Jules Verne
Der Courier des Czaar – Zweiter Band
Jules Verne

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Viertes Capitel

Der siegreiche Einzug

Tomsk, 1604 fast im Herzen der sibirischen Provinzen gegründet, ist eine der bedeutendsten Städte des asiatischen Rußlands. Tobolsk, das schon über den 60. Breitengrad, und Irkutsk, das über den 100. Meridian hinaus liegt, sahen Tomsk auf ihre Unkosten zunehmen und gedeihen.

Dennoch ist, wie schon erwähnt, Tomsk nicht die officielle Hauptstadt dieser wichtigen Provinz. Der Generalgouverneur derselben residirt vielmehr mit den obersten Beamten in Omsk. Dennoch erhob sich Tomsk zur hervorragendsten Stadt jenes Landestheiles, der an die Altaïberge, d. h. an die chinesische Grenze des Landes der Khalkas, angrenzt. An den Abhängen dieses Gebirges verlaufen bis in das Thal des Tom herab ergiebige Adern von Platin, Gold, Silber. Kupfer und goldhaltigem Bleierz. Da das Land reich ist, ist es auch die Stadt, welche den Mittelpunkt der einträglichen Montanindustrie einnimmt. Hier kann der äußere und innere Luxus der Gebäude und ihrer Einrichtung, die Pracht der Equipagen wohl mit den größten Hauptstädten Europas in die Schranken treten. Es ist eben eine Stadt der Millionäre vom Schlägel und der Spitzhaue, und wenn ihr die Ehre nicht zu Theil ward, den Stellvertreter des Czaaren in ihren Mauern zu beherbergen, so tröstet sie sich damit, daß der erste Kaufmann der Stadt, der Hauptconcessionär der Minen der kaiserlichen Regierung, zum ersten Range der Notabeln des Reiches zählt.

Früher huldigte man der Anschauung, Tomsk liege einfach am Ende der Welt. Wer sich dahin begeben wollte, wagte eine große Reise. Jetzt ist das, vorausgesetzt, daß keine wilden Feindeshorden die Straße umschwärmen, durch einen einfachen Spaziergang abzumachen. Bald wird auch der Schienenweg hergestellt sein, der es mit Ueberschreitung der Uralkette mit Perm in Verbindung setzen soll.

Hält man Tomsk für eine schöne Stadt? Die Berichte der Reisenden stimmen in dieser Hinsicht nur wenig überein. Frau von Bourboulon, welche auf ihrer Reise von Shang-haï nach Moskau einige Tage daselbst verweilte, nennt es einen wenig malerischen Häuserhaufen. Ihrer Beschreibung nach ist es eine Stadt ohne besondere Physiognomie, mit alten Gebäuden aus Granit und Ziegelstein und engen, von den Gassen, wie man sie meist in sibirischen Städten findet, wenig abweichenden Straßen, mit schmutzigen Quartieren, den Hauptansiedelungsstellen der Tartaren, in welchen schweigsame Betrunkene umhertaumeln, »deren Trunkenheit ebenso apathisch erscheint, wie bei allen Völkern des Nordens«.

Dagegen zollt der Reisende Henry Russel-Killough Tomsk seine ungetheilte Bewunderung. Sollte das nur daher rühren, daß er es mitten im Winter sah, wogegen Frau von Bourboulon es nur während des Sommers besuchte? Das ist wohl möglich und würde einen weiteren Beitrag zu der Behauptung liefern, daß man kalte Länder nur während der kalten Jahreszeit, warme nur während der heißen wirklich kennen und beurtheilen lernt.

Wie dem auch sei, Russel-Killough sagt positiv, daß Tomsk nicht nur die schönste Stadt Sibiriens, sondern vielleicht eine der hübschesten Städte überhaupt sei. Er lobt ebenso ihre mit Säulengängen und Peristylen geschmückten Häuser, die bequemen Holztrottoirs, wie überhaupt die breiten, regelmäßigen Straßen, sammt den fünfzehn prächtigen Kirchen, die sich in den Wellen des Tom, eines hier schon sehr bedeutenden Flusses, wiederspiegeln.

Die Wahrheit liegt wohl auch hier in der Mitte. Tomsk breitet sich, bei einer Einwohnerzahl von 25 000 Seelen, terrassenförmig über einen langgestreckten, aber steil abfallenden Hügel aus.

Die hübscheste Stadt der Welt wird aber zur häßlichsten, wenn Feinde in ihr hausen. Wer hätte sie jetzt auch bewundern wollen? Vertheidigt von wenigen Bataillonen Kosaken zu Fuß hatte sie dem Anprall der tartarischen Heersäulen nicht Widerstand zu leisten vermocht. Ein gewisser Theil der Stadtbevölkerung von verwandtem Ursprunge hatte diese Horden nicht eben ungern empfangen, und für den Augenblick erschien Tomsk so wenig russisch oder sibirisch, als ob es mitten in die Khanate von Khokhand oder Bukhara versetzt worden wäre.

In Tomsk wollte der Emir seine siegreichen Truppen empfangen. Diesen zu Ehren sollte ein Fest mit Gesängen, Tänzen und Schaugepränge abgehalten werden, dessen Ende wie gewöhnlich in eine lärmende, wilde Orgie auslief.

Der für diese nach asiatischem Geschmacke vorbereiteten Belustigungen ausgewählte Platz nahm eine geräumige Ebene auf einem Theile des Hügels ein, der sich etwa hundert Fuß hoch über den Tom erhebt. Den Rahmen dieser Fläche bildeten einerseits die langen eleganten Häuserreihen, die vielen Kirchen mit ihren bauchigen Kuppeln, andrerseits die vielfachen Windungen des Stromes und entfernte, in warmem Dufte verschwimmende Wälder, oder in der Nähe dichte Haine von Fichten und riesigen Cedern.

An der linken Seite des Festplatzes hatte man auf einer breiten Terrasse provisorisch eine blendende Decoration, die Nachahmung eines wunderlichen Palastes – wahrscheinlich eine Probe der bukharischen, halb maurischen, halb tartarischen Baudenkmäler, – in bizarrstem Style errichtet. Ueber diesem Palaste und den Spitzen seiner zahlreichen Minarets, zwischen den höchsten Zweigen der Bäume, die das Plateau beschatteten, schwebten zu Hunderten gezähmte Störche, welche der Tartarenarmee aus Bukhara gefolgt waren.

Jene Terrasse blieb reservirt für den Hofstaat des Emirs, für die verbündeten Khans, die Großwürdenträger des Reiches und für die Harems eines jeden der turkomanischen Fürsten.

Unter den Sultaninnen, zum größten Theile übrigens nur auf den Märkten von Transkaukasien und Persien gekaufte Sklavinnen, trugen Einige das Gesicht unverhüllt, während Andere fast vollständig unter einem dichten Schleier verborgen waren. Alle erschienen in der prächtigsten Kleidung. Reizende Oberkleider, deren weite Aermel auf der Rückseite aufgeschlagen, eine eigenthümliche Faltenordnung zeigten, ließen ihre entblößten Arme sehen, deren kostbare Bracelets durch Ketten von Edelsteinen verbunden erschienen, und ihre kleinen Hände, an denen die Fingernägel mit dem Safte der »Henneh« gefärbt waren. Bei der geringsten Bewegung dieser Kleider, welche zum Theil aus Seide, so fein wie die Fäden des Spinnengewebes, zum Theil aus wundervoll weichem »Aladja« (ein schmalgestreifter, herrlicher Baumwollstoff) bestanden, ließ sich jenes vornehme Rascheln hören, das den Ohren der Orientalen so lieblich klingt. Unter diesem Ueberwurfe erglänzten brocatne kurze Röckchen über den seidenen Beinkleidern, welche letztere ein wenig oberhalb der feinen, graziös geschweiften und mit echten Perlen geschmückten Stiefeln befestigt waren. An den schleierlos erscheinenden Frauen bewunderte man die langen, schwarzen Flechten, die unter dem Turban hervorquollen, ebenso wie die schönen Augen, die prächtigen Zähne, den blendenden Teint, der noch mehr durch die tiefschwarzen, mittels eines feinen Striches verbundenen Augenbrauen und die mit Bleiglätte gefärbten Lider hervorgehoben wurden.

Am Fuße der mit Flaggen und Bannern bedeckten Terrasse standen die Leibgarden des Emirs Wache, mit ihren zwei gekrümmten Säbeln an der Seite, einem Dolch im Gürtel und der zehn Fuß langen Lanze in der Hand. Einige dieser Tartaren trugen weiße Stäbe, Andere ungeheure Hellebarden mit mächtigen Troddeln aus Gold- und Silberfäden.

Ringsumher, bis zu den äußersten Enden dieses Plateaus, auf dem steilen Abhange, dessen Basis die Wellen des Tom badeten, drängte sich eine wahrhaft kosmopolitische Menge, zusammengewürfelt aus allen Eingeborenen Centralasiens. Da sah man die Usbecks mit ihren ungeheuren schwarzen Schaffellmützen, dem rothen Bart, grauen Augen und in dem »Arkaluk«, einer besondern Art nach tartarischer Mode geschnittenem Ueberwurf. Dort zeigten sich Turkomanen in ihrem Nationalcostüm, langen Beinkleidern von schreiender Farbe, Westen und Mänteln aus Kameelhaar, rothen entweder konisch oder auch oben erweiterten Mützen, hohen juchtenen Stiefeln, Seitengewehr und Messer an Riemen um die Taille geschnallt; in der Nähe ihrer Herren erschienen auch die turkomanischen Weiber, welche ihr von Natur üppiges Haar noch durch Schnurenschleifen aus Ziegenhaar zu verlängern pflegen, mit unter der »Tjuba« offnem, blauem, purpurnem oder grünem Hemd, die Beine in farbige Bänder eingeschnürt, die sich bis herab über den Lederstiefeln kreuzten. Endlich begegnete man auch, – so als ob sich alle Völkerschaften der russisch-chinesischen Grenze auf den Ruf des Emirs erhoben hätten, – an der Stirn und den Schläfen rasirte Mandschus mit geflochtenem Haar, langen Ueberröcken, einem Gürtel, der die Taille über einem seidnen Hemd umschloß, mit ovalen kirschrothen Atlasmützen mit gleichfarbenen Fransen; neben ihnen auch jene herrlichen Typen von Frauen aus der Mandschurei, coquett mit künstlichen Blumen coiffirt, welche reizende Häubchen, durch goldene Nadeln befestigt, auf den pechschwarzen Haaren trugen. Außer diesen Allen aber noch Mongolen, Bukharier, Perser, Chinesen aus Turkestan, welche sich unter die zu dem tartarischen Feste Geladenen mischten.

Nur die Sibirier fehlten unter diesem Schwarme von Feinden. Wer von ihnen nicht hatte fliehen können, hielt sich im Hause auf, aus Furcht, daß Feofar-Khan noch, zum würdigen Schluß dieser Siegesfestlichkeit, einen Befehl zum Plündern ergehen lassen könne.

Um vier Uhr erst hielt der Emir seinen Einzug auf den Festplatz, begleitet von lustigen Fanfaren, Tamtamschlägen, von Kanonen- und Gewehrsalven.

Feofar ritt sein Lieblingsroß, an dessen Kopfe eine Aigrette von Diamanten funkelte. Er erschien in seinem Kriegeranzuge. Ihm zur Seite marschirten die Khans von Khokhand und Kunduz, die Großwürdenträger des Khanates und als Gefolge ein zahlreicher Stab.

Zu derselben Zeit betrat auch die erste Frau Feofar's die Terrasse, gewissermaßen die Königin, wenn man diesen Namen den Sultaninnen der bukharischen Staaten beilegen darf. Aber ob Königin oder Sklavin, jedenfalls war diese Frau, eine geborne Perserin, von bewunderungswürdiger Schönheit. Ganz entgegen der mohamedanischen Gewohnheit und wahrscheinlich nur in Folge einer Laune des Emirs, erschien sie mit unverhülltem Gesichte. Ihr in vier Flechten vertheiltes Haar schmiegte sich um die blendendweißen Schultern, welche nur leicht von einem golddurchwirkten Schleier bedeckt waren, der sich rückwärts an eine Art mit den werthvollsten Gemmen geschmückte Haube anschloß. Unter der Tunica von blauer Seide, mit breiten, dunkleren Streifen fiel der »Zir-djameh« von Seidengaze herab und über den Gürtel faltete sich der »Pirahn«, eine Art Hemd aus demselben Stoffe, welcher nach dem Halse zu graziös ausgeschnitten erschien. Vom Kopfe aber bis zu den persischen Pantoffeln an den Füßen glänzte eine solche verschwenderische Pracht von Geschmeide, goldenen Tomans an Silberschnüren, Kränze von Türkisen, Achate, Smaragde, Opale und Saphire, daß ihr ganzer Leib wie von kostbaren Steinen bedeckt erschien. Die Tausende von Diamanten, die farbenprächtig an ihrem Halse, den Armen, den Händen, am Gürtel und an den Füßen blitzten, wären mit Millionen von Rubeln wohl kaum bezahlt gewesen; ja, bei dem Strahlenkranze, den sie um sich verbreiteten, hätte man glauben können, daß sie unter einander durch einen aus Sonnenstrahlen gebildeten elektrischen Bogen verbunden seien.

Der Emir und die Khans stiegen von den Pferden, ebenso wie die hohen Staatsbeamten und militärischen Würdenträger des Gefolges. Alle nahmen Platz unter einem prachtvollen Zelte, das sich in der Mitte der Terrasse erhob. Vor dem Zelte lag wie gewöhnlich der geöffnete Koran auf dem heiligen Tische.

Feofar's Befehlshaber ließ nicht lange auf sich warten, und noch vor fünf Uhr meldeten Trompetenstöße die Ankunft des Verbündeten.

Iwan Ogareff, – »mit der Schmarre«, wie man ihn schon nannte – kam, jetzt in der Uniform eines Tartarenoffiziers, zu Pferde bis vor das Zelt des Emirs. Er war von einer Abtheilung Soldaten aus dem Lager von Zabediero begleitet, die sich zu beiden Seiten des Platzes aufstellten, so daß in der Mitte nur der für die Vorstellungen und Spiele bestimmte Raum frei blieb. Quer über das Gesicht des Verräthers zog sich eine blutig unterlaufene Strieme hin.

Iwan Ogareff stellte dem Emir seine ersten Officiere vor, und Feofar-Khan empfing sie, wenn auch mit der seiner Würde entsprechenden Kälte, doch in einer sie scheinbar zufriedenstellenden Weise.

Das glaubten wenigstens Harry Blount und Alcide Jolivet, die beiden jetzt unzertrennlichen Neuigkeitsjäger, zu bemerken. Von Zabediero aus hatten sich diese schnellstens nach Tomsk begeben. Ihre Absicht ging zwar dahin, sich sobald als möglich aus der Gesellschaft der Tartaren wegzustehlen, sich einem russischen Truppencorps anzuschließen und mit diesem Irkutsk zu erreichen. Was sie bis jetzt von dem feindlichen Einfalle, den Feuersbrünsten, Plünderungen, Mordthaten und dergleichen gesehen, konnte nur das Gefühl der Entrüstung in ihnen erwecken und trieb sie noch mehr, in der sibirischen Armee Aufnahme zu suchen.

Alcide Jolivet machte aber seinem Begleiter begreiflich, daß er Tomsk nicht wohl eher verlassen könne, als bis er eine Skizze des zu erwartenden Triumpheinzuges der tartarischen Truppen entworfen habe, – und wäre es nur, um die Neugierde seiner Cousine zu befriedigen, – und Harry Blount hatte zugestimmt, noch einige Stunden zu verweilen; noch an demselben Abend wollten die Beiden jedoch den Weg nach Irkutsk schon wieder einschlagen, und hofften bei der Schnelligkeit ihrer guten Pferde auch den Plänklern des Emirs zuvorzukommen.

Alcide Jolivet und Harry Blount hatten sich also unter die Zuschauermenge gemischt und wandten den Festlichkeiten alle Aufmerksamkeit zu, um sich kein Detail des Bildes entgehen zu lassen, das ihnen einen hübschen Artikel für die Chronik ihrer Journale versprach. Sie bewunderten Feofar-Khan in seiner Herrscherpracht, seine Frauen, seine Officiere, die Garden und allen diesen orientalischen Luxus, von dem die europäischen Ceremonien nicht die blasseste Vorstellung geben. Sie wendeten sich aber voll Abscheu ab, als Iwan Ogareff sich dem Emir nahte, und warteten nicht ohne einige Ungeduld auf den Beginn des eigentlichen Festes.

»Sehen Sie, lieber Blount,« sagte Alcide Jolivet, »wir sind zu zeitig erschienen, so wie der brave Bürger, der für sein Geld auch etwas Ordentliches haben will. Das ist alles nur ein Vorspiel und es wäre besser gewesen, erst zum Ballet zu kommen.«

»Zu welchem Ballet?« fragte Harry Blount.

»Ei nun, zu dem obligatorischen Ballet! Ah, ich glaube der Vorhang hebt sich schon.«

Alcide Jolivet sprach, als befinde er sich im Opernhause, zog sein Perspectiv aus dem Etui und schickte sich an, »die ersten Kräfte der Truppe Feofar-Khans« möglichst genau kennen zu lernen.

Den lustigen Tänzen sollte aber noch eine höchst peinliche Scene vorhergehen.

Der Triumph der Sieger konnte ja ohne eine qualvolle Erniedrigung der Besiegten kein vollständiger sein. Es wurden also einige hundert Gefangene unter den Knuten der Soldaten vorgeführt. Diese sollten vor Feofar-Khan und seinen Verbündeten defiliren, bevor man sie in den Gefängnissen der Stadt einkerkerte.

In erster Reihe unter diesen Armen befand sich auch Michael Strogoff. Dem Befehle Iwan Ogareff's entsprechend war eine besondere Abtheilung Soldaten zu seiner Bewachung bestimmt. Seine Mutter und Nadia waren auch gegenwärtig.

Das Gesicht der alten Sibirerin, welche stets, wenn es sich nur um sie allein handelte, eine unbeugsame Energie bewahrte, erschien ungemein bleich. Sie machte sich wohl gefaßt auf eine schreckliche Scene. Ihr Sohn ward gewiß nicht ohne besondere Ursache dem Emir vorgeführt, und sie zitterte leise für ihn. Iwan Ogareff, den vor den Augen Aller die schon für sie erhobene Knute getroffen, war sicherlich nicht der Mann dazu, solche Schmach zu verzeihen, und seine Rache würde wohl ohne Grenzen sein. Gewiß drohte Michael Strogoff ein entsetzliches Gericht, wie es die Barbaren Centralasiens gern abzuhalten pflegen. Wenn ihn Iwan Ogareff damals, als seine Knechte sich über ihn stürzen wollten, geschont hatte, so wußte er gewiß, was er damit that, ihn der Justiz des Emirs vorzubehalten.

Seit dem traurigen Auftritt auf dem Felde zu Zabediero war es Mutter und Sohn unmöglich gewesen, auch nur ein Wort zu wechseln. Man hatte sie unerbittlich von einander getrennt. Welch harte Erschwerung ihrer Leiden, hier, wo es ihnen ein süßer Trost gewesen wäre, während einiger Tage der Gefangenschaft doch vereinigt zu sein. Wie gern hätte Marfa Strogoff ihren Sohn um Verzeihung wegen all' des Uebels gebeten, das sie ihm wider Willen zugefügt hatte, denn sie klagte sich an, ihre mütterlichen Gefühle nicht gehörig im Zaum gehalten zu haben. Hätte sie sich damals im Posthofe zu Omsk bezwungen, als sie ihm gegenüber stand, so kam Michael Strogoff unerkannt hindurch, – und wie viel Unglück wäre dann verhütet worden!

Michael Strogoff seinerseits quälte sich mit dem Gedanken, daß man seine Mutter mit hierher schleppe, um sie für sein Vergehen büßen zu lassen, vielleicht daß sie dieselbe schreckliche Todesart erleiden sollte, wie er selbst.

Nadia endlich fragte sich, was sie thun könne, um den Einen oder die Andere zu retten, auf welche Weise sie der Mutter oder dem Sohne zu Hilfe kommen könne? Sie fand zwar kein Mittel, aber sie fühlte, daß es hier vor Allem darauf ankam, keine besondere Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, sondern sich mehr zu verstecken und unsichtbar zu machen. Vielleicht wäre sie doch noch im Stande, die Gitter des Käfigs ihres Löwen zu zerbrechen. Jedenfalls wollte sie, wenn sich ihr eine Gelegenheit zum Handeln böte, gewiß nicht zögern, und nöthigenfalls ihr Leben für den Sohn der Marfa Strogoff opfern.

Inzwischen zog der größte Theil der Gefangenen vor dem Emir vorüber, wobei jeder als Zeichen der Unterwerfung sich zu Boden beugen und den Sand mit der Stirn berühren mußte, das erniedrigende Merkmal für den Anfang der Sklaverei. Krümmten die Unglücklichen den Rücken zu langsam, so warf sie die rauhe Hand der Garden heftig zu Boden.

Alcide Jolivet und sein Begleiter vermochten einem solchen Schauspiel nicht ohne die Gefühle der tiefsten Indignation beizuwohnen.

»Dieser erbärmliche Kerl! Fort, fort von hier!« sagte Alcide Jolivet.

»Nein,« entgegnete Harry Blount, »nun wollen wir auch Alles sehen!«

»Alles sehen! . . . Ah, dort!« rief plötzlich Alcide Jolivet und ergriff den Arm seines Gefährten.

»Was haben Sie?« fragte dieser.

»Sehen Sie dorthin, Blount! Da ist sie!«

»Sie? – Welche sie?«

»Die Schwester unseres Reisegefährten! Hilflos und gefangen. Wir müssen sie retten . . .«

»Geduld,« entgegnete frostig Harry Blount. »Unsere Intervention zu Gunsten des jungen Mädchens dürfte ihr eher schädlich als nützlich werden.«

Alcide Jolivet, der sich schon zu Nadia drängen wollte, ließ sich belehren, und Letztere, welche die beiden Reporter nicht gesehen hatte, ging, von ihrem reichen Haar halb verschleiert, vor dem Emir vorüber, ohne dessen besondere Aufmerksamkeit zu erwecken.

Nach Nadia kam Marfa Strogoff an die Reihe, und da sie sich nicht schnell genug in den Staub warf, drückten sie die Wachen mit rauher Faust nieder.

Marfa Strogoff fiel zu Boden.

Ihr Sohn schäumte auf vor Wuth, so daß ihn die bewachenden Soldaten kaum zu bändigen vermochten.

Die alte Marfa erhob sich wieder und sollte eben fortgeführt werden, als Iwan Ogareff das verhinderte.

»Dieses Weib bleibt hier!« rief er.

Nadia ward in den Haufen der Gefangenen zurückgeführt. Iwan Ogareff's Blick hatte sie nicht erkannt.

Jetzt wurde Michael Strogoff vor den Emir gebracht und blieb, ohne auch nur die Augen zu senken, vor diesem stehen.

»Die Stirn auf die Erde!« herrschte ihn Iwan Ogareff an.

»Nein«, antwortete Michael Strogoff.

Zwei Soldaten wollten ihn zwingen, sich zu beugen, doch die kräftige Hand des jungen Mannes drückte sie an seiner Statt zu Boden.

Iwan Ogareff sprang auf Michael Strogoff zu.

»Du verwirkst Dein Leben!« rief er.

»Ich werde ruhig sterben,« erwiderte stolz Michael Strogoff, »aber Deine Verrätherstirn, Iwan, wird für immer die schmachvolle Schramme von der Knute tragen!«

Iwan Ogareff erbleichte bei diesen Worten.

»Wer ist dieser Gefangene?« fragte der Emir, dessen ruhige Stimme nur um so drohender war.

»Ein russischer Spion«, antwortete Iwan Ogareff.

Als er Michael Strogoff für einen Spion ausgab, wußte er recht wohl, welches entsetzliche Loos ihm bevorstand.

Michael Strogoff hatte sich Iwan Ogareff genähert.

Die Soldaten hielten ihn zurück.

Der Emir machte eine Handbewegung, auf welche sich die ganze große Menge niederbeugte. Dann zeigte er nach dem Koran, den man ihm brachte. Er öffnete das Buch und legte einen Finger auf ein Blatt.

Der Zufall, oder nach dem Glauben der Orientalen, Gott selbst, sollte das Schicksal Michael Strogoff's entscheiden.

Die Völker Centralasiens nennen dieses Gerichtsverfahren »Fal«. Nach der Auslegung des von dem Finger des Richters zufällig getroffenen Verses fällen sie das Urtheil.

Der Emir ließ den Finger auf der einen Seite des Koran liegen.

Der Erste der Ulemas trat hinzu und verlas mit lauter Stimme einen Vers, der mit den Worten schloß:

»Und er wird die Dinge der Erde nicht mehr sehen.«

»Spion der Russen,« sagte der Emir, »Du bist hierher gekommen, zu sehen, was im Tartarenlager vorgeht; nun sieh mit allen Deinen Augen, sieh' Dich um!«


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