Jules Verne
Das Land der Pelze. Zweiter Band
Jules Verne

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Achtes Capitel.

Ein Ausflug der Mrs. Paulina Barnett.

Den ganzen Morgen verbrachten Jasper Hobson und Sergeant Long noch in dieser Gegend der Küste. Das Wetter hatte sich wesentlich geändert. Es regnete fast gar nicht mehr, dagegen war der Wind außergewöhnlich schnell nach Südosten umgesprungen, ohne dabei an Heftigkeit einzubüßen. Dieser sehr unangenehme Umstand vergrößerte nur Lieutenant Hobson's Unruhe, da er nun jede Hoffnung, auf das Festland zu treffen, aufgeben mußte.

In der That konnte dieser Südostwind die umherirrende Insel nur mehr und mehr von jenem entfernen, und sie den so gefürchteten Strömungen, welche nach dem Norden des Arktischen Oceans verlaufen, zuführen.

Hatte man denn aber überhaupt eine Gewißheit darüber, daß die Insel in jener Schreckensnacht der Küste nahe gewesen, oder beruhte diese Annahme nur auf einer nicht in Erfüllung gegangenen Ahnung Jasper Hobson's? Die Luft war ja jetzt ziemlich klar und auf mehrere Meilen hin durchsichtig, dennoch aber keine Spur eines Landes zu sehen. Mußte man nicht auf die Ansicht des Sergeanten zurück kommen, daß während der Nacht ein Fahrzeug der Insel in Sicht vorbei gekommen, eine Schiffslaterne einen Augenblick sichtbar gewesen sei, und der gehörte Schrei von einem verunglückten Seemann hergerührt habe? Und würde dieses Schiff nicht wahrscheinlich selbst bei dem furchtbaren Sturme untergegangen sein?

Auf jeden Fall traf man indeß auf keine Schiffstrümmer.

Der Ocean, über den der Landwind jetzt in entgegengesetzter Richtung brauste, thürmte bergehohe Wellen auf, denen ein Fahrzeug nur sehr schwer mochte widerstehen können.

»Nun, Herr Lieutenant,« sagte der Sergeant, »zu einem Entschlusse werden wir kommen müssen.«

»Ja freilich, Sergeant,« antwortete Jasper Hobson und strich mit der Hand über die Stirn, »und zwar müssen wir auf unserer Insel ausharren, um den Winter zu erwarten. Er allein vermag uns zu retten.«

Der Mittag war herangekommen. Da Jasper Hobson jedenfalls vor dem Abend in Fort-Esperance zurück sein wollte, schlug man nun den Weg nach Cap Bathurst ein, wobei die Wanderer wiederum vom Winde im Rücken unterstützt wurden.

Nicht unberechtigt erfüllte sie die Frage mit großer Unruhe, ob sich die Insel bei diesem Kampfe der Elemente nicht in zwei Theile getrennt, ob sich also der in vergangener Nacht beobachtete Riß durch ihre ganze Breite fortgesetzt habe. Waren sie vielleicht jetzt schon von ihren Freunden geschieden? Der Lage der Dinge nach mußten sie auf Alles gefaßt sein.

Bald kamen sie an den die Nacht vorher durchschrittenen Hochwald. In großer Menge lagen da die Bäume auf der Erde, die einen mit geknicktem Stamme, die anderen sammt den Wurzeln aus dem Boden, dessen dünne Erdschicht ihnen keinen genügenden Widerhalt bot, herausgerissen. Blätterlos starrten ihnen die übrigen wie grinsende Silhouetten entgegen, und klapperten lärmend im Winde.

Zwei Meilen über diesen verwüsteten Wald hinaus trafen Lieutenant Hobson und der Sergeant auf den erwähnten Spalt, dessen Größenverhältnisse sie in der Dunkelheit nicht hatten wahrnehmen können. Er stellte einen gegen fünfzig Fuß breiten Bruch dar, der das Ufer halbwegs zwischen Cap Michael und dem ehemaligen Barnett-Hafen theilte, und eine Art Bucht bildete, die etwa anderthalb Meilen in das Land einschnitt. Wenn ein neuer Sturm das Meer aufwühlte, war zu erwarten, daß der Riß sich vergrößern und erweitern werde.

Bei Annäherung an die Küste sah Jasper Hobson eben einen gewaltigen Eisblock sich von der Insel loslösen und in die Weite treiben.

»Ja wohl,« murmelte der Sergeant Long, »darin liegt die Gefahr!«

Mit raschem Schritte wandten sich Beide nach Westen um den großen Einschnitt herum, und von dessen Ende aus direct auf Fort-Esperance zu.

Auf dem Wege kam ihnen keine weitere Veränderung zu Gesicht. Um vier Uhr erreichten sie das Palisadenthor, und trafen ihre Genossen bei den gewohnten Beschäftigungen an.

Gegen seine Leute sprach sich Jasper Hobson dahin aus, daß er zum letzten Male vor Eintritt des Winters nach Spuren der von Kapitän Craventy versprochenen Sendung habe suchen wollen, das aber auch diesmal fruchtlos gewesen sei.

»Ich glaube wohl, Herr Lieutenant,« ließ sich Marbre vernehmen, »daß wir für dieses Jahr unbedingt darauf verzichten müssen, unsere Kameraden aus Fort-Reliance zu sehen.«

»Ganz meine Meinung, Marbre«, antwortete ihm Jasper Hobson, und zog sich in den allgemeinen Saal zurück.

Mrs. Paulina Barnett und Madge wurden von den beiden merkwürdigsten Ereignissen der kleinen Reise des Lieutenants, jenem Aufblitzen eines Lichtes und der Wahrnehmung eines Schreies, unterrichtet. Jasper Hobson und der Sergeant bekräftigten noch ganz besonders, daß ihnen in Bezug auf Beides nicht etwa die erhitzte Einbildung nur einen Streich gespielt habe. Das Feuer war wirklich gesehen, der Schrei unzweifelhaft vernommen worden. Nach reiflichster Ueberlegung einigte man sich dahin, daß gewiß ein nothleidendes Schiff an der Insel vorüber gekommen, diese aber nicht, nach der früheren Voraussetzung, nahe dem amerikanischen Festlande gewesen sei.

Mit dem Südostwinde heiterte sich indeß der Himmel vollkommen auf und befreite sich die Atmosphäre von den Dünsten, welche sie bis dahin trübten. Jasper Hobson konnte darauf rechnen, am nächsten Tage eine Lagenbestimmung auszuführen.

Wirklich wurde die Nacht ziemlich kalt und fiel ein feinflockiger Schnee, welcher die ganze Insel leicht bedeckte. Beim Erwachen am anderen Morgen begrüßte der Lieutenant dieses erste Vorzeichen des ersehnten Winters.

Jetzt war der 2. September. Als der Himmel sich nach und nach ganz entwölkte, brach die Sonne wieder hindurch. Zu Mittag wurde eine gelungene Beobachtung bezüglich der Breite, und gegen zwei Uhr eine Berechnung der Stundenwinkel vorgenommen.

Diese Beobachtungen ergaben: Für die Breite 70º 57'; für die Länge 170º 30'.

Trotz der Macht des Orkanes hatte sich die Insel also nahezu in derselben Parallele gehalten und ihre Lage nur in Folge der Strömung gegen Westen hin verschoben. Nun befand sie sich gegenüber der Behrings-Straße, jedoch mindestens vierhundert Meilen nördlich vom Ostcap und dem Cap Prince-de-Gallas, welche die engste Stelle der Straße bezeichnen.

Diese neue Lage gab sehr ernsthaft zu denken. Mit jedem Tage näherte sich die Insel jenem großen Kamtschatka-Strome, der, wenn er sie einmal ergriff, sie weit nach Norden verschlagen mußte. Binnen Kurzem stand die Entscheidung ihres Schicksals bevor: entweder verharrte sie zwischen den beiden gegnerischen Strömen unbewegt bis zum Festwerden des umgebenden Meeres, oder – sie verlor sich in den Einöden der hyperboräischen Regionen.

Jasper Hobson, der sehr peinlich erregt seine Unruhe doch vor Anderer Blicken verbergen wollte, zog sich in sein Zimmer zurück und erschien den ganzen Tag nicht wieder. Die Karten vor den Augen setzte er seine ganze Erfindungsgabe, seinen ganzen praktischen Verstand daran, eine Lösung zu finden.

Die Temperatur sank weiter um einige Grade, und die abendlichen Nebel des südöstlichen Horizontes schlugen sich während der Nacht als Schnee nieder. Am anderen Tage maß die weiße Decke schon zwei Zoll – endlich kam der Winter.

An diesem Tage, den 3. September, beschloß Mrs. Paulina Barnett, den Küstenstrich zwischen Cap Bathurst und dem Cap Eskimo auf einige Meilen hin zu durchstreifen. Sie wollte die Veränderungen in Augenschein nehmen, die der Sturm der eben vergangenen Tage dort veranlaßt haben könnte. Jasper Hobson hätte, wenn sie diesem von ihrer Absicht Kunde gab, sich gewiß zu ihrer Begleitung angeschlossen. Da sie ihn aber bei seinen Ansichten über jene Veränderungen belassen wollte, entschied sie sich, nur in Gesellschaft Madge's aufzubrechen.

Eine Gefahr schien ja nicht zu besorgen. Die einzigen wirklich zu fürchtenden Thiere, die Bären, hatten die Insel seit dem Erdbeben verlassen. Zwei Frauen konnten sich demnach, ohne den Vorwurf der Unklugheit zu verdienen, wohl auf einen nur für wenige Stunden berechneten Ausflug in die Umgebungen des Forts hinaus wagen.

Madge ging ohne Widerrede auf Mrs. Paulina Barnett's Vorschlag ein, und Beide stahlen sich, ohne Jemand davon Kenntniß zu geben, mit dem einfachen Schneemesser, einer Kürbisflasche und einer Reisetasche ausgerüstet, schon um acht Uhr Morgens davon, stiegen den Abhang des Caps hinab und lenkten ihre Schritte nach Westen.

Schon glitt die Sonne langsam über den Horizont hin, denn selbst bei ihrer Culmination erhob sie sich nur auf wenige Grade. Ihre schrägen Strahlen waren aber hell, eindringend und schmolzen an Stellen, die sie unmittelbar beschienen, noch den leichten Schneeteppich weg.

Zahlreiche Vögel aller Art flatterten in Schwärmen umher und belebten die Küste. Die Luft hallte von ihrem Geschrei wieder, wenn sie, je nachdem das süße oder salzige Wasser sie anlockte, unaufhörlich zwischen der Lagune und dem Meere hin- und herflogen.

Mrs. Paulina Barnett machte auch die Bemerkung, wie zahlreich die verschiedensten Pelzthiere sich in der nächsten Nachbarschaft von Fort-Esperance aufhielten. Ohne Mühe konnte die Factorei wohl ihre Magazine füllen; aber zu welchem Zwecke wäre das jetzt geschehen?

Diese unschuldigen Thiere, welche zu wissen schienen, daß ihnen kein Jäger nachstelle, gingen und kamen mit zunehmender Vertraulichkeit bis an die Palissaden heran. Ihr Instinct mochte ihnen verrathen haben, daß sie auf dieser Insel gefangen seien, gefangen wie deren Bewohner, und daß Alle ein gemeinschaftliches Schicksal theilten. Höchst eigenthümlich erschien es aber, und war übrigens Mrs. Paulina von Anfang an nicht entgangen, daß Marbre und Sabine, zwei so leidenschaftliche Jäger, dem Befehle des Lieutenants, die Pelzthiere jetzt ausnahmslos zu schonen, so ohne jede Uebertretung nachkamen und nicht die geringste Lust zeigten, das kostbare Wild mit einem Büchsenschusse zu begrüßen. Füchse und Andere entbehrten freilich noch ihres Winterpelzes, was ihren Werth sehr beträchtlich herabsetzte, aber doch genügte dieser Grund wohl kaum, die auffallende Lustlosigkeit der beiden Nimrods zu erklären.

Im wackeren Zuschreiten faßten Mrs. Paulina Barnett und Madge bei der Unterhaltung über ihre ganz fremdartige Lage den sandigen Saum der Küste immer aufmerksam in's Auge. Die Verwüstungen, welche das Meer in jüngster Zeit verursacht hatte, waren sehr merkbar. Da und dort bewiesen frische Schollen das Vorhandensein neuer Brüche. Das an manchen Stellen abgenagte und flachere Ufer zeigte eine beunruhigende Neigung zum Versinken, und schon rollten da lange Wellen darüber hin, wo jenen sonst ein steiler Uferrand ein Halt geboten hatte. Offenbar waren einige Theile der Insel gesunken und schwebten jetzt mit der Wasserfläche nur noch in gleicher Höhe.

»Meine liebe Madge,« sprach da Mrs. Paulina Barnett unter Hinweisung auf die ausgedehnten Bodenstrecken, über welche hin die Wellen jetzt plätschernd ausliefen, »unsere Lage ist seit jenem verderblichen Sturme weit übler geworden! Gewiß erniedrigt sich das allgemeine Niveau der Insel nach und nach. Unsere Rettung bildet nun blos noch eine Zeitfrage. Wird sich der Winter frühzeitig genug einstellen? Hierauf beruht Alles.«

»Der Winter wird kommen, meine Tochter,« erwiderte Madge mit ihrem unerschütterlichen Gottvertrauen. »Schon fiel zwei Nächte über Schnee. Da oben am Himmel wird jetzt die Kälte geboren, und ich glaube es bestimmt, daß Gott sie uns zu Hilfe sendet.«

»Du hast recht, Madge,« antwortete die Reisende, »wir müssen den Glauben haben. Wir Frauen, die wir dem natürlichen Grunde und Laufe der Dinge nicht nachgehen, dürfen da nicht verzweifeln, wo es die bestunterrichteten Männer thun, und darin liegt eine Gnade für uns! Leider ist unser Lieutenant dieser nicht theilhaftig. Er kennt das Warum der Dinge, er überlegt und rechnet, er mißt die Zeit, welche uns noch bleibt, und schon sehe ich ihn nahe daran, jede Hoffnung aufzugeben!«

»Doch ist er aber ein thatkräftiger Mann, in dem ein muthiges Herz klopft,« entgegnete Madge.

»Gewiß,« fügte Mrs. Paulina Barnett hinzu; »und wenn unser Heil noch von Menschenhand zu erhoffen ist, so wird er uns retten!«

Um neun Uhr hatten die beiden Frauen eine Entfernung von vier Meilen zurück gelegt. Oft mußten sie von dem Wege am Ufer nach dem Innern der Insel zu abweichen, um die schon überschwemmten niedrigen Theile des Erdbodens zu umwandern. An gewissen Stellen waren die Spuren des Meeres wohl eine halbe Meile landeinwärts noch zu erkennen, wo die Dicke des Eisfeldes also ganz besonders vermindert sein mochte. Es stand demnach zu befürchten, daß es an mehreren Punkten ganz nachgeben und deshalb neue Buchten und Baien an diesem Küstenstriche bilden würde.

Je weiter sie sich von Fort-Esperance entfernten, desto mehr bemerkte Mrs. Paulina Barnett auch eine Abnahme in der Zahl der Pelzthiere. Diese armen Geschöpfe fühlten sich offenbar in der Nähe der Menschen, welche sie doch bis dahin flohen, sicher, und aus diesem Grunde drängten sie sich in der Umgebung der Factorei zusammen. Eigentliche wilde Thiere, die ihr Instinct nicht zur rechten Zeit von dieser gefährlichen Insel vertrieben hatte, mußten sehr selten sein. Doch beobachteten Mrs. Paulina und Madge einzelne, fern in der Ebene umherschweifende Wölfe. Diese kamen übrigens nicht heran, sondern verschwanden bald hinter den kleinen Hügeln im Süden der Lagune.

»Was wird zuletzt,« fragte Madge, »aus diesen Thieren, welche auf der Insel zugleich mit uns gefangen sind, werden, und was mögen sie beginnen, wenn ihnen einst das Futter mangelt, und der Winter sie aushungert?«

»Aushungert! Meine gute Madge,« beruhigte Mrs. Barnett, »o glaube mir, daß wir von diesen Nichts zu fürchten haben. Ihnen wird es nicht an Nahrung fehlen, ihnen fallen alle jene Marder, Polarhasen und Hermeline, deren Leben wir jetzt schonen, zur sicheren Beute. Vor einem Angriffe durch Jene brauchen wir nicht zu zittern. Nein! Hierin liegt keine Gefahr für uns! Der zerbrechliche Boden birgt sie, der einst bersten wird, und jeden Augenblick schon unter unseren Füßen in Stücke gehen kann. Da sieh, wie sich hier das gierige Meer in das Innere des Landes einfrißt. Schon bedeckt es einen Theil der Ebene, den sein verhältnißmäßig wärmeres Wasser nun von oben und von unten abnagt. Wenn der Frost ihm nicht entgegen tritt, wird es sich bald mit der Lagune vereinigen, und wir verlieren unseren See, wie wir Fluß und Hafen schon eingebüßt haben.«

»Dieser Umstand,« sagte Madge, »dürfte für uns aber zum unheilbaren Unglück sein.«

»Und warum das, Madge?« fragte Mrs. Paulina Barnett, und sah ihre Begleiterin erwartungsvoll an.

»Nun, weil wir damit alles süßen Wassers beraubt würden.«

»O, meine brave Madge, Süßwasser wird uns niemals ausgehen. Regen, Schnee, Eis, Eisberge des Oceans, ja, selbst der Boden der Insel, die uns trägt, – Alles besteht aus süßem, genießbarem Wasser. Nein, ich wiederhole Dir's, auch hierin beruht für uns nicht die Gefahr.«

Gegen zehn Uhr befanden sich Mrs. Paulina Barnett und Madge in der Höhe des Cap Eskimo, aber mindestens zwei Meilen im Innern der Insel, da sie dem Ufer nicht nahe zu folgen im Stande waren. Die von einem so weiten und durch die unvermeidlichen Umwege noch verlängerten Marsche etwas ermüdeten Frauen beschlossen vor der Rückkehr nach Fort-Esperance ein wenig auszuruhen. An diesem Punkte erhob sich ein kleines Gehölz von Birken und Strauchwerk, das einen niedrigen Hügel krönte. Eine von gelblichem Moose überwachsene, und durch die Sonnenstrahlen vom Schnee befreite Stelle bot sich ihnen bei ihrem frugalen Mahle als geeigneter Ruheplatz.

Eine halbe Stunde später schlug Mrs. Paulina Barnett vor, erst den jetzigen Zustand des Cap Eskimo zu überschauen, bevor sie sich östlich, nach der Factorei zurück wendeten. Es drängte sie, zu wissen, ob dieser Landvorsprung den Angriffen des Seesturmes widerstanden habe oder nicht. Madge erklärte sich bereit, ihrer »Tochter« überallhin zu folgen, wohin es dieser zu gehen beliebte, und erinnerte sie nur, daß zwischen ihnen und Cap Bathurst eine Entfernung von acht bis neun Meilen läge, sowie, daß man Lieutenant Hobson nicht durch eine zu lange Abwesenheit beunruhigen dürfe.

Dennoch bestand Mrs. Paulina Barnett, so als ob eine Ahnung sie dahin zöge, auf ihrem Gedanken, und wie man bald sehen wird, zum größten Glücke. Dieser Umweg konnte übrigens die ganze Dauer des Ausflugs nur um eine halbe Stunde verlängern.

Die beiden Frauen erhoben sich also und gingen aus das Cap Eskimo zu.

Noch hatten sie jedoch keine Viertelmeile zurück gelegt, als die Reisende plötzlich stehen blieb, und Madge sehr regelmäßige Fußspuren zeigte, welche scharf im Schnee abgedrückt waren. Dieselben mußten ganz neuerdings hinterlassen und höchstens neun bis zehn Stunden alt sein, denn im anderen Falle hätte sie der zuletzt gefallene Schnee unzweifelhaft wieder überdeckt.

»Was für ein Thier ist hier vorbei gekommen?« fragte Madge.

»Das ist kein Thier gewesen,« verbesserte Mrs. Paulina Barnett und beugte sich nieder, um die Eindrücke besser zu sehen, »denn ein solches hinterläßt ganz anders gestaltete Spuren. Sieh, Madge, diese hier stimmen alle mit einander überein, und man ist versucht, sie einem menschlichen Fuße zuzuschreiben.«

»Wer könnte aber hierher gekommen sein?« antwortete Madge. »Weder ein Soldat, noch eine der Frauen hat das Fort verlassen, und da wir uns auf einer Insel befinden . . . Nein, Du mußt Dich täuschen, meine Tochter. Zum Ueberfluß laß uns diesen Spuren nachgehen und sehen, wohin sie führen.«

Die beiden Frauen setzten ihren Weg fort, und achteten aufmerksam auf die Fußtapfen im Schnee.

»Halt . . . sieh hier, Madge,« begann die Reisende, indem sie ihre Begleiterin zurückhielt, »und sage selbst, ob ich mich irrte.«

Neben den Fußspuren sah man an einer Stelle, wo der Schnee durch einen schweren Körper zusammengedrückt war, sehr deutlich den Abdruck einer Menschenhand.

»Die Hand einer Frau oder eines Kindes!« rief Madge aus.

»Ja,« bestätigte Mrs. Barnett, »hier ist ein Kind oder eine Frau erschöpft, leidend und kraftlos umgesunken . . . Dann hat sich das arme Wesen wieder aufgerafft und seinen Weg fortgesetzt . . . Sieh, dort führt die Spur weiter . . . Dort ist es auch wiederholt hingefallen! . . .«

»Aber wer? Wer?« forschte Madge.

»Weiß ich's?« erwiderte Mrs. Paulina Barnett. »Vielleicht irgend ein Unglücklicher, der so wie wir seit drei bis vier Monaten auf dieser Insel abgesperrt ist. Vielleicht ein Schiffbrüchiger, den der Sturm an diese Küste warf . . . Denk' an das Licht und den Schrei, von denen Lieutenant Hobson und Sergeant Long uns berichteten! . . . Komm, komm, meine Madge, vielleicht gilt es, einen Unglücklichen zu retten! . . .«

Mrs. Paulina Barnett zog ihre Gefährtin mit sich fort und folgte eilend dem im Schnee vorgezeichneten Schmerzenspfade, auf welchem sich bald Blutstropfen fanden.

»Einen Unglücklichen zu retten!« hatte die theilnehmende, muthige Frau gesagt. Vergaß sie wohl in diesem Augenblicke gänzlich, daß auf dieser vom Wasser halb zersetzten Insel, deren Untergang im Oceane früher oder später bevorstand, weder für einen Anderen, noch für sie selbst das Heil zu suchen war?

Die Eindrücke im Fußboden wiesen nach dem Cap Eskimo hin. Gespannt folgten ihnen die beiden Frauen, doch bald wurden die Blutspuren umfänglicher, und verschwanden die einzelnen Fußtapfen. Jetzt zeigte sich nur eine Art unregelmäßigen, über den Schnee hingezogenen Pfades. Von hier aus hatten dem Unglücklichen die Kräfte versagt, sich aufrecht zu erhalten. Kriechend und schleppend hatte er sich noch mit Hilfe der Hände und Füße fortbewegt. Da und dort lagen abgerissene Fetzen seiner Bekleidung, die aus Robbenfell und Pelzwerk bestehen mußte.

»Vorwärts! Vorwärts!« trieb Mrs. Paulina Barnett, deren Herz dem Zerspringen nahe war.

Madge folgte ihr. Das Cap Eskimo war nur noch fünfhundert Schritte entfernt. Schon sah man es, wie es sich über der Meeresfläche von dem Hintergrunde des Himmels abhob. Es war verlassen!

Die von den beiden Frauen verfolgten Spuren wandten sich nach rechts. Mrs. Paulina Barnett und Madge durchsuchten den kleinen Hügel, welcher das Cap bildete, um vielleicht von einer Stelle desselben Etwas wahrnehmen zu können. Vergeblich. Auf's Neue verfolgten sie nun die Spuren, die einen Pfad längs des Meeres darstellten.

Mrs. Paulina Barnett lief schnell nach rechts weiter; sobald sie aber an das Ufer hinabkam, hielt sie Madge, welche ihr folgte und immer sorgsam den Blick umherschweifen ließ, mit der Hand zurück.

»Halt' ein!« rief sie ihr zu.

»Nein, Madge, nein!« antwortete Mrs. Barnett, von einem gewissen Instinct fast wider Willen fortgetrieben.

»Halt' ein, meine Tochter, und sieh' erst!« erwiderte Madge, welche Jene jetzt kräftiger zurück hielt.

Fünfzig Schritte vom Cap Eskimo trottete an dem nämlichen Ufer unter dumpfem Brummen eine weiße Masse daher.

Es war ein Polarbär von riesiger Größe. Vor Schreck an den Boden gefesselt, sahen ihn die beiden Frauen. Das gewaltige Thier lief um ein auf dem Schnee liegendes Bündel Pelzwerk herum; dann hob er es auf und ließ es wieder fallen, um dasselbe zu beschnüffeln. Das Bündel hätte man wohl für ein todtes Walroß ansehen können.

Mrs. Paulina Barnett wußte weder, was sie davon denken, noch ob sie vorwärts gehen sollte, als durch eine dem Körper ertheilte Bewegung sich eine Art Capuchon von dem Kopfe zurückschlug und lange, braune Haare darunter hervorquollen.

»Ein Weib!« rief Mrs. Paulina Barnett, welche schon auf die Verunglückte zustürzen wollte, um zu sehen, ob sie noch am Leben oder schon todt sei.

»Halt, halt! mein Kind,« mahnte aber Madge, »bezwinge Dich; er wird ihr kein Leid zufügen.«

Wirklich glotzte der Bär den Körper aufmerksam an, und begnügte sich, ihn um und um zu wenden, ohne daran zu denken, ihn mit seinen furchtbaren Krallen zu zerfleischen. Dann entfernte er sich davon und kehrte wieder zurück, scheinbar unschlüssig, was er damit anfangen sollte. Die beiden Frauen, welche ihm mit entsetzlicher Angst zusahen, hatte er nicht bemerkt.

Plötzlich – ein lautes Krachen – der Boden erzitterte – man hätte glauben können, daß jetzt das ganze Cap Eskimo im Meere versinke. –

Doch es löste sich nur ein großes Stück vom Ufer los, eine ungeheure Scholle, deren Schwerpunkt sich durch die Veränderung ihres specifischen Gewichtes verschoben hatte, und welche jetzt mit dem Bären und dem weiblichen Körper hinaus zu treiben begann.

Mrs. Paulina Barnett stieß einen verzweifelnden Schrei aus, und wollte nach der Scholle eilen, bevor diese das Ufer ganz verließ.

»Halt' ein, halte noch ein, meine Tochter!« wiederholte kaltblütig Madge, deren Hand sie krampfhaft fesselte.

Bei dem Krachen des Bruches war auch der Bär plötzlich zurück gewichen; er brummte gewaltig, verließ dann den Körper und trollte nach der Seite der Insel zu, von der er schon gegen vierzig Fuß weggetrieben war. So als wäre er ganz außer sich, lief er um das Eiland herum, bearbeitete den Boden mit den Tatzen, scharrte, daß Schnee und Sand um ihn herum flogen, und kehrte endlich zu dem leblosen Körper zurück.

Dann packte das Thier, zum größten Entsetzen der beiden Frauen, jenen an der Kleidung, hob ihn mit der Schnauze auf, ging an den Rand der Scholle und stürzte sich in das Meer.

Nach kurzer Zeit hatte der Bär, ein rüstiger Schwimmer, wie alle seine Verwandten in den Arktischen Ländern, das Gestade der Insel erreicht. Mit kräftiger Anstrengung schwang er sich vollends hinauf, und legte da den mitgebrachten Körper nieder.

Jetzt konnte sich Mrs. Paulina Barnett nicht mehr zurück halten. Ohne an die Gefahr zu denken, wenn sie sich dem fürchterlichen Raubthiere gegenüber befand, entwand sie sich Madge's Händen und eilte nach dem Ufer.

Als der Bär sie gewahr wurde, hob er sich auf den Hintertatzen in die Höhe und kam geraden Weges auf sie zu. Zehn Schritte vor ihr blieb er stehen, senkte den ungeheuren Kopf und kehrte um, als habe er unter dem Einflusse des Schreckens, der die ganze Thierwelt der Insel umzuwandeln schien, seine ganze natürliche Wildheit verloren. Mit grollendem Brummen trottete er nach dem Innern der Insel von dannen, ohne sich nur einmal umzusehen.

Sofort war Mrs. Paulina Barnett nach dem auf dem Schnee hingestreckten Körper geeilt.

Ein Schrei entrang sich ihrer Brust.

»Madge, Madge!« rief sie.

Madge kam herzu und betrachtete den leblosen Körper.

Es war der – Kalumah's, des jungen Eskimomädchens!

 


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