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Erika macht schlechtes Wetter.

»Nächsten Sonntag ist schläsisches Heimatfest, da dürfen wir halt mit im Festzug fahren«, verkündete Friedel freudestrahlend vom Küchenfenster hinaus auf die Wiese. Dort lag die zehnjährige Erika mit ihrer Puppe Inge der Länge nach im duftenden Heu. Alle beide ließen sie sich von des lieben Herrgotts Höhensonne bestrahlen. Jetzt aber war Erika mit einem Satz auf den Füßen und an dem im Parterregeschoß gelegenen Küchenfenster.

»Schlesisches Heimatfest, was ist denn das? Ist das ein Kinderfest?« erkundigte sie sich erwartungsvoll.

»Nee, das ist halt ein Heimatfest, für die großen Leute und auch für die Kinder. Der Vatel fährt auf dem Kohlenmeilerwagen als Köhler mit und die Muttel auf dem Spinnwagen. Ich soll eine Bergblume sein, Enzian meint der Herr Lährer, weil ich so blaue Augen habe«, berichtete die zwölfjährige Friedel voller Wichtigkeit. Dabei trocknete sie geschäftig das Frühstücksgeschirr von den Hausgästen ab, das die Mutter spülte. Jetzt während der Fremdensaison mußten die Krummhübler Kinder in den Ferien alle mit Hand anlegen.

Christel, Friedels etwas jüngere Schwester, stand drüben im Hühnerhof und streute den Hühnern Futter. »Und ich darf im Hochzeitszug mitfahren«, rief sie herüber. »Ein geblümtes Kleidel krieg ich an, ein Samtmieder und halt ein feines Spitzenhäubel.«

»Da fahre ich auch mit«, rief Erika, das Breslauer Stadtmädel, nicht weniger begeistert als die beiden Landkinder. »Nicht wahr, Mutti, ich darf doch?«

Frau Hausmann, die am Gartentisch unter der Linde einen Brief schrieb, nickte ihrem Töchterchen freundlich Gewährung.

»Mutti erlaubt es – hurra – als was soll ich fahren, Christel?« Erika eilte so ungestüm in den Hühnerhof, daß die eifrig die Körner pickende Hühnerfamilie erschreckt aufflatterte.

»Kannst halt im Hochzeitszug mit Blumen streuen, dazu werden noch Kinder gebraucht. Die Kleinen aus der untersten Klasse werden vor dem Brautpaar hergähen«, überlegte Christel.

»Was, mit den Kleinen soll ich gehen, wo ich doch schon zehn Jahre alt bin? Denke ja gar nicht dran. Du bist ja bloß sieben Monate älter als ich, Christel. Ich will mit dir im Hochzeitszug fahren oder eine Bergblume sein wie du, Friedel.«

»Das wird halt nicht gähen, wir sind jetzt vollzählig, spricht der Herr Lährer«, meinte Christel bedauernd und schloß das Gitter zum Hühnerhof.

Erika machte ein langes Gesicht. »Darf der Hansel auch schon dabei sein?« erkundigte sie sich.

»Nu freilich komm ich mitte, ich bin einer von des Herrn Riebezahls Zwergen«, rief statt der Schwester der sechsjährige Hansel, der Grünfutter für die Karnickel unweit an der Grabenböschung pflückte, voll Stolz.

Die gutherzige Christel schlang den Arm um ihre Ferienfreundin. »Sei nur nicht traurig, Erika, wir werden den Herrn Lährer fragen, ob du mit darfst«, tröstete sie.

»Glaub ich halt nicht«, warf die größere Schwester ein, die mit ihrem Tassenaufwasch inzwischen fertig geworden war. »Es ist doch ein Heimatfest für die Einheimischen. Und die Erika ist nicht von hier aus dem Riesengebirge. Die ist doch von Breslau här.«

»Aber Breslau liegt auch in Schlesien und – und ich bin überhaupt hier Kurgast. Und mein Vater sagt, wenn die Fremden nicht soviel Geld in den Kurorten lassen würden, dann würde es all den Orten schlecht gehen ….« Das kleine Mädchen brach plötzlich in Tränen aus.

»Aber Erika«, rief Frau Hausmann, welche die Äußerung ihres Töchterchens gehört hatte, unzufrieden, »der Vater hat das doch nicht so gemeint, sondern in einem ganz andern Zusammenhange. Warum weinst du denn, Kind? Kannst du schon wieder nicht Frieden halten mit deinen Spielgefährtinnen?«

»Wir haben ja gar keinen Streit gehabt«, beeilten sich Friedel und Christel zu versichern, während Erika weiter weinte.

»Doch, die Christel hat gesagt, ich soll mit den Kleinen im Hochzeitszuge gehen, wo ich doch schon zehn Jahre alt bin. Und die Friedel meint, ich darf gar nicht mit, weil ich bloß aus Breslau bin und nicht von Krummhübel.«

Jetzt schluchzte Erika richtig aus Mitleid mit sich selbst.

»Du bist ein dummes Mädel, Erika.« Frau Hausmann mußte unwillkürlich über den Kinderschmerz lächeln. »Die Friedel und die Christel, die können das doch nicht wissen. Aber wir werden den Vater Hampel fragen. Der sorgt gewiß dafür, daß du mit deinen Freundinnen zusammen fahren darfst. Da kommt er ja gerade über die Wiesen.«

Erika war schnell getröstet. Vater Hampel, der Vater von Friedel und Christel, verstand alles. Gebrochene Puppenbeine in Gips zu legen, Flitzbogen aus Baumzweigen zu machen, und Rübezahl aus Holz zu schnitzen.

»Nu freilich, Herzel, nu natürlich, du fährst halt mit der Friedel im Blumenwagen mit«, versprach der mit der Sense von der Heumahd Heimkehrende bereitwillig auf die Bitten seines kleinen Gastes. »Für so ein liebes Kindel wird schon noch Platz geschafft wärden. Bist ja halt selber eine kleine Erika. Da brauchst du erst gar keine andere Bergblume zu wählen.«

»Au ja – famos!« Plötzlich lachte Erika wieder über das ganze Gesicht, während noch Tränen in ihren Wimpern hingen.

»Ich fahre als Erika, das blüht schon überall. Da ziehe ich mein weißes Kleid an und wir putzen es mit Erikasträußen.«

»Und ein Kränzel binden wir halt für dein Haar, Erika«, rief auch Christel, nicht weniger erfreut über den Vorschlag des Vaters. Nur Friedel meinte zweifelnd: »Wenn der Herr Lährer es nur erlaubt?« Dann griff sie wie Schwester Christel nach dem Rechen und begann, das zum Trocknen ausgebreitete Gras zu wenden, während Erika eiligst ihre im Heu vergessene Puppe vor den Zähnen des Rechens rettete.

Vierzehn Tage weilte Frau Hausmann bereits in dem am Fuße der Schneekoppe gelegenen Krummhübel. Im Hampelschen »Wiesenhaus« zwischen Kühen, Ziegen und Hühnern genossen sie erholsame Ferienwochen. Die Wirtsleute, brave, biedere Menschen, machten ihren Gästen den Aufenthalt so angenehm wie möglich. Die Hampelschen Blondköpfe waren mit allen Kindern im Hause gut Freund. Sie waren wohlerzogen und fleißig, die drei. Wenn auch der Hansel die kleinen Stadtmädel öfters mal zu einem dummen Streich veranlaßte: Barfuß im kalten Gebirgsbach nach Forellen zu fischen, auf den Birnbaum zu klettern, daß die dünnen Kleider einen Riß als Andenken erhielten, oder gar auf dem großen Leiterwagen mit ins Heu zu fahren, während die Eltern Mittagsruhe hielten und keiner wußte, wo die Kinder geblieben waren. Außer Erika Hausmann gab es noch zwei Berliner Kinder, den Herbert und die Inge, sowie die blondzöpfige Margret aus Görlitz als Gäste im Wiesenhaus. Veranda bei Veranda wohnten sie beieinander und waren lustige Spielkameraden.

Als die andern hörten, daß Erika zum Heimatfest mit im Festzug fahren wollte, da mochten sie natürlich nicht zurückstehen. Herbert bestürmte Vater Hampel, ihn mit auf seinen Kohlenmeilerwagen als Köhlerbub zu nehmen. Denn das hatte er sich schon immer gewünscht, einen Meiler, in dem die Holzkohlen gebrannt wurden, kennenzulernen. Er ließ es sich nicht ausreden, daß das ja gar kein richtiger Meiler sei, sondern nur eine Nachahmung. Die beiden Mädel, Inge und Margret, machten wie Erika die schönsten Pläne, auf welchem Festwagen und in welcher Verkleidung sie mitfahren wollten. Vergeblich stellten die verschiedenen Mütter ihnen vor, daß ihre geblümten Dirndlkleider durchaus stilgerecht seien, und daß ein Blumenkranz im Haar festlich genug wäre.

Und dann kam die große Enttäuschung. Die Hampelschen Kinder waren vom Lehrer in die Schule beordert worden. Auf der großen Wiese hinter der Schule sollte der Kinderzug zur Probe zusammengestellt werden. »Wir gehen alle mit«, schlug Herbert, der älteste, vor. »Ich sage eurem Lehrer, daß ich mit Vater Hampel als Köhlerbub fahre, und euch Mädel kann er dann auf die verschiedenen Wagen verteilen.«

»Ich will aber mit Friedel als Erika auf den Bergblumenwagen«, rief Erika und hängte sich fest in den Arm der älteren Freundin.

Margret, die mit ihren Eltern einen Ausflug zur Riesenbaude machen sollte, verzichtete sogar auf die Bergwanderung, nur um auch beim Festzug dabei sein zu können. Und so zogen die sieben von dem höher gelegenen Wiesenhaus durch Sonne und Heuduft hinunter ins Dorf zur Schule, wo sich schon viele Kinder versammelt hatten. Die Gästekinder hielten sich schüchtern etwas im Hintergrunde. Nur Herbert mischte sich als kecker Berliner Junge unter die Krummhübler Schuljugend.

Der Lehrer verlas die Listen der zu den einzelnen Festwagen gehörigen Teilnehmer. Mehrere Lehrer und Lehrerinnen stellten die verschiedenen Gruppen auf den Wagen malerisch zusammen. Der Kreis um die kleinen Kurgäste lichtete sich.

»Nanu, wer seid ihr denn, Kinder, gehört ihr auch dazu?« fragte eine der Lehrerinnen schließlich die noch nicht untergebrachten Gästekinder aus dem Wiesenhaus.

»Ja, freilich«, antwortete Herbert statt der scheu verstummenden Mädel. »Vater Hampel nimmt mich mit auf seinem Köhlerwagen. Und meine Schwester ….« er gab der jüngeren Inge einen aufmunternden Rippenstoß, daß sie ebenfalls ihre Wünsche äußern sollte. Aber Inge zupfte nur verlegen an der grünen Schürze ihres Dirndlkleides und schwieg. Auch Margret wagte keine Bitte, mit in den Festzug eingereiht zu werden. Im Gegenteil, sie versuchte sich hinter der kleineren Erika zu verstecken. Die gab sich einen Ruck.

»Ach bitte, ich möchte so schrecklich gern mit der Friedel Hampel in dem Bergblumenwagen fahren, weil ich nämlich gerade Erika heiße«, bat sie mit einem Knicks.

Die Lehrerin lächelte. »Ja, mein Kind, das wird schwer halten. Ihr seid doch keine Riesengebirgskinder. Wir feiern am Sonntag ein altschlesisches Heimatfest, bei dem nur die hiesigen Bewohner und ihre Kinder mitwirken. Die Kurgäste bilden das Publikum. Ihr dürft euch an dem Festzug freuen.« Damit wandte sich die Lehrerin wieder, grenzenlose Enttäuschung zurücklassend.

Nur eine Sekunde überlegte Erika. Dann eilte sie hinter der Dame her. »Ach bitte, bitte, ich bin doch auch von Schlesien – Breslau ist doch gar nicht weit. Und auf Friedels Blumenwagen ist noch Platz – ich habe es genau gesehen. Bloß zugucken, das ist ja langweilig. Ach bitte, bitte, lassen Sie mich doch mitfahren«, so bettelte sie.

Die Lehrerin strich der aufgeregten Kleinen beruhigend über das Haar. »Kind, so gern ich deinen Wunsch erfüllen würde – ich darf es nicht. Denke mal, wenn auch all die andern Kinder der Kurgäste dabei sein wollten. Dann hätten wir ja gar keine Zuschauer. Wir dürfen keine Ausnahme machen.« Die Lehrerin rief jetzt die Zwerge auf, um den Rübezahlwagen zu stellen.

Erika fühlte, wie ein dicker Tränenkloß sie im Halse würgte, wie ein Schleier von zurückgehaltenen Tränen das helle Sonnenlicht ringsherum verdunkelte. Der kleine Hansel Hampel wurde gerade aufgerufen – so ein Knirps – eine Gemeinheit, daß sie nicht dabei sein durfte. Und sie hatte sich doch so darauf gefreut.

»Na, abgeblitzt?« fragte da Herbert hinter ihr lachend.

»Nee, gar nicht«, stieß Erika hervor und schluckte mit Anstrengung den Tränenkloß hinunter. Auslachen ließ sie sich nicht noch obendrein.

»Was hat sie denn gesagt?« – »Dürfen wir mitfahren?« Die vorhin so schüchternen Spielkameradinnen bestürmten jetzt Erika. Sie war eigentlich ein wahrheitsliebendes Kind – aber der Herbert machte so ein schadenfrohes Gesicht – »na, meinetwegen, hat sie gesagt.«

»Schwindel!« riefen die drei wie aus einem Munde.

»Gar kein Schwindel!« behauptete Erika und wurde so rot wie der Mohn, den sie auf dem Wege gepflückt hatte.

»Hast ja ein Gesicht gemacht wie drei Tage Regenwetter«, spottete Herbert – »olle Schwindelliese!«

»Na, ihr werdet ja sehen, daß ich mitfahre – und das sage ich meiner Mutti, daß du Schwindelliese zu mir gesagt hast!« Erika war nie sehr verträglich. Und jetzt kam noch die Enttäuschung und das quälende Bewußtsein dazu, eine Unwahrheit gesagt zu haben. Plötzlich brach sie in Tränen aus.

»Aber Erika«, trösteten die Freundinnen, »Herbert meint es ja gar nicht so schlimm. Komm, wir gehen jetzt in die Blaubeeren.« Von jeder Seite ärmelte sie eins der Mädel unter und zog sie die Bergwiese hinan in den Wald.

Das Blaubeerensuchen machte heute lange nicht solchen Spaß wie sonst. Erika fand sogar, daß die Blaubeeren bitter schmeckten, und sie mundeten doch sonst so gut. Lag das daran, daß eine Lüge über ihre Zunge gegangen war?

Auch am Abend, wo Erika sonst müde von der würzigen Bergluft und vom Herumtollen sofort einzuschlafen pflegte, fand sie heute keinen Schlummer. Sie wälzte sich so unruhig im Bett, daß die Mutter noch mal nach ihr schaute, ob ihr auch nichts fehle.

»Ist dir etwas, Erika?« fragte Frau Hausmann besorgt.

Nun wäre es ja das Einfachste gewesen, wenn Erika der Mutter ihren Fehler eingestanden hätte. Dann hätte sie sicher sofort Ruhe gefunden. Aber dann hätte sie auch bestimmt nicht auf dem Blumenwagen mitfahren dürfen, und es war doch noch für sie Platz da. Die Lehrerin würde am Sonntag soviel mit der Festordnung zu tun haben, daß sie gar nicht darauf acht geben würde, ob bei den vielen Kindern noch eins mehr dabei war. Und wie mußte sie sich vor ihren Spielgefährtinnen schämen, wenn sie eingestand, daß sie eine Unwahrheit gesagt hatte! Dann würde Herbert sie mit Recht »Schwindelliese« nennen. So gähnte Erika nur: »Mir ist ganz gut, Mutti, ich bin bloß müde« und rollte sich auf die andere Seite.

Eine rege Geschäftigkeit herrschte am nächsten Tage in ganz Krummhübel. Sonnabend gab es in den Logier- und Bauernhäusern immer viel zu schaffen, da wurde gebacken und gescheuert, da hatte jeder alle Hände voll zu tun. Aber an diesem Samstag gab es andere Arbeit. Schon in aller Herrgottsfrühe zog die Jugend in den Bergwald und kehrte mit Tannenzweigen beladen zurück. Die bunten Bauerngärten wurden geplündert. Rosen, Phlox, Akelei, Stiefmütterchen, brennende Liebe und Rittersporn wurden in das Tannengrün zu Festgirlanden gewunden. Über die großen Erntewagen breitete man buntes Leinen, über und über mit leuchtenden Sommerblumen besteckt. Holztruhen mit gemalten Rosensträußen, in denen Urgroßmutter ihren Brautschatz eingebracht hatte, feierten aus vergessenen Winkeln wieder Auferstehung. Geschnitzte Bauernbänke und Tische, Spinnräder und Webstühle einer längst vergessenen Zeit wurden hervorgeholt und auf die Festwagen verteilt. Und nun erst die altschlesischen Bauerntrachten. Fast in jedem Häusel verwahrte man Großvaters und Großmutters Brautstaat auf. Fein säuberlich wurden Kniehose und rote Weste, Häubchen und Schnallenschuhe hergerichtet. Ganz Krummhübel war geschäftig am Werke.

Im Wiesenhaus halfen alle, selbst die Logiergäste. Da der Enzian, den Friedel darstellen sollte, noch nicht blühte, verfertigte man aus leuchtend blauem Seidenpapier künstliche Glocken. Die Kinder aus dem Wiesenhaus hatten sich alle am Erikapflücken beteiligt, um die Breslauer Erika schmücken zu helfen. Inge und Margret waren uneigennützig genug, ihre Freundin so hübsch wie möglich zu machen. Denn Erika war dabei geblieben, daß sie die Erlaubnis erhalten hätte, auf dem Blumenwagen mitzufahren.

Sollte sie vielleicht jetzt noch zugestehen, daß es sich anders verhielt? Das wäre doch eine zu große Schande gewesen. Und Herbert fuhr ja auch mit auf dem Köhlerwagen, auf dem ein großer Holzstoß durch Schwelfeuer angekohlt wurde und der die würzige Gebirgsluft arg beeinträchtigte. Na also!

Die Hampelschen Kinder in ihrer geraden Ehrlichkeit hatten durchaus kein Arg, daß Erika geflunkert haben könne. Die glaubten ihr aufs Wort, daß die Lehrerin gesagt hatte: »Na meinetwegen.« Als Friedel erzählte, daß die Festzügler nachher im Garten des Gerichtskretscham mit Kaffee und Kuchen bewirtet werden sollten, da konnte Erika nicht in die Freude der Hampelschen Kinder einstimmen. Wenn man sie nun als nicht zugehörig entdeckte und davon ausschloß? Oder wenn die Lehrerin sie wiedererkannte und heimschickte? O Gott, wie mußte sie sich dann erst schämen! Mutter Hampels Buttermilch unter der Linde wollte Erika am Vorabend des Festes nicht munden. Warum mußten die andern auch von nichts als von dem dummen Festzug morgen reden. Kein bißchen freute sich Erika mehr darauf. Nur Angst hatte sie, herzklopfende Angst, daß ihre Unwahrheit herauskommen könne.

»Nun müßt ihr halt den Herrn Riebezahl bitten, daß er morgen schönes Wetter zum Heimatfest schickt«, sagte Vater Hampel scherzend zu seinen kleinen Gästen.

»Ich wollte, er schickte morgen Regen« – wie ein Blitz durchfuhr dieser Gedanke Erika. Scheu sah sie sich um. Hatte sie auch nicht etwa laut ausgesprochen, was sie eben im geheimsten Herzen gedacht hatte? Nein, wie konnte sie nur im Ernst wünschen, daß all die viele Arbeit und Vorfreude der braven Gebirgsleute umsonst sein sollte! Na, zum Glück gab es ja gar keinen Rübezahl, der dumme Wünsche erfüllen konnte. Erika war schon viel zu groß, um noch an den Riesengebirgsgeist zu glauben.

Ein goldener Sonntagsmorgen zog über das Krummhübler Bergtal auf. Die Koppenhäuser standen klar gegen den tiefblauen Himmel – »zum Greifen nah, man möcht' sprechen halt gar zu nah«, meinte Vater Hampel, bedenklich den wolkenlosen Himmel musternd. Dann ging er, die Glut an seinem Kohlenmeilerwagen zu schüren.

Herbert erschien am Sonntagskaffeetisch anstatt wie sonst sauber gewaschen, mit rußbeschmiertem Gesicht und Händen. Er hatte sich auf diese Weise bereits als Köhlerbub kostümiert und war sehr empört darüber, daß er den »schönen Ruß« wieder abwaschen sollte.

Keins von den Kindern war heute zu einem Spaziergang zu bewegen. Es gab allenthalben zuviel zu sehen und zu bestaunen. Mutter Hampel besaß ja einen richtigen Spinnrocken wie aus dem Dornröschenturm. Der erschien den Kindern aus der Zeit des Rundfunks und des Flugzeugs doch gar zu merkwürdig. Und nun gar der Webstuhl, der auf einen malerisch mit schlesischem Leinen drapierten Wagen geladen wurde. Ein Handwebstuhl war das, wie man ihn heute in den Tagen der Maschinentechnik gar nicht mehr kannte. Aber der Dichter Gerhart Hauptmann, der nicht weit von Krummhübel daheim war, hatte die armen schlesischen Weber durch sein Theaterstück »Die Weber« berühmt gemacht. So erzählte Herberts und Inges Vater den Kindern.

Allenthalben wurde heute Punkt zwölf Uhr zu Mittag gegessen. Erika würgte an der süßen Sonntagsspeise, die sie sonst so gern mochte. Sie war die aufgeregteste von all den erwartungsvollen Kindern. Aber es war keine freudige Erregung bei Erika. Wie eine Zentnerlast lag es ihr auf der Brust. Um halb zwei sollte sich der Festzug in Ober-Krummhübel versammeln. Ein jedes hatte mit seiner Kostümierung so viel zu tun, daß kaum einer bemerkte, wie hinter dem Koppenkegel sich weiße Wolken zusammenballten.

Und nun war man im Wiesenhaus fertig und bewunderte sich gegenseitig. Nein, sah Mutter Hampel in dem schwarzseidenen Bauernrock mit Mieder und Häubchen drollig aus. Und die Christel, – ganz ihr Ebenbild in kleinerem Format.

»Friedel, du könntest ebensogut eine Glockenblume vorstellen«, fand Margret. Dabei trug die Friedel doch einen blumengeschmückten Stab mit dem Plakat »Enzian« in der Hand.

»Erika, du hättest auch einen Blumenstab nehmen sollen«, meinte Inge, die mit ihrem rotvioletten Kränzchen allerliebst ausschauende Freundin neidlos bewundernd.

»Das sieht doch jedes Rindvieh auf der Wiese, was Erika vorstellt«, meinte der jetzt in schwärzestem Ruß prangende Köhlerbub Herbert.

Der hatte es gut, der Herbert. Vater Hampel nahm ihn einfach auf seinen Meilerwagen und kein Hahn krähte danach. Das hätte ja nur gefehlt, daß sie noch durch einen Blumenstab die Aufmerksamkeit auf sich gelenkt hätte, dachte Erika. Sie würde froh sein, wenn kein Mensch Notiz von ihr nahm.

Hansel, der kleine Zwerg mit brauner Gnomenmütze und langem Wattebart, drängte, daß man nun endlich gehen sollte. »Sonst rägnet's halt noch vorhär.«

Nanu, wo war der blaue Himmel denn hingekommen? Hinter allen Berggipfeln krochen dickgeschwollene Wolkenungetüme heran. Die Schwalben, die am Dachfirst nisteten, flogen tief am Boden.

»Das bedeutet Rägen«, meinte Mutter Hampel und nahm den großen roten Bauernregenschirm unter den Arm. »Aber ich denk' halt, es wird erst zur Nacht kommen. Der Herr Riebezahl läßt beim schläsischen Heimatfest nicht rägnen.«

»Willst du nicht lieber hierbleiben, Erika?« stellte Frau Hausmann ihrem Töchterchen vor, besorgt den sich immer mehr beziehenden Himmel musternd. »Inge und Margret sehen doch auch von der Veranda aus den Festzug mit an.«

Ach, wie gern wäre Erika ebenfalls zurückgeblieben. Nicht nur ihres bösen Gewissens wegen. Sie hatte auch Angst vor einem Gewitter. Da aber hingen sich Friedel und Christel in ihren Arm und Herbert kommandierte: »Alle Mann los!« und als er das Zögern bei Erika bemerkte, fügte er spöttisch hinzu: »Oder willst du etwa jetzt noch kneifen?«

Nein, Erika wollte nicht »kneifen«. Möglichst unternehmungslustig schritt sie mit den andern davon. Doch je näher man der Versammlungswiese kam, um so mehr pochte Erikas Herz. Himmel, wenn man sie mit Schimpf und Schande davonjagte!

.

Erikas Angst war unbegründet. An dem Versammlungsort war ein solches Gewimmel von bunten Trachten, ein solches Durcheinander von Großen und Kindern, Wagen und Pferden, daß keiner auf den kleinen Eindringling achtete.

Friedel zog sie mit zu dem Bergblumenwagen, einem der ersten Festwagen. Er trug unter einem Blumenbogen ein Schild: »Schonet die Bergblumen!«

Teufelsbart, Habmichlieb und Berganemone, drei Mädel aus Friedels Klasse, saßen bereits oben auf dem Wagen und sahen voll Verwunderung, wen Friedel da denn noch mitbrachte. Freundlich rückten sie zusammen und machten Platz.

Einen tiefen Atemzug tat Erika. So, nun war sie in Sicherheit. Nun brauchte sie keine Angst mehr zu haben. Die Lehrer waren mit dem Stellen des Hochzeitszuges beschäftigt. Die Lehrerinnen beaufsichtigten Rübezahls Zwerge, die allerlei Unfug bei den Pferden trieben. Keiner würde sie entdecken. Sie konnte nun wirklich anfangen, sich zu freuen.

Ja, wenn Erika bloß nicht immer wieder daran hätte denken müssen, daß sie durch eine Lüge hier auf dem Festwagen saß. »Es war ja eigentlich gar keine richtige Lüge, ich habe ja bloß ein bißchen geschwindelt«, wollte sie vor sich selbst begütigen. Aber sie fühlte es nur zu gut, daß Unwahrheit Unwahrheit blieb.

Inzwischen war Ordnung in das Gewühl der bunten Bauerntrachten gekommen. Die blumengeschmückten Festwagen gaben ein reizvolles Bild, umrahmt von blauen Bergen.

»Schau, da ist Riebezahl, wir wollen nur bitten, daß er unsern Festzug nicht doch noch verrägnen läßt«, sagte Friedel zu Erika.

»Wo – wo?« rief Erika erschreckt und dann lachte sie sich selbst aus. Der da mit dem Furcht einflößenden Rübezahlbart auf dem Wagen neben ihnen, das war ja der Krummhübler Schuster, der kürzlich erst ihre Schuhe besohlt hatte.

Die Musiker, in Kniehosen, weißen Strümpfen mit bunten Strumpfbändern, in Schnallenschuhen und roten Westen mit silbernen Knöpfen dran, stellten sich an die Spitze des Zuges und begannen, den Festmarsch zu blasen. Es ging los.

Rübezahl mit seinen Zwergen fuhr als erster Festwagen. Der Bergblumenwagen folgte als zweiter. Die schlesische Spinnstube, auf der Mutter Hampel mit ihrem Spinnrocken unter fleißigen Spinnerinnen thronte, konnte Erika noch bewundern. Aber von den nachfolgenden Wagen sah sie nichts mehr. Nicht die Weber, nicht die Grobschmiede und schlesischen Laboranten, nicht einmal den Köhlerwagen, auf dem Herbert neben Vater Hampel den Meiler schürte. Ach, und auf die Bauernhochzeit hatte sie sich doch so gefreut. Den Hochzeitsbitter mit den langen bunten Bändern am Hut, der vor dem Brautpaar hertanzte, die Brautjungfern, all die Hochzeitsgäste in ihren altschlesischen Trachten, der Wagen mit dem Brautgut, auf dem der ganze Hausrat geladen war und mit der hinten angebundenen Kuh, nichts bekam die Erika von all dem zu sehen. Warum hatte sie bloß den Wunsch gehabt, mit im Festzuge zu fahren! Wieviel besser konnten Inge und Margret, die den vorüberkommenden Freundinnen ein lautes Hurra zuriefen und vor Begeisterung in die Hände klatschten, den ganzen vorbeiziehenden Zug mitansehen. Ach, hätte sie doch bloß nicht geschwindelt!

Aus allen Häusern schauten begeistert Beifall klatschende Sommergäste. Der ganze Weg war von Zuschauern eingesäumt, die den langsam Vorüberfahrenden scherzhafte Worte zuriefen. Photographen mit gezückten Apparaten machten ihre Aufnahmen.

Plötzlich flatterten die Blumengewinde, die Wagenschilder und bunten Tücher wild auf. Jede der Bergblumen griff erschreckt nach ihrem Kranz. Ein Wirbelwind kam von den Bergen über die Wiesen dahergestürmt und brachte im Augenblick Aufruhr in die Festordnung.

»Mein Kränzel – der Sturm zerzaust mir meine Papierblumen«, rief Friedel erschreckt.

»Es rägnet halt schon ein bissel«, stellte Habmichlieb fest. Die ersten schweren Tropfen fielen. Mit entsetzten Augen blickte Erika in die schwefelgelben und grauschwarz drohenden Wolken. Da – der erste Blitz – im Zickzack fuhr er von der Schneekoppe herunter, donnerndes Krachen folgte ihm.

»Das hat eingeschlagen«, sagte Teufelsbart.

Erika hielt sich weinend die Augen zu. Sie fürchtete sich entsetzlich vor dem Gewitter, noch dazu in den Bergen unter freiem Himmel.

»Ich will nach Hause, – ich will zu meiner Mutti«, schluchzte sie.

»Das geht jetzt halt nicht mähr, Erika, dann hättest du gleich nicht mitfahren sollen.« Friedel war ärgerlich, daß Erika oben auf dem Festwagen saß und heulte, anstatt den Zuschauern lachend zuzuwinken. Den Kindern aus den Bergen machte das bissel Gewitter nicht viel.

Aber allmählich verging auch den andern Bergblumen das Lachen und Winken. Ein tolles Unwetter setzte ein; Blitz, Donner, Sturm, wolkenbruchartiger Regen brauste über den so schönen Festzug hernieder und durchweichte alles bis auf die Knochen. Die Bergblumen waren geknickt. Die Zwerge scharten sich ängstlich um ihren Meister Rübezahl. Den Flachs an Mutter Hampels Spinnrocken zauste der Sturm. Der Kohlenmeiler war von den Regenfluten gelöscht. Der Hochzeitsbitter mit seinem blumengeschmückten Stab tanzte nicht mehr vor dem Brautpaar einher, sondern hatte einen alten Kartoffelsack, den ihm einer mitleidig zugeworfen, über den bunt bebänderten Hut gezogen. Brautpaar, Brautjungfern und Gäste hatten baumwollene Familienregenschirme von gewaltigem Ausmaß aufgespannt. Der den Schluß des Festzuges bildende Berg- und Wintersport mit seinen Skiern, Rodeln und Hörnerschlitten hätte sich bei dieser Überschwemmung sicher lieber einen Kahn gewünscht. Die Zuschauer am Wege hatte der Sturm davongeblasen. Nur aus den Fenstern und Veranden blickte man voller Mitleid auf den armen verregneten Heimatzug.

.

Wieder ein Krachen in den Lüften. Erika barg den Kopf an Friedels triefender Schulter.

»Riebezahl zürnt«, sagte Friedel leise, denn solch ein schweres Gewitter machte selbst dem beherzten Krummhübler Mädel bange.

»In keinem Jahr ist das Heimatfest verrägnet.«

»Ich bin schuld daran – ich ganz allein«, schluchzte Erika unter Donner und Blitz. »Es ist gar nicht wahr, daß ich die Erlaubnis hatte, mit euch auf dem Bergblumenwagen zu fahren. Ich habe gelogen. Und dann habe ich noch obendrein gewünscht, daß es heute regnen sollte, weil ich solche Angst hatte, daß man mich wieder nach Hause schicken könnte. Und nun gießt es und blitzt es.« Wieder bedeckte Erika die Augen vor einer gelben Blitzschlange.

»Du hast das böse Wetter nicht gemacht«, tröstete die gutherzige Friedel.

»Doch – doch, weil ich so schlecht gewesen bin, ist das Unwetter heraufgezogen – ich bin schuld daran.« Dabei blieb Erika. Sie zitterte vor Aufregung, Kälte und Nässe.

Als der triefende Festzug den Kretscham erreicht hatte, stahl sich der erste Sonnenstrahl wieder durch flatternde Wolkenfetzen. Das Gewitter hatte ausgetobt. Die Gebirggleute waren an Wind und Wetter gewöhnt, die trockneten alsbald wieder in der Sonne und wurden bei Kaffee und Kuchen, bei Bier und Wein wieder warm. Erika aber, die von ihrer sich um sie sorgenden Mutter vom Kretscham heimgeholt wurde, lag am nächsten Tage mit starkem Erkältungsfieber zu Bett.

Während die lachenden Stimmen der draußen im Freien spielenden Kinder durch das geöffnete Fenster hereindrangen, mußte Erika mit brennendem Kopf das Bett hüten. Da hatte sie Zeit, darüber nachzudenken, wieviel Unheil aus Unaufrichtigkeit entsteht.

Am nächsten Sonntag wurde das Heimatfest bei strahlendem Sonnenschein wiederholt. Zwar noch ein wenig blaß, aber mit frohen Augen konnte Erika sich diesmal unter den Zuschauern an dem malerischen Aufzug freuen. Man muß nicht überall dabei sein wollen. Und das Wettermachen soll man unserm Herrgott überlassen.


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