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Fünftes Capitel

In welchem Le-U einen Brief erhält, den sie wahrscheinlich lieber nicht erhalten hätte.

 

»Du hast noch keinen Brief für mich?

– Nein, Madame!

– O, wie mir die Zeit so lang wird, alte Mutter!«

So sagte die reizende Le-U wohl schon zum zehnten Male in ihrem Boudoir der Cha-Chua-Allee in Peking. Die »alte Mutter«, die ihr antwortete und der sie diese, in China für bejahrtere Dienerinnen gebräuchliche Bezeichnung gab, war die mürrische und nichts weniger als angenehme Mamsell Nan.

Mit achtzehn Jahren hatte Le-U einen Gelehrten ersten Grades geheirathet, der an dem berühmten Sse-Khu-Tsuane-Chu Dieses im Jahre 1773 begonnene Werk soll 160.000 Bände erhalten; jetzt ist es erst bis zu dem 78.738sten vorgeschritten. mitarbeitete. Der würdige Mann war noch einmal so alt wie sie und starb schon im dritten Jahre dieser etwas unpassenden Ehe.

Die junge Witwe stand also mit einundzwanzig Jahren allein in der Welt. Kin-Fo sah dieselbe bei Gelegenheit einer Reise, die er zu jener Zeit nach Peking machte. Wang kannte die liebenswürdige Person schon von früher her und suchte die Aufmerksamkeit seines theilnamslosen Schülers auf sie zu lenken. Kin-Fo befreundete sich nach und nach mit dem Gedanken, seine bisherige Lebensweise aufzugeben und die junge Witwe heimzuführen. Le-U zeigte sich nicht unempfindlich gegen diesen Antrag. Jetzt sollte die Hochzeit, welche zur größten Befriedigung des Philosophen wirklich festgestellt worden war, gefeiert werden, sobald Kin-Fo, nach Anordnung alles Nothwendigen in Shang-Haï, nach Peking zurückkommen würde.

Im Himmlischen Reiche ist es nicht gebräuchlich, daß sich Witwen zum zweiten Male verheirathen, nicht etwa, daß sie das nicht ebensogut wünschten wie ihre in gleicher Lage befindlichen Schwestern im Abendlande, aber weil sie wenig Männer finden, welche auf eine Witwe reflectiren. Wenn Kin-Fo von dieser Regel eine Ausnahme machte, so kam es eben daher, daß er überhaupt seine eigenen Wege zu gehen liebte. Vermählte sich Le-U wieder, so begab sie sich damit freilich des Rechtes, unter den »Pae-lus« hinweg gehen zu dürfen, jenen Denkmälern, welche mancher Kaiser zu Ehren der ihren verstorbenen Ehemännern treu verbliebenen Frauen errichten ließ; wie z. B. die Witwe Soung, die niemals zum Verlassen des Grabes ihres verewigten Mannes zu bewegen war, die Witwe Kung-Kiang, die sich beim Tode ihrer stärkeren Hälfte einen Arm zerbrach, oder die Witwe Yen-Tchiang, welche sich aus Schmerz das hübsche Gesicht völlig entstellte. Le-U glaubte aber bei ihren einundzwanzig Jahren noch etwas besseres anfangen zu können. Sie entschloß sich, das unterwürfige Leben noch einmal zu beginnen, zu dem die chinesische Sitte jede Frau verdammt, auf die Dinge der Außenwelt zu verzichten und sich den Vorschriften des Buches »Li-nun«, das von den häuslichen Tugenden handelt, ebenso getreulich zu unterwerfen wie denen des Buches »Nei-tse-pien« über die ehelichen Pflichten, um endlich jene Achtung wieder zu erwerben, welche in den höheren Gesellschaftsklassen die Gattin stets genießt, während es eine gänzlich falsche Vorstellung ist, zu glauben, daß sie ein Leben gleich einer Sklavin führe. Die intelligente, wohl unterrichtete Le-U, die recht gut wußte, welche Aufgabe ihr in dem Hause des reichen Sonderlings bevorstand, und darnach strebte, ihm den Beweis zu liefern, daß es ein Glück auch schon hienieden gebe, ergab sich also nicht ungern dem ihr zugefallenen Loose.

Bei seinem Ableben hatte der Gelehrte die junge Witwe zwar in gesicherten, aber doch nur mittelmäßigen Umständen zurückgelassen. Das Haus in der Cha-Chua-Allee war nur ein bescheidenes Besitzthum. Die unausstehliche Nan schaltete hier als einzige Dienerin; Le-U hatte sich jedoch allzu sehr an ihre unangenehmen Manieren gewöhnt, welche übrigens bei den chinesischen weiblichen Dienstboten gar nichts seltenes sind.

In ihrem Boudoir hielt sich die junge Frau mit besonderer Vorliebe auf. Dessen Ausstattung wäre ohne die reichen Geschenke, welche seit zwei Monaten in kurzen Zwischenräumen eintrafen, eine einfache zu nennen gewesen. An den Wänden hingen einige Bilder, unter anderen ein Meisterwerk des alten Malers Huan-Tse-Nen, Der Ruhm jener großen Meister ist durch Ueberlieferung bis auf uns gekommen, die, wenn auch nicht verbürgt, doch der Beachtung werth erscheint. So erzählt man z. B., daß Tsao-Puh-Ying, ein Maler des 3. Jahrhunderts, nach Vollendung eines prächtigen Ofenschirmes für den Kaiser, wie zum Zeitvertreib noch einige Fliegen auf jenen malte und die Befriedigung hatte, zu sehen, daß Seine Majestät ein Taschentuch nahm und dieselben zu vertreiben versuchte. Nicht weniger berühmt war Huan-Tse-Nen um das Jahr 1000. Mit der Ausschmückung der Wände in einem Saale des Palastes betraut, malte er darauf mehrere Fasanen. Als später fremde Gesandte dem Kaiser als Geschenk einige Falken mitbrachten, stürzten sich die abgerichteten Jagdvögel sofort auf die gemalten Vögel, freilich mehr zum Nachtheil ihrer Schädel als zur Befriedigung ihres verführten Instinktes. das die Aufmerksamkeit jedes Kenners erregt hätte, zwischen grünen Pferden, violetten Hunden und blauen Bäumen von jüngeren einheimischen Meistern. Auf einem lackirten Tische lagen, wie ungeheure Schmetterlinge mit ausgebreiteten Flügeln, viele Fächer aus der berühmten Schule von Swatow. Aus schwebenden Porzellanvasen hingen lange, zierliche Guirlanden von künstlichen Blumen herab, die aus dem Marke der » Arabia papyfera« von Formosa so prächtig hergestellt werden, und die mit den weißen Nymphäen, dem gelben Chrysanthemum und den rothen Lilien wetteiferten, welche sich aus hölzernen, kunstreich geschnitzten Blumenständern erhoben. Ueber das Ganze drang durch die Bambus-Jalousien der Fenster nur ein gedämpftes Licht, dessen einzelne Strahlen gleichsam zerlegt erschienen. Ein prächtiger Ofenschirm aus großen Sperberfedern, die sinnreich angeordnet mit ihren helleren Stellen eine große Päonie bildeten – das Emblem der Schönheit im Reiche der Blumen – zwei Volièren in Form von Pagoden, wahrhafte Kaleidoskope durch die glänzenden, darin umherflatternden Vögel Indiens, einige »Tiemaols«, das sind Aeolsharfen, deren Glasstränge im sanften Luftzuge erklangen, und tausend Kleinigkeiten, die sie an den abwesenden Geber erinnerten, vervollständigten die eigenartige Ausstattung dieses Raumes.

»Noch kein Brief, Nan?

– Nein, Madame, noch immer keiner!«

Die junge Le-U war wirklich eine reizende Frau. Hübsch von Gesicht, selbst vor dem Urtheil europäischer Augen, weiß und nicht gelb, wie ihre Landsmänninnen, erhoben sich ihre sanften Augen kaum nach den Schläfen, zierten sie dunkle volle Haare, welche grüne Malachitnadeln zusammenhielten, kleine weiße Zähne und regelmäßige Augenbrauen, denen sie kaum mit ein wenig feiner, chinesischer Tusche nachgeholfen hatte. Sie färbte ihre Wangen weder mit Honigmilch noch mit spanischem Weiß, wie es die Schönheiten des Himmlischen Reiches zu thun pflegen, malte keinen Carminstreifen um die Unterlippe oder einen kleinen verticalen Strich zwischen die Augen, noch gebrauchte sie irgend ein Schminkpflästerchen, für welche der kaiserliche Hof jährlich zehn Millionen Sapeken ausgiebt. Die junge Witwe bedurfte solcher Hilfsmittel nicht. Sie verließ ihr Haus an der Cha-Chua-Allee nur selten und verachtete die entstellende Maskirung, der sich die chinesischen Frauen bedienen, wenn sie sich auf die Straße begeben.

In der Kleidung hielt sich Le-U so einfach als möglich und trug sich doch stets höchst elegant. Ein langes, vierfach geschlitztes und mit breitem gestickten Rande umsäumtes Oberkleid, darunter einen faltigen Rock, der an der Taille mit golddurchwirkter Borte festgehalten wurde, am Gürtel befestigte Beinkleider, die an den seidenen Strümpfen zusammengeknüpft waren, reich mit Perlen verzierte Pantoffeln, kurz, es fehlte der jungen Witwe nichts, wenn man dazu bemerkt, daß sie kleine feine Händchen hatte und ihre langen und rosenrothen Nägel sorgsam in kleinen silbernen und fein ciselirten Fingerhütchen pflegte.

Und ihre Füße? Nun, diese waren klein, doch nicht in Folge der gebräuchlichen barbarischen Gewohnheit, welche sich zum Glück mehr und mehr zu verlieren scheint, sondern weil die Natur sie so geschaffen hatte. Die erwähnte grausame Mode besteht schon seit siebenhundert Jahren und verdankt ihren Ursprung wahrscheinlich einer von Natur verstümmelten Prinzessin. Das Verfahren dabei ist sehr einfach, indem die Mittelfußknochen nach unten zusammengebogen werden, während der Fersenknochen intact bleibt, wodurch der Fuß zu einer Art Klumpen verunstaltet wird, der das Gehen fast ganz verhindert, zur Blutarmuth Veranlassung giebt, und für welche Verunstaltung wahrscheinlich keine andere Ursache zu entdecken ist als die Eifersucht der Ehemänner. Jetzt läßt man, seit dem Einfall der Tataren, allmälich von dieser Mode. Unter zehn Chinesinnen finden sich heutzutage schon kaum noch drei, welche im zartesten Alter dieser schmerzhaften Operation unterworfen worden wären, die jene Formenveränderung des Fußes zur Folge hat.

»Es ist ganz unmöglich, daß heute kein Brief ankommen sollte! sagte Le-U noch einmal. Sieh' doch einmal nach, alte Mutter.

– Ist schon geschehen!« antwortete Mamsell Nan schnippisch und ging murmelnd aus dem Zimmer.

Le-U wollte zum Zeitvertreib ein wenig arbeiten. Auch dabei mußte sie ja an Kin-Fo denken, denn sie stickte ihm ein Paar Strümpfe, deren Herstellung jeder chinesischen Frau, sie mag einer Gesellschaftsklasse angehören, welcher sie wolle, stets überlassen ist. Bald fiel ihr aber die Arbeit aus den Händen. Sie erhob sich, nahm aus einem Behälter einige Wassermelonen, welche sie mit den kleinen Zähnen brach, und schlug dann ein Buch auf, den »Nushun«, den Codex von Vorschriften, den jede rechtschaffene Frau tagtäglich ein Weilchen durchlesen muß.

»So wie der Frühling die geeignetste Zeit zur Arbeit ist, so ist auch der frühe Morgen die beste Zeit des Tages.

»Steh' zu guter Stunde auf und überlaß Dich nicht zu lange der Süßigkeit des Schlafes.

»Besorge den Maulbeerbaum und den Hanf.

»Spinne fleißig Seide und Baumwolle.

»Der Frauen Tugend ist Thätigkeit und Sparsamkeit.

»Die Nachbarn werden Dich loben ...«

Da fiel ihr das Buch zu. Die zärtliche Le-U dachte gar nicht mehr an das, was sie las.

»Wo ist er wohl jetzt? fragte sie sich. Er wollte nach Canton reisen. Mag er schon nach Shang-Haï zurückgekehrt sein? Wann wird er in Peking ankommen? War das Meer ihm hold? Möge die Göttin Koanine ihn beschützen!«

So sprach die junge Frau in der Unruhe ihres Herzens. Dann streiften ihre Augen wie von ungefähr eine aus Tausenden von Stückchen kunstreich zusammengesetzte Tischdecke, eine Art portugiesischer Stoff-Mosaikarbeit, welche eine Mandarinen-Ente mit ihren Küchlein, das Sinnbild der Treue, darstellte. Endlich näherte sie sich einem Blumenständer und pflückte auf's Gerathewohl eine Blüthe.

»O, sagte sie, die Blüthe der grünen Weide, das Bild des Frühlings, der Jugend und der Freude! Und hier das gelbe Chrysanthemum, das Bild des Herbstes und der Trauer!«

Sie wollte die Angst verscheuchen, die sich ihr jetzt unwillkürlich bemächtigte. In der Nähe hing ihre Laute; leise ertönten die Saiten; ihre Lippen sangen die ersten Worte des »Liedes von den verschlungenen Händen«, doch sie mußte bald abbrechen.

»Sonst blieben seine Briefe nicht so lange aus, dachte sie. Wie las ich sie mit bewegtem Herzen! Noch mehr, statt der todten Buchstaben, die sich nur an meine Augen wendeten, konnte ich ja seine eigene Stimme hören. Dort jener sonst leblose Bote sprach ja zu mir, als wäre er selbst in der Nähe!«

Le-U blickte dabei auf ihren Phonographen, der auf einem lackirten Säulentischchen stand und in allen Stücken dem glich, dessen sich Kin-Fo in Shang-Haï bediente. Auf diese Weise konnten Beide sich hören oder vielmehr ihre Stimmen vernehmen, trotz der Entfernung, die sie trennte ... Aber auch heute, wie schon seit mehreren Tagen, blieb der Apparat stumm und brachte keine Botschaft von des Abwesenden Gedanken.

In diesem Augenblick trat die bejahrte Dienerin ein.

»Da hier, Ihr Brief!« sagte sie.

Nan verschwand wieder, nachdem sie Le-U einen Brief mit dem Poststempel von Shang-Haï übergeben.

Ein glückliches Lächeln umspielte die Lippen der jungen Frau. Ihre Augen leuchteten in erhöhtem Glanze. Sie zerriß schnell das Couvert, ohne es vorher zu betrachten, wie sie es sonst zu thun pflegte.

Die Hülle enthielt keinen geschriebenen Brief, sondern eines jener feingestreiften Blättchen, welche vermittelst des Phonographen die menschliche Stimme in allen ihren Biegungen wiedergeben.

»O, das ist mir noch lieber! rief Le-U erfreut. So werde ich ihn ja selbst hören!«

Sie befestigte das Blättchen auf der Rolle des Phonographen, die ein Uhrwerk sofort in Bewegung setzte, und als Le-U ihr Ohr dem Apparate näherte, hörte sie eine Stimme, welche sagte:

»Kleine, jüngere Schwester! Ein Unfall hat mein Vermögen geraubt, wie der Ostwind die gelben Blätter im Herbste verweht! Ich will Dich nicht dadurch elend machen, daß ich auch Dich an mein Unglück fessele! Vergiß den Armen, den das Schicksal zehntausendfach getroffen hat.

Dein verzweifelter Kin-Fo.«

Welcher Schlag für das arme Weib! Ein bittereres Leben als das Gerianbitter wartete ihrer. Ach, der Sturm des Unheils sollte ihr auch die letzte Hoffnung auf Den rauben, den sie so innig liebte! War denn Kin-Fo's Liebe für sie wirklich für immer entschwunden? Konnte sich ihr Freund kein Glück mehr vorstellen, ohne seine Schätze? Arme Le-U! Sie glich jetzt einem Papierdrachen in der Luft, dessen haltender Faden reißt und der nun schwankend zur Erde stürzt!

Die herbeigerufene Nan zuckte über die Erscheinung ihrer Herrin nur die Achseln und trug sie auf ihren »Hang«. Doch obwohl das ein künstlich zu erwärmendes, sogenanntes »Ofen-Bett« war, wie kalt erschien das Lager der unglücklichen Le-U! Wie lang erschienen ihr die fünf Wachen dieser Nacht, die sie schlaflos dahinbrachte!


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