Jules Verne
Die Kinder des Kapitän Grant. Dritter Band
Jules Verne

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Vierzehntes Capitel.
Der Berg unter dem Tabon.

Gegen hundert Fuß noch erhob sich der Gipfel des Berges. Den Flüchtigen lag daran, ihn zu erreichen, um sich an der entgegengesetzten Seite den Blicken der Maoris zu entziehen. Sie hofften dann über irgend einen gangbaren Gebirgskamm die benachbarten Höhen zu erreichen, welche ein orographisches Gewirr bildeten, dessen Complicationen der arme Paganel, wenn er bei der Hand gewesen wäre, gewiß aufgelöst hätte.

Man stieg also schnellstmöglich aufwärts, getrieben von den Ausrufen, welche sich mehr und mehr näherten. Die wüthende Horde langte jetzt am Fuße des Berges an.

»Muth, Muth, Ihr Freunde!« rief Glenarvan, der seine Begleiter auf jede Weise anfeuerte.

In weniger als fünf Minuten war der Gipfel erreicht. Dort wandten sie sich um, um ihre Lage zu überblicken und eine Richtung zu wählen, welche von den Maoris wegführte.

Von dieser Höhe übersahen sie den Taupo-See, der sich westlich zwischen einem pittoresken Berggürtel ausdehnte. Nördlich waren die Gipfel des Pirongia sichtbar, südlich der flammende Krater des Tongariro. Oestlich aber haftete der Blick an den Gipfeln und Bergkämmen, welche sich an die Wahiti-Ranges anschließen, jene große Kette, deren ununterbrochener Ring die ganze Insel von der Cook-Straße bis zum Ostcap umfaßt. Man mußte also den entgegengesetzten Abhang hinabsteigen und sich in den schmalen, vielleicht ausweglosen Schluchten verlieren.

Glenarvan warf einen ängstlichen Blick umher. Da der Nebel nun ganz gewichen war, vermochte er alle Bodensenkungen deutlich zu überblicken, und keine Bewegung der Maoris konnte ihm entgehen.

Die Eingeborenen waren nicht fünfhundert Fuß unter ihm, wobei sie das Plateau erreichten, auf welchem sich der Gipfel isolirt erhob.

Glenarvan konnte den Aufenthalt um keinen Preis ausdehnen, erschöpft wie Alle waren, mußten sie doch fliehen, um nicht umzingelt zu werden.

»Hinunter, hinunter!« rief er, »bevor der Weg uns abgeschnitten ist!«

Eben als die armen Frauen sich aber mit letzter Kraftanstrengung erhoben, blieb Mac Nabbs stehen und sagte:

»Es ist unnöthig, Glenarvan. Sehen Sie doch!«

Und wirklich sahen sie Alle sich in der Bewegung der Maoris eine unerklärliche Veränderung vollziehen.

Die Verfolgung wurde urplötzlich aufgegeben. Die Besteigung des Berges hörte, wie durch gebieterischen Gegenbefehl, auf. Die Eingeborenen zügelten ihren Eifer und stauten sich, wie die Wogen des Meeres vor einem unübersteiglichen Felsen.

Alle diese blutdürstigen Wilden, welche jetzt den Fuß des Berges umstanden, heulten, gesticulirten, schwangen Aexte und Flinten, gingen aber keinen Schritt weiter vorwärts. Wüthend bellten ihre Hunde, die aber ebenso wie sie am Boden festgewurzelt schienen.

Was ging da vor? Welch' unsichtbare Gewalt hielt die Eingeborenen zurück? Die Flüchtlinge sahen es, ohne es zu verstehen, und fürchteten, der Zauber, der den Stamm Kai-Koumou's fesselte, möge nicht lange vorhalten.

Plötzlich stieß John Mangles einen Schrei aus, der seine Gefährten zum Umdrehen veranlasse; er wies mit der Hand nach einer Art kleinem Fort, das den Gipfel krönte.

»Das Grab des Häuptlings Kara-Tété!« rief Robert.

»Sprichst Du die Wahrheit, Robert?« fragte Glenarvan.

»Ja wohl, Mylord. Gewiß ist es das Grab. Ich kenne es . . .«

Robert täuschte sich nicht. Noch fünfzig Fuß höher auf der äußersten Spitze des Berges bildeten frische Pfähle eine kleine Umplankung. Auch Glenarvan erkannte jetzt das Grab des Neu-Seeländers. Ihre ziellose Flucht hatte sie auf den Gipfel des Maunganamu geführt.

Der Lord erstieg, gefolgt von seinen Begleitern, den letzten Abhang des Gipfels bis zum Fuße des Grabes selbst. Der breite Zugang war nur durch Matten verschlossen. Glenarvan wollte eben das Innere des Oudoupa betreten, als er mit dem Ausrufe: »Ein Wilder!« plötzlich zurückwich.

»Ein Wilder in dem Grabe hier?« fragte der Major.

»Ja, Mac Nabbs.«

»Thut nichts, wir dringen ein.«

Glenarvan, der Major, Robert und John Mangles traten in die Umpfählung. Ein Maori befand sich darin von einem weiten Phormiummantel verhüllt; die Dunkelheit in dem Oudoupa verhinderte es, seine Gesichtszüge zu erkennen. Er schien sehr ruhig und frühstückte völlig sorglos.

Glenarvan wollte ihn ansprechen, als der Eingeborene ihm zuvorkam und in freundlichem Tone und fließendem Englisch zu ihm sprach:

»Setzen Sie sich doch, lieber Lord, das Frühstück erwartet Sie.«

Es war Paganel. Alle stürzten sich bei seiner Stimme in das Oudoupa und fielen dem würdigen Geographen in die langen Arme. Paganel war wiedergefunden! Das allgemeine Wohl verkörperte sich in seiner Person! Man fragte ihn, man wollte wissen, wie und warum er auf den Gipfel des Maunganamu gelangt sei. Doch Glenarvan unterdrückte mit einem Worte diese unzeitige Neugier.

»Denkt an die Wilden!« sagte er.

»Die Wilden!« entgegnete achselzuckend Paganel. »Das sind Geschöpfe, welche ich souverän verachte.«

»Aber könnten sie nicht . . .?«

»Sie! Diese Feiglinge! Seht sie nur an!«

Alle folgten Paganel, der aus dem Oudoupa schritt. Die Seeländer standen noch an der nämlichen Stelle am Fuße des Bergkegels und stießen ein furchtbares Geschrei aus.

»Schreit und heult nur zu! Sprengt Eure Lungen, Ihr albernen Geschöpfe!« sagte Paganel. »Kommt doch und ersteigt diesen Berg.«

»Und warum thun sie es nicht?« fragte Glenarvan.

»Weil jener Häuptling hier beerdigt ist und sein Grab uns schützt, weil der Berg unter dem Tabou steht!«

»Unter dem Tabou?«

»Ja, meine Freunde! Eben deshalb habe ich mich auch hierher geflüchtet, wie in eine jener Freistätten des Mittelalters.«

»Gott ist mit uns!« rief Lady Helena aus und hob die Hände gen Himmel.

Wirklich stand der Berg unter dem Tabou, und durch diese Art Heiligsprechung entging er dem Angriffe der abergläubischen Wilden.

Hiermit war das Wohl und Wehe der Flüchtlinge zwar noch nicht besiegelt, aber es war doch eine kleine Hilfe, aus der sie Nutzen zu ziehen gedachten.

Glenarvan sprach vor unsäglicher Erregung kein Wort, und der Major senkte den Kopf mit höchst zufriedener Miene.

»Und nun, meine Freunde, wenn diese Tölpel unsere Geduld auf die Probe zu stellen gedenken, sollen sie sich täuschen. Noch vor Verlauf zweier Tage werden wir vor den Angriffen dieser Schurken sicher sein.«

»Wir werden fliehen,« sagte Glenarvan, »aber wie?«

»Das weiß ich jetzt nicht,« erwiderte Paganel; »genug, wir fliehen Alle zusammen.«

Jetzt wollte Jeder die Abenteuer des Geographen erfahren. Sonderbarer Weise mußte man dem sonst so redseligen Manne die Worte fast abnöthigen, denn nur ausweichend stand er den Fragen seiner Freunde Rede.

»Meinen Paganel haben sie mir vertauscht!« dachte Mac Nabbs.

Wirklich war die Erscheinung des Gelehrten gar nicht mehr dieselbe. Er wickelte sich sorgsam in seine weite Phormiumhülle und schien neugierige Blicke zu fürchten. Sein verlegenes Benehmen, sobald von ihm die Rede war, entging Keinem, doch Niemand zeigte, daß er es bemerkte. Drehte sich das Gespräch nicht um ihn, so gewann er seine altgewohnte Freundlichkeit wieder.

Seine Erlebnisse betreffend, theilte er, als sich Alle um ihn am Fuße des Grabes gesetzt hatten, Folgendes mit:

Nach dem Tode Kara-Tété's machte sich Paganel, ebenso wie Robert, das Gewühl der Eingeborenen zu Nutze und entsprang aus dem Pah. Aber minder glücklich, als der junge Grant, lief er spornstreichs in ein Maorilager. Dort befehligte ein hübsch gewachsener Häuptling von intelligentem Aussehen, der offenbar allen Kriegern seines Stammes überlegen war. Derselbe sprach vollkommen englisch, und begrüßte ihn, indem er seine Nasenspitze an der des Geographen rieb.

Paganel fragte ihn, ob er sich hier als Gefangener zu betrachten habe, oder nicht. Da er aber bemerkte, daß er auf Schritt und Tritt sehr höflich von dem Häuptling begleitet wurde, wußte er bald, woran er war.

Dieser Häuptling, Namens »Hihy«, das heißt »Sonnenstrahl«, war kein böser Mensch. Die Brille und das Fernrohr Paganel's stellten diesen in seinen Augen sehr hoch, und er versicherte sich seiner Person vollständig, nicht nur durch seine Wohlthaten, sondern auch durch gute Phormiumstricke, vorzüglich in der Nacht.

Drei ganze Tage dauerte das so fort. Wurde Paganel unterdessen gut oder schlecht behandelt? »Ja und Nein«, sagte er selbst, ohne sich darüber weiter auszulassen. Kurz, er war Gefangener und abgesehen von der angedrohten Todesstrafe, erschien ihm seine Lage beneidenswerter, als die seiner unglücklichen Freunde.

Zum Glück gelang es ihm, während einer Nacht seine Bande zu durchnagen und zu entfliehen. Von fern hatte er der Beerdigung des Häuptlings beigewohnt; er wußte, daß diese auf dem Maunganamu stattgefunden, und der Berg dadurch den Schutz des Tabou erlangt hatte. Dorthin strebte er zu entkommen, da er seine noch im Lande zurückgehaltenen Begleiter nicht verlassen wollte. Sein gefährliches Unternehmen gelang. In vergangener Nacht kam er am Grabe Kara-Tété's an, und erwartete, indem er neue Kräfte sammelte, daß der Himmel auch seine Freunde durch irgend welchen Zufall befreien werde.

Das war Paganel's Bericht. Ueberging er absichtlich irgend einen Umstand aus der Zeit seines Aufenthaltes bei den Eingeborenen? Mehr als einmal ließ seine Verlegenheit das annehmen. Wie dem auch sei, er erntete einstimmig Glückwünsche, und nach Kenntnißnahme der Vergangenheit wandte man sich wieder der Gegenwart zu.

Die Situation blieb immer äußerst bedenklich. Wagten die Eingeborenen auch nicht, den Maunganamu zu besteigen, so rechneten sie auf den Hunger und den Durst, um der Gefangenen wieder habhaft zu werden. Es war das nur eine Frage der Zeit, und Wilde haben lange Geduld.

Glenarvan verhehlte sich die Schwierigkeiten der Lage nicht, aber er beschloß, günstige Umstände abzuwarten, oder diese nöthigenfalls herbeizuführen.

Zunächst wollte Glenarvan den Maunganamu gründlich kennen lernen, das heißt seine improvisirte Festung, nicht um sie zu vertheidigen, denn eine Belagerung war nicht zu befürchten, sondern um daraus fortzukommen.

Der Major, John, Robert, Paganel und er nahmen den Berg genau auf. Sie achteten auf die Richtung der Fußpfade, ihre Ausläufer und Neigungswinkel. Der Kamm, welcher in der Länge einer Meile den Maunganamu mit der Wahitikette verband, flachte sich gegen die Ebene zu ab. Sein enger und launenhaft geformter Grath bot den einzigen für eine Flucht brauchbaren Weg. Konnten die Flüchtlinge diesen unter dem Schutze der Nacht unbemerkt überschreiten, so hatten sie Aussicht, sich in den tiefen Thälern jener Bergkette zu verstecken und so den Maoris zu entgehen. – Dieser Weg bot aber mehr als eine Gefahr. In seinen tieferen Partien lag er noch in Büchsenschußweite. Die Kugeln der Eingeborenen, welche die unteren Ausläufer besetzt hielten, konnten sich dort kreuzen und ein eisernes Netz bilden, welches Niemand ungestraft überschreiten konnte.

Als sich Glenarvan und seine Freunde auf diesen gefährlichen Theil des Kammes gewagt hatten, wurden sie mit einem wahren Hagel von Blei begrüßt, der sie indeß nicht erreichte. Einige vom Winde entführte Pfropfen gelangten bis zu ihnen, sie waren aus Druckpapier gemacht, welches Paganel aus reiner Neugier aufhob und leicht entzifferte.

»Das ist schön!« sagte er. »Wißt Ihr, meine Freunde, was die Wilden zum Laden der Gewehre verwenden?«

»Nein, Paganel,« antwortete Glenarvan.

»Bibelblätter! Wenn das der Gebrauch ist, den sie von der Heiligen Schrift machen, dann bedaure ich die armen Missionäre um die Mühe, Maori-Bibliotheken zu gründen.«

»Und welche Bibelstelle haben uns die Eingeborenen zugeschossen?« fragte Glenarvan.

»Ein Wort des allmächtigen Gottes,« sagte John Mangles, der das halb verbrannte Papier nun auch gelesen hatte. »Dieses Wort,« fügte der junge Kapitän mit altschottischer Glaubensinnigkeit hinzu, »ermahnt uns, daß wir auf ihn hoffen sollen.«

»Lies, John«, sagte Glenarvan.

Und John las folgenden, von dem abgebrannten Pulver noch verschonten, Vers:

»Psalm 90. – Weil er auf mich gehofft hat, werde ich ihn erretten.«

»Diese verheißungsvollen Worte, meine Freunde, müssen wir unseren wackeren, lieben Begleiterinnen mitnehmen. Das wird für sie eine Herzstärkung sein.«

Glenarvan und seine Genossen stiegen wieder den holprigen Weg hinan, und gingen nach dem Grabe, das näher untersucht werden sollte.

Unterwegs erstaunten sie nicht wenig, in kurzen Zwischenräumen ein leises Erzittern des Bodens zu fühlen. Es war das keine eigentliche Bewegung, sondern eine Vibration, wie etwa die eines Kessels beim Ausströmen des Dampfes. Offenbar waren im Inneren des Berges von unterirdischem Feuer erzeugte Dämpfe eingeschlossen.

Diese Eigentümlichkeit konnte aber Leute nicht Wunder nehmen, welche an den heißen Quellen des Waikato vorübergekommen waren. Sie wußten, daß diese centralen Gegenden Ika-na-Mouis wesentlich vulkanischer Natur sind. Sie gleichen einem Haarsiebe, welches die Dämpfe aus der Erde in siedenden Quellen und Solfataren (Schwefeldunstquellen) durch seine Maschen treten läßt.

Paganel lenkte, obgleich es ihnen nichts Neues war, doch die Aufmerksamkeit seiner Freunde auf die vulkanische Natur des Berges. Der Maunganamu stellt nur einen jener zahlreichen Gipfel dar, welche im Innern der Insel emporstarren und als Vulkane der Zukunft anzusehen sind. Die geringste mechanische Einwirkung konnte in diesen von kieseligem, hellfarbigem Tuff aufgebauten Wänden die Bildung eines Kraters veranlassen.

»Wirklich sind wir aber,« sagte Paganel, »hier nicht mehr in Gefahr, als neben dem Dampfkessel des Duncan. Diese Erdkruste ist schon ein solides Kesselblech.«

»Zugegeben,« meinte der Major, »aber der beste Kessel springt einmal, wenn er zu lange Dienst thut.«

»Mac Nabbs,« sagte Paganel, »mich gelüstet auch gar nicht, auf dieser Spitze zu bleiben. Zeige mir der Himmel einen Ausweg, und ich mache mich jeden Augenblick davon.«

»Ei, warum kann uns nur der Maunganamu,« fiel John Mangles ein, »nicht gleich selbst weiter befördern, da eine so ungeheure mechanische Kraft in ihm aufgespeichert ist. Unter uns schlummert, nutzlos und verloren, wahrscheinlich die Kraft von Millionen Pferden. Mit dem tausendsten Theile derselben trüge uns der Duncan an's Ende der Welt!«

Diese Erwähnung des Duncan regte in Glenarvan's Herzen eine Reihe der trübsten Gedanken auf. Denn so verzweifelt seine eigene Lage auch sein mochte, nicht selten vergaß er sie doch, wenn er sich des Schicksals seiner Mannschaft erinnerte. Er dachte noch daran, als er seine unglücklichen Begleiter auf dem Gipfel des Maunganamu wiederfand.

Sobald Lady Helena ihn sah, eilte sie ihm entgegen.

»Nun, lieber Edward,« sagte sie, »Ihr habt Euch über unsere Lage unterrichtet. Dürfen wir hoffen oder müssen wir fürchten?«

»Hoffen, meine liebe Helena,« erwiderte Glenarvan. »Die Grenze dieses Berges werden die Eingeborenen nie überschreiten und werden wir zunächst Zeit haben, einen Plan zur Flucht zu überlegen.«

»Uebrigens, Madame,« sagte John Mangles, »befiehlt uns Gott selbst, die Hoffnung nicht sinken zu lassen.«

Er überreichte Lady Helena dabei das Bibelblatt, auf welchem jener Vers stand. Die offene Seele und das für alle Offenbarungen des Himmels empfängliche Herz der jungen Frau und des jungen Mädchens sahen in diesen Worten der Heiligen Schrift die untrügliche Prophezeihung ihrer Rettung.

»Und nun zum Oudoupa!« rief Paganel. »Das ist unsere Festung, unser Schloß, unser Speisesaal, unser Arbeitszimmer. Niemand wird uns belästigen. Die Damen werden mir erlauben, ihnen in dieser reizenden Wohnung die Honneurs zu machen.«

Alle folgten dem freundlichen Paganel. Als die Wilden bemerkten, wie die Flüchtlinge auf's Neue die geheiligte Grabstätte entweihten, schrieen und schossen sie im wilden Höllenlärmen durch einander. Glücklicherweise reichten die Kugeln nicht so weit wie das Geschrei, und fielen auf halbem Wege nieder, während jenes im unendlichen Raume verhallte.

Lady Helena, Mary Grant und die Herren betraten, mit der Ueberzeugung, daß der Aberglaube der Maoris selbst ihre Wuth überwiege, die Grabstätte.

Um das Oudoupa des seeländischen Häuptlings zog sich eine Palisadenwand von roth gestrichenen Pfählen. Symbolische Figuren, eine wahre Tättowirung in Holz, erzählten von dem Adel und den Heldenthaten des Verblichenen. Rosenkränze von Amuletten, Muschelarbeiten und geschnittene Steine zogen sich von einem Pfahle zum andern. Im Innern war der Erdboden mit einem Teppich aus grünem Laubwerk bedeckt und im Mittelpunkte verrieth eine Erhöhung das frische Grab.

Da lagen die Waffen des Häuptlings, die geladenen und schußfertigen Gewehre, seine Lanze, seine prächtige Axt aus grünem Nephrit, nebst einem für die Jagden in der Ewigkeit ausreichenden Vorrath an Pulver und Kugeln.

»Da ist ja ein ganzes Arsenal,« sagte Paganel, »das wir besser benutzen werden, als der Todte. Ein hübscher Gedanke, daß diese Wilden ihre Waffen in die andere Welt mitnehmen wollen.«

»Ei, das ist ja englisches Fabrikat!« sagte der Major.

»Gewiß,« bestätigte Glenarvan, »und es ist eine sehr thörichte Sitte, den Wilden Feuerwaffen zum Geschenk zu machen. Sie bedienen sich ihrer dann gegen die Eindringlinge, und das mit Recht. Jedenfalls werden diese Gewehre uns von Nutzen sein.«

»Noch mehr aber,« fügte Paganel hinzu, die für Kara-Tété bestimmten Speisen und Getränke.«

Wirklich hatten die Verwandten und Freunde des Todten ihre Sache gut gemacht. An der Verproviantirung konnte man ihre Wertschätzung der Tugenden des Häuptlings abmessen. Nahrungsmittel waren vorhanden, welche für zehn Personen auf vierzehn Tage ausreichten, oder vielmehr für den Todten auf Ewigkeit. Sie bestanden aus eßbaren Farrn, süßen Pataten, dem »Convolvulus batatus« der Eingeborenen, und aus Kartoffeln, welche von Europäern schon seit langer Zeit hierher eingeführt sind. Große Krüge enthielten frisches Wasser, das immer zur seeländischen Mahlzeit gehört, und ein Dutzend zierlich geflochtener Körbe war gefüllt mir kleinen Kuchen aus völlig unbekanntem grünlichen Gummi.

Gegen Hunger und Durst waren die Flüchtlinge demnach für einige Tage gesichert und ließen sich auch nicht lange bitten, ihre erste Mahlzeit auf Unkosten des Häuptlings einzunehmen.

Glenarvan schaffte die für die ganze Gesellschaft nöthigen Speisen herbei, die er der Obhut Olbinett's übergab. Der Steward, der selbst unter den schwierigsten Verhältnissen an Förmlichkeiten hing, fand die Mahlzeit etwas mager. Auch wußte er die Wurzeln nicht zuzubereiten, wobei ihm ohnedem das Feuer fehlte.

Paganel kam ihm mit dem Rathe zu Hilfe, die Farrn und süßen Pataten einfach in den Boden zu graben.

Die Temperatur der oberen Erdlagen war nämlich eine sehr hohe, und ein Thermometer würde sicher sechzig bis fünfundsechzig Grad gezeigt haben. Olbinett hätte sich sogar fast selbst ernstlich verbrannt, denn als er ein Loch aushöhlte, um die Wurzeln hineinzulegen, sprang eine Dampfsäule einige Fuß hoch daraus hervor. Erschreckt fiel der Steward rückwärts nieder.

»Den Hahn zumachen!« rief der Major, welcher mit den beiden Matrosen hinzusprang und das Loch mit Bimssteinstücken ausfüllte, während Paganel, der die Erscheinung aufmerksam beobachtete, die Worte murmelte:

»Sieh da! Ah, schön! – Warum denn nicht?«

»Sind Sie verwundet,« fragte Mac Nabbs Olbinett.

»Nein, Herr Mac Nabbs,« antwortete der Steward, »ich versah mich nur nicht . . .«

»So vieler Wohlthaten des Himmels!« fiel Paganel in Entzückung ein. »Nach dem Wasser und den Lebensmitteln Kara-Tété's schenkt uns die Erde auch das Feuer! Dieser Berg ist ja ein wahres Paradies! Ich schlage vor, darauf eine Niederlassung zu gründen, ihn urbar zu machen und uns für den Rest unserer Tage hier einzurichten. Dann sind wir die Robinsons des Maunganamu. Ich finde wahrlich Nichts, was uns auf diesem wohlversorgten Gipfel fehlte.«

»Nichts, wenn er nur haltbar ist,« sagte John Mangles.

»Nun, er ist nicht von gestern,« sagte Paganel. »Schon lange widersteht er dem Feuer seines Innern, und wird auch bis zu unserm Abgange aushalten.«

»Das Frühstück ist aufgetragen«, meldete Olbinett ebenso gravitätisch, als ob er im Schlosse Malcolm seinen Dienst versähe.

Sofort begannen die Flüchtlinge, an der Palissade sitzend, eine jener Mahlzeiten, welche ihnen die Vorsehung seit einiger Zeit so pünktlich bei den schwersten Lagen zusandte.

Niemand war wählerisch bezüglich der Nahrungsmittel, doch waren die Ansichten über den Wohlgeschmack des eßbaren Farrnkrautes getheilt. Die Einen fanden es von süßem, angenehmem, die Anderen von schleimig-schalem, gerbstoffigem Geschmacke. Die süßen Pataten, welche in dem heißen Erdboden gekocht waren, fand man ausgezeichnet. Der Geograph bemerkte, daß Kara-Tété nicht zu beklagen sei.

Sobald der Hunger gestillt war, schlug Glenarvan vor, über einen Plan zur Flucht zu verhandeln.

»Jetzt schon!« sagte Paganel fast jammernd. »Wollen Sie denn diesen köstlichen Ort schon verlassen?«

»Aber Herr Paganel,« bemerkte Lady Helena, »zugegeben, daß wir uns hier wie in Capua befinden, so dürfen wir deshalb doch Hannibal nicht nachahmen.«

»Ich werde mir nie erlauben, Madame, Ihnen zu widersprechen,« antwortete Paganel, »und da Sie verhandeln wollen, gut, so verhandeln wir.«

»Zunächst ist meine Meinung,« begann Glenarvan, »daß wir eine Flucht schon eher versuchen, ehe uns der Hunger dazu zwingt. Kräfte fehlen uns jetzt nicht, und davon müssen wir Nutzen ziehen. Kommende Nacht suchen wir die östlicheren Thäler zu erreichen, indem wir unter dem Schutze der Finsterniß den Kreis der Eingeborenen überschreiten.«

»Sehr wohl,« sagte Paganel, »wenn die Maoris uns ziehen lassen.«

»Und wenn sie es zu hindern suchen?« fragte John Mangles.

»Dann werden wir die großartigen Hilfsmittel anwenden,« erwiderte Paganel.

»Sie haben noch großartige Hilfsmittel?« forschte der Major.

»So viel, daß sie gar nicht alle benutzt werden«, entgegnete Paganel, ohne weitere Erläuterungen zu geben.

Es mußte also die Nacht abgewartet werden, um den Versuch zu machen, die Linie der Eingeborenen zu überschreiten.

Diese hatten ihren Platz nicht verlassen. Ihre Anzahl schien sogar durch verspätete Nachzügler gewachsen zu sein. Da und dort angezündete Wachtfeuer bildeten einen Flammenring um den Bergkegel. Sobald die benachbarten Thäler in Dunkel gehüllt waren, sah es aus, als ob der Maunganamu aus einem Feuerherde emporstiege, während sein Gipfel in dichter Finsterniß verschwand. Sechshundert Fuß unter diesem hörte man das Hin- und Herlaufen, Geschrei und Murmeln des feindlichen Bivouacs.

Um neun Uhr, als es schon dunkle Nacht war, beschlossen Glenarvan und John Mangles auszukundschaften, ob sie ihre Begleiter den gefährlichen Weg hin führen könnten. Zehn Minuten lang stiegen sie geräuschlos nach abwärts bis nach jenem schmalen Kamme, welcher die Linie der Eingeborenen nur fünfzig Fuß über deren Lager durchschnitt.

Bis hierher ging Alles gut. Die um ihre Feuer liegenden Maoris schienen die beiden Flüchtlinge nicht zu bemerken, welche nun einige Schritte vorwärts wagten. Plötzlich knatterten aber rechts und links vom Kamme die Gewehrsalven.

»Zurück!« rief Glenarvan, »diese Banditen haben Katzenaugen und Riflebüchsen!«

John Mangles und er stiegen sofort den steilen Abhang wieder hinan und gelangten auch glücklich zu den Anderen, welche durch die Flintenschüsse nicht wenig erschreckt worden waren. Glenarvan's Hut hatten zwei Kugeln durchlöchert. Es war demnach unmöglich, sich zwischen den beiden Schützenlinien auf den langen Kamm hinauszuwagen.

»Bis morgen!« sagte Paganel, »und da wir die Wachsamkeit der Eingeborenen nicht täuschen können, so werden Sie mir gestatten, diesen morgen ein Gericht aus meiner Küche vorzusetzen!«

Es wurde empfindlich kalt. Glücklicherweise hatte Kara-Tété auch die besten Nachtkleider mit in's Grab bekommen, warme Phormiumdecken, in welche sich Alle ohne Scheu einhüllten, und bald schliefen die durch den Aberglauben der Eingeborenen geschützten Flüchtlinge hinter den Palissaden und auf dem warmen, von unterirdischen Kräften leise erzitternden Erdboden.

 


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