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6. Kapitel. Schiff in Sicht.

Im Alsterpavillon traf sich die vornehme Welt Hamburgs zum Fünfuhrtee. Seidenkleider, gedämpftes Frauenlachen, künstlerisch gespielte Weisen der Musikkapelle. Elegante Damen beobachteten durch das Stielglas die am Jungfernstieg Vorübergehenden. Fremde aus allen Erdteilen mit typisch geschnittenen Gesichtszügen, mit Hauttönen vom Zitronengelb bis zum dunkelsten Braun, schlürften ihren Mokka und blickten voller Interesse auf das europäische Leben, das sich da vor ihnen abrollte.

An einem der runden Tische, mit dem Blick nach der Binnenalster, nahmen ein Herr und eine Dame den Kaffee. Es waren ältere, vornehm aussehende Herrschaften in Reisekleidung. Den Herrn schien der Betrieb augenscheinlich zu belustigen. Er versuchte seine Begleiterin bald auf dieses, bald auf jenes aufmerksam zu machen. Aber der Blick ihrer leuchtendblauen Augen blieb ziemlich teilnahmslos. Sie nickte und lächelte wohl zu den Worten des Gatten, aber es fehlte die innere Freudigkeit dabei. Schließlich legte sie ihre Hand auf die seine: »Du meinst es gut, Rudi, ich weiß es, daß du mich ablenken und zerstreuen willst. Aber es wird dir heute nicht viel nützen. Es ist mir zu weh ums Herz. Wenn ich die blonde Dame da drüben sehe, dann denke ich: ›So könnte unsere Ursel bald neben uns sitzen.‹ Kannst du es nicht verstehen, Rudi, daß ich hier in Hamburg die Enttäuschung doppelt und dreifach empfinde? Wie anders habe ich mir meinen Hamburger Aufenthalt ausgemalt während der langen Jahre.«

Die Dame zog ein Batisttuch aus der Tasche und fuhr sich damit über das Gesicht, denn die Maisonne meinte es gut. Keiner bemerkte, daß ein kristallklarer Tropfen sich von ihren Wimpern löste.

Keiner? Ihr Gefährte schüttelte mißbilligend den Kopf.

»Annemarie, Fraule, bist doch kein Kind mehr, daß du mit dem Kopf durch die Wand willst. Gegen unvorhergesehene Ereignisse sind wir halt machtlos. Wollen froh sein, daß sich Milton bei dem Sturz mit dem Pferde nicht das Genick gebrochen hat, sondern nur das Bein. Einen Strich durch die Rechnung macht einem das Leben manchmal. Daran hättst dich allmählich schon gewöhnen können. Und undankbar ist's obendrein von dir. Ja, schau mich nur an, es ist halt so. Kriegst zwei junge Enkeltöchter, die du noch gar nimmer kennst, ins Haus, und anstatt dich auf sie zu freuen – denn sie sind nun mal ein Teil von unserem Ursele –, da machst halt ein Gesicht wie drei Tage Regenwetter. Wenn du die Mädele so empfängst, werden sie bald wieder nach Brasilien Reißaus nehmen.« Der alte Herr kam so ins Poltern, daß an einigen Nebentischen »st – st« gemacht wurde, denn die Kapelle spielte gerade eine Pianostelle.

Frau Annemarie legte ihrem Gatten beruhigend die Hand auf die seinige. »Mach' doch nicht solchen Radau, Rudi, wir fallen auf. Was du mir da vorwirfst, habe ich mir hundertmal schon allein gesagt, seitdem dieser Wisch uns ins Haus geflogen ist.« Sie zog aus der Handtasche ein ziemlich zerknittertes überseeisches Telegramm und glättete es.

»Milton Pferd gestürzt. Beinbruch. Kommen unmöglich. Kinder allein. Schiff Ankunft Hamburg 18. Mai. Gruß Ursel.«

Wie oft, wie unzählige Male hatte die Mutter die Worte seit dem furchtbaren Enttäuschungstage gelesen, wieder, immer wieder. Als könnten sie ihr doch noch etwas anderes offenbaren, als die unbarmherzige Wahrheit.

»Nun, Weible, kannst sie noch nicht auswendig, die Depesche?« zog ihr Mann sie auf.

»Rudi, ob du's glaubst oder nicht, so groß meine eigene Enttäuschung ist – und riesengroß ist sie –, mehr noch denke ich an unsere Ursel, was für bittere Stunden sie durchlebt haben muß. Schrieb sie uns doch in ihrem letzten Brief, sie sei mit ihren Gedanken schon mehr in Deutschland als in Brasilien. Sie zähle wie ein Schulkind zu den Ferien die Tage, ja beinahe die Stunden bis zu unserem Wiedersehen. Zum erstenmal in all den Jahren hat sie uns ihre Sehnsucht offenbart, da sie glaubte, sie nun endlich befriedigen zu können. Und wird nun wieder so grenzenlos enttäuscht.« Frau Annemarie blickte schwimmenden Auges auf die sonnenglitzernde Alster hinaus, auf der kleine Dampfschiffe und Ruderboote schaukelten.

»Ursel wird Gott danken, daß ihr Mann nur mit einem Beinbruch davongekommen ist. Haben wir so lange auf sie gewartet, müssen wir uns halt noch weiter gedulden. Morgen schon bekommst du ja mündliche Grüße von ihr. Vielleicht läßt sie uns durch die Kinder sagen, daß sie mit einem der nächsten Schiffe nachkommt, wenn das Bein gut verheilt. Also ein anderes Gesicht, Fraule!«

»Mein armer Mann, du dauerst mich. Hast selbst genügend an der Absage zu knabbern und mußt nun auch noch deine Trübsal blasende Frau mit in den Kauf nehmen. Ich geb' mir ja, weiß Gott, redliche Mühe, mich auf die Kinder zu freuen. Aber – daß ich's nur gestehe – ich krieg's nicht fertig, Rudi. Alles, was ich aufzubringen vermag, ist ein gewisses Gefühl der Beklemmung, der ängstlichen Erwartung. Wie werden sie sein? Wie werden sie den Großeltern entgegenkommen? Wird es da wieder Enttäuschungen geben?«

»Himmelbombenmohrenelement – Annemie, ich kenn' ja mein tapferes Weible nimmer wieder. Wenn du sie an dein warmes Herz nimmst, die Krabben, dann wird's ihnen wärmer zumute werden als bei brasilianischer Tropensonne. Es sind doch die Kinder unserer Ursel.«

»Die Kinder unserer Ursel – – –.« Seine Frau wiederholte leise diese Worte, als wollte sie sich daran anklammern.

Auch am nächsten Tage, als man in St. Pauli Landungshafen der Ankunft des südamerikanischen Schiffes mit vielen anderen Wartenden entgegenschaute, klangen diese Worte in Frau Annemaries Innerem nach. Mit aller Energie hielt sie sich daran, daß ihr Auge hell und ungetrübt den Enkelkindern entgegenblickte.

Und nun war's soweit. Da rauschte es heran, das schwimmende Riesenhaus, majestätisch und gewaltig. Die wartende Menschenmenge am Hafen durchlief eine Welle langzurückgehaltener Erregung: »Sie kommen – sie kommen!« Tücher wurden in Bewegung gesetzt – laute Zurufe erschallten, die vom Schiff erwidert wurden. Man drängte, man stieß, ein ungeheurer Tumult spielte sich an der Landungsbrücke ab.

Etwas abseits von dem lauten Getümmel, aber so, daß keiner der ans Land Verladenen ihnen entging, standen Geheimrats. Frau Annemarie ließ ihr Tüchlein den Ankömmlingen entgegenflattern. Aber welches von all den Tüchern und Schleiern an Bord antwortete dem ihrigen? Sie sah nur einen gewaltigen, aufgeregten Menschenknäuel, aus dem sich ab und zu einzelne abspannen. Hier schlossen sich jahrelang Getrennte unter Lachen und Weinen in die Arme. Dort rief man suchend Namen in das Gewühl hinein. In allen Sprachen wurde nach Gepäckträgern, nach Autos verlangt. Eine babylonische Verwirrung herrschte. Weiße und Farbige spie der Ozeanfahrer aus. Frau Annemarie faßte den Arm ihres Mannes. »Du, Rudi, wo bleiben die Kinder? Unser Urselchen wäre sicher eine der ersten gewesen. Die hätte es nicht so lange auf dem Schiff ausgehalten.«

»Recht ist's, daß die Mädel das Hauptgedränge vorüberlassen. Sie werden schon kommen.« Er beobachtete scharf die an Land Steigenden.

Auch Frau Annemarie starrte so angestrengt in das schwarze Knäuel, das sich da im grellen Sonnenlicht vor ihr abhaspelte, daß es ihr vor den Augen zu flirren begann. Nichts Bekanntes. Nichts, was ihr ruckartig ans Herz griff: das sind sie – das müssen sie sein! Neue Enttäuschung kroch langsam in ihrer Brust empor – von Minute zu Minute wachsend. War das die Strafe dafür, daß sie sich nicht genügend auf die Kinder zu freuen vermocht hatte? Kamen auch sie nicht?

Schon lichtete es sich an Bord des Schiffes. Da – Frau Annemarie packte plötzlich den Arm ihres Mannes fester. Hinter einer langen, aufrecht und steif einhergehenden Dame, der man die Engländerin auf zehn Schritt Entfernung ansah, tauchten zwei junge Mädchen im Backfischalter auf. Die eine groß, schlank, brünett, mit schwarzlockigem Haar, eine exotische Schönheit. Die kleinere, die sich etwas ängstlich an den Arm der größeren schmiegte, von zarterem Liebreiz. Suchend überflogen ihre dunklen Augen die an Land wartende Menge.

»Anita – Marietta – – –!« Laut rief Frau Annemarie die Namen der Enkelkinder hinüber. So lebhaft, so freudig klang's, daß die Anstehenden erstaunt auf die immerhin schon bejahrte Dame blickten, die da leichtfüßig wie die Jüngste sich zur Schiffsbrücke Bahn brach. Sie winkte mit ihrem Tuche, mit ihrem Schirme – ja, das waren sie! Das freudige Pochen ihres Herzens, das warme großmütterliche Gefühl, das sie plötzlich durchströmte, sagte es Frau Annemarie deutlicher als die Ähnlichkeit mit den Bildern.

Von der Schiffsbrücke wehte es zurück. Mariettas Tüchlein flatterte der Großmutter als erster Gruß entgegen. Anita begnügte sich damit, die fein behandschuhte Rechte grüßend gegen die lebhaft Winkende zu heben.

»Willkommen – willkommen, meine Kinder, meine lieben, auf deutschem Boden!« Mit dem rechten Arm zog Frau Annemarie Anita an ihre Brust, mit dem linken Marietta. Ihre Kinder – die Kinder ihrer Ursel!

Anita schien von der großmütterlichen Zärtlichkeit nicht angenehm berührt. Sie machte sich aus dem sie umschlingenden Arm frei, rückte das schiefgerutschte Reisehütchen zurecht und küßte die kleinere Großmutter nach brasilianischer Art auf die Wangen.

»Guten Tag, Großmama, wie geht es Sie?« sagte sie dabei in gesellschaftlich liebenswürdigem Ton.

Frau Annemarie blickte in das schöne, bräunliche Mädchenantlitz, in die veilchenblauen Augen, welche die fremde Großmutter ebenso neugierig kühl musterten, wie ringsum das Hafengewühl. Das heiße Gefühl, das sie noch eben durchflutet, begann abzuebben.

Da fühlte sie Mariettas Arm um ihren Hals. Mariettas zartes Gesicht sich zärtlich gegen das ihre pressen. Auch sie drückte der Großmutter zur Begrüßung einen Kuß auf die Wangen, aber Wärme und Innigkeit lag darin. »Unsere Mammi schickt das Kuß.« Das war das erste, was Marietta sprach.

»Mein Kind, mein liebes!« Noch einmal zog die Großmutter die Enkelin an ihr Herz.

Inzwischen war auch der Geheimrat herangekommen. »Na, da hätten wir sie ja, unsere Mädele. Grüß dich Gott, Annele, du bist's doch, gelt?« Ehe Anita wußte, wie ihr geschah, hatte der alte Herr mit dem bärtigen Munde ihr einen kräftigen Kuß auf die Lippen gedrückt. Was kümmerte es ihn, daß das Reisehütchen aufs neue schief rutschte, daß die junge Enkelin ein entsetztes Gesicht zu seiner Anrede machte.

»Ich bin Anita«, sagte sie, sich mit der Hand über den Mund fahrend.

»Ach was, Anita – hier reden wir gut Deutsch, mein Mädel. Und das hier ist halt unser Mariele, gelt, hab' ich's erraten? Mädle, hast dir ja deine Guckerle nimmer gewaschen. Nun, Annemarie, Fraule, was sagst du zu den zwei Prachtmädele? Tropenblüten sind halt doch nit so übel?« Der Großvater strahlte beim Anblick der reizenden Enkelinnen. Er sprach laut und ungeniert, während seine Frau die verschiedenartigen Empfindungen, die sie durchpulsten, ganz gegen ihre sonstige Gewohnheit nicht zum Ausdruck zu bringen vermochte. Sie wandte sich der steif und bewegungslos die Begrüßungsszene mitanschauenden Engländerin zu, ihr in ihrer herzgewinnenden Art beide Hände entgegenstreckend. »Miß Smith, nicht wahr? Die Freundin unserer Kinder. Seien auch Sie uns herzlich willkommen und haben Sie Dank, daß Sie uns unsere Mädel auf der langen Reise so treulich behütet haben.«

Gemessen legte Miß Smith ihre Rechte in die sich ihr so freundlich darbietenden Frauenhände. In der Linken hielt sie die » tub«, die zusammenlegbare Gummibadewanne, ohne die eine Reise für sie undenkbar war. » How do you do?« gurgelte sie mit vorgeschobenem Unterkiefer.

»Miß Smith – das Großpapa«, übernahm Anita, als die Gewandtere der Schwestern, die Vorstellung.

»Grüß Gott, Fräulein Schmidt, ich hoffe, daß es Ihnen bei uns in Deutschland gefällt.« Ritterlich verneigte sich der Geheimrat.

»Fräulein Schmidt« sah nicht so aus, als ob der Anblick von Deutschland sie allzusehr begeisterte. Die Anrede des alten Herrn schien sie ebenso zu befremden, wie vorhin ihren Zögling. Sie murmelte pflichtschuldigst ihr » how do you do?« und stand dann wieder groß, dunkel und steil gegen die Sonne.

»Das ist Lotta, ist gereist mit uns nach Deutschland, zu suchen ihre Großmama.« Marietta zog ein kleines blondes Mädel, das sich scheu hinter der langen Gestalt der Engländerin versteckte, hervor.

»Ah, das Lottchen! Meine Tochter hat mir schon im Brief von dir erzählt, mein Herzchen. Nun sollst du bei uns daheim sein, bis wir deine Angehörigen gefunden«, sagte die fremde Dame gütig zu dem schüchternen Kinde. War es die liebe Art, waren es die deutschen Worte oder der Kosename, die das Kind an die tote Mutter erinnerten, es schlang die Arme um den Hals der fremden Frau und schmiegte sich an sie.

»Hier ist Homer.« Anita wies auf einen Negerjungen, der mit Handgepäck beladen sich bescheiden zur Seite hielt.

»Himmel, ganz Brasilien!« lachte der Großvater gutgelaunt. »Habt ihr uns nit auch noch ein paar Affen aus dem Urwald mitgebracht?«

»Ist hier, ist gekommen mit.« Anita nahm dem vor Vergnügen die weißen Zähne fletschenden Neger einen Käfig ab, in dem betrübt ein kleines Äffchen saß. »Jimmy«, sagte sie drollig vorstellend. »Es ist nicht gut, es ist krank von das Reise, es und das arme Miß.«

»Ein Affe – wirklich ein Affe?« Die Großmama traute ihren Augen nicht. »Rudi – – –!« Hilflos blickte sie auf den Großpapa. »Rudi – ein Neger und ein Affe in unserem stillen Häuschen«, sie schüttelte ihren Kopf und – lachte plötzlich hellauf. Die Komik behielt die Oberhand über alle ernsthaften Bedenken.

Dem Herrn Geheimrat kam die Sache weniger lustig vor. Er kratzte sich seinen schon etwas entlaubten Schädel.

»Das ist halt eine nette Bescherung!« brummte er vor sich hin. »Den Affen können wir hier gleich in Hamburg bei Hagenbeck im Tierpark abgeben. Aber was fangen wir halt mit dem Schwarzen an? Den können wir doch nimmer in den Zoologischen Garten setzen.«

Wieder mußte Frau Annemarie lachen. Ihr Mann machte auch ein gar zu betretenes Gesicht zu der unerwarteten Einquartierung. Anita stimmte in ihr Lachen höflich ein. Sie hatte nicht alles verstanden, was die Großeltern gesagt. Marietta wandte sich an die Großmama: »Mammi nicht wollte erlauben, daß Jimmy reist mit uns nach Europa. Sie hat gesagen, die Großeltern werden nicht sein erfreut mit es.«

»Sind wir auch ganz und gar nicht«, brummte der Geheimrat dazwischen.

»Aber weil Anita bat so sehr, es durfte fahren mit uns. Ich nicht liebe es, gar nicht. Und Miß Smith liebt Jimmy noch mehr wenig. Aber Anita liebt es sehr. Bitte, nicht fortgeben Jimmy, dann ist Nita traurig.« Die Liebe zu ihrer Zwillingsschwester ließ Marietta ihre Schüchternheit überwinden; ja, ließ sie sogar ein gutes Wort für den ihr immer noch unsympathischen Affen einlegen.

»Das wird sich alles finden. Nun mal erst das Gepäck. Ich werde das Gepäck besorgen.« Der Geheimrat hatte seine ruhige Besonnenheit wieder beisammen. »Annemarie, gehe mit den Mädeln zum Fährhaus 'nauf. Dorthin komme ich euch nach.«

» Go on«, sagte die Engländerin und setzte sich in Bewegung wie ein Automat, der aufgezogen.

»Wer geht mit mir?« fragte die Großmama, erwartend, daß die Enkelinnen den Arm in den ihrigen schieben würden, wie das die Berliner Enkel zu tun pflegten. Gab es dort doch jedesmal einen Wettkampf, wer die liebe Omama unterfassen durfte.

Aber die Schwestern, die gewöhnt waren, stets miteinander zu gehen, schritten bereits Arm in Arm vor ihr her. Marietta, die das Hafengewühl und das Fremde bedrückte, klammerte sich fest an die größere. Die schritt sicher und selbstbewußt dahin.

Nur ein kleines Kinderhändchen schob sich schüchtern in Frau Annemaries Rechte. Lottchen ging an ihrer Seite, das fremde Kind ließ sich von ihr führen. Die Miß schwankte, als ob sie Wein getrunken habe. Sie empfand noch immer das Schaukeln des Schiffes. Gutherzig griff Frau Annemarie nach ihrem Arm, sie zu stützen. Denn trotz aller Steilheit und Gradheit vermochte sie sich kaum aufrecht zu halten. Die Seekrankheit schien noch immer nicht überwunden. Grün und gelb sah sie aus. Homer folgte mit Jimmy.

So schritt Frau Annemarie zwischen Fremden den Weg vom Hafen zurück. Wie anders hatte sie sich den Weg vom Landungsplatz vorgestellt. Aber mit aller Kraft zwang sie die Bitterkeit, die in ihr aufsteigen wollte, hernieder. Sie mußte sich die Liebe und das Vertrauen der Kinder erst erringen. Sie durfte es nicht voraussetzen. Sie war ihnen ebenso fremd, ja noch viel fremder, als dies umgekehrt der Fall war.

»Wie gefallen dir die Großeltern, Jetta?« entspann sich zwischen den vorangehenden jungen Mädchen halblaut auf portugiesisch das Gespräch.

»Die Großmama ist reizend. So hübsch, so lieb und noch gar nicht alt. Findest du nicht, daß sie unserer Mammi ähnlich ist, Nita? Wenn sie lacht, klingt es so, als ob Mammi lacht.«

»Ich weiß nicht – unsere Mammi ist schöner, viel eleganter. Die Großmama trägt baumwollene Handschuhe, Jetta. Und der Großpapa hat ja einen Bart – in Amerika trägt kein Gentleman einen Bart. Und sein ›Annele‹ und ›Mariele‹ ist entsetzlich. Ich lasse mich nicht so nennen«, setzte sie energisch hinzu.

»Wir werden ihn bitten, uns bei unseren Namen zu rufen. Wie gefällt dir Europa, Anita?« Marietta war gewöhnt, bei allem erst die Meinung der Schwester einzuholen.

Die junge Brasilianerin sah sich in dem Hamburger Hafen um. Schiffe über Schiffe mit ragenden Masten; ganze Straßen bildeten sie auf dem Wasser. Große, braune Speicher mit riesigen Eisenkränen, die wie gewaltige Elefantenrüssel in die Tiefen der Schiffe tauchten und Tonnen und Kisten daraus emporzogen.

Anita schüttelte den Kopf. »Europa ist häßlich, sehr häßlich. Keine Palmen, keine Orangenbäume, keine Bananenbäume – gar nichts. Keine Blumen, keine Berge. Amerika ist viel mehr schön. Wir nicht werden bleiben lange in Europa.« Die junge Amerikanerin war bereits mit ihrem Urteil über Europa fertig.

Die hinter ihnen gehende Großmama legte den eifrig miteinander Schwatzenden die Hand auf die Schulter. »Mädelchen, tut mir den Gefallen und sprecht deutsch. Ihr seid doch hier in eurem deutschen Mutterlande. Und eure alte Großmama, die euch die ganzen Jahre über entbehren mußte, will doch nun endlich teil an euch haben.«

»Ich nicht spreche gut das deutsche Sprache. Ich nicht liebe es«, erklärte Anita unumwunden.

»Du magst die Sprache deiner Mutter nicht?« Wieder empfand Frau Annemarie ein ihr fremdes Kältegefühl. »Und du, Marietta? Liebst du unsere deutsche Sprache auch nicht?«

»Ich liebe sehr«, antwortete die andere zur großen Erleichterung der Großmama. Ihr zartes Gesicht errötete in Erinnerung an die soeben mit Anita geführte Unterhaltung.

»War eure Mutter nicht sehr traurig, daß sie nun wieder nicht heimfahren konnte nach Deutschland zu ihren Eltern?« forschte Frau Annemarie eifrig. »Wie geht es dem Vater? Heilt das Bein gut?«

»Bein ist gut, bonito« – beruhigte sie Anita. Während Marietta nachdenklich meinte: »Mammi war traurig, sehr traurig. Aber sie hat nicht gezeigen, daß Papi nicht wurde traurig auch. Sie läßt grüßen viele Male. Sie kommt nach Deutschland mit anderes Schiff.«

»Bald unsere Mammi kommt«, bekräftigte Anita.

»Bald – wirklich, bald?« Die Großmama rief es so laut, so glückselig, daß Miß Smith trotz ihres elenden Zustandes mißbilligend auf die ältere Dame blickte, die so wenig ladylike auf der Straße sprach.

»Ja, kommt bald, holt uns bald wieder nach Amerika«, berichtete Anita lebhaft.

Miß Smith hatte Ursache, noch viel mißbilligender auf Frau Geheimrat Hartenstein zu schauen. Denn diese lachte hell und ungeniert.

»So bald beabsichtigst du, Europa wieder den Rücken zu kehren, Anita? Ihr seid doch eben erst gekommen. Das ist ja sehr schmeichelhaft für uns.« Da war keine Spur von Gekränktsein in den Worten der Großmutter, nur liebenswürdiger Humor.

»Wir werden gehen bald wieder nach Amerika, sehr bald«, sagte Anita bestimmt.

»Mammi wird kommen in Herbst, holen uns«, erzählte auch Marietta.

»Aber ihr sollt doch mindestens ein Jahr in Deutschland bleiben und euch deutsche Sitten und deutsche Bildung zu eigen machen. Ihr sollt doch eine deutsche Schule besuchen«, wandte die Großmama erstaunt ein.

»Wir nicht brauchen deutsches Bilden, nicht deutscher Schule. Wir sind Amerikanerinnen!« sagte Anita mit dem ihr eigenen Zurückwerfen des schönen Kopfes. Stolz blitzte aus den jungen Augen.

»Ei, Anita, bist du wirklich noch so dumm, zu glauben, daß Amerikanerinnen nichts zu lernen brauchen?« sagte die Großmama mit leisem Spott. »Da habe ich bisher eine höhere Meinung von den Amerikanern gehabt. Ich kann mir nicht denken, daß dies mit den Wünschen eurer Eltern übereinstimmt. Hältst du es auch nicht für notwendig, hier in Deutschland zu lernen, Marietta?« wandte sich die Großmama an die zweite. Es war ja lächerlich, gleich in der ersten halben Stunde diese Fragen zu erörtern. Aber Frau Annemarie hatte sich doch noch einen Teil der Impulsivität ihrer Jugendzeit bewahrt. Was sie auf dem Herzen hatte, das mußte herunter. Klar wollte sie sehen, woran sie mit den Enkelinnen war.

»Marietta ist Amerikanerin auch«, rief da Anita, ehe diese sich noch geäußert hatte.

»Ei, braucht die Marietta einen Vormund, Kind? Sie wird mir selbst antworten. Sag', mein Mädel, bist du gern zu uns nach Deutschland gekommen?«

»Ja, sehr gern, ich nicht konnte erwarten«, antwortete Marietta, und ihre dunklen Augen leuchteten.

Frau Annemarie atmete unwillkürlich auf. Der Druck, der sie bei Anitas selbstbewußten Worten beschlichen hatte, wich wieder. Sie hatte es nie anders vorausgesetzt, als daß die Kinder ihres Kindes gern, mit freudigem Herzen, in das Heimatland ihrer Mutter, zu den fernen Großeltern kommen würden. Um so betroffener hatten sie Anitas Worte, in denen Überhebung, Selbstbewußtsein und Auflehnung gegen anderes, Fremdes lag, gemacht. Gleich in dieser ersten Stunde fühlte die kluge Frau, daß es nicht leicht sein würde, Einfluß auf das junge Mädchen zu gewinnen. Aber Marietta war gern zu ihnen gekommen. Die liebte die deutsche Heimat ihrer Mutter. Mit Marietta würde sie sich verstehen.

Man hatte im Fährhaus, dem hochgelegenen Gartenrestaurant, von dem man den Hafen mit seinem bunten Getriebe überblickte, Platz genommen. Dort erwarteten die Damen den Großpapa. Kühl und schattig war es hier, trotz der heißen Mittagstunde, unter maigrünen Bäumen. Homer hatte sich bescheiden mit Jimmy an einem Nebentisch niedergelassen. Frau Geheimrat Hartenstein winkte ihm mit der ihr eigenen Menschenfreundlichkeit. »Komm, mein Junge, für dich ist hier auch noch Platz. Warum sollst du denn da drüben allein sitzen?«

Zwar verstand der kleine Neger kein Wort deutsch. Aber auf den Wink der Dame sprang er auf und näherte sich diensteifrig dem Tisch. Fragend blickte er auf die jungen Mädchen, um Befehle entgegenzunehmen.

Anita war bei den Worten der Großmama das Blut zu Kopf gestiegen. Sie machte gegen Homer eine abwinkende Handbewegung. »Setze dich wieder drüben an den Tisch«, befahl sie in portugiesischer Sprache. Homer tat, wie ihm befohlen. Die Großmama aber fragte erstaunt: »Ja, Anita, was soll denn das heißen? Warum schickst du den Jungen wieder fort?«

»In Brasilien Herr und Diener nicht sitzen an ein Tisch«, gab Anita voll stolzer Überhebung zur Antwort. Zum erstenmal in ihrem Leben zwang Frau Annemarie die impulsive Antwort, die sich ihr auf die Lippen drängte, zurück. Sie durfte die Enkelin nicht zurechtweisen, sie nicht gleich kopfscheu machen. Sie mußte erst ihre Liebe gewinnen, um Einfluß auf sie zu bekommen. So sagte sie nur: »Du bist jetzt hier in Deutschland, Anita. Hier gelten so dummstolze Standesunterschiede bei vernünftigen Menschen ebensowenig wie drüben in Amerika. Dessen bin ich sicher.«

»Homer ist Neger«, kam Marietta ihrer Zwillingsschwester zu Hilfe.

»Homer ist Neger«, wiederholte auch Anita. »Und ich bin eine Tavares!«

»Dann bist du etwas Rechtes!« entfuhr es der Großmama. Nein, Frau Annemarie hatte es immer noch nicht gelernt, trotz der Silberfäden in ihrem Haar, ihre Empfindungen zurückzuhalten. »Ein Mensch bist du vor allem, gerade solch ein Mensch, wie Homer es ist. Ob die Hautfarbe weiß oder schwarz ist, dafür kann keiner. Aber ob das Herz weiß oder schwarz ist, darauf kommt es an.« Nun hatte sie doch, gegen ihren Willen, gleich in der ersten Stunde des Beisammenseins mit den Kindern geschulmeistert. Aber bleibe einer mal ruhig, wenn er so unüberlegtes, unreifes Zeug zu hören bekommt. »Habe ich nicht recht, Miß Smith?« wandte sie sich an die unbeteiligt dabeisitzende Governeß.

» O yes, indeed«, quetschte diese mühsam durch die Zähne, denn ihr war noch entsetzlich übel.

»Wie stellen sich denn eure Eltern nur zu solchen Anschauungen, Kinder? Ich kann mir kaum denken, daß eure Mutter damit einverstanden ist«, meinte die Großmama nachdenklich. Sie begriff ihre Ursel nicht, daß sie derartiges Unkraut so üppig in den Mädchenseelen hatte wuchern lassen.

»Mammi nicht kennt Unterschied bei Herr und Diener, bei Weiße und Neger«, gab Marietta ehrlich zu.

»Mammi nicht ist Amerikanerin.« Das hatte Anita auch drüben in Brasilien oft gesagt, wenn die Mutter der herrischen Art ihres Töchterchens, Untergebenen gegenüber, gesteuert hatte.

Frau Annemarie seufzte unhörbar. Hier gab es Arbeit, viel Arbeit. War sie nicht schon zu alt, um sich dieselbe noch zutrauen zu können? War sie dem noch gewachsen? Anita schien trotz ihrer Jugend ein selbständiger, in sich gefestigter Charakter. Aber mit Liebe, mit dem Verständnis, das Frau Annemarie einem jeden und ihren Enkelkindern ganz besonders entgegenbrachte, würde es schon gelingen. Dieses bildschöne Geschöpf da vor ihr war der Mühe wert.

Der Großvater blieb doch länger, als man geglaubt. Die Großmama bestellte für die Kinder Kuchen mit Schlagsahne, die Lottchens Entzücken hervorrief. Auch Homer bekam sein Teil. Anita, die gewöhnt war, überall, wohin sie bisher gekommen, durch ihre Schönheit, ihr lebhaftes, sprühendes Wesen und durch die gesellschaftliche Stellung ihrer Eltern für sich einzunehmen, fühlte sich durch die zurechtweisenden Worte der Großmama in ihrer Eitelkeit gekränkt. Sie war schlechter Laune. Nachdem sie ein Löffelchen von der Schlagsahne gekostet, zerbröckelte sie den Kuchen und fütterte Jimmy damit.

Der Großmama gab es einen Stich ins Herz. Man rechnete bei Geheimrats. Wenn die wirtschaftlich bösen Zeiten auch vorüber waren, Sparsamkeit war der älteren Generation in Fleisch und Blut übergegangen. Anitas Tun erschien Frau Annemarie eine Vergeudung, ganz abgesehen davon, daß Jimmy sich durchaus nicht ihrer Sympathie erfreute.

»Anita, den Kuchen habe ich für dich bringen lassen. Warum ißt du ihn nicht? Für den Affen ist er wirklich zu schade«, äußerte sie sich in ihrer geraden Weise.

»Oh, Jimmy liebt nur Gutes, sehr Gutes. Ich nicht will essen das Kuchen. In Sao Paulo Kuchen ist mehr gut«, antwortete Anita.

Nein, die Großmama wollte sich nicht ärgern. Sie wollte sich die Freude an den langersehnten Enkelinnen nicht verkürzen. Darum sagte sie freundlich zu Marietta: »Aber dir schmeckt es, mein Herzchen?«

Marietta bestätigte eifrig und blickte bittend auf die Zwillingsschwester. Sie war zartfühlend genug, um Anitas Verhalten als verletzend für die Großmama zu empfinden.

Anita war unberechenbar. Oft ließ sie sich durch Mariettas bittendes Auge beeinflussen. Öfters aber lehnte sie sich auch als überlegene dagegen auf. So auch heute. Sie empfand es selbst, daß sie sich der unbekannten Großmutter, für die ihre Mutter ihnen von klein auf Liebe und Verehrung ins Herz gepflanzt hatte, nicht von der vorteilhaftesten Seite zeigte. Und das verdroß sie. So beobachtete sie der Schwester bittende Beeinflussungen nicht. Wie eine große Dame winkte sie dem Kellner: »Ein Tasse Schokolade«, bestellte sie.

Miß Smith erschien, trotz ihres Jammerzustandes, das Verhalten ihres Zöglings doch etwas eigenmächtig. Sie wandte sich in englischer Sprache dagegen. Die Großmama aber sagte mit aller Bestimmtheit: »Anita, wenn du etwas wünschst, so wirst du es mir künftig sagen. Es ist bei uns nicht Sitte, daß ein so junges Ding wie du selbständig Bestellungen beim Kellner macht.«

»Ich bin Amerikanerin!« trumpfte Anita wieder auf. »Ich habe kalt – ich will trinken heiß.« Es war irgend etwas in dem Ton der Großmama, das Anita diese erklärenden Worte hinzufügen ließ.

»Kalt – bei dieser heißen Mittagssonne? Ja, an unser europäisches Klima werdet ihr Tropenblümchen euch erst gewöhnen müssen.« Die kluge Frau hielt es für ratsam, möglichst schnell über den unliebsamen Vorfall hinwegzugehen.

Aber als die Schokolade kam, mochte Anita sie nicht mehr trinken. Sie schob sie Homer hin, der sich erfreut darüber hermachte.

Frau Annemarie war selbst ein solch harmonischer Mensch, daß sie auch um sich möglichst alles in Harmonie liebte. Und nun sollte sie in ihr erstes Beisammensein mit den Enkelkindern fortwährend Disharmonien bringen? Aber wiederum, wenn sie nicht gleich Front machte gegen Anitas Verhalten, hatte sie ein für allemal verlorenes Spiel. Ehe sie noch mit ihren Überlegungen, mit dem Für und Wider im reinen war, hatte Anita sich erhoben. Sie wandte sich in portugiesischer Sprache an die Miß und an Marietta. Die Miß antwortete englisch, Marietta in ihrer Heimatssprache. Es gab eine aufgeregte Debatte.

Jetzt riß Frau Geheimrat Hartenstein aber doch die Geduld. Ein Lamm war sie noch immer nicht, trotz ihrer Jahre.

»Ich muß euch sehr bitten, Kinder, deutsch zu sprechen. Erstens erfordert es der Anstand, daß man nicht etwas sagt, was von einem der Gesellschaft nicht verstanden wird, und dann sind wir ja in Deutschland. Also was gibt's denn?«

»Anita ist kalt. Sie will fahren in Hotel, wenn es ist recht der lieben Großmama«, vermittelte Marietta schnell. Sie hatte wohl Furcht, daß die Schwester ihren Wunsch wieder allzu nachdrücklich kundgeben könnte.

»Wir müssen hier noch den Großpapa erwarten«, bedeutete ihnen die Großmama. »Er muß ja bald hier sein.«

»Wie heißt der Hotel, wir wohnen? Miß Smith, Marietta, ich werden nehmen Auto und fahren zu es.« Anita erhob sich. Lottchen, Homer und Jimmy schien sie zur Gesellschaft der Großmama zurücklassen zu wollen.

»Nein, mein Kind, wir erwarten den Großpapa hier gemeinsam.« Seitdem ihre eigenen Kinder ihrer Erziehung entwachsen waren, hatte die Großmama nicht soviel Energie aufwenden müssen. Ursel war ja auch schwer zu erziehen gewesen. Auch sie hatte ihr Köpfchen für sich gehabt. Das schien sich bei ihrer Tochter noch in verstärktem Maße vererbt zu haben. Amerika, das Land der Freiheit und Selbständigkeit, hatte diese Veranlagung noch stärker entwickelt. Das war der Großmama durchaus klar. Damit aber auch die große Verantwortung, die sie übernahm.

Marietta hatte Anita einige leise Worte zugeflüstert. Die Großmama konnte nur das Wort »Mammi« daraus verstehen. Aber sie mußte wohl den Nagel auf den Kopf getroffen haben. Ja, die Mammi drüben in Sao Paulo würde sicher nicht mit ihrem Verhalten der Großmutter gegenüber einverstanden sein. Das sah Anita ein.

»Da kommt Großpapa!« Sie begrüßte das Auftauchen des alten Herrn auf dem zum Fährhaus hinaufführenden Wege erfreut mit einer gewissen Erleichterung. Rasch eilte sie ihm entgegen. Arm in Arm traten Großvater und Enkelin an den Tisch.

»Bist jetzt abgesetzt, Weible«, rief der Geheimrat in bester Stimmung. »Hab' mir halt eine jüngere angeschafft. Aber Gerümpel habt's mitgeschleppt, Kinderle. Himmelangst wird mir, wenn ich an all die Koffer und Kisten denke. Dafür muß ich mir noch extra ein Haus bauen lassen. Unser kleines Häusle reicht nimmer aus.«

Die beiden jungen Mädchen lachten zu den lustigen Worten des Großvaters. Es klang hell und melodisch wie Vogelgezwitscher.

Der Geheimrat nickte seiner Frau liebevoll zu. »Das laß ich mir gefallen, hier oben in der Maiensonne in so herziger Gesellschaft zu schlemmen. So hast dir's doch nicht vorgestellt, gelt, Fraule?«

Nein, Frau Annemarie bestätigte es lächelnd. Allerdings ließ sie ihren Mann im unklaren darüber, inwiefern sie es sich anders vorgestellt hatte. Der Geheimrat zahlte, zog Lottchen an den blonden Rattenschwänzchen, fuhr Homer väterlich über den schwarzen Wollkopf, ja sogar Jimmy mußte mittels einer Banane, die der alte Herr aus seiner Tasche zog, an seiner freudigen Stimmung teilhaben. Dann griff er wieder nach Anitas Arm. Die hatte es ihm nun mal mit ihrer Schönheit und ihrem Lachen angetan.

»Komm, Annele, wir zweibeid gehen halt miteinander.« Anita fühlte als schlaue Evastochter, daß sie bei dem Großvater einen Stein im Brett habe. Dies gab ihr die gute Laune zurück. Sie war gewöhnt zu gefallen. Keiner sollte sich davon ausschließen.

Jetzt war es Marietta, die ihren Arm, wenn auch noch schüchtern, in den der Großmama schob.

»Erlaubt liebe Großmama?« fragte sie dabei mit liebem Lächeln in den Augen. Dieses Lächeln, das kannte die Großmama. Wenn die Augen auch tiefschwarz waren und nicht strahlendblau wie bei Ursel, das war das langentbehrte Lächeln ihres Kindes.

»Komm, mein Liebling, wir gehören zusammen.«

So schritten die beiden Alternden Arm in Arm mit blühender Jugend in den blauen Frühlingstag hinein.


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