen Sie wohl? Sie griff mich an. Ich wurde in eine schmale und seichte Bucht gedrängt! – Ich mußte hindurch und bin hindurch gekommen!«

Dann fügte er mit ruhiger Stimme hinzu:

»Ich befand mich im Recht; ich habe immer gut gethan, wo ich konnte, und das Schlechte nur, wo ich mußte. Im Verzeihen liegt nicht immer die Gerechtigkeit!«

Es trat ein kurzes Schweigen ein, dann wiederholte Kapitän Nemo seine Frage:

»Was denken Sie von mir, mein Herr?«

Cyrus Smith ergriff die Hand des Kapitäns und sprach mit ernster Stimme:

»Kapitän, Ihr Unrecht liegt darin, geglaubt zu haben, man könne die Vergangenheit zurück rufen; Sie haben gegen den nothwendigen Fortschritt gekämpft! Es ist das einer der Irrthümer, welchen die Einen bewundern, die Andern verdammen, und über welche Gott allein zu urtheilen vermag Wer in einer für gut gehaltenen Absicht irrt, den kann man wohl bekämpfen, aber man muß ihn achten. Ihr Irrthum ist von der Art, daß er der Bewunderung gewiß ist, und Sie haben das Urtheil der Geschichte nicht zu scheuen; sie liebt die heroischen Irrthümer, wenn sie auch ihre Folgen verdammt.«

Die Brust des Kapitän Nemo hob sich und seine Hand streckte sich gen Himmel.

»Hatte ich Recht, hatte ich Unrecht?« murmelte er.

Cyrus Smith fuhr fort:

»Alle guten Thaten steigen zu Gott empor, von dem sie herstammen. Kapitän Nemo, die Männer, die Sie hier um sich sehen, die, denen Sie Ihre Hilfe geliehen haben, werden nicht aufhören, Sie zu beweinen!«

Harbert hatte sich dem Kapitän genähert. Er umschlang seine Knie, nahm seine Hand und küßte sie.

Eine Zähre quoll aus den Augen des Sterbenden.

»Mein Kind, flüsterte er, Gott segne Dich!…«


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