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Das Billard

Herr Ravenot war, mit mehr als dreiundsechzig Jahren, noch immer, was man einen tüchtigen Spieler nennt.

Schon als Kind hatte ihn die Billardwut erfaßt; er erzählte gern, wie es vor sechzig Jahren ihm einen Heidenspaß gemacht habe, wenn man ihn mit in die Cafés nahm, damit er Karambolage spielen sähe.

Er schilderte sich, wie er, auf einer hohen Rohrbank hockend, stumm und gerührt bei den Stößen der Spieler in Verzückung geriet.

Wenn man dann ein wenig in ihn drang, so konnte man sein ganzes Billardspieler-Leben ordentlich wie ein Meter-Bandmaß sich abschnurren lassen, alle seine dem Billard gewidmeten Sonntage und jenen famosen Wintertag Anno 57, wo er eine, seither leider nie wieder erreichte! Serie von hundertundfünfzig Bällen zustande gebracht hatte.

Fürwahr, Herr Ravenot gehörte nicht zu jenen Theoretikern, jenen Mathematikern, jenen Billard-Philosophen, die einem die Bälle wissenschaftlich vermittelst hingezeichneter Dreiecke, vermittelst punktierter Linien erläutern. O! keineswegs! Mit solchen Possen durfte man Herrn Ravenot nicht kommen. Er war ein Thatspieler, ein Praktikus war er, ein Spieler, der wirklich spielte – und alle jene mechanischen Figuren lockten ihm nur ein mitleidiges Achselzucken ab, oder aber er konnte sich gar darüber ereifern.

»Geometrie hin, Geometrie her! Lassen Sie mich doch damit in Ruhe!« ... Und nach einer Pause fügte er sein Lieblings-Aphorisma hinzu:

»Das Queue ist eine Hand! ... Dabei bleibt's! ... Nun, und braucht's denn erst die Geometrie, um Euch Eurer Hand zu bedienen? ... Nein! Seht Ihr wohl?... Doch wenn Herr Ravenot so von seinem geliebten Spiel plauderte, wurde er plötzlich mißmutig. Es erinnerte ihn das immer wieder daran, daß er trotz seiner Anstrengungen im Wollwarenhandel, trotz vierzig Jahren Arbeit in obskuren Magazinen, jenen beinahe schon in der Wiege gehegten Traum nicht hatte verwirklichen können: daheim bei sich, in seinem Salon, in seiner eigenen Wohnung ein Billard zu besitzen.

Nun hatte er die Niedertracht der Konkurrenten, die Konkurse der Kunden, den langsamen und mageren Verdienst, den Verlust teurer Wesen, Krankheiten, alles das mit Ruhe, mit Resignation über sich ergehen lassen als mit dem Dasein und mit dem Wollwarenhandel untrennbar verbundene Übelstände; aber daß so viele Arbeit ihm nicht einmal jenen einzigen und so lange ersehnten Luxus gestattet hatte, just das war für ihn eine beständige Quelle bitterer Reflexionen, eine permanente Flut von Pessimismus, welche überlief und jeden Augenblick seine angeborene Gutmütigkeit vergiftete.

Jetzt namentlich, wo das Alter und eine eingewurzelte chronische Bronchitis, an der er litt, ihm oft die abendlichen Ausgänge verboten und ihm somit die Freude raubten, nach dem Essen in ein kleines, einsames Café der Nachbarschaft zu gehen, um dort zu karambolieren – litt er besonders lebhaft unter diesem Mangel eines Billards daheim; und mehr als einmal hatte Frau Ravenot des Abends im Herbst oder Winter, wenn der Regen, der Schnee, der Husten ihn am Kamin zurückhielten, aus seinen nachdenklichen Blicken die Sehnsucht nach dem fehlenden Möbelstück, die Trauer über die unerfüllt gebliebenen Wünsche herausgelesen.

Dann gab sie sich alle erdenkliche Mühe, zu sprechen, schnell und laut zu sprechen, überhaupt geflissentlich Geräusch zu machen, denn der Nachbar im Stockwerk unter ihnen, er besaß ein Billard zu eigen und es kam manchmal vor, daß durch die Decke hindurch – schändliche Ironie! – wenn oben nicht gesprochen wurde, das spöttische Geräusch der zusammenprallenden Billardkugeln vernehmlich war.

Am Sylvesterabend, als er gegen elf Uhr die unbeleuchtete Treppe heraufstieg, dachte Herr Ravenot gerade an jenen bevorzugten Nachbar, an das Glück, das doch gewisse Leute, noch dazu in seinem eigenen Hause, hatten.

Er stieg langsam herauf, ein wenig beschwert von der reichlichen Nahrung, die er zu sich genommen – zwei opulenten, mit rotem Burgunder und altem Cognac angefeuchteten Mahlzeiten bei seinem Freunde Lereboulet in Saint-Mandé – zwei richtigen Jahresschluß-Mahlzeiten, von Lereboulet acht Tage im voraus zusammengestellt, wie aus dem Einladungsbriefe hervorging, worin das Menü bereits figurierte.

»Bah! Jeder nach seinem Geschmack!« dachte Herr Ravenot ... »Jeder giebt sein Geld aus, wie er's versteht! ...«

Aber beim Öffnen seiner Thür prallte er verblüfft zurück. Vor ihm, jenseits des kleinen, ganz dunklen Vorzimmers, im Salon, mitten in dem von einer zweiarmigen vergoldeten Hängelampe erleuchteten Salon, stand ein Billard, ein wundervolles Polisander-Billard mit massiven Elephantenfüßen und blendend hellgrünem Überzug.

Herr Ravenot schloß leise die Thür wieder zu und murmelte: »Halt, da habe ich mich im Stockwerk versehen! ...«

Flugs kehrte er wieder um, willens, ins obere Stockwerk hinaufzusteigen. Eine Wand sperrte ihm den Weg

»Sieh da! ... Sieh da! ... Was habe ich denn nur? ... Sollte ich etwa gar benebelt sein?«

Schnell zündete er ein Streichholz an. Ja, offenbar war das eine Hallucination gewesen, ein imaginäres Billard, denn er befand sich ja ganz richtig fünf Treppen hoch, in seiner Wohnung, er konnte ja gar nicht mehr höher hinaufsteigen.

Wieder öffnete er, mit unsicherer Hand, die Thür, und allsogleich bemerkte er vor sich, in derselben strahlenden Helle, noch immer dasselbe massive Billard, dasselbe hellgrüne Viereck. Nur stand zur Seite des Möbels an der gegenüberliegenden Bande die gesamte Familie Ravenot, mit lächelnden Gesichtern, die ihn heranwinkten.

Er trat mit schlotternden Beinen ein und schritt geradewegs auf das Billard zu. Sein ältester Sohn Paul, ein großer, brünetter Mensch mit rundem Bart, hatte ihn in die Arme geschlossen und küßte ihn zärtlich:

»Da schau... Papa!... Wir haben zusammengesteuert, um Dir das zum Geschenk zu machen!«...

Herr Ravenot bewegte die Lippen, um zu danken. Die Worte wollten nicht hervor. Die Rührung, die Freude erstickten sie. Er sank auf einen Stuhl und fing zu weinen an.

»Ach! meine Kinder! ... Meine lieben Kinder! ...«

Dann, als er sich wieder beruhigt hatte, schritt er auf das Billard zu und begann es einer eingehenden Prüfung zu unterziehen.

Er strich mit der Hand an den Säulen entlang, befühlte die Banden, betastete das Tuch, versuchte, ob die Zählwerke gut funktionierten: »Prächtig ... prächtig ist's ... tadellos! ... Ich will's doch gleich einmal versuchen!«

Er ergriff ein mit Perlmutt ausgelegtes Queue, schmierte es mit Kreide, rückte den roten Ball zurecht und spielte mit ihm einen der weißen Bälle fein an. Ein erster Doppelanprall, ein zweiter, ein dritter ertönte. Eine Karambolage reihte sich an die andere in ununterbrochener Folge. Das Queue in der Hand des Herrn Ravenot war keine Hand. Es war mehr. Es war eine Art Zauberstab, bald wuchtig wie eine Keule, bald wie ein Violinbogen leicht, ein Zauberstab, der auch noch nach der Berührung auf die Bälle eine Wirkung auszuüben, sie vermöge eines immateriellen Zaubers an den erforderlichen Ort zu leiten, oder auch sie vermöge eines höheren, unwiderstehlichen Willens zurückzuziehen schien.

»Es ist nicht nur schön ... es ist vortrefflich!« erklärte er.

Und sobald eines von den Seinen auch nur im geringsten näher trat, das Holz, das Tuch, die Zählwerke befühlte, rief er schon, als handle sich's drum, einen zerbrechlichen Gegenstand zu verteidigen:

»Thut das nicht! ... Thut das nicht! ... Das Billard geht zu schanden, wenn Ihr's so macht!«

Doch wie er um Mitternacht eben bei seiner 72ten Karambolage einen Fehlstoß gethan hatte, zog sich die Familie zurück.

Als seine Kinder gegangen waren, stellte Herr Ravenot das kostbare Queue beiseite, löschte die zweiarmige vergoldete Hängelampe aus und verfügte sich ins Schlafzimmer, wo Frau Ravenot ihn erwartete.

Lange plauderten sie noch von dem glücklichen Ereignis. Herr Ravenot legte seine Pläne dar; er wollte Spielpartien mit seinen Freunden organisieren, oder auch gar mit Spielern, die er gelegentlich treffen würde und deren Ehrenhaftigkeit sicher wäre. Er setzte auseinander, infolge welchen Versehens er seinen letzten Ball verfehlt – übrigens um ein reines Nichts, nur um die Breite eines Kinderhaars – verfehlt hätte.

»Rege Dich nur nicht so auf, lieber Mann!« meinte Frau Ravenot ... »Morgen wirst Du krank sein ... Komm, lösch aus, wir wollen schlafen! ...

Er gehorchte, aber im Dunkeln merkte sie, wie er keine Ruhe hatte, sich hin und her wälzte und sich wieder aufrichtete; schließlich, als es halb drei Uhr schlug, hatte sie eine Intuition, wie sie die Liebe eingiebt: sie erriet, was er wünschte, ohne daß er doch wagte, es einzugestehen.

»Du, hör' mal, Lieber!« murmelte sie und stieß ihn mit dem Ellenbogen an.

»Hm? ... Was denn? ...« machte Herr Ravenot und stellte sich, als ob er eben erwache.

»Sag' mal, willst Du, daß wir nochmals ›es‹ uns ansehen gehen?«

Herr Ravenot versetzte mit erheuchelt gleichgültigem Tone: »Ich für meine Person bin's zufrieden!«

Sie erhoben sich wieder, gingen in den Salon zurück und zündeten die Hängelampe nochmals an.

Herr Ravenot ging nachdenklich um das Billard herum:

»Weißt Du was?« rief er, wie von einer plötzlichen Idee durchzuckt ... »Weißt Du was? Ich mache Dir einen Vorschlag ... Spielen wir eine Partie!«

Frau Ravenot protestierte lebhaft: »Eine Partie?... Du weißt aber doch, mein Lieber, daß ich nicht spielen kann!«

Er antwortete: »Was thut das? ... Ich geb' Dir vor ... Ich geb' Dir vor...«

Er überlegte, dann sagte er mit triumphierender Miene:

»Ich geb' Dir fünfundneunzig auf hundert vor! ...«

Frau Ravenot ergab sich drein. Sie begannen zu spielen; und in der Stille der Nacht, der verödeten Straßen, durch welche kein Wagen rasselte, konnte man hören, wie Frau Ravenot kleinlaut klagte:

»Ich kamt nicht, mein Lieber ... mein Ball steht preß!...«

Worauf die Stimme des Herrn Ravenot in geringschätzigem Tone versetzte: »Den Ball voll treffen und von der Bande spielen ...! Von der Bande, meine Liebe! ... Ist ja doch kinderleicht! ...«

*


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