Jules Verne
Der Courier des Czaar – Zweiter Band
Jules Verne

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Vierzehntes Capitel

Die Nacht vom 5. zum 6. October

Iwan Ogareff's Plan war mit größter Sorgfalt vorbereitet und mußte, im Falle nicht ganz unvorhergesehene Ereignisse dazwischen traten, gewiß gelingen, wenn er nur dafür sorgen konnte, das Thor von Bolchaïa zur Zeit, wo er es ausliefern wollte, von Verteidigern entblößt zu halten. Gleichzeitig sollte die Aufmerksamkeit der Belagerten nach einer andern Seite der Stadt abgelenkt werden. So hatte er mit dem Emir verabredet.

Ein Scheinangriff flußauf- und flußabwärts auf dem rechten Ufer der Angara sollte an beiden Stellen mit möglichster Kraftaufwendung ausgeführt und auch eine Ueberschreitung des Stromes nach dem linken Ufer versucht werden. Dabei durfte man voraussetzen, daß das Thor von Bolchaïa ziemlich verlassen werden würde, zumal da die tartarischen Vorposten vor demselben weiter zurückgezogen werden sollten, um den Glauben zu erregen, sie wären an anderen Stellen verwendet worden.

Der 5. October war herangekommen. Vor Ablauf von vierundzwanzig Stunden sollte die Hauptstadt von Sibirien in den Händen des Emirs, der Großfürst in der Gewalt Iwan Ogareff's sein.

Im Laufe dieses Tages entstand in dem Thale der Angara eine ganz ungewöhnliche Bewegung. Von den Fenstern des Palastes und der Häuser am Ufer erkannte man deutlich, daß daselbst sehr umfassende Vorbereitungen betrieben wurden. Viele tartarische Abtheilungen marschirten nach einem Punkte zusammen und verstärkten die Truppenmacht, welche der Emir persönlich befehligte. Alles das gehörte zu der verabredeten Diversion und wurde möglichst auffällig in's Werk gesetzt.

Iwan Ogareff verhehlte auch dem Großfürsten nicht, daß von jener Seite ein Angriff zu befürchten sei. Er glaube annehmen zu müssen, sagte er, daß von beiden Seiten der Stadt ein Sturmangriff geplant werde, und rieth dem Großfürsten, die bedrohten Punkte möglichst zu verstärken.

Alles, was man sehen konnte, bestätigte Iwan Ogareff's Ansicht, der man sich bald Rechnung zu tragen entschloß. Nach einem im Palais abgehaltenen Kriegsrathe erging der Befehl, die verfügbare Hauptmacht an beiden Enden der Stadt, wo sich deren Wälle auf den Strom stützten, zu concentriren.

Das war es, was Iwan Ogareff vor Allem wünschte. Er rechnete zwar bestimmt nicht darauf, daß das Thor von Bolchaïa ganz von Mannschaften entblößt würde, aber diese konnten doch nur in geringer Stärke daselbst verbleiben. Iwan Ogareff suchte der Diversion der Tartaren eine solche Bedeutung zu geben, daß der Großfürst sich genöthigt sehen sollte, alle disponiblen Kräfte gegen dieselbe aufzubieten.

Die Verhältnisse wurden übrigens durch ein Ereigniß von ungewöhnlicher Bedeutung, wiederum einer Erfindung Iwan Ogareff's, ungemein erschwert, ein Ereigniß, welches jedoch sehr wesentlich zur Erreichung seiner Absichten beitragen mußte. Wenn auch kein Angriff auf Irkutsk an den von dem Thore von Bolchaïa entferntestem Punkte unternommen wurde, so hätte jener Zwischenfall hingereicht, alle Kräfte der Vertheidiger dahin zu concentriren, wo es Iwan Ogareff wünschte. Gleichzeitig mußte es eine entsetzliche Katastrophe über die arme Stadt herbeiführen.

Es waren also alle Aussichten vorhanden, jenes Thor zur bestimmten Stunde fast unbedeckt zu finden, während mehrere tausend Tartaren in Verstecken bereit lagen, gegen dasselbe anzustürmen.

Während dieser Tage hielten sich die Garnison und die Bevölkerung von Irkutsk immerfort auf jedes Ereigniß gefaßt. Alle Maßnahmen zur Vertheidigung bei dem erwarteten Angriff auf bisher weniger beunruhigte Punkte wurden eiligst getroffen. Der Großfürst und der General Voranzoff visitirten die auf ergangenen Befehl verstärkten Posten. Das Elitecorps Wassili Fedor's hielt den nördlichen Theil der Stadt besetzt, aber mit der Weisung, immer dahin beizuspringen, wo die Gefahr am größten wäre. Mit diesen rechtzeitigen und auf Befehl Iwan Ogareff's getroffenen Maßregeln wuchs die Hoffnung, den beabsichtigten Angriff abzuschlagen. Das Ufer der Angara war mit der geringen Menge Artillerie besetzt worden, über die man eben verfügte. Wenn die Tartaren aber abgewiesen wurden, so konnte man erwarten, daß sie für den Augenblick entmuthigt, einen erneuten Angriff doch mindestens einige Tage verschieben würden. Die von dem Großfürsten erwarteten Truppen mußten aber doch nun jede Stunde eintreffen. Das Heil oder das Verderben von Irkutsk hing also nur an einem Fädchen.

An diesem Tage ging die Sonne um sechs Uhr zwanzig Minuten auf und um fünf Uhr vierzig Minuten unter, nach Beschreibung eines Tagesbogens von elf Stunden. Zwei Stunden noch kämpfte die Dämmerung gegen das Dunkel der Nacht. Dann hüllte sich Alles in Finsterniß, und auch auf das Erscheinen des Mondes, der sich gerade in Conjunction befand, war ja nicht zu rechnen.

Die tiefe Dunkelheit mußte offenbar Iwan Ogareff's Pläne begünstigen.

Schon seit mehreren Tagen leitete eine ziemlich heftige Kälte auf die bevorstehende Strenge des sibirischen Winters über und an eben diesem Abend war sie doppelt fühlbar. Die auf der rechten Seite der Angara aufgestellten Truppen, welche ihre Anwesenheit nicht verrathen sollten, hatten deshalb kein Wachtfeuer angezündet. Sie litten von der auffälligen Erniedrigung der Temperatur ganz entsetzlich. Wenige Schritte unter ihnen schwammen die Eisschollen hin, welche der Strom mit herantrieb. Den ganzen Tag über sah man sie in gedrängten Massen in breitem Zuge zwischen beiden Ufern. Dieser von dem Großfürsten und seinen Officieren beobachtete Umstand ward für besonders glücklich angesehen. Es lag auf der Hand, daß an eine Ueberschreitung der Angara gar nicht zu denken sei, so lange dieses Gewirr von Eisstücken das Bett derselben bedeckte. Die Tartaren konnten weder Boote noch Flöße benutzen. Dabei brauchte man nicht zu befürchten, daß sie einen Uebergang auf dem etwa frisch aneinander gefrorenen Eise versuchen würden, da dieses für die Passage einer starken Colonne offenbar zu wenig haltbar war.

Wenn diese Verhältnisse auch den Vertheidigern von Irkutsk ganz vortheilhaft erschienen, so hätte Iwan Ogareff sie doch bedauern müssen. Doch im Gegentheil! Der Verräther wußte ja recht gut, daß die Tartaren gar nicht ernstlich daran dachten, die Angara zu passiren, und daß alle ihre hierauf abzielenden Bewegungen nur eine Kriegslist seien.

Gegen zehn Uhr Abends veränderte sich die Oberfläche des Flusses zum größten Erstaunen und auch zum Nachtheile der Belagerten ganz wunderbar. Der bisher unpraktikable Uebergang wurde frei. Das ganze Bett des Stromes reinigte sich. Die Eisschollen, die seit einigen Tagen schon in großer Menge dahinjagten, verschwanden plötzlich stromabwärts, und nur fünf bis sechs schwankten noch vereinzelt zwischen den beiden Ufern. Sogar ihre Structur veränderte sich gegenüber denjenigen, welche man zu sehen gewohnt war, ganz auffallend. Sie erschienen nur als einzelne von einem größeren Eisfelde mit glatten Rändern abgelöste Splitter.

Die russischen Officiere meldeten, als sie die Veränderungen am Flusse wahrnahmen, dieselben dem Großfürsten. Sie erklärten sich übrigens dadurch, daß das Eis sich an einer engern Stelle der Angara gestaut hatte und einen festen Schutz bildete.

Man weiß, daß dem so war.

Die Passage der Angara mußte also jetzt leichter zu forciren sein, was die Russen nun zu noch größerer Vorsicht nach dieser Seite nöthigte.

Bis Mitternacht blieb Alles ruhig. Gerade an der Ostseite, vor dem Thore von Bolchaïa, konnte man nicht die geringste Bewegung wahrnehmen. Kein Feuerschein glühte in dem Walde, der in der Entfernung mit den niedrigen Wolken des Horizontes verschmolz.

Im Thale der Angara verrieth dagegen ein vielfacher Wechsel der Feuer eine allgemeine Bewegung des Heeres.

Etwa eine Werst stromauf- und stromabwärts von den Stellen, wo die Erdwerke sich den Abhängen des Flußufers anschlossen, ließ sich ein dumpfes Geräusch vernehmen, ein Beweis dafür, daß daselbst tartarische Truppenmassen aufgestellt waren, welche irgend eines Befehles harrten.

Noch eine Stunde verging. Alles blieb wie vorher.

Es schlug zwei Uhr auf dem Glockenturme der Kathedrale in Irkutsk, und auch nicht eine ernsthafte Bewegung der Belagerer deutete auf weitere feindliche Absichten.

Der Großfürst und seine Officiere fragten sich, ob sie nicht in einer Täuschung befangen wären, zu glauben, daß die Tartaren einen Versuch zur Ueberrumpelung der Stadt wagen wollten. Fast in keiner der vorher gehenden Nächte ging es so ruhig zu. Immer blitzten sonst in der Vorpostenkette einzelne Flintenschüsse auf und brausten einige gröbere Geschosse durch die Luft, – heute blieb Alles still.

Dennoch verweilten der Großfürst, der General Voranzoff und deren Adjutanten Jeder auf seinem Posten, bereit je nach den Umständen die nöthigen Befehle zu geben und zu ertheilen.

Wir wissen, daß Iwan Ogareff ein Zimmer des Palastes bewohnte. Eigentlich war dasselbe ein geräumiger Saal im Erdgeschoß, dessen Fenster nach einer Seitenterrasse zu lagen. Mit nur wenigen Schritten über diese Terrasse gewann man einen Standpunkt, von welchem aus die Angara weithin zu übersehen war.

In jenem Saale herrschte eben tiefe Finsterniß.

Der Entscheidungsstunde ungeduldig entgegensehend, stand Iwan Ogareff darin an einem Fenster. Offenbar sollte das Signal zum Losbrechen, von ihm ausgehen. Hatte er dasselbe einmal gegeben und die meisten Vertheidiger von Irkutsk nach den offen angegriffenen Stellen gelockt, so wollte er das Palais verlassen, um sein Bubenstück zu vollenden.

Er wartete also im Dunklen, lauernd wie ein Raubthier, das sich auf seine Beute stürzen will.

Einige Minuten vor zwei Uhr verlangte der Großfürst, daß Michael Strogoff, – denn nur dieser Name war ihm ja bekannt, – vor ihn geführt werde. Ein Adjutant begab sich nach dessen Wohnung, fand aber die Thür geschlossen. Er rief . . .

Iwan Ogareff stand unbeweglich und im Dunklen nicht sichtbar am Fenster, hütete sich aber zu antworten.

Man meldete dem Großfürsten, daß der Courier des Czaar augenblicklich im Palais nicht anwesend sei.

Da schlug es zwei Uhr. Das war der Zeitpunkt für die mit den Tartaren verabredete Diversion, zu welcher Letztere schon fertig aufmarschirt waren.

Iwan Ogareff öffnete das Fenster seines Zimmers und begab sich nach dem nördlichen Ende der Seitenterrasse.

Im Dunklen unter ihm rauschten die Fluthen der Angara, die sich hörbar an den Pfeilern der früheren Brücke brachen.

Iwan Ogareff zog ein Feuerzeug aus der Tasche, entzündete dadurch ein Stückchen mit Pulver imprägnirten Schwamm und warf diesen in den Fluß . . .

Auf Iwan Ogareff's Befehl waren jene Ströme Mineralöls auf die Oberfläche der Angara geleitet worden.

Auf dem rechten Ufer des Flusses befanden sich oberhalb Irkutsk, zwischen dem Dorfe Poschkafsk und der Stadt, ergiebige Naphthaquellen. Iwan Ogareff verdankte man den teuflischen Gedanken, mittels derselben Irkutsk in Brand zu stecken. Er brachte also die ungeheuren Reservoirs, welche den vorräthigen Brennstoff enthielten, in seine Gewalt. Die Durchbrechung eines Stücks der Umfassungsmauer reichte hin, um jenen in starkem Strome ausfließen zu lassen.

Das war eben in dieser Nacht einige Stunden vorher geschehen, und war die Ursache, weshalb das Floß mit dem wirklichen Couriere des Czaar, mit Nadia und den übrigen Flüchtlingen in einem Strome von Mineralöl schwamm. Durch die Oeffnungen jener, Millionen von Kubikmetern enthaltenden Reservoirs hatte sich die flüssige Naphtha wie ein Sturzbach ergossen und sich, der natürlichen Bodenneigung folgend, auf dem Wasser der Angara verbreitet, auf dem sie ja in Folge ihres geringeren specifischen Gewichtes obenauf schwimmen mußte.

So führte Iwan Ogareff Krieg! Mit den Tartaren im Bunde handelte er wie ein Tartar auch gegen seine eigenen Landsleute. –

Der brennende Schwamm fiel in die Wellen der Angara.

In einem Augenblick, so als ob der Strom aus Alkohol bestände, flammte die ganze Fläche desselben fast mit elektrischer Geschwindigkeit auf. Zwischen den beiden Ufern wälzten sich bläuliche Feuerwogen. Darüber wirbelten dicke Rauchwolken empor. Die wenigen noch in der Strömung vorhandenen Eisschollen wurden von der Gluth ergriffen, schmolzen wie Wachs am Ofen und mit Zischen und Pfeifen schoß das verdampfende Wasser in die Höhe.

Gleichzeitig knatterte am südlichen und nördlichen Ende der Stadt das Kleingewehrfeuer. Die Batterien im Thale der Angara öffneten ihren groben Mund. Mehrere Tausend Tartaren stürzten sich stürmend auf die Erdwerke. Die hölzernen Gebäude am Flusse und dem Abhange daneben fingen an allen Enden Feuer. Eine entsetzliche Helligkeit besiegte das Dunkel der Nacht.

»Endlich!« sagte Iwan Ogareff für sich.

Er konnte sich mit vollem Rechte Glück wünschen. Sein Angriffsplan ging fürchterlich in Erfüllung. Die Vertheidiger von Irkutsk standen plötzlich zwischen dem Sturmangriff der Tartaren und den Schrecken des Brandes.

Die Glocken heulten und Alles, was in der Bevölkerung noch kräftige Glieder hatte, eilte herbei nach den bedrohten Punkten und den von dem Feuer zerstörten Häusern, um wenigstens die übrige Stadt zu retten.

Das Thor von Bolchaïa entbehrte nun fast jeder Bedeckung. Nur wenige Mann sah man an demselben. Diese waren noch dazu unter dem Einflusse des Verräthers aus dem kleinen Corps der Verbannten erwählt, um die letzten Ursachen der kommenden Ereignisse von sich abwälzen und eher durch den politischen Haß jener Mannschaften erklären zu können.

Iwan Ogareff ging nach seinem jetzt von der brennenden Angara hell erleuchteten Zimmer zurück. Dann machte er sich bereit, auszugehen.

Doch kaum öffnete er die Thür, als sich ein Weib mit durchnäßter Kleidung und wild herab, hängendem Haar in das Zimmer stürzte.

»Sangarre!« rief Iwan Ogareff im ersten Schrecken, da er kein anderes weibliches Wesen, als die Zigeunerin, vermuthen konnte.

Aber nicht Sangarre war es, sondern Nadia.

In dem Augenblicke, als das junge Mädchen auf der Eisscholle, dem letzten Zufluchtsorte, bei dem Aufleuchten des Feuers einen Schreckensruf ausstieß, hatte Michael Strogoff sie mit den Armen umschlungen und sich mit ihr in das Wasser gestürzt, um unter demselben einen Schutz gegen die Flammen zu finden. Wie erwähnt befand sich die Scholle, welche sie trug, nur etwa noch dreißig Klaftern oberhalb des ersten Quais von Irkutsk.

Nachdem er unter dem Wasser hingeschwommen, gelang es Michael Strogoff, daselbst mit Nadia an das Land zu kommen.

Endlich winkte Michael Strogoff sein heißersehntes Ziel. Er war in Irkutsk!

»Zum Palaste des Gouverneurs!« rief er Nadia zu.

Kaum zehn Minuten später erreichten Beide den Eingang des Palais, um dessen Grundmauern das Feuer gierig, aber unschädlich emporzüngelte.

Weiterhin standen die Häuser am Ufer alle in Flammen.

Michael Strogoff und Nadia traten ohne Hindernisse in das jetzt überall offene Gebäude. Mitten in der allgemeinen Verwirrung bemerkte sie, trotz ihrer triefenden Kleidung, Niemand.

In dem großen Parterresaale drängte sich eine Anzahl Officiere, um sich Befehle einzuholen, neben Soldaten, um letztere auszuführen. Hier wurden Michael Strogoff und Nadia durch das Stoßen und Drängen der erregten Menge von einander getrennt.

Rathlos durchirrte Nadia die Säle des Erdgeschosses mit lautem Rufen nach ihrem Begleiter und verlangte, vor den Großfürsten geführt zu werden.

Da öffnete sich vor ihr die Thür zu einem vom Feuerscheine hell erleuchteten Zimmer. Sie trat ein und stand unerwartet vor dem Manne, den sie in Ichim wie in Tomsk gesehen hatte, gegenüber Demjenigen, dessen ruchlose Hand in der nächsten Stunde die Stadt ausliefern sollte.

»Iwan Ogareff!« rief sie entsetzt.

Der Elende zitterte, als er seinen Namen hörte. Sein ganzer Plan mußte ja scheitern, wenn dieser Name laut wurde. Ihm blieb nur Eines übrig: das lebende Wesen, wer das auch sei, umzubringen, weil es seinen wahren Namen kannte.

Iwan Ogareff drang auf Nadia ein; aber in der Hand des jungen Mädchens, das sich durch eine Mauer im Rücken zu decken suchte, blitzte schon ein Messer, um sich zu vertheidigen.

»Iwan Ogareff!« rief sie nochmals lauter und im Bewußtsein, daß dieser verabscheute Name ihr Hilfe herbeirufen werde.

»Ah, Du wirst schweigen lernen!« versetzte der Verräther.

»Iwan Ogareff!« rief das unerschrockene Mädchen zum dritten Male mit einer Stimme, deren Stärke ihr tödtlicher Haß nur verdoppelte.

In wahnsinniger Wuth riß Iwan Ogareff einen Dolch aus seinem Gürtel, sprang auf Nadia zu und drängte sie nach einer Ecke des Raumes.

Jetzt wäre es um sie geschehen gewesen, als eine unwiderstehliche Hand den Schurken von ihr wegriß und zur Erde schleuderte.

»Michael!« rief Nadia.

Es war Michael Strogoff.

Die Ausrufe Nadia's hatten ihm den Weg gewiesen; durch sie war er zu dem Zimmer Iwan Ogareff's gelangt und durch die halb offen gebliebene Thür eingetreten.

»Sei ohne Furcht, Nadia,« sagte er, »sich zwischen diese und Iwan Ogareff stellend.

»Nimm Dich in Acht, nimm Dich in Acht, Bruder! . . . Der Verräther ist bewaffnet . . . Er kann auch sehen, und Du . . .«

Iwan Ogareff war wieder aufgestanden, und da er mit dem Blinden leichtes Spiel zu haben wähnte, rannte er auf Michael Strogoff zu.

Dieser packte ihn aber mit der einen Hand am Arme, lenkte mit der andern seine Waffe ab und warf ihn wieder zu Boden.

Todtenbleich vor Wuth und Scham erinnerte sich Iwan Ogareff, daß er ja einen Degen habe. Er riß diesen aus der Scheide und stellte sich wieder zum Angriff bereit.

Auch hatte er Michael Strogoff erkannt. Einen Blinden! Er hatte es ja nur mit einem Blinden zu thun. Die Partie stand offenbar gut für ihn.

Erschreckt durch die Gefahr, welche ihrem Freunde in einem so ungleichen Kampfe drohte, eilte Nadia zur Thür, um nach Hilfe zu rufen.

»Schließe die Thür, Nadia!« sagte Michael Strogoff. »Rufe Niemand, laß die Rache mir allein! Jetzt braucht der Courier des Czaar diesen Schurken nicht mehr zu fürchten. Er mag herankommen, wenn er es wagt. Ich erwarte ihn!«

Iwan Ogareff kauerte sich, ohne ein Wort zu sagen, wie ein Tiger zusammen. Er suchte das Geräusch seines Trittes, selbst das Hauchen seines Athems dem Ohre des Blinden zu verbergen. Er wollte ihn tödtlich treffen, bevor er seine Annäherung gewahr würde. Der Schuft dachte nicht daran, sich ehrlich zu schlagen, er wollte den, dessen Namen er gestohlen hatte, einfach ermorden.

Voll Entsetzen und doch voll Vertrauen betrachtete Nadia diese fürchterliche Scene mit einer Art Bewunderung. Michael Strogoff's unerschütterliche Ruhe schien auch über sie gekommen zu sein. Als Waffe besaß Michael Strogoff nur sein sibirisches Jägermesser, und seinen mit dem Degen bewehrten Gegner sah er ja nicht einmal. Aber durch welche Gnade des Himmels vertraute er so sicher seiner Ueberlegenheit über Jenen? Wie konnte er, ohne daß ein Wort fiel, immer bereit sein, der Degenspitze des Feindes zu begegnen?

Iwan Ogareff starrte mit sichtlicher Angst auf seinen Gegner. Diese übermenschliche Ruhe erdrückte ihn. Doch wenn er dann seinen Verstand zu Rathe zog, sagte er sich wieder, daß ja der Vortheil ganz auf seiner Seite sei. Diese Unbeweglichkeit des Blinden aber machte ihn erstarren. Er suchte sich die Stelle aus, wo er sein Opfer treffen wollte . . . Er glaubte sie gefunden zu haben . . . Was hielt denn seinen Arm zurück?

Endlich sprang er auf und führte einen heftigen Stoß gegen Michael Strogoff's Brust.

Eine geschickte und unerklärliche Bewegung des Messers Michael Strogoff's lenkte den Stahl ab. Der Blinde war nicht getroffen, und kaltblütig schien er, ohne von der Stelle zu weichen, einen zweiten Angriff zu erwarten.

Aus Iwan Ogareff's Stirn perlte ein eiskalter Schweiß. Er trat erst einen Schritt zurück und drang dann auf's Neue vor. Aber der Todesstreich mißlang ihm ebenso wie das erste Mal. Eine einfache Parade des breiten Messers drängte den nutzlosen Degen zur Seite.

Rasend vor Wuth und Schrecken gegenüber dieser lebenden Bildsäule heftete der Verräther seinen Blick auf die weit geöffneten Augen des Geblendeten. Diese Augen, welche in dem tiefsten Abgrund seiner Seele zu lesen schienen und doch unmöglich sehen konnten, wirkten auf ihn mit einer Art entsetzlicher Zauberkraft.

Plötzlich stieß Iwan Ogareff einen Schrei aus. In seinem Innern ward es unerwartet klar.

»Er sieht,« rief er, »er kann sehen! . . .«

Und wie ein Raubthier scheu seine Höhle zu gewinnen sucht, wich er in den Hintergrund des Saales zurück.

Da belebte sich die Statue, der Blinde ging sicheren Schrittes auf Iwan Ogareff zu und sagte:

»Ja wohl, er kann sehen! Ich sehe noch den Knutenhieb, mit dem ich Dich elenden Verräther gebrandmarkt habe. Ich sehe auch die Stelle, an der mein Messer Dich treffen soll. Auf, wehre Dich Deines Lebens. Ich erweise Dir noch die unverdiente Ehre eines Zweikampfes! Mein Messer genügt mir gegen Deinen Degen!«

»Er sieht!« rief freudig erschreckt Nadia. »Gütiger, gerechter Gott, ist das möglich?«

Iwan Ogareff fühlte sich verloren. Noch einmal aber raffte er den letzten Muth zusammen und stürzte sich mit dem Degen auf seinen unerschütterlichen Gegner. Die beiden Klingen kreuzten sich, aber ein Messerhieb Michael Strogoff's, geführt von der geübten Hand des sibirischen Jägers, sprengte die Klinge in Stücke und durch das Herz getroffen sank der Elende leblos zu Boden.

In diesem Augenblick wurde die Zimmerthür von außen aufgestoßen. Begleitet von einigen Officieren erschien der Großfürst auf der Schwelle.

Letzterer trat vor. Auf dem Fußboden erkannte er die Leiche Desjenigen, den er für den Courier des Czaar gehalten hatte.

Mit drohender Stimme fragte er:

»Wer hat diesen Mann getödtet?«

»Ich that es«, antwortete Michael Strogoff.

Einer der Officiere setzte einen Revolver an dessen Schläfe.

»Dein Name?« fragte der Großfürst.

»Kaiserliche Hoheit,« erwiderte Michael Strogoff, »fragen Sie mich lieber zuerst nach dem Namen dessen, der vor Ihren Füßen liegt.«

»Diesen Mann erkenne ich. Es ist ein Diener meines Bruders, ein Courier des Czaar.«

»Dieser Mann, Hoheit, ist kein Courier des Czaar! Das ist Iwan Ogareff!«

»Iwan Ogareff?« rief der Großfürst.

»Ja, Iwan, der Verräther seines Vaterlandes.«

»Aber Du, wer bist Du denn?«

»Ich bin Michael Strogoff.«


 << zurück weiter >>