Jules Verne
Die Kinder des Kapitän Grant. Dritter Band
Jules Verne

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Achtes Capitel.
Der jetzige Zustand des Landes.

Glenarvan wäre gern ohne jeden Zeitverlust an der Küste entlang nach Auckland hinaufgegangen. Aber seit dem Morgen hatte der Himmel sich mit schweren Wolken bedeckt, und gegen elf Uhr ergossen sie Ströme von Regen. Somit war es unmöglich, den Marsch anzutreten; man war vielmehr gezwungen, Schutz zu suchen.

Wilson entdeckte gerade zur rechten Zeit eine von dem Meere ausgehöhlte Grotte in den Basaltfelsen des Ufers. Dorthin flüchteten die Reisenden mit Waffen und Vorräthen. Im Inneren fand man eine Menge getrockneten Seetanges, der durch die Wellen früher hineingespült worden war, und nun eine natürliche Lagerstätte bildete; sie wurde freudig begrüßt. Ein Holzhaufen wurde am Eingang der Grotte aufgeschichtet und angezündet; an seinem Feuer trocknete man sich trefflich.

John hoffte, daß der Regen, gerade weil er so sündfluthlich war, bald aufhören werde. Das war indeß nicht der Fall. Die Stunden verflossen, ohne eine Aenderung des Wetters zu bringen. Der Wind wurde gegen Mittag frischer und gestaltete sich endlich zu einem vollen Sturme. Diese Ungunst des Wetters hätte auch den geduldigsten Menschen ungeduldig machen müssen. Aber was half es? Ohne Fuhrwerk einem solchen Sturmwind zu trotzen, wäre Thorheit gewesen. Ueberdies genügten wenige Tage, um Auckland zu erreichen, und eine Verzögerung von zwölf Stunden konnte der Expedition keinen Nachtheil bringen, wenn sie nicht von Eingeborenen überrascht wurde.

Während dieses gezwungenen Aufenthaltes bezog sich die Unterhaltung besonders auf die Kriegsereignisse, deren Schauplatz Neu-Seeland war.

Um jedoch den Ernst der Verhältnisse zu verstehen und zu würdigen, in welche die Schiffbrüchigen des Macquarie mitten hinein geworfen wurden, muß man die Geschichte dieses Kampfes kennen, welcher damals die Insel Ika-na-Maoui mit Blut tränkte.

Seit der Ankunft Abel Tasman's in der Meerenge Cook, am 16. December 1642, waren die Neu-Seeländer trotz des Besuches zahlreicher europäischer Schiffe frei und unabhängig auf ihren Inseln geblieben. Keine Macht Europas dachte daran, sich dieses Archipels zu bemächtigen, welcher die Meere des Stillen Oceans beherrscht.

Nur die Missionäre, welche auf verschiedenen Punkten sich niedergelassen hatten, brachten in diese neuen Gegenden die Wohlthaten der christlichen Civilisation. Einige unter ihnen, und besonders die englischen, bereiteten die Chefs des Landes darauf vor, sich unter das Joch Englands zu fügen. Durch Vorspiegelungen verlockt, unterzeichneten diese auch wirklich einen Brief an die Königin Victoria, in welchem sie deren Schutz erbaten. Aber die Klügsten von ihnen ahnten die Folgen dieses thörichten Schrittes, und Einer, der auf das Schreiben seine Tättowirung gezeichnet hatte, ließ die prophetischen Worte hören: »Wir haben unser Land verloren; in Zukunft gehört es nicht mehr uns; bald wird der Fremde kommen, um sich desselben zu bemächtigen, und wir werden seine Sklaven sein.«

In der That, am 29. Januar 1840 langte die Corvette Herard in der Inselbucht nördlich von Ika-na-Maoui an. Der Kapitän des Schiffes, Hobson, schiffte sich im Dorfe Korrora-Reka aus. Die Bewohner desselben wurden eingeladen, einer General-Versammlung in der protestantischen Kirche beizuwohnen. Kapitän Hobson legte in derselben die Vollmacht vor, mit der die Königin von England ihn bekleidet hatte.

Am 5. Januar des folgenden Jahres wurden die mächtigsten seeländischen Chefs zu dem englischen Residenten im Dorfe Paia berufen. Kapitän Hobson suchte ihre Unterwerfung zu erlangen, indem er erklärte, daß die Königin Truppen und Schiffe zu ihrem Schutze gesandt habe, da ihre Rechte verbrieft seien und ihre Freiheit unbeschränkt bleiben solle. Gleichwohl sollten ihre Ländereien der Königin Victoria gehören, der sie dieselben zu verkaufen verpflichtet wären.

Die Majorität der Chefs fand den Schutz zu theuer und weigerte sich, ihre Zustimmung zu geben. Aber Versprechungen und Geschenke hatten mehr Einfluß auf diese wilden Naturen, als die hochtrabenden Worte Hobson's. Die Besitzergreifung wurde bestätigt.

Was geschah nun seit diesem Jahre 1840 bis zu dem Tage, wo der Duncan den Golf der Clyde verließ? Jacques Paganel war mit den Ereignissen genau vertraut und bereit, sie seinen Gefährten mitzutheilen.

»Madame,« erwiderte er auf die Fragen der Lady Helena, »ich will Ihnen wiederholen, was ich gelegentlich schon bemerkte, nämlich, daß die Neu-Seeländer eine muthige Bevölkerung bilden, welche, nachdem sie einen Augenblick nachgiebig gewesen, nun jeden Fuß breit Landes gegen den Andrang der Engländer vertheidigt. Die Stämme der Maoris sind wie die alten Clans von Schottland organisirt. Es sind ebenso viele große Familien, welche einen Chef anerkennen und außerordentlich bestrebt sind, ihm ergeben zu sein. Die Männer dieser Race sind stolz und tapfer, die Einen groß mit glatten Haaren, ähnlich den Maltesern oder Juden von Bagdad, auch äußerst intelligent, die Anderen kleiner, gedrungener, ähnlich den Mulatten, aber alle stark gebaut, hochmüthig und kriegerisch.

Ihr berühmter Chef, namens Hihi, war ein wahrer Vercingetorix. Sie werden also nicht erstaunt sein, wenn der Krieg mit den Engländern auf dem Territorium von Ika-na-Maoui sich endlos hinzieht, denn dort befindet sich der berühmte Tribus der Waikatos, welche William Thompson zur Vertheidigung des Bodens herbeizieht.«

»Aber sind die Engländer,« frug John Mangles, »nicht Herren der wichtigsten Punkte von Neu-Seeland?«

»Ohne Zweifel, mein lieber John,« erwiderte Paganel. »Nach der Besitzergreifung durch Kapitän Hobson, welcher zum Gouverneur der Insel ernannt worden war, sind von 1840 bis 1862 allmälig neue Kolonien in den vortheilhaftesten Gegenden entstanden. Daher die Einteilung in neun Provinzen, vier im Norden der Insel, nämlich Auckland, Taranaki, Wellington und Hawkes-Bai; fünf im Süden: es sind Nelson, Marlborough, Canterbury, Otago und Southland, mit einer Gesammtbevölkerung von einhundertachtzigtausenddreihundertundsechsundvierzig Einwohnern. Dies war wenigstens am 30. Juni 1864 ihr Stand.

Bedeutende Handelsstädte sind dort überall emporgeblüht. Wenn wir nach Auckland kommen werden, werden Sie nicht umhin können, die Lage dieses Korinth des Südens ohne Rückhalt zu bewundern. Es beherrscht seinen Isthmus, der gleichsam eine prächtige Brücke über den Stillen Ocean bildet, und zählt bereits zwölftausend Einwohner. Im Westen New-Plymouth, im Osten Ahuhiri, im Süden Wellington, das sind alles blühende und viel besuchte Städte. Auf der Insel Tawai-Pounamou würden Sie in Verlegenheit sein, die Wahl zu treffen zwischen Nelson, dem Montpellier der Antipoden, diesem Garten von Neu-Seeland, Picton an der Meerenge von Cook, Christchurch oder Invercargill und Dunedin, alle in dieser reichen Provinz von Otago, wo die Goldsucher der ganzen Welt zusammenströmen. Und bemerken Sie, daß es sich hier nicht um eine Vereinigung einiger Wigwams handelt, oder um einen Zusammenfluß wilder Familien, sondern um wahre Städte mit Häfen, Kathedralen, Banken, Docks, botanischen Gärten, Museum, Acclimatisationsgesellschaften, Zeitungen, Wohlthätigkeitsanstalten, philosophischen Instituten, Freimaurerlogen, Theatern und Palästen – so gut wie in London oder Paris. Und wenn mein Gedächtniß mir treu ist, so werden dort im Jahre 1865, vielleicht eben jetzt, die industriellen Producte des ganzen Erdtheils ausgestellt.«

»Wie! Ungeachtet des Krieges mit den Eingeborenen?« frug Lady Helena.

»Die Engländer, Madame, führen Kriege und veranstalten doch zu gleicher Zeit Ausstellungen,« erwiderte Paganel. »Das stört sie nicht. Ja sie bauen sogar Eisenbahnen unter dem Gewehrfeuer der Neu-Seeländer. In der Provinz Auckland durchschneiden die Bahnen von Druri und Mere-Mere die von den Aufständischen besetzten Hauptpunkte. Ich wollte wetten, daß die Arbeiter von der Locomotive aus schießen.«

»Aber wie steht es jetzt mit diesem endlosen Kriege?« frug John Mangles.

»Es sind nun fast sechs Monate, daß wir Europa verlassen haben,« erwiderte Paganel, »ich kann also nicht wissen, was sich seit unserer Abreise ereignet hat, einige Thatsachen ausgenommen, welche ich in den Journalen von Maryboroug und Seymour während unserer Ueberfahrt nach Australien gelesen habe. In jener Zeit aber war der Kampf auf der Insel Ika-na-Maoui heftig entbrannt.«

»Und wann hat dieser Kampf begonnen?« frug Mary Grant.

»Sie wollen sagen ›wieder begonnen‹, meine liebe Miß,« erwiderte Paganel, »denn die erste Erhebung fand im Jahre 1845 statt.

Jetzt datirt er seit Ende 1860. Aber lange vorher bereiteten sich die Maoris darauf vor, das Joch der englischen Herrschaft abzuschütteln. Die nationale Partei der Eingeborenen entfaltete eine lebhafte Thätigkeit, um die Wahl eines Chefs aus dem Stamme der Maoris herbeizuführen. Sie wollte aus dem alten Potatau einen König, und aus seinem Dorfe, das zwischen den Flüssen Waikato und Waipa liegt, die Hauptstadt des neuen Reiches machen. Dieser Potatau war ein mehr anmaßender, als kühner Greis, aber er hatte einen energischen und intelligenten Premierminister, der dem Stamme der Ngatihahuas angehörte, welche den Isthmus von Auckland vor der Occupation durch die Engländer bewohnten. Er hieß William Thompson und wurde die Seele dieses Unabhängigkeitskrieges. Er organisirte die maorischen Truppen sehr geschickt. Unter seinem belebenden Einfluß vereinigte ein Chef der Taranakis zu demselben Zwecke die zerstreuten Stämme; ein anderer Chef des Waikatogebietes formirte die vereinigte Landliga, ein wahres Schutz- und Trutz-Bündniß für das Wohl des Vaterlandes, dazu bestimmt, die Eingeborenen von dem Verkauf ihrer Ländereien an die englische Regierung abzuhalten. Die Verbündeten hielten Gastmähler, wie in den civilisirten Städten, welche das Vorspiel zu einer Revolution gaben. Die britischen Journale begannen die beunruhigenden Symptome zu enthüllen, und die Regierung überwachte sorgsam das Verhalten der ›Landliga‹. Die Wogen des öffentlichen Lebens gingen hoch; die Mine sollte bald springen. Es fehlte allein nur noch der zündende Funke, oder vielmehr die Reibung der beiderseitigen Interessen, um ihn zu erzeugen.«

»Und diese Reibung erfolgte? . . .« fragte Glenarvan.

»Ja, sie erfolgte im Jahre 1860,« erwiderte Paganel, »in der Provinz Taranaki, auf der Süd-Westküste von Ika-na-Maoui. Ein Eingeborener besaß sechshundert Acker Land in der Nachbarschaft von New-Plymouth. Er verkaufte sie der englischen Regierung. Aber als die Vermessungsbeamten anlangten, um das verkaufte Terrain aufzunehmen, protestirte der Chef Ringi, und im Monat März errichtete er auf den verkauften Ländereien ein verschanztes Lager. Einige Tage darauf nahm der Oberst Gold dasselbe an der Spitze seiner Truppen, und da war es, wo der zündende Funke des nationalen Krieges hervorsprang.«

»Sind die Maoris zahlreich?« frug John Mangles.

»Ihr Stamm ist seit einem Jahrhundert sehr geschwächt worden,« erwiderte der Geograph. »Im Jahre 1769 schätzte ihn Cook auf viermalhunderttausend Einwohner. Schon 1845 ergab die öffentliche Volkszählung einmalhundertundneuntausend weniger. Die sogenannten civilisirenden Blutgemetzel, die Krankheiten und der Branntwein haben das Volk decimirt; aber auf beiden Inseln sind immer noch neunzigtausend Eingeborener, unter denen sich etwa dreißigtausend Krieger befinden, welche die europäischen Truppen lange Zeit im Schach halten werden.«

»Und hat die Schilderhebung bis jetzt Erfolg gehabt?« frug Lady Helena.

»Ja, Madame, die Engländer selbst haben oft den Muth der Neu-Seeländer bewundert. Sie führen einen Guerrillakrieg, und stürzen sich, benachrichtigt durch ihre Späher, auf die kleinen Detachements, wobei sie die Besitzungen der Colonisten plündern. General Caméron war in diesen Kämpfen durchaus nicht um seine Lage zu beneiden.

Im Jahre 1863 hielten die Maoris nach einem langen und mörderischen Kriege eine starke Position an dem oberen Lauf des Waikato fest, welche sich an eine Reihe allmälig aufsteigender Hügel anschloß und durch die Vertheidigungslinien gedeckt war. Ihre Priester riefen die ganze maorische Bevölkerung zur Vertheidigung des Landes auf und versprachen Vergebung aller Sünden.

Dreitausend Mann unter dem Befehl des General Caméron nahmen den Kampf mit ihnen auf und gaben den Maoris seit der barbarischen Ermordung des Kapitän Spreat keinen Pardon mehr. Blutige Gefechte fanden statt, von denen einige zwölf Stunden dauerten, ohne daß die Maoris vor den europäischen Kanonen zurückwichen. Der wilde Stamm der Waikatos unter dem Oberbefehl William Thompson's bildete den Kern ihrer Armee. Derselbe commandirte zuerst etwa zweitausendfünfhundert Krieger, ihre Zahl stieg indeß bald auf achttausend.

Die Unterthanen Shongi's und Heki's, zweier gefährlicher Häuptlinge, kamen ihm zu Hilfe. Selbst die Frauen theilten die Anstrengungen und Mühen dieses heiligen Krieges. Aber das gute Recht führt nicht immer glückliche Waffen. Nach blutigen Kämpfen gelang es dem General Caméron, den Waikato-District zu unterwerfen, der allerdings leer und entvölkert war, denn die Maoris zogen sich daraus eiligst zurück. Es gäbe da bewunderungswürdige Kriegsthaten aufzuzählen.

Vierhundert Maoris, eingeschlossen in die Feste von Orakan, wurden von tausend Engländern unter dem Befehle des Brigadegenerals Carey belagert. Obwohl ohne Lebensmittel und ohne Wasser, verweigerten sie es dennoch, sich zu ergeben. Und eines Tages um die Mittagsstunde bahnten sie sich einen blutigen Weg durch das vierzigste Regiment, das sie fast decimirten, und retteten sich in die Moräste.«

»Aber hat die Unterwerfung des Waikato-Districtes diesen blutigen Krieg beendet?« frug John Mangles.

»Nein, mein Freund,« erwiderte Paganel. »Die Engländer entschlossen sich, die Provinz Taranaki anzugreifen und Mateitawa, die Festung William Thompsons, zu belagern. Aber sie werden sich ihrer ohne bedeutende Verluste nicht bemächtigen. Zur Zeit, wo ich Paris verließ, hatte ich erfahren, daß der Gouverneur im Einverständniß mit dem General die Unterwerfung der Stämme von Taranga acceptirt hatte, und ihnen drei Viertel ihrer Ländereien ließ. Man sagte zwar, daß der Haupträdelsführer, William Thompson, sich zu ergeben gedenke; aber die Journale von Australien haben diese Nachricht nicht bestätigt, – im Gegentheil. Es ist also wahrscheinlich, daß in diesem Augenblicke der Widerstand mit neuen Kräften organisirt wird.«

»Und Ihrer Meinung nach,« sprach Glenarvan zu Paganel, »wären die Provinzen von Taranaki und Auckland der künftige Kriegsschauplatz.«

»Ich denke es.«

»Also dasselbe Gebiet, in welches uns der Schiffbruch des Macquarie verschlagen hat.«

»Dasselbe. Wir sind einige Meilen oberhalb Kawhia gelandet, wo noch jetzt die Fahne der Maoris wehen muß.«

»Dann werden wir gut thun, uns nach Norden zu wenden,« sagte Glenarvan.

»Gewiß, gewiß,« erwiderte Paganel. »Die Neu-Seeländer sind gegen die Europäer eingenommen, und ganz besonders gegen die Engländer. Wir müssen daher Alles aufbieten, um nicht in ihre Hände zu fallen.«

»Vielleicht treffen wir unterwegs auf ein Detachement europäischer Truppen,« sagte Lady Helena. »Das würde ein großes Glück für uns sein.«

»Vielleicht, Madame,« antwortete der Geograph, »aber ich erhoffe es nicht. Die isolirten Detachements durchstreifen nicht gern eine Landstrecke, in der hinter jedem Gebüsch ein Eingeborener lauert. Ich rechne also nicht auf eine Escorte der Soldaten vom vierzigsten Regiment. Aber an der Westküste, welcher wir folgen werden, giebt es einige Missionsstationen, die wir auf unserem Marsch nach Auckland als Haltepunkte betrachten können. Ich denke sogar daran, dieselbe Route einzuschlagen, welche Herr von Hochstetter den Waikatofluß entlang gewählt hat.«

»War das ein Reisender, Herr Paganel?« frug Robert Grant.

»Ja, mein Sohn, ein Mitglied der wissenschaftlichen Commission, welche an Bord der österreichischen Fregatte ›Novara‹ im Jahre 1858 die Reise um die Welt machte.«

»Herr Paganel,« sagte Robert, dessen Augen bei dem Gedanken an so große Expeditionen aufleuchteten, »hat auch Neu-Seeland so berühmte Reisende, wie Australien an Burke und Stuart aufzuweisen?«

»Einige, mein Kind, wie den Doctor Hooker, Professor Brizard, die Naturforscher Dieffenbach und Julius Haast, doch sind sie, trotzdem einige derselben ihre abenteuerliche Leidenschaft mit dem Leben bezahlten, nicht so berühmt geworden als die Reisenden in Australien und Afrika.«

»Und Sie kennen ihre Geschichte?« fragte der junge Grant.

»Das will ich meinen, mein Sohn, und da ich sehe, daß Du brennst, davon eben so viel zu wissen als ich, so werde ich sie Dir erzählen.«

»Schönen Dank, Herr Paganel, ich höre zu.«

»Und wir natürlich auch,« sagte Lady Helena. »Es ist nicht das erste Mal, daß das schlechte Wetter uns geradezu gezwungen hat, uns weiter zu unterrichten. Also sprechen Sie zu Allen, Herr Paganel.«

»Zu Ihrem Befehl, Madame,« erwiderte der Geograph, »doch wird mein Bericht nur kurz sein, denn er behandelt nicht jene kühnen Entdecker, welche Mann gegen Mann den australischen Minotaur bekämpften. Neu-Seeland ist ein zu wenig ausgedehntes Land, um sich der Erforschung durch den Menschen lange entziehen zu können. Dazu sind meine Helden auch nicht Entdeckungsreisende im engeren Sinne, sondern einfache Touristen, welche sehr alltäglichen Zufällen zum Opfer fielen.«

»Und deren Namen?« fragte Mary Grant.

»Da ist der Geometer Witcombe, und Charlton Howitt, derselbe, welcher bei der bemerkenswerten Expedition, von der ich Ihnen während unseres Aufenthaltes am Wimerra erzählte, die Ueberreste Burkes' auffand. Witcombe und Howitt führten Jeder zwei Expeditionen durch die Insel Tawai-Pounamou an. Beide gingen in den ersten Monaten des Jahres 1863 von Christchurch aus ab, um verschiedene Pässe über die nördlichen Bergketten der Provinz Canterbury aufzufinden. Howitt erreichte jene an der Westgrenze der Provinz und schlug sein Hauptquartier am Brunner-See auf. Witcombe dagegen fand am Rakaia-Thale eine Übergangsstelle, welche bis an die Ostseite des Mount Tyndall führte. Er hatte auch einen Reisegefährten, Jacob Louper, welcher später in der »Littleton-Times« einen Bericht über diese Fahrt und ihr trauriges Ende abstattete. Soweit ich mich erinnere, befanden sich die Reisenden am 22. April 1863 am Fuße eines Gletschers, von dem der Rakaia entspringt. Sie erstiegen seinen Gipfel, um weitere Uebergänge auszuspähen. Den folgenden Tag lagerten Witcombe und Louper, von Ermüdung und Frost erschöpft, auf tiefem Schnee, viertausend Fuß über dem Meere. Sieben volle Tage irrten sie dann in den Bergen und in Thälern, deren senkrechte Wände keinen Ausweg boten, umher, oft ohne Feuer, manchmal ohne Nahrung, denn ihr Zucker war zu Syrup geworden, ihr Schiffszwieback zu feuchtem Teige, ihre Kleidung und Decken trieften von Regen; sie selbst, verzehrt von Insecten, machten bei großen Tagemärschen an drei Meilen, bei kleinen legten sie kaum zweihundert Yards zurück. Am 29. April trafen sie endlich auf eine Maorihütte und in einem Garten auf einige Kartoffeln. Es war das die letzte gemeinschaftliche Mahlzeit der beiden Freunde. An jenem Abend erreichten sie, nahe der Mündung des Taramakau, das Meer. Um nach dem nördlich gelegenen Flusse Grey zu gelangen, mußten sie der Küste rechtshin folgen. Der Taramakau war tief und breit. Louper fand nach stundenlangem Suchen zwei sehr beschädigte kleine Canots, die er nach Kräften ausbesserte und an einander band. Gegen Abend bestiegen sie die beiden Reisenden. Doch kaum in der Hälfte der Strömung angelangt, schöpften jene Wasser. Witcombe sprang heraus und schwamm an das linke Ufer zurück. Jacob Louper, der des Schwimmens unkundig war, klammerte sich an die Boote. Dadurch wurde er, wenn auch auf Umwegen, gerettet. Der Unglückliche wurde gegen die Klippen getrieben; eine Welle begrub ihn unter dem Wasser, die andere hob ihn wieder empor, wobei er noch dazu gegen das Gestein geschleudert wurde. Eine tief dunkle Nacht brach herein; der Regen floß in Strömen. So wurde Louper mit blutigem Leibe mehrere Stunden lang hin und her geworfen. Endlich stieß das Boot gegen das Land, und der schon der Empfindung beraubte Schiffbrüchige wurde auf das Ufer geschleudert. Mit Tagesanbruch schleppte er sich nach einer Quelle und überzeugte sich, daß die Strömung ihn etwa eine Meile von der Stelle, wo er hatte übersetzen wollen, verschlagen hatte. Er erhob sich, folgte der Küste und fand bald den unglücklichen Witcombe, dessen Kopf und Rumpf halb im Schlamme staken. Dieser war todt. Louper höhlte mit den Händen ein Grab im Ufersande aus und beerdigte seinen Gefährten. Zwei Tage nachher wurde er, halb todt vor Hunger, von einigen gastfreundlichen Maoris – denn es giebt auch Solche – aufgenommen, und am 4. Mai erreichte er den Brunner-See und das Lager Charlton Howitt's, der sechs Wochen später, ähnlich wie Witcombe, den Tod finden sollte.«

»Ja,« sagte John Mangles, »es scheint, als ob solche Katastrophen unter einander verkettet wären daß ein Schicksalsband Reisende unter einander verbindet, und daß sie Alle untergehen, wenn dieses Band zerreißt.«

»Sie haben Recht, Freund John,« entgegnete Paganel, »auch ich habe nicht selten diese Beobachtung gemacht. Nach welchem Gesetze der Solidarität Howitt fast unter denselben Verhältnissen unterging, kann man freilich nicht sagen. Charlton Howitt war von Wyde, dem Chef der Arbeiten des Gouvernements, beauftragt worden, einen für Pferde gangbaren Weg von den Ebenen des Hurunui bis zur Mündung des Taramakau ausfindig zu machen. Von fünf Mann begleitet, reiste er am 1. Januar 1863 ab. Mit einsichtsvollem Eifer unterzog er sich seiner Aufgabe, und so wurde bald ein vierzig Meilen langer Weg bis an eine zunächst unüberschreitbare Stelle am Taramakau hergerichtet. Howitt kehrte nach Christchurch zurück, wünschte aber trotz des herannahenden Winters seine Arbeiten fortzusetzen. Wyde stimmte dem zu. Howitt kehrte behufs der Verproviantirung seines Lagers zurück, in der Absicht, die ungünstige Jahreszeit dort zuzubringen. Um eben diese Zeit nahm er Jakob Louper wieder auf. Am 27. Juni verließ Howitt mit zweien seiner Leute, Robert Little und Henry Mullis, das Lager. Sie wollten über den Brunner-See setzen und wurden seitdem nicht wieder gesehen; nur ihr zerbrechliches, und wenig über das Wasser reichendes Canot fand sich später umgestürzt am Seeufer. Neun Wochen lang suchte man vergeblich; offenbar waren die Unglücklichen, welche nicht schwimmen konnten, im See ertrunken.«

»Warum könnten sie sich aber nicht heil und gesund bei irgend einem seeländischen Stamme befinden?« warf Lady Helena ein. »Mindestens darf man an ihrem Tode einigen Zweifel hegen.«

»O nein, Madame,« erwiderte Paganel, »denn sie sind im August 1864, also über ein Jahr nach der Katastrophe, auch noch nicht wieder aufgetaucht, und wer ein Jahr lang, ohne zum Vorschein zu kommen, in diesem Neu-Seeland ist,« murmelte er heimlich weiter, »der ist unwiderruflich verloren!«

 


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