Else Ury
Wir Mädels aus Nord und Süd
Else Ury

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Marga la Tedesca

Hoch oben in den Vorbergen der Apenninen, die auf Florenz hinabschauen, steht ein altes Säulenhaus. Zwei Riesenzypressen sind seine Wächter. Es ist ein altitalienisches Landhaus aus dem fünfzehnten Jahrhundert, da die vornehmen Florentiner ihre Sommersitze droben in den Bergen bezogen, wenn es in der Stadt drunten gar zu heiß wurde. Ein flaches Dach hat das weiße Haus, wie fast alle Häuser in Italien, und schön gequaderten Marmorfußboden. Von der großen offenen Halle, die zu den blumenüberwucherten Gartenterrassen hinabführt, hat man einen herrlichen Blick auf die vom Arno durchflossene Stadt mit ihren Domkuppeln und Glockentürmen. Der Fremde, der Florenz auf kurze Zeit besucht, verirrt sich kaum in diese abseitsgelegene Bergwildnis. Und doch ziehen Reisende hinauf zur Villa AngeloSprich: Andschelo.. Maulesel befördern ihr Gepäck in kleinen zweirädrigen Karren. Denn für Wagen und Pferd sind die Wege zu steinig und schlecht. Deutsche Künstler und Künstlerinnen, Maler und Bildhauer, Kunstgeschichtsstudierende halten mit Vorliebe in dieses Bergidyll ihren Einzug. Eine deutsche Kolonie hat sich da oben in der toskanischen Bergwildnis angesiedelt. Reges Geistesleben herrscht in Villa Angelo. Jedes der unzähligen schwarzhaarigen und dunkeläugigen Kinder, welche die Berghänge mit ihren armseligen Hütten bevölkern, kennt die Besitzerin. Alle lieben und verehren Marga la Tedesca. Aber das ist nicht immer so gewesen.

Über zwanzig Jahre ist es her, etwa fünf bis sechs Jahre vor dem Weltkrieg, da kam die junge Berlinerin Margarete Engel nach Florenz. Für einige Monate sollte sie dort bleiben. Sie hatte schweres Leid in Deutschland durchlitten. Eine tückische Epidemie hatte ihre Eltern und Geschwister in wenigen Wochen dahingerafft. Nun hatten Arzt und Vormund sie nach der Sonnenstadt Florenz geschickt, um hier körperlich und seelisch zu gesunden. Kunstgeschichte wollte sie studieren an der Quelle der italienischen Renaissance. Als Alleinerbin eines kleinen Vermögens war sie trotz ihrer Jugend unabhängig. In einer am Arno gelegenen italienischen Familienpension fand sie Aufnahme. Aber da sie die italienische Sprache nur unvollkommen verstand und noch unvollkommener sprach, fühlte sie sich trotz des freundlichen Entgegenkommens ihrer Wirtsleute vereinsamt. Um so mehr war sie bald in den Uffizien und in der Galleria Pitti, den berühmten Gemäldegalerien, zu Hause.

Vor Raffaels frommen Madonnenbildern löste sich ihr starrer Schmerz. Ruhe und Gottergebenheit zogen in ihr Herz. Die anmutigen Frühlingsgestalten Botticellis gaben ihr neuen Lebensmut; ihre durch das Leid niedergehaltene Jugendfreude erwachte wieder. Ihre Energie und ihr Wille zur Arbeit wurden durch den größten Künstler Italiens ausgelöst, durch Michelangelo. Angelo, das hieß auf deutsch Engel; sie trug den gleichen Namen – sie mußte sich des Namens würdig zeigen.

Der deutsche Kunstgeschichtsprofessor, der Führungen für deutsche Studierende in den Galerien veranstaltete und bei dem sie Kolleg hörte, erstaunte immer wieder aufs neue über das lebhafte Interesse, über die Begeisterungs- und Aufnahmefähigkeit seiner jüngsten Hörerin. Sie konnte nicht viel über achtzehn Jahre sein. In den schwarzen Trauerkleidern wirkte ihr schmales Gesicht noch zarter und jünger. Mit dem hellbraunen gescheitelten Haar und dem Schmerzenszug um den Mund sah sie selbst wie eine kleine Madonna aus. »Mater dolorosa – Schmerzenmutter« nannte sie Professor König, wenn er seiner Frau daheim von seinen Studenten erzählte.

»Fordere die Kleine doch auf, uns bald einmal zu besuchen. Das arme Kind ist sicherlich verwaist und fühlt sich im fremden Lande vereinsamt. Es ist unsere Pflicht, die kleine Landsmännin in unser Haus zu ziehen«, sagte die menschenfreundliche Frau.

Das Haus, das Professor König bewohnte, lag mitten in Weingärten und Olivenwäldern am Berghang der Apenninen hoch über Florenz. Bis zum Fuß der Berge konnte man die Straßenbahn benutzen. Dann hieß es auf Schusters Rappen den steinigen Weg emporklimmen.

An einem Frühlingstag war es, als Marga – so hatten einst die Eltern und Geschwister ihren Namen abgekürzt – zum erstenmal diesen mühseligen Weg emporstieg. Ein Ölberg, dachte sie, rings auf die silbergrauen Olivenbäume, die sich längs des Weges hinzogen, blickend – ein wahrer Kalvarienberg. Sie ahnte damals noch nicht, daß es mal für sie selbst ein Kalvarienberg mit Leidensstationen werden sollte.

Schmutzige, verfallene Hütten lagen, von leuchtenden Frühlingsblumen überwuchert, am Wege verstreut. Schmutzige, verwahrloste Kinder sielten sich in der warmen Sonne und schauten mit brennend schwarzen Augen der jungen Fremden entgegen. Marga nickte ihnen freundlich zu. Da streckten sie die braunen Händchen aus, hielten die Vorübergehende dreist am Kleide fest und bettelten: »Un so' – un so' – prego – prego – eine Soldo (kleine italienische Geldmünze) – bitte, bitte!« Vergeblich versuchte das junge Mädchen sich von den schmutzigen Kinderhändchen zu befreien. Erst als sie ihr Täschchen öffnete und einige Täfelchen Schokolade zu verteilen begann, ließ man sie los. Aber die zudringliche kleine Gesellschaft gab ihr getreulich das Geleit den Berg hinauf bis zu der von Granatblüten umbuschten Gittertür der Königschen Villa. Un so' – un so'«, klang es noch hinter Marga her, als sie schon unter blühenden Apfelsinen- und Zitronenbäumen dem Hause zuschritt. Das war Margas erste Bekanntschaft mit den wilden Bambini, den Kindern der Berge.

»Sie hätten der frechen Bande lieber einen Klaps geben sollen anstatt Schokolade, Fräulein Engel, dann wären Sie sie eher losgeworden«, lachte Frau Professor König, als sie die von ihrer Verfolgung noch ganz erhitzte Marga mütterlich in einen Liegestuhl im Schatten einer Edelkastanie drückte und sie mit kühler Limonade labte. »Im Guten kommt man mit der kleinen Gesellschaft hier nicht aus. Je mehr man ihnen gibt, um so mehr wollen sie haben. Und die Eltern machen es leider nicht anders. Die italienischen Landleute bleiben ja ihr Lebtag Kinder. Mit Güte erreicht man nichts bei ihnen, nur mit Strenge und Autorität.«

Wie oft mußte Margot später an diese Worte, die Frau Professor König bald nach dem Willkomm zu ihr gesprochen, zurückdenken.

In dem Hause ihres Lehrers fand die Waise eine zweite Heimat. Sie gewann bald die Sympathien der deutschen Professorenfamilie. Die Kinder, zwei Blondköpfe, hingen mit großer Liebe an Tante Marga. Wenn sie sich mit den Kleinen zwischen Taxus- und Lorbeerhecken jagte, dann fiel alles Schwere von Marga ab, dann wurde sie selbst wieder zu einem fröhlichen jungen Menschenkinde. Als der Sommer in Florenz seinen Einzug hielt und die Sonne drunten in den Straßen der Stadt glühend und lähmend lag, machte Frau Professor König ihrer jungen Freundin eines Tages den Vorschlag, ihre Wohnung drunten am Arno aufzugeben und zu ihnen in die Berge überzusiedeln. Das Fremdenzimmer stehe leer, und sie könne der ganzen Familie König keine größere Freude bereiten, als wenn sie so lange wie möglich von dem Zimmer Gebrauch mache.

Margas berechtigte Einwände, daß sie doch unmöglich auf längere Zeit die gebotene Gastfreundschaft annehmen dürfe, wies Frau König lachend zurück. Marga befände sich in einem Irrtum, wenn sie annehme, daß sie umsonst bei ihnen wohnen solle. »Wir verlangen ja keine Barbezahlung, Marga; aber Sie sollen sich Ihren Unterhalt hier oben verdienen. Wie wär's, wenn Sie unsere beiden Krabben unter Ihre Aufsicht nähmen, wenn mein Mann in die Ferien geht. Wir möchten nach Rapallo ans Ligurische Meer. Mit den Kindern wird es zu kostspielig, und mein Mann hat mit den kleinen Quälgeistern auch nicht die richtige Erholung.«

Da willigte Marga freudig ein. Was wurde das für ein herrlicher Sommer dort oben in den Apenninen! Das war ein Duft von Blüten, ein Reifen von Früchten in einer Üppigkeit, wie die junge Deutsche es nie zuvor geschaut. Die Kinder waren lieb und machten ihr keine Schwierigkeit. Mit ihnen lernte Marga spielend Italienisch, da die Kinder durch die italienischen Dienstboten die fremde Sprache früher als ihre Muttersprache gesprochen hatten. Am liebsten machten die drei ihren täglichen Spaziergang bis zu einem etwa hundertfünfzig Meter höher gelegenen weißen Säulenhause. Zwei hohe Zypressen hielten davor Wacht, eine einsame Katze sonnte sich auf dem schwarzweiß gequaderten Marmorfußboden der großen, nach dem Garten offenen Halle. Goldgrüne Eidechsen spielten zwischen dem Gestein, huschten wie verzauberte Märchentiere unter wildwuchernden Blumen hin und her. Sonst war das Haus unbewohnt. Kein Zaun schloß es von der Außenwelt ab. Still und wie ausgestorben schaute es von seiner Höhe auf die im Tal lebensvoll pulsierende Stadt Florenz hinab. Dort war der Lieblingsplatz von Marga und den Kindern. Täglich gewann sie das verlassene Fleckchen Erde lieber.

Auch nach ihrer Rückkehr wollten Professor Königs nichts davon hören, daß Marga sich wieder eine Pension drunten in der Stadt, wie sie es beabsichtigte, suchte.

»Sie gehören zu uns, Marga«, sagte Frau Professor König, »wir Deutschen müssen im fremden Lande zusammenhalten und uns gegenseitig die Heimat ersetzen.« So blieb Marga und fühlte sich in dem lieben Kreise restlos glücklich. Sie blühte auf wie die Blumen in der warmen Sonne Italiens.

Als die Zitronen und Apfelsinen golden im dunklen Laube glänzten, kam ein Brief aus Deutschland. Von Margas Vormund war er. Er schrieb, er freue sich, daß sie sich so gut in Italien erholt habe. Aber nun sei sie ja über ein halbes Jahr fort und würde wohl selbst Sehnsucht nach der Heimat haben. Ein Berliner Mädchenpensionat sei ihm empfohlen worden, das sie gern aufnähme, wenn sie dafür den Kunstgeschichtsunterricht erteilen würde. Er hoffe, daß sie ihre Zeit in Florenz gut angewendet und Fortschritte in ihren Studien gemacht habe. Im übrigen bliebe ihr in dem Pensionat noch genügend Zeit, um sich auf die Oberlehrerprüfung vorzubereiten, wozu er ihr dringend rate.

Das war ein Blitz aus heiterem Himmel. An die Heimkehr hatte Marga überhaupt nicht mehr gedacht. Was erwartete sie denn auch in der deutschen Heimat? Die Gräber ihrer Lieben und einige ältliche entfernte Verwandte, mit denen sie kein inneres Band verknüpfte. Dem Kreise der Schulfreundinnen war sie entwachsen. Hin und wieder war in der ersten Zeit ein Briefchen von der einen oder der andern eingetroffen, dessen Inhalt Marga so fremd anmutete, als käme er von einem andern Gestirn. Sie fühlte, daß sie sich nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich von ihren Schulfreundinnen entfernt hatte.

»Was ist geschehen, Kind?« fragte Frau Professor König erschreckt, als sie Marga mit verstörtem Gesicht am Frühstückstisch erscheinen sah. »Hast du schlechte Nachrichten aus der Heimat?« Sie hatten einander das freundschaftliche »Du« gegeben.

»Heimat?« Marga zuckte die Achseln. »Seit ich diesen Brief aus Berlin erhalten habe, ist es mir klargeworden, daß ich keine Heimat mehr dort habe. Ich soll nach Deutschland zurück.«

»Die deutsche Heimat hält uns mit tausend Fäden fest, Marga, wenn man auch denkt, man habe im fremden Lande Wurzel geschlagen«, sagte Frau Professor König sinnend.

»Du hast noch deine Eltern in Deutschland; wo man sein Vaterhaus hat, ist man daheim. Aber mein Zuhause ist nur bei euch«, erwiderte Marga mit zuckenden Lippen.

»Vielleicht können wir deinen Vormund bestimmen, dich uns noch eine Weile zu lassen«, tröstete Frau Professor König, nachdem sie den Brief gelesen.

Der Professor schrieb selbst an Margas Vormund und stellte ihm vor, daß seine Schülerin auf dem besten Wege sei, ihren Kunstgeschichtsdoktor zu machen und daß es schade wäre, sie aus ihren Studien herauszureißen. Ganz abgesehen davon, daß sie seiner Familie liebgeworden und ihnen allen fehlen würde. Wie vorauszusehen, war der Vormund froh, sein Mündel so gut untergebracht zu wissen. Er willigte in eine Verlängerung der italienischen Studienzeit ein.

Ein Jahr verging und noch ein halbes. Die kunstgeschichtliche Vorprüfung hatte Marga bereits bestanden. Jetzt arbeitete sie an ihrer Doktorarbeit.

Da erhielt Professor König eines Tages eine Aufforderung von der Vatikansammlung in Rom. Er sollte auf ein bis zwei Jahre dort eine Arbeit übernehmen. Natürlich begleitete ihn seine Familie. Und Marga? Nun, die würde sich ihnen anschließen.

Aber Marga erschien das nicht so selbstverständlich. Es war lieb und freundschaftlich von Königs, daß sie sie aufforderten, mit ihnen zu kommen, doch die Freunde mußten sich selbst erst in Rom einleben. Marga fürchtete, daß sie ihnen dort vielleicht eine Last bedeuten könnte. Auch war sie mitten in ihrer Doktorarbeit, die in Florenz wurzelte. Nein, sie mußte sich von den Freunden trennen. Vielleicht war es auch ganz gut für sie, auf eigenen Füßen stehen zu lernen. Doch wohin mit ihr? Wieder in eine der italienischen Fremdenpensionen? Dort unten in Florenz würde sie sich nicht mehr wohlfühlen. Sie war jedesmal glücklich, wenn sie der heißen Stadt entronnen, wenn sie den steinigen Pfad zu ihrem »Ölberg« wieder emporstieg.

Die Königsche Villa wurde während der Abwesenheit ihrer Besitzer an Fremde vermietet. Dort war ihres Bleibens nicht länger. Nach Deutschland zurückkehren? Jetzt, wo sie in einem halben Jahr ihre Doktorarbeit vollendet haben würde? Ausgeschlossen. Nachdenklich saß Marga auf ihrem Lieblingsplatz, der blumenumrankten Steinmauer des verlassenen Säulenhauses und kam sich ebenso verlassen vor wie das alte Haus.

Da durchzuckte sie ein Gedanke. Vielleicht konnte sie sich hier an ihrem Lieblingsfleckchen ein Zimmer herrichten? Irgend jemandem mußte das Haus doch gehören. Vielleicht war es möglich, dem unsichtbaren Besitzer ein Zimmer abzumieten.

Die Freunde wollten nichts von Margas abenteuerlichem Plan, allein in der verlassenen Villa zu hausen, wissen. Aber Marga ließ nicht locker. Sie war zäh, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte. Ein italienischer Bildhauer, Professor Lucchesi, der eine Nachbarvilla eine Viertelstunde entfernt bewohnte, wußte Rat.

»Das Haus gehört einem Signore in Mailand, es ist durch Erbschaft an ihn gefallen. Für billiges Geld verkauft er Ihnen sicherlich das ganze Haus, Signorina; der ist froh, wenn sich für die alte Baracke ein Käufer findet.«

Jetzt erschrak Marga doch. Hausbesitzerin sollte sie werden, hier oben in den Apenninen? Dann gab es kein Zurück mehr nach Deutschland. Aber Königs besaßen doch auch hier ihre Villa, sie würden aus Rom wiederkommen und – da hatte Marga auch bereits den Bildhauer gebeten, die Angelegenheit für sie in die Hand zu nehmen. Die Antwort kam prompt. Das Haus mit dem dazugehörigen Land war für eine geringe Summe zu haben. Trotz des Abratens der Freunde, trotzdem der Vormund seine Einwilligung durchaus nicht dazu geben wollte, bestand Marga auf ihrem Vorhaben. In wenigen Monaten war sie mündig und konnte mit ihrem elterlichen Erbteil machen was sie wollte. Die Besitzung sollte nur die Hälfte desselben kosten; sicherlich war sie mehr wert.

So wurde Marga Besitzerin des altitalienischen Hauses droben in den Apenninen. »Villa Angelo« nannte sie das Haus, nach ihrem Vatersnamen. Frau Professor König sorgte dafür, daß Marga wenigstens ihren lahmen Gärtner Francesco und seine Frau Julia, langjährig erprobte Leute, als Schutz in das einsame Haus nahm. Die Trennung von der unternehmungslustigen jungen Freundin kam Königs recht hart an. Sie ahnten, daß Marga den Schwierigkeiten der Bewirtschaftung der eigenen Scholle nicht gewachsen sein würde.

Vorläufig war alles eitel Sonnenschein für die junge Grundbesitzerin. Sie ließ sich ihre auf dem Speicher stehenden elterlichen Möbel aus Berlin kommen und ging mit Eifer an die Inneneinrichtung der Villa. Merkwürdig genug nahmen sich die deutschen Möbel, zum Teil noch aus Großvaters Zeit stammend, in dem altitalienischen Landhaus aus.

Julia übernahm Haus und Küche, Francesco den Garten. Marga konnte nach wie vor ihren Studien nachgehen. Ja, wenn zur Villa Angelo nicht auch noch Land gehört hätte! Ackerland, Weinberge, Olivenhaine. Der frühere Besitzer mußte wohl das Geld notwendig gebraucht haben, sonst hätte er das Anwesen nicht für einen so billigen Preis verschleudert. Der jungen Marga aber legte sich die Last ihres Besitzes schwer auf die Brust, als sie zum erstenmal seine ganze Ausdehnung gewahr wurde. Würde sie, die keine Ahnung von der Landwirtschaft hatte, das alles in Ordnung halten können?

Francesco war Retter in der Not. Er war nicht nur Gärtner, er wurde jetzt auch landwirtschaftlicher Inspektor. Vor allem aber war er ein Kind des Landes und wußte Bescheid mit dem Boden und mit den Bewohnern desselben.

»Die Weinberge müssen umgegraben werden, damit sie wieder tragen, Signorina«, erklärte er seiner jungen Herrin.

»Schön, Francesco, dann werden wir sie umgraben.« Marga war einverstanden. Sie schien nicht übel Lust zu haben, selbst den Spaten in die Hand zu nehmen.

»Schwere Arbeit, Signorina, das ist nichts für zarte Hände. Dazu gehören Männerfäuste. Ich werde Bauern anwerben.«

Bald trat ein Trupp dunkelhäutiger Gesellen, die in der Gegend ihre Hütten hatten, zur Landarbeit in Villa Angelo an. Der italienische Arbeiter ist fleißig, wenn er unter Aufsicht steht. Aber bleibt er sich selbst überlassen, wird er träge. Francesco konnte mit seinem lahmen Bein nicht an allen Orten zugleich sein. Auch das Haus verlangte Ausbesserungen. Dort hielten Handwerker ihren Einzug. So kam es, daß die unbeaufsichtigten Landleute die Arbeit liegen ließen und faul in der Sonne herumlungerten. Bei einem Spaziergang durch die Weinberge fand Marga die Nichtstuer, anstatt den Boden umzugraben, gemütlich ihr Schläfchen machen.

All ihren Mut nahm sie zusammen und stellte die Männer zur Rede. Die brummten irgend etwas von Siesta, Mittagspause, trotzdem es bereits Nachmittag war. Widerwillig griffen sie zum Spaten. Als Marga weitergegangen war, machten sie ihre Glossen über ihre junge Herrin, die nichts von der Arbeit verstand und nicht einmal richtig Italienisch sprach.

Die Hausausbesserungen und Neuanschaffungen hatten ein ziemliches Loch in Margas Säckel gerissen. Sie klagte Professor Lucchesi, in dessen Familie sie jetzt in Abwesenheit von Königs häufiger Gast war, daß sie, wenn das Haus weiter so viel verschlinge, wohl bald mit ihrem Erbteil fertig sein würde.

»Aber Signorina Marga, Sie haben ja Gold in Ihrem Boden. Sie müssen die Schätze heben«, rief der Italiener lebhaft.

»Gold?« Marga sah nichts weniger als schlau drein.

»Nun ja, die Olivenhaine liefern mehr Öl, als Sie verbrauchen können. Auf den Weinbergen wächst ein edler Tropfen. Die Felder müssen mit Mais bestellt, und die Erträgnisse unten in FirenzeSo nennt der Italiener Florenz. verkauft werden.«

»Himmlischer Vater – ich kann mich doch nicht in Florenz auf den Markt hinstellen und meine Erzeugnisse feilbieten«, lachte Marga.

»Das wäre allerdings für eine Signorina, die bald Doktor der Kunstgeschichte ist, nicht ganz geeignet«, stimmte Signora Lucchesi in das Lachen ihres Besuchs ein.

»Es ist mein Ernst«, meinte ihr Mann. »Wir bewirtschaften unser Land doch ebenfalls, trotzdem ich für gewöhnlich auch den Meißel anstatt des Spatens schwinge. Sie müssen genügend Leute einstellen und Francesco als Aufseher nach dem Rechten sehen lassen. Vor Ihnen – pardone, Signorina – werden unsere toskanischen Bauern kaum Respekt haben.«

Marga nickte errötend. O ja, das hatte sie schon erfahren. Der Professor fuhr fort: »In den beiden ersten Jahren werden Sie vielleicht noch von Ihrem Vermögen zusetzen müssen, Signorina Marga. Aber schon im dritten Jahre wird der Boden Geld und Mühe lohnen, überlegen Sie sich's.«

Das tat Marga gründlich, als sie unter Pinien zur Villa Angelo zurückwanderte. Sie ging langsam, den Kopf gesenkt, Schritt für Schritt, als ob sie eine schwere Last trüge. Die ruhte auch unsichtbar auf ihren jungen Schultern. O Gott, noch mehr sollte sie sich aufladen, eine noch größere Verantwortung tragen? Wenn sie das vorher gewußt hätte, vielleicht hätte sie auf die Freunde und auf den Vormund gehört und die Besitzung nicht erworben. Tat es ihr etwa leid? Marga blieb zwischen den beiden hohen Zypressen, welche ihr Anwesen nach der einen Seite hin begrenzten, stehen. Von hier aus konnte sie ihr weißes Säulenhaus sehen. Nein, nein, sie würde noch einmal so handeln, wenn sie vor dieselbe Frage gestellt wäre. Sie liebte dieses Fleckchen Erde, das ganze schöne Italien und – – – »Marga la Tedesca – Marga la Tedesca!« jubelnd klang es plötzlich hinter und neben ihr. Ehe sie sich's versah, war sie von einem Schwarm brauner Barfüßchen umgeben, die sich an ihren Hals, an ihre Arme hängten, ihre Hüften umfingen und sie vor lauter Liebe beinahe auseinanderrissen. »Marga la Tedesca – chocolata – prego – prego! – Schokolade, bitte, bitte.« Die kleinen Schwarzaugen bettelten mit den kirschroten Mäulchen um die Wette.

»Ich habe keine Schokolade, Kinder, aber ich werde euch ein Märchen erzählen«, versuchte sich die Überfallene von der kleinen Gesellschaft loszukaufen.

»Ein Märchen erzählen – raccontare una fiaba!« Im Augenblick ließen die kleinen Belagerer von der jungen Signorina ab und hockten sich zwischen Narzissen und Veilchen ins Wiesengras um sie herum. Da saß nun Marga la Tedesca unter ihrer hohen Zypresse und erzählte den italienischen Bauernkindern das deutsche Märchen vom Rotkäppchen und dem cattivo lupo – dem bösen Wolf. Wenn Margas Italienisch auch manchmal etwas fehlerhaft war, die brennendschwarzen Kinderaugen hingen begeistert an ihren Lippen. Die Kinder lachten die junge Deutsche nicht aus, wie ihre Väter es getan hatten, die Bambini liebten Marga la Tedesca.

Francesco war Feuer und Flamme für den Vorschlag des Professors Lucchesi, Öl und Wein in größerem Maßstabe zum Verkauf zu gewinnen. Mit der kindlichen Begeisterungsfähigkeit des Italieners stürzte er sich sofort in das neue Unternehmen, besonders da ihm die Signorina einen Anteil an dem Gewinn versprach.

An dem Tage, da Marga in Bologna ihre Doktorprüfung ablegte, hielt in Villa Angelo eine schwarzweiße Kuh ihren Einzug. Sie sollte die Ölmühle, die man, wenn auch verwahrlost, vorgefunden hatte, ziehen. Rosita nannten Julia und Francesco die neue Bewohnerin der Villa. Auch ein Maulesel, Pietro genannt, nebst zweirädrigem hohen Karren, wie dortzulande üblich, wurde erstanden, um Lebensmittel nach der Stadt hinauf- und hinabzubringen. Vorläufig war noch mehr hinauf- als hinabzubefördern, denn so schnell trug der lange Zeit brachgelegene Boden nicht. Rosita und Pietro, die braven Vierfüßler, halfen das Land umpflügen. Aber manchmal war Pietro ebenso eigensinnig und hartnäckig wie die Bauern, die ihn einspannten. Da gab es noch so manchen Tanz. Denn Francesco wollten die Arbeiter nicht als ihren Vorgesetzten anerkennen. Der war ja ein Angestellter der Signorina wie sie selbst. Es half nichts, Marga mußte umlernen und sich mit der Landwirtschaft vertraut machen. Statt die Künstler der Renaissance studierte das Fräulein Doktor jetzt dicke Bücher über Weinbau, Ölgewinnung und Maisanpflanzungen. Professor Lucchesi gab ihr manchen praktischen Rat, wenn die Theorie nicht ausreichen wollte. Als die Bauern sahen, daß die Signorina ihre Arbeit zu beurteilen verstand, daß sie allenthalben unvorhergesehen auftauchte und nach dem Rechten sah, gaben sie klein bei und taten ihre Pflicht. Nur einer von ihnen, Michele (Mikéle), als Raufbold bekannt, blieb aufrührerisch und versuchte auch die Kameraden zur Auflehnung zu beeinflussen. Es paßte ihm nicht, sich von einem »Weiberrock« befehlen zu lassen.

Die Zeit verging. Zweimal hatten die Weinberge schon getragen. Der graue Pietro zog geduldig den zweirädrigen Karren mit dem selbst gekelterten Wein in Riesenflaschen, »Fiaschi« genannt, nach Florenz hinunter. Dort wurde er an die Händler abgeliefert. Unermüdlich trabte Rosita, die Kuh, in der Ölmühle herum, das Öl aus den kleinen schwarzen Früchten zu gewinnen. Als Marga Professor Lucchesi und seine Gattin zur ersten, selbst produzierten Polenta, einem Maiskuchen in Öl gebacken, und feurigem Wein von eigenem Gewächs in ihrer offenen Gartenhalle einladen konnte, war sie stolzer als nach Erlangung der Doktorwürde. Es ging vorwärts. Jetzt glaubte sie selbst, daß das Schlimmste hinter ihr läge. Zwei neue Kühe sollten angeschafft werden, denn die schwarzweiße Rosita allein konnte es nicht mehr leisten. Es war auch hohe Zeit, daß sich die Kasse wieder füllte. Die beiden ersten Jahre hatten Margas Vermögen bis auf einen kleinen Rest aufgezehrt. Aber nun konnte sie an ihre immer noch in Rom weilenden Freunde, denen sie brieflich all ihre Mühe und Plage, ihre Zweifel und ihre Hoffnungen gebeichtet hatte, berichten, daß jetzt bessere Zeiten für Villa Angelo kämen, daß der Boden, mit dem sie sich täglich mehr verwachsen fühlte, die Arbeit lohne. Auch das Verhältnis zu den Bauern hatte sich gebessert, seitdem Michele aus einem Widersacher zu einem getreuen Anhänger der Signorina geworden war. Eins seiner Kinder war erkrankt und rief im Fieber unaufhörlich nach Marga la Tedesca. Da das Kind keine Ruhe gab und nicht zu beschwichtigen war, machte sich der Vater mitten in der Nacht auf zur Villa Angelo. »Die Signorina muß kommen – das Kind stirbt uns sonst«, rief er dem öffnenden Francesco zu.

»Was fällt dir ein, Michele, mitten in der Nacht – –« empörte sich der Diener.

Aber da stand die Signorina schon hinter Francesco. »Ich komme mit Euch, wartet.« Und dann war sie mit ihrem ehemaligen Feinde in die Nacht hinausgegangen, während der treue Francesco ihnen heimlich folgte, falls seine Herrin einen Schutz brauchte. Margas Gegenwart hatte wie ein Wunder auf das fiebernde Kind gewirkt. Es wurde ruhiger und fiel in Genesungsschlaf. Die abergläubischen italienischen Bauern glaubten daher, daß eine Wunderkraft von der Signorina ausginge. Sie verehrten jetzt Marga la Tedesca wie eine Heilige.

Wenn Marga an der rosenumbuschten Gartenrampe stand und ihr jetzt fruchtbares Land überschaute, fühlte sie sich befriedigt und glücklich. Sie ahnte in ihrem weltabgeschiedenen Idyll nicht, daß draußen der Kriegsgott seine verheerende Fackel in ganz Europa zu entzünden begann.

Krieg – bis in die Bergeinsamkeit der Apenninen schrillte das furchtbare Wort. Krieg – in der deutschen Heimat – allenthalben – auch Italien, Margas zweite Heimat, ging plötzlich ins Lager der Feinde über.

Marga war wie vor den Kopf geschlagen. Sie konnte es nicht fassen, daß die Nation, die sie seit Jahren liebte, ihr als Deutsche jetzt feindlich gesinnt sein sollte.

Professor Lucchesi mußte als Offizier zu den Waffen eilen. Er kämpfte gegen ihre Landsleute. In Marga, die sich seit Jahren der deutschen Heimat entfremdet hatte, erwachte jetzt mit einmal wieder die Vaterlandsliebe, die Zugehörigkeit zum deutschen Volk.

Francesco brachte von seinen Fahrten zur Stadt stets die neuesten Nachrichten mit hinauf. »Signorina«, schreckensbleich war das braune Gesicht des treuen Menschen, »Sie müssen fort, Signorina. Die Tedeschi – die Deutschen –, die sich in Italia aufhalten und innerhalb von drei Tagen nicht über die Grenze sind, werden interniert. Sie kommen ins Gefangenenlager.« Julia, die hinzugeeilt war, begann laut zu schluchzen und in Wehklagen auszubrechen.

»Wer kann mich hier von meinem Eigentum verjagen? Ihr seht alle beide zu schwarz.« Marga gab sich Mühe, sorglos zu erscheinen. Aber sie hielt es doch für richtig, Signora Lucchesi aufzusuchen und mit ihr zu beraten. Signora Lucchesi umarmte Marga mit vielen Beteuerungen, daß ihre Freundschaft und Zuneigung für sie, ungeachtet der Völkerfeindschaft, stets die gleiche bleiben würde. Aber auch sie wies ihr eine soeben erhaltene Nachricht ihres Mannes, daß Signorina Marga unverzüglich sich auf der Questura, der Polizeibehörde in Florenz, einen Paß für die Schweiz ausstellen lassen und jenseits der Grenze das Weitere abwarten solle. Der Krieg würde sicher nicht lange dauern.

Marga griff sich an den Kopf. »Ich soll fort von meinem lieben Hause – von meiner Scholle – gerade jetzt, wo ich das Anwesen in die Höhe gebracht habe, wo es anfängt, die Mühe und die Gelder, die man hineingesteckt hat, zu lohnen? Daß es aufs neue wieder verwahrlost? Das kann ich nicht. Ich lasse mein Besitztum nicht im Stich«, rief Marga erregt.

»Liebe Signorina, wir müssen jetzt mehr im Stich lassen als Landgüter. Die Väter ihre Frauen und Kinder, Söhne ihre Mütter, Verlobte ihre Bräute. Es ist Krieg. Da schweigen alle persönlichen Wünsche und Interessen. Wenn Sie interniert werden, können Sie auch nicht Ihrem Anwesen vorstehen. Kommen Sie, mia cara – meine Liebe –, wir fahren gleich nach Firenze hinunter zur Questura. Haben Sie Ihre Papiere bei sich?«

Natürlich hatte Marga in ihrer Aufregung an nichts dergleichen gedacht.

»Eilen Sie, Ihren Paß und die polizeiliche Anmeldung zu holen. Auch das Dokument über die Erwerbung Ihres Grundstücks nehmen Sie mit. Vielleicht nützt es Ihnen etwas.«

In der Questura von Florenz war eine größere Anzahl verstörter Frauen, Deutsche und Österreicherinnen, versammelt. Die meisten von ihnen wollten für sich und ihre Kinder Pässe nach Deutschland haben, wo sie noch Angehörige besaßen. Vergeblich versuchten sie, für ihre Männer und erwachsenen Söhne die Ausreiseerlaubnis zu erlangen. Die militärpflichtigen deutschen Männer wurden zurückgehalten und interniert. Marga fühlte sich eins mit ihren Landsmänninnen, mit ihrem Jammer und ihren Tränen. Sollte sie sich nicht ihnen anschließen und nach Deutschland zurückkehren? Wohl erwarteten sie dort keine Eltern, keine Geschwister mehr. Aber war nicht jeder Deutsche jetzt in der Not ihr Bruder, jede deutsche Frau ihre Schwester? Ja, sie wollte mit heim ins deutsche Vaterland.

Da trat Signora Lucchesi, die in der Questura einen Bekannten hatte, triumphierend zu ihr. »Ihr Paß nach der Schweiz, Signorina Marga, ist bereits ausgestellt. Sie müssen nur noch Ihren Namen unterschreiben. Avanti! Kommen Sie.«

»Aber ich habe es mir überlegt, ich will heim nach Deutschland«, rief Marga erregt.

Signora Lucchesi legte den Finger auf den Mund. »Still – ich habe den Paß nur so rasch erlangt, weil er auf die Schweiz lautete und weil ich sagte, daß Sie hier ansässig und so gut wie italienische Bürgerin seien. Von der Schweiz werden Sie schneller wieder nach Italien zurückkehren. Auch können wir Ihnen im neutralen Lande Bericht über Ihr Eigentum zukommen lassen.« Da stand das junge Mädchen auch schon im Amtszimmer und unterschrieb mit zitternder Hand den auf die Schweiz lautenden Paß.

Oben vor der Villa Angelo erwartete Marga eine erregte Menge. Julia hatte die Nachricht, daß die Signorina Italien verlassen müsse, mit Zungenfertigkeit und unter Tränen verbreitet. Die Frauen waren mit ihren Kindern aus ihren Hütten hinaufgeeilt, die Männer von ihrer Arbeit, soweit sie noch nicht eingezogen waren. Marga la Tedesca, die ihnen Unterhalt gegeben und ein Herz für das italienische Volk hatte, durfte nicht von ihrem Besitztum vertrieben werden. Dafür würden sie sorgen; wie eine Mauer wollten sie die Signorina schützen.

»Ich halte jede Nacht vor Ihrem Hause Wache, Signorina, daß keiner Ihnen ein Leid zufügen kann. Sie sind auch mitten in der Nacht mit mir gegangen und haben mir mein krankes Kind geheilt«, rief der dankbare Michele.

»Ihr meint es gut, liebe Leute, ich danke euch«, sagte Marga gerührt. »Aber auch ihr werdet vielleicht bald zu den Waffen gerufen werden. Ich muß fort. Wenn ihr mich liebhabt, erhaltet und schützt mir mein Eigentum, bis ich hoffentlich bald wieder zurückkommen kann.«

Das versprachen sie alle mit lauten Beteuerungen.

Dann kam der Tag, da Marga zum letzten Male an ihrer Rosenrampe stand. So still, so friedlich war es hier. War es denn nicht ein Wahnsinn, daß draußen der Krieg tobte, daß sich Menschen gegenseitig vernichteten? Zum letzten Male schritt Marga durch die Säulenhalle, streichelte Pietros glattes Fell, klopfte Rosita liebevoll auf die schwarzweiße Flanke. Dann sah sie durch einen Tränenflor Julia von der Säulenhalle nachwinken, während der zweirädrige Karren, von Pietro gezogen, mit ihr und ihrem Gepäck den steinigen Weg durch die Weinberge hinabratterte. Ein letzter Gruß ihren Zypressen – würden sie gute Wache halten vor Villa Angelo?

Und da standen sie Spalier, all die Bauern mit Frauen und Bambini vor ihren Hütten. Die Frauen beteten einen Rosenkranz für die Signorina. Aus den schwarzen Kinderaugen aber rannen Tränen. »Marga la Tedesca soll nicht fortgehen – Marga la Tedesca soll hierbleiben!« Sie warfen ihr Blumen in den Wagen. Ein Leidensweg den Ölberg hinunter und doch bei allem Trennungsweh beglückend, daß sie sich die Liebe der italienischen Bevölkerung errungen hatte.

Auf allen Stationen das gleiche Bild: Singende Krieger, weinende Frauen. Die ganze Unsinnigkeit des Krieges, der friedliche Menschen von Haus und Herd scheuchte, ward der jungen Reisenden offenbar. Pisa – Genua – Mailand – die Städte, deren Kunst Marga stets zu sehen gewünscht hatte, durchratterte der Zug bei Nacht. Als die Sonne aufging, leuchtete sie bereits über dem Luganer See. Die Schweizer Grenze war erreicht.

* * *

Über vier Jahre waren seit jenem Tage verflossen. Schwere Jahre. Manche Hoffnung, manches junge Leben hatten sie vernichtet, Städte zerstört, Acker zerstampft, jeder Kultur hohngesprochen.

Auch für Marga waren es schwere Jahre gewesen. Ihre Hoffnung, bald wieder zu ihrem Eigentum zurückkehren zu dürfen, hatte getrogen. Im Gegenteil, Signora Lucchesi mußte ihr die Hiobspost zukommen lassen, daß ihr Besitztum vom Staat beschlagnahmt worden sei. Das war ein harter Schlag. Die geringe Barschaft, die Marga mit in die Schweiz genommen hatte, schwand bald dahin. Sie mußte sich nach einem Erwerb umsehen. Vergeblich versuchte sie, in Bern eine Anstellung als Kunstgeschichtslehrerin zu erlangen. Schließlich mußte das Fräulein Doktor noch froh sein, in einem begüterten Hause als Erzieherin der Kinder Unterschlupf zu finden. Die Kinder waren, trotzdem sie ihr »Fräuli« liebgewonnen hatten, reichlich ungezogen. Marga war zum erstenmal im Leben in abhängiger Stellung. Sie mußte sich den Wünschen und Launen Fremder fügen lernen. Das kam ihr oft recht sauer an. Durch Signora Lucchesi, die ihr getreulich schrieb, hörte sie, daß Frau Professor König mit ihren Kindern zu den Eltern nach Deutschland zurückgekehrt sei, während ihr Mann in Italien interniert worden war. Wäre sie doch auch anstatt in die Schweiz nach Deutschland gefahren. Wie ein vom Baum gelöstes Blatt fühlte sie sich.

Es kam der Zusammenbruch des so tapferen deutschen Heeres. Es kam die Revolution. Der Krieg ging zu Ende, aber eine Welt lag in Scherben. Noch immer durfte Marga nicht nach Florenz zurück. Franken auf Franken hatte sie gespart und beiseitegelegt, um ihr Anwesen wieder neu aufzubauen. Jetzt nahm sie ihre Ersparnisse und fuhr damit nach Deutschland. Ihr armes, zerrissenes Vaterland zog sie mit tausend Fäden heim. Ach, es war keine Heimkehr. Fremd war sie geworden in Deutschland. Die entfernten Verwandten waren teils gestorben, teils verarmt. Sie empfingen die jahrelang Fortgewesene durchaus nicht mit offenen Armen. Auch der einstige Vormund, dessen Rat sie unbefolgt gelassen, begrüßte sie mit kühler Zurückhaltung. Die einstigen Freundinnen waren zum Teil verheiratet; zwei von ihnen hatte der Krieg ihrer Männer beraubt. Sie rangen selbst schwer um ihre Existenz. Jeder hatte genug mit sich zu tun. Aber Frau Professor König lebte bei ihren Eltern unweit von Berlin, in Frankfurt an der Oder. Dort wurde Marga nicht enttäuscht, sondern mit offenen Armen empfangen. Tief ergriffen hielten sich die beiden Frauen wortlos umfangen, während die Kinder sie jubelnd umsprangen. Aus den Trümmern der Welt hatten sie sich ihre Freundschaft gerettet.

An Rückkehr der Familie König nach Italien war noch nicht zu denken. Professor König war zwar schon wieder in Florenz, aber vorläufig bekam er seinen ebenfalls vom Staat eingezogenen Besitz noch nicht zurück. Er mußte überhaupt abwarten, ob für ihn als Deutschen eine Lehrtätigkeit in Florenz noch möglich wäre. Solange sollten Frau und Kinder in Deutschland bleiben.

Die Lebensmittel waren knapp, sie wurden noch knapper. Frau Professor König, ehemalige Lehrerin, unterrichtete an einer Schule, um sich und ihre Kinder zu ernähren. Marga setzte alle Hebel in Bewegung, um ebenfalls ein Wirkungsfeld zu finden. Das war jetzt noch schwieriger als während des Krieges, wo die Männer und ihre Stellen durch weibliche Kräfte ersetzt werden mußten.

Mit Schrecken sah Marga ihre kleinen Ersparnisse in kurzer Zeit zusammenschmelzen. Eine entsetzliche Teuerung war nach dem Kriege hereingebrochen, das Geld hatte keine Kaufkraft mehr. Eins stand fest: der Freundin, die selbst um ihren Lebensunterhalt kämpfte, durfte sie nicht auch noch zur Last fallen. So entschloß sich Marga, so hart es sie auch ankam, wieder zur Trennung von der deutschen Heimat, die keinen Platz mehr für sie zu haben schien. Sie kehrte nach Florenz zurück, um persönlich für ihr Eigentum einzutreten, da schriftliche Eingaben bisher nichts gefruchtet hatten.

Es war ein regenschwerer Tag, wie er in Italien selten ist, als Marga nach fünf Jahren ihren Ölberg wiederum emporklomm. Grau, alles grau um sie herum und in ihr. Wie anders hatte sie sich ihre Rückkehr vorgestellt. Sie hatte keinen von ihrem Kommen in Kenntnis gesetzt. Unangemeldet wollte sie Villa Angelo betreten. Kinder, Tücher über dem schwarzen Kopf, liefen ihr über den Weg, starrten sie an, kannten sie nicht mehr. Es gab der Heimkehrenden einen Stich ins Herz. So fremd war sie hier geworden. Aber da waren ja ihre beiden Zypressen; der Wind rauschte in ihren Zweigen. Marga nahm es als einen Willkommensgruß.

Das Haus war in dem Nebelgrau nicht eher zu sehen, als bis sie dicht davor stand. Ausgestorben schien es. Weder Francesco noch Julia. Marga schritt durch die heute unwirtlich erscheinende Halle, durch die Zimmer. Sie schauderte fröstelnd zusammen. Hier war sie jahrelang glücklich gewesen? Leer war der Stall. Die Kühe waren beschlagnahmt, verkauft oder geschlachtet. Aber in dem Regengrau hinter dem Hause stand naß und frierend gegen die Hausmauer gepreßt etwas Graues.

»Pietro«, rief Marga erfreut, doch einen Freund wiederzusehen.

»Chi va là – wer ist da?« erklang es dicht neben dem Maulesel. Francesco, der mit dem Esel zu einem grauen Fabelwesen verwachsen schien, löste sich von der schutzgebenden Hausmauer und humpelte ins Haus zurück. »Signorina – bei der Madonna, sie ist es, Marga la Tedesca! Nun wird alles wieder gut hier!« Der treue Diener küßte voller Freude Marga die Hände.

»Das gebe der Himmel, daß es wieder gut werde!« wiederholte Marga inbrünstig. »Wie schaut es hier oben aus, Francesco, wo ist Julia?«

»Meine Alte habe ich dem Professor König, der seit einigen Tagen wieder seine Villa bezogen hat, zur Hilfe hinübergeschickt. Ich werde allein hier fertig. Wie es ausschaut bei uns hier oben, Signorina? Male – malissimo – sehr schlecht. Der Staat hat weder Zeit noch Geld gehabt, sich um uns hier zu kümmern. Die Bauern brauchte er als Kanonenfutter. Michele ist gefallen. Da ist alles in den Weinbergen und in der Außenwirtschaft verwahrloster als je. In Haus und Garten haben wir Ordnung gehalten, die Julia und ich.«

»Der arme Michele, er war ein dankbarer Mensch!« Einer von den vielen Tausenden, die der Krieg als Opfer gefordert. Dann reichte Marga Francesco die Hand. »Habt Dank, Francesco, daß Ihr über Villa Angelo gewacht habt. Nun heißt es von vorn anfangen und wieder neu beginnen. Vorausgesetzt, daß der Staat mich hier auf meinem Eigentum frei schalten und walten läßt.« Die Signorina sagte es möglichst tapfer, trotzdem es ihr wie ein Alp auf der Brust lag.

»Professor König muß seine Villa vom Staat zurückkaufen und verschiedene andere Tedeschi – Deutsche – auch. Die Signorina wird Villa Angelo noch einmal erwerben müssen.« Francesco kratzte sich bedenklich den Kopf.

»Villa Angelo – mein Haus vom Staat zurückkaufen? Wovon denn?« Marga lachte bitter auf. »Arm wie eine Kirchenmaus kehre ich zurück. Mit meinem letzten Geld bin ich hierhergefahren, um mein Recht zu suchen.«

»Es wird Ihnen werden, Signorina. Die Madonna und alle Heiligen werden einer so gütigen Herrin beistehen und sie segnen. Wenden Sie sich an den Professor, an Signor Lucchesi, er ist mit in die Regierung hineingewählt. Er hat ein Wörtchen dabei mitzusprechen.«

Professor Lucchesi bei der Regierung – der erste Hoffnungsschimmer zeigte sich wieder in all dem Düster. Und da brach auch durch das Nebelgrau draußen wieder der erste Sonnenstrahl und vergoldete Villa Angelo. –

»Avanti – vorwärts – den Mut nicht sinken lassen!« Wie oft noch mußte sich Marga im Laufe der nächsten Jahre dieses Wort zurufen, wenn sie verzagen, wenn sie die Flinte ins Korn werfen wollte.

Es war so, wie Francesco berichtet hatte. Die Deutschen mußten ihre beschlagnahmten Güter vom Staat zurückkaufen. Professor König war in der glücklichen Lage, noch über genügende Hilfsmittel zu verfügen. Auch mochte man den bedeutenden Gelehrten nicht in Florenz missen. Er rückte wieder in seine Stelle ein und konnte seine Familie bald zurückkommen lassen.

Aber selbst der warmen Fürsprache des Professors Lucchesi gelang es nicht, Marga ihr Eigentum ohne eine größere Summe zurückzuerstatten. Das einzige, was er ihr erwirken konnte, war, daß sie Villa Angelo pachtweise übernehmen sollte und jährlich dem italienischen Staat dafür eine verhältnismäßig kleine Summe als Pacht zu zahlen hatte. Nach zehn Jahren würde die Pacht die Rückkaufsumme nebst Zinsen ergeben. Bei pünktlicher Zahlung sollte ihr Villa Angelo dann wieder gehören. Sonst fiel die Besitzung an den Staat zurück.

Das waren schwere Bedingungen. Marga war jetzt mit der Landwirtschaft vertraut genug, um zu wissen, was das bedeutete, jährlich eine solche Summe, wie die Pacht sie betrug, aus Grund und Boden herauszuziehen! Vor Jahren, als sie Villa Angelo übernommen hatte, standen ihr noch Hilfsmittel zu Gebote, um Löhne zu zahlen und Anschaffungen zu machen. Aber heute? Sie konnte die Bauern vorerst nur verpflichten, wenn sie ihnen einen Anteil am Ertrag zusicherte. Aber würde genügend für die alljährlich abzuliefernde Pacht übrigbleiben?

Vorwärts – avanti – den Mut nicht sinken lassen!

Die Landbevölkerung hatte voller Freude die Wiederkehr von Marga la Tedesca vernommen. Die zuerst ihr fremd gewordenen Kinder hatten sich wieder mit ihr angefreundet. Die Bauern waren mit ihren Bedingungen, am Ertrag beteiligt zu sein, einverstanden. Sie regten noch einmal so emsig die Hände, da sie mit für sich selbst arbeiteten. Trotzdem waren es bitterschwere Jahre des Wiederaufbaus. Als die Wunden des Krieges ein wenig vernarbt waren und wieder Fremde ins Land kamen, ließ sich Marga in den Galerien von Florenz als Kunstgeschichtsführerin in deutscher, englischer und italienischer Sprache anstellen. Mit der Landwirtschaft allein schaffte sie es nicht. Vormittags hielt das Fräulein Doktor Kunstgeschichtsvorträge vor den Meisterwerken, nachmittags half es Francesco eigenhändig Holz hacken oder kutschierte den mit Kühen bespannten Ackerwagen. Avanti – vorwärts! Abends aber saß Marga und rechnete, rechnete sich ihren armen Kopf entzwei, wie sie die Pacht zusammenbekommen sollte, während die Abendsonne drunten die Glockentürme von Florenz in glührote Lohe tauchte und der junge Wein blühte und duftete. Bis die Freunde kamen, sie ihren schweren Gedanken zu entreißen.

So vergingen die Jahre, Margas Jugendjahre. Durch ihr volles Braunhaar zogen sich frühzeitig silberne Fäden, welche die Sorge hineingewoben hatte. Und doch ging es vorwärts – avanti. Wieder zog der brave Pietro die großen Fiaschi mit Wein und Öl nach Florenz hinunter, die dort gern Abnehmer fanden. Bei den Führungen in den Galerien war Marga so manchem ihrer Landsleute nähergetreten. Ihr sympathisches Wesen gab jedem im fremden Lande etwas Heimatliches. Man bat sie um Aufnahme droben in Villa Angelo, um die schöne Natur mit der Kunst Italiens zu verbinden. So wurde aus Villa Angelo ein deutsches Fremdenheim. Künstler, Maler, Bildhauer und Studierende hielten dort ihren Einzug; aber auch Erholungsuchende ruhten in Liegestühlen auf der Rosenterrasse, von Marga liebevoll betreut.

Vorwärts – avanti! Die zehn schweren Jahre der Pachtabzahlung sind vorüber. Marga hat ihr Eigentum wieder zurückerworben. Eine deutsche Heimat hat sie sich und andern im fremden Lande erbaut. Jeder liebt und schätzt Marga la Tedesca.

Finis


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