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12

Die goldene Repetieruhr ließ mit ihren Schwingungen an dem kurzen Uhrband allmählich nach. Der Spezialist war zu einem Entschlusse gelangt.

»Ich werde jetzt Lady Rosa aufsuchen,« erklärte er dem trostlosen Bräutigam, »und ihr, wenn Sie gestatten, verschiedene Fragen vorlegen. Es ist möglich, daß sie mir eher antworten wird als Ihnen. Wenn sie wirklich der Meinung sein sollte, daß Sie an diesen Verbrechen beteiligt sind, kann ich ihr diesen Gedanken vielleicht ausreden.«

»Wollten Sie das wirklich für mich tun?« Der junge Offizier sprang erregt auf. »Wie soll ich Ihnen dafür danken? Wenn Sie das fertig bringen, bleibe ich Ihnen mein ganzes Leben lang verpflichtet.«

Der ältliche Arzt lächelte müde. Es gab für ihn nur einen Dank, der seine Tage lebenswert machen konnte, und die Hoffnung auf einen solchen mußte er aufgeben.

»Erwarten Sie mich hier,« gebot er dem Hauptmann. »Vielleicht kann ich Ihnen bald eine gute Nachricht bringen.«

Er verließ den dankerfüllten jungen Mann und wandte sich dem Wohnzimmer der beiden Schwestern zu. Auf sein Anklopfen erfolgte ein erwartungsvolles »Herein«. Im Zimmer war nur Lady Rosa anwesend, die, noch mit Tränenspuren in ihren blauen Augen, auf einer Chaiselongue neben dem Fenster ruhte.

Beim Anblick des Doktors sprang sie mit einem Ausruf des Erstaunens, ja der Verblüffung auf, der dem Arzt zeigte, daß er nicht die Person war, die sie zu sehen erwartet hatte. Sie versuchte ein Bild zu verstecken, das sie in der Hand hielt, ohne daß ihr dies gelang. Dr. Tarleton hatte bereits gesehen, daß die Photographie den Mann darstellte, den sie eben verstoßen hatte.

»Dr. Tarleton?« rief sie aus, ehe der Arzt sprechen konnte. »Sie sind es? Warum sind Sie hier? Haben Sie etwas mit dieser Sache …?« Sie unterbrach sich und musterte ihn ungewiß, als ob sie prüfen wollte, ob er etwas von der Tragödie wüßte.

Der Arzt senkte mitleidig sein Haupt.

»Ja, man hat nach mir geschickt, als man von dem neuen Fall heute nacht erfuhr. Sie müssen wissen, daß ich Toxikologe bin, und es ist zweifellos, daß der Tod der Unglücklichen durch den Stich mit einem vergifteten Pfeil erfolgt ist.«

Die blauen Augen Lady Rosas öffneten sich weit, als sie die Bedeutung der Worte Dr. Tarletons zu erfassen begann.

»Dann – Sie sagten mir doch früher, daß Sie wegen der Kanalisation kämen und stellten mir dabei Fragen über Montacute. Heute morgen steht aber in der Zeitung, daß Montacute auch an den Folgen eines Giftpfeiles gestorben ist. Oh???« Hier wurde ihr Ton flehend: »Oh! Herr Doktor, sagen Sie mir doch, bitte, was das alles bedeuten soll! Weswegen sind Sie hier? Was vermuten Sie?«

Tarleton trat einen Schritt vor und ließ sich in einen vor ihr stehenden Stuhl nieder.

»Wenn Sie gestatten, möchte ich mit Ihnen als Ihr Freund – und Freund Hauptmann Theobalds – sprechen. Ich habe ihn eben verlassen, und er ist verzweifelt. Ich vermute wohl richtig, wenn ich annehme, daß auch Sie wissen, daß die beiden Morde auf Giftpfeile zurückzuführen sind, die Hauptmann Theobald aus Nigeria mitgebracht hatte. Ich habe schon festgestellt, daß verschiedene dieser Pfeile in dem Köcher in Hauptmann Theobalds Zimmer fehlen.«

Die Verzweiflung des jungen Mädchens schien zuzunehmen, während sie zuhörte.

»Aber ich verstehe das alles nicht,« widersprach sie. »Jeder versucht, mich hinters Licht zu führen. Sie erzählen mir, daß die Prégut Selbstmord begangen hätte, aber bei Montacute können Sie das doch nicht! Und warum sind Sie gerufen worden, als er ermordet wurde? Hat Ihnen jemand erzählt, daß er mein Freund wäre?«

Der Arzt schüttelte den Kopf.

»Sie selbst haben mir das gesagt, niemand anders. Man hat mich in jener Mordsache zugezogen, um die Todesursache festzustellen. Montacute wurde hier im Hause getötet.«

Ein überraschter Schrei entfuhr den Lippen Lady Rosas, und sie preßte erschrocken die Hand ans Herz.

»Und da kommen Sie hierher – in dieses Zimmer? Hatten Sie mich im Verdacht …?« fügte sie flüsternd hinzu.

Tarleton wäre froh gewesen, wenn er diese Frage hätte energisch verneinen können. Er sah sich gezwungen, ihr sein Dilemma zu erklären.

»Ich befand mich in einer sehr schwierigen Lage. Zwar wurde ich auf Wunsch des Herzogs zugezogen, aber da ich zu den Beamten der Polizei gehöre, wäre es meine Pflicht gewesen, die Kriminalpolizei zu benachrichtigen, sobald ich mir darüber klar geworden war, daß ein Verbrechen vorlag. Ich hätte auch dem Innenministerium die Angelegenheit unterbreiten müssen, was genau dasselbe bedeutet hätte. Nur ein Gedanke hielt mich davon zurück. Der Mord konnte durch ein Motiv veranlaßt worden sein, das sogar in den Augen des Gerichts als Rechtfertigung hätte betrachtet werden können – zum Beispiel Notwehr. Es gab auch noch weitere Gründe, die in meinen Augen ein derartiges Verbrechen hätten gerechtfertigt erscheinen lassen. In mir erweckte es anfangs den Anschein, als ob es sich hier um einen derartigen Fall handle. Ich erfuhr, daß der Ermordete heimlich das Haus …«

»Was sagen Sie da?« der schreckliche Ausdruck, mit dem das junge Mädchen bisher den Worten des Arztes gelauscht hatte, machte einer überraschten Miene Platz. »Er wäre ins Haus gekommen, nachdem ihm die Herzogin den Zutritt verboten hatte?«

»So scheint es. Ich mußte mich demzufolge fragen, ob diese Besuche nicht durch jemand beobachtet worden wären, der ihnen ein unehrenhaftes Motiv unterlegt hatte und deshalb der Meinung wäre, daß ungeschriebene Gesetze die Ermordung des Schauspielers rechtfertigen würden.«

Das Entsetzen, das sich des jungen Mädchens mehr und mehr bemächtigte, hielt den Arzt von weiteren Mitteilungen ab. Er hatte so zartfühlend wie möglich gesprochen und weniger gesagt, als er von Anfang an beabsichtigt hatte. Er beobachtete sie aufmerksam, als sie nun versuchte, die ihr gegebenen Aufklärungen zu begreifen, und ihm dabei erschreckte Blicke zuwarf.

»Aber Herr Doktor, wen hat er denn eigentlich besucht?«

»Das ist ja gerade die Frage, die ich versuchte, befriedigend zu beantworten. Als ich das Bild hier in Ihrem Zimmer entdeckte, mußte ich natürlich annehmen, daß er zu Ihnen gekommen wäre.«

»Zu mir? Um mich verstohlen nachts zu besuchen? Oh, Herr Doktor!«

So schmerzlich es für den Arzt auch war, mit einem jungen Mädchen dieses Thema zu erörtern, so war er doch erfreut, von ihr diese Rechtfertigung in einem solch entrüsteten Tone zu hören. Ihre vorwurfsvollen Worte waren ihm ein besserer Beweis als eine bloße Verneinung.

»Sie haben die Berechtigung, mir Vorwürfe zu machen, aber ich spreche doch auch nur von dem ersten Eindruck, den ich empfing. Ich hatte Sie ja kaum kennen gelernt. Erinnern Sie sich, daß ich Sie an jenem Morgen traf, als Sie so frühzeitig im Hause herumgingen?«

Er unterbrach sich, um zu hören, ob sie für jenes Ereignis eine Erklärung geben würde. Sie schwieg jedoch mit einem erschreckten Blick und suchte ihre Augen von ihm abzuwenden.

»Sie hatten mir offen zugegeben, daß Montacute Ihr Freund gewesen wäre, und daß Sie über das Verbot Ihrer Stiefmutter erzürnt gewesen waren, um so mehr, als er sich diesem so schwächlich unterworfen hatte. Das genügte mir, um zu wissen, daß Sie von seinen weiteren Besuchen keine Ahnung hatten, und ich mußte mich deshalb andern Spuren zuwenden.«

Lady Rosa war offenbar von diesem Freispruch nicht gerade entzückt. Sie hielt ihre Blicke weiter vom Arzt abgewandt und hörte ihm mit derselben gespannten Aufmerksamkeit zu.

»Als ich dem Herzog von meinen Beobachtungen Mitteilung machte, erklärte er mir, daß die Herzogin dem Schauspieler das Haus verboten hätte, weil sie die Vermutung hegte, daß Montacute sich Hoffnungen auf die Hand Euer Herrlichkeit machte.«

Lady Rosa warf ihm einen verlegenen Blick zu. Sie versuchte nicht, diese Vermutung zu widerlegen, trotzdem sie ihr nicht angenehm zu sein schien.

»Das hat mich seinerzeit eigentlich ein wenig überrascht. Seitdem habe ich aber herausgefunden, daß Montacute, oder um ihm seinen richtigen Namen zu geben, Dunlop …«

»Aber so hieß ja die Herzogin, ehe sie meinen Vater heiratete!«

»Ganz recht! Sie waren verwandt. Das macht ja die ganze Sache um so geheimnisvoller.«

Das Mädchen wandte sich Tarleton mit dem größten Interesse zu.

»Jetzt verstehe ich erst!« rief sie aus. »Ich kann Ihnen auch sagen, daß ich der Meinung war, die Herzogin wäre eifersüchtig und hätte aus diesem Grund dem Schauspieler die Wohnung verboten. Aber, Herr Doktor« – die Miene wurde plötzlich mißtrauisch – »dann muß er ja die Herzogin besucht haben!!?«

Das war das, was der Arzt hatte hören wollen. Der Verdacht, den soeben die Stieftochter gegen die Herzogin von Altringham ausgesprochen hatte, war derselbe, der auch in seinem Geist gewuchert hatte, seit er erfahren hatte, daß es die Zofe der Herzogin gewesen wäre, die Montacute den Schlüssel eingehändigt hatte. Die Szene, die sich gestern im Schlafgemach Ihrer Gnaden abgespielt hatte, war ihm ein Beweis dafür gewesen, daß man die Prégut zu ihrer Aussage durch Bestechung und Rauschgift gebracht hatte, um die Herzogin zu schützen. Daß sie nicht soweit gegangen war, wie es die Herzogin scheinbar gewünscht hatte – nämlich die Stieftochter der Tat zu verdächtigen – spielte dabei keine wesentliche Rolle.

Wichtig vor allen Dingen schien es dem Arzt, daß Lady Rosa den Verdacht aus ihren eigenen Kenntnissen des Hauses geschöpft, und daß er sie nicht durch irgendwelche Andeutungen dazu veranlaßt hatte. Gerade dies hatte er beabsichtigt, um sie dann auf diesem Wege weiterzuführen, bis er sie überzeugt hätte, daß Hauptmann Theobald an dem Verbrechen unbeteiligt wäre. Er gab sich den Anschein, als zweifle er.

»Ich glaube nicht, daß Sie davon gehört haben, daß Mademoiselle Prégut gestern in meiner Gegenwart zugab, die heimlichen Besuche Montacutes hätten ihr gegolten.«

Lady Rosa warf ihm einen spöttischen Blick zu.

»Und das haben Sie geglaubt? Sie war eine Frau, die alles, wofür man sie gut bezahlte, beschworen hätte. Warum hat die Herzogin verheimlicht, daß Montacute ihr Verwandter war, wenn nichts zu verbergen gewesen wäre?«

Der Arzt nickte.

»Noch etwas muß ich Ihnen mitteilen, Mademoiselle gab vor, daß der schwarze Diener Hauptmann Theobalds sie sehr verehrte. Ihre Aussage lief darauf hinaus, Falai zum Mörder zu stempeln, der die Tat aus Eifersucht begangen hätte.«

Es war schwierig, das wechselnde Mienenspiel der jungen Dame während dieser Aufklärung richtig zu deuten. Daß sie überrascht war, konnte man sehen, ob aber angenehm, das vermochte der Arzt nicht zu entscheiden.

»Wahrscheinlich werden Sie diese Anschuldigungen ebenso verwerfen wie die Selbstbeschuldigung Mademoiselles, nicht wahr?« fragte Tarleton.

Aber der Gesichtsausdruck Lady Rosas war nun endgültig hoffnungslos geworden. Sie schüttelte, ohne zu antworten, den Kopf.

Dr. Tarleton glaubte nun die Zeit gekommen, wo er offen reden mußte.

»Falais Herr glaubt zuversichtlich an die Unschuld seines Dieners. Ich komme eben vom Hauptmann Theobald. Er hat Vertrauen zu mir, und ich freue mich darüber. Bitte, betrachten auch Sie mich als Ihren Freund, Lady Rosa!«

Immer noch schwieg sie, nur ein schwaches, melancholisches Lächeln deutete an, daß sie über seine Bitte nicht ungehalten war.

»Hauptmann Theobald befindet sich in einer bedrängten Lage«, wagte der Arzt weiter zu sagen. »Er hat das Gefühl, daß er, da er die vergifteten Pfeile ins Haus gebracht hat, für die Morde verantwortlich sei. Er fürchtet sogar, daß man ihn aus diesen Gründen für einen Mitschuldigen halten könnte.«

Sah Lady Rosa endlich, wohin der Arzt mit seinen Worten zielte? Sie erhob plötzlich den Kopf, als ob sie sprechen wollte, senkte ihn aber sofort wieder.

Die Stimme des Arztes nahm einen vertraulichen Ton an.

»Ich muß Ihnen offen gestehen, daß ich ihn am Anfang auf meiner Suche gleichfalls mit in den Kreis der Verdächtigen ziehen mußte, wenigstens soweit es den ersten Mord betraf. Ich dachte, daß er Montacute beim Betreten des Hauses beobachtet und, vielleicht in der Meinung, die Besuche gälten Ihnen, keinen andern Ausweg gesehen hätte, als den Schauspieler aus dem Wege zu räumen.«

Endlich mußte das junge Mädchen sprechen.

»Nein, nein!« rief sie flehenden Tones. »Das hat er gewiß nicht gedacht; das konnte er mir nicht zutrauen, das nicht!«

»Aber sicherlich nicht,« beeilte sich der Arzt zu sagen. »Niemand, der Sie kennt, wird eine derartige Vermutung hegen. Ich sagte das ja auch nur, um Ihnen zu zeigen, wie ich die Sache aufgefaßt hatte. Nun nehmen Sie aber an, daß Montacute die Herzogin besuchte – wie Sie es eben andeuteten – und zwar gegen den Willen Ihrer Gnaden – vielleicht, weil er sie in seiner Gewalt wußte – dann würden dadurch ja dieselben Voraussetzungen bestehen bleiben wie bei dem vorhin erwähnten Gedanken, daß die Besuche Ihnen gegolten hätten. Sie mag Hauptmann Theobald um Schutz gebeten haben. Dem Herzog selbst diese Bitte zu stellen, würde sie sich ja wohl, verständlicherweise, gehütet haben; der Vetter aber kam von Afrika, und noch dazu als Gast des Hauses; wäre es da nicht leicht möglich, daß meine Vermutung wirklich den Tatsachen entsprach? Sie kennen ja ihren Charakter, nicht wahr? Glauben Sie dann nicht, daß sie vielleicht dem Hauptmann folgendes gesagt haben könnte: »Schaffe mir diesen Menschen aus dem Weg, und ich will den Herzog, meinen Gatten, überreden, daß er dir seine Tochter Lady Rosa zur Frau gibt?«

Aufmerksam betrachtete sie der Arzt, während er diese logischen Vermutungen aussprach. Für einen kurzen Augenblick dachte er schon, daß er ihr die Lippen geöffnet hätte. Sie zitterte am ganzen Körper, blickte ihn mit stummem Flehen an und brach dann plötzlich in wildes Schluchzen aus.

»Bitte, nicht, Herr Doktor! Sprechen Sie nicht weiter! Ich kann Ihnen nichts sagen! Ich halte das nicht mehr aus!«

Tarleton konnte nicht gut diese Bitte abschlagen. Mit einem mitleidigen Blick auf die junge Dame verließ er das Zimmer.

Hauptmann Theobald hatte in gespanntester Erwartung auf das Ergebnis des Besuches bei Lady Rosa gewartet. Dr. Tarleton konnte ihm seine schlimmsten Befürchtungen zerstreuen.

»Ich glaube nicht, daß die Lage so verzweifelt ist, wie Sie befürchten, und ich kann Ihnen auch sagen, warum ich dieser Ansicht bin: Vor allen Dingen ist es für mich absolut zweifellos, daß Lady Rosa Sie immer noch liebt. Sie macht sich ebenso viele Sorgen wie Sie auch. Und zweitens hat sie Sie nicht als Mörder in Verdacht.«

»Nicht? Hat sie das wirklich gesagt?«

»Nein! Aber das spielt auch nicht die Hauptrolle.«

Die Miene des jungen Offiziers, die bei der ersten Antwort des Arztes sich erhellte, umwölkte sich wieder.

»Wie meinen Sie das? Ich verstehe nicht recht?«

»Ich meine folgendes: Als ich eine Andeutung machte, daß Ihr Falai den Mord begangen haben könnte, freute sie sich nicht, glaubte es auch nicht! Also, wenn Sie in menschlichen Herzen zu lesen vermöchten, würden Sie mir ohne weiteres zustimmen, daß sie, wenn sie Sie für schuldig gehalten hätte, ohne Zögern jede derartige Andeutung willkommen geheißen haben würde, damit sich der Verdacht nicht gegen den Mann richtet, den sie liebt. Sie glaubt nicht mehr an die Schuld Falais als an Ihre eigene.«

»In welche Richtung erstreckt sich ihre Vermutung dann? Wen hält sie für den Schuldigen.«

»In dieser Beziehung konnte ich von ihr leider keinerlei Andeutung erhalten. Aber Sie können mir ruhig glauben, daß, wenn sie angeblich an Ihre Schuld zu glauben vorgibt, wichtige Gründe sie bestimmen, um in Wirklichkeit ihre tatsächlichen Vermutungen scharfen Blicken zu verbergen, Sie hat Angst, daß man durch sie den richtigen Täter finden könnte.«

Beinahe bedauerte Tarleton, so viel gesagt zu haben, als er das drohende Augenleuchten des Hauptmanns sah. Dieser zischte einen unterdrückten Fluch durch die Zähne.

»Womit wir uns im Augenblick abzufinden haben,« fuhr der Arzt fort, um den Hauptmann auf andere Gedanken zu bringen, »ist der Verdacht gegen Ihren Diener.«

»Ich bin nicht der einzige hier im Hause, der einen Diener hat,« warf der Hauptmann drohend ein.

»Das stimmt zweifellos, aber es ist Ihr Diener, der verdächtigt wird, und Sie müssen sich damit abfinden, daß die Sache recht trüb für ihn aussieht. Um einen Beweis zu nennen: Beide Morde wurden mittels eines vergifteten Pfeils aus Nigeria begangen, und Falai stammt aus jenem Land. Ein englisches Geschworenengericht wird nicht lange zögern, diese beiden Tatsachen zu kombinieren. Dann haben wir auch noch die Aussage der Prégut zu berücksichtigen, die ja klar und deutlich Falai beschuldigte; sie verfolgte …«

»Das war eine ganz unverschämte Lüge!«

»Darauf kann es hier aber unglücklicherweise nicht ankommen. Fest steht, daß sie ihn dessen beschuldigt hat – wahrscheinlich bewußt und mit einem gewissen Ziel im Auge – und daß ihre Beschuldigung sofort ihre Ermordung zur Folge hatte. Sie können und müssen erwarten, daß andre diese Tatsachen miteinander in Verbindung bringen werden, nicht wahr?«

»Ich kann es nicht glauben. Ich würde für Falai die Hand ins Feuer legen,« widersprach dessen Herr. »Ich habe mit ihm gestern abend gesprochen, habe ihm genau auf den Zahn gefühlt und bin sicher, daß er nicht das Geringste über Montacute wußte, ja nicht einmal, daß dieser existierte. Als ich ihn darauf aufmerksam machte, daß er unter Mordanklage gestellt werden könnte, erklärte er sich sofort bereit, sich einer Probe zu unterwerfen.«

»Tatsächlich?« Den Spezialisten interessierte diese Bemerkung offenbar außerordentlich. »Ich habe davon schon einmal etwas gehört. Worin besteht denn diese Probe eigentlich?«

»Es handelt sich um eine beliebte und bekannte Methode der Eingeborenen von Nigeria, geheimnisvolle Diebstähle und andere Verbrechen aufzuklären. Jeder der für das Verbrechen in Frage kommt, oder jeder, auf dem irgendein Verdacht ruht, muß einen Mund voll Getreide – Hirse, Guinea-Mais oder so etwas Ähnliches – kauen und verschlucken. Man glaubt, daß der Schuldige bei diesem Bemühen ersticken muß.«

Der Hauptmann gab diese Erklärung in einem verächtlichen Ton ab, aber seinen Zuhörer schien sie sehr zu interessieren.

»Ich glaube doch,« bemerkte er, »daß hinter diesem Gottesurteil mehr steckt, als man glaubt. Es ist ja in Wirklichkeit eine Nervenprobe. Derjenige, der sich schuldig weiß, wird sicherlich an einem nervösen Speiseröhrenkrampf leiden, hervorgebracht durch Furcht, genau wie es manchen Leuten geht, die eine Pille verschlucken sollen, ganz besonders, wenn irgendein Aberglaube damit zusammenhängt.«

»Oh ja! Aberglaube gibt es da genug. Die ganze Sache ist ja eigentlich Ju-Ju.« (Zauber. Anm. des Übersetzers.)

»Das habe ich mir schon gedacht. Also, ich würde das Angebot des Negers mit Vergnügen annehmen.«

»Wirklich? Aber sicherlich glauben Sie doch nicht etwa auch, daß er schuldig ist, wie?« Theobald schien zornig zu werden.

»Das zu sagen ist eine schwierige Sache für mich. Ich kenne den Mann doch nicht so gut wie Sie. Andererseits können Sie anderen Leuten nicht zumuten, ihn für unschuldig zu halten, nur, weil Sie eine gute Meinung von ihm haben, nicht wahr? Ich will zwar zugeben, daß ich den Anschuldigungen der Prégut wenig Glauben entgegenbringe, aber ich hatte mir auch selbst die Frage vorzulegen, ob ein Wilder aus Nigeria einen Mord mit demselben Abscheu wie der durchschnittliche Weiße betrachten würde, und ob er etwa auch ein Werkzeug in den Händen der anderen sein könnte.«

Der Sachverständige begleitete diese Andeutung mit einem anzüglichen Blick, aber der Hauptmann reagierte nicht darauf.

»Nach dem, was Sie mir eben sagten, werde ich darauf bestehen, daß Falai sich der Probe seiner Rasse unterwirft. Aber er wie auch ich werden erwarten, daß sich jeder hier im Haus diesem Gottesurteil unterwirft.«

Der Arzt nickte zustimmend.

»Ich sehe keinen Grund, diesem Verlangen zu widersprechen; im Gegenteil, ich halte diese Zeremonie sogar für nutzbringend, wenn sie nur richtig gehandhabt wird. Wie ich schon bemerkte, kann der Mörder – wie es schon so oft geschehen ist – der Ansicht sein, seine Tat wäre entschuldbar, ja lobenswert; aus diesem Grund könnte man niemand, wie hoch er auch stehe, von dem Verdacht freisprechen. Es ist ja möglich, daß die Freunde des Täters, genau wie auch dieser selbst, die Tat dadurch für gerechtfertigt hielten, weil der Mörder das Weib, dem er sich angehörig fühlte, dadurch schützte.«

Theobald erschauerte.

»Was wollen Sie damit sagen?« flüsterte er.

»Ich denke nicht an Lady Rosa,« war die Antwort. »Ich bemühe mich ebensosehr wie Sie, ihren Namen aus der ganzen Sache fernzuhalten.«

Der junge Offizier streckte ihm die Hand hin. Ehe ein weiteres Wort gesprochen werden konnte, klopfte es an die Tür, und Burrowes, nervös von einem zum andern blickend, trat ein.

»Entschuldigen die Herren, aber Seine Gnaden hat mich geschickt, um mich zu erkundigen, was Dr. Tarleton macht. Seine Gnaden wünscht Sie sofort zu sprechen, Herr Doktor.«

Augenscheinlich war der Bote angewiesen worden, diese befehlenden Worte zu gebrauchen. Der Beamte des Ministeriums zuckte die Achseln und wandte sich dem Hauptmann zu:

»Es wäre vielleicht gut, wenn wir den Herzog gleich jetzt gemeinsam aufsuchten, um seine Zustimmung einzuholen.«

Der junge Mann folgte dem Arzt aus dem Zimmer, ohne ein Wort zu erwidern, aber als er ihn im Korridor einholte, flüsterte er ihm ins Ohr:

»Ich erwarte von Ihnen, daß Sie auch den Herzog in diese Schuldprobe einbeziehen.«

Der treue Verwalter befand sich zu nahe, um dem Arzt ein Wort der Erwiderung auf dieses Verlangen des Hauptmanns zu gestatten, doch seine zusammengepreßten Lippen deuteten klar an, daß er einverstanden war.

Der Herzog von Altringham empfing die beiden Herren in der Bibliothek. Er saß in einem großen Armsessel, die Hände breit auf dessen Lehnen gelegt. Er erhob sich nur einige Zentimeter und erwiderte herablassend die tiefe Verbeugung des Arztes.

»Sie haben sich Zeit gelassen, Doktor,« bemerkte er streng. »Bitte, setzen Sie sich; sind Sie denn nun endlich davon überzeugt, daß ich mit diesem schrecklichen Neger recht hatte?«

Der Herzog blickte bei diesen Worten seinen zukünftigen Schwiegersohn mit strengen Augen an, als wollte er ihm verbieten, auch nur ein Wort für seinen Diener einzulegen.

»Diese Frage habe ich eben mit Hauptmann Theobald erörtert. Wenn Sie gestatten, will ich den Mann holen lassen.«

Ohne die Zustimmung des Herzogs abzuwarten, wandte sich Tarleton zur Klingel.

Mr. Burrowes war über diese Freiheit sichtlich erschrocken. Sein Herr befand sich scheinbar noch im Zweifel, ob er die selbständige Handlungsweise Tarletons mit Schweigen übergehen oder zurückweisen sollte.

»Ist es notwendig, daß man mich damit belästigt?« fragte er mit herzoglichem Stolz.

Der Sachverständige warf ihm einen erstaunten Blick zu.

»Selbstverständlich nur, wenn es Euer Gnaden beliebt. Es steht Ihnen frei, die Sache ohne weiteres der Polizei zu übergeben, die ja nichts weiter zu tun haben würde, als den Neger in Haft zu nehmen. Ich dachte nur, Sie wünschten, diesen Fall so vertraulich wie möglich zu behandeln.«

Der Herzog zog daraufhin sofort seine Hörner ein.

»Gewiß, Herr Doktor, gewiß, das wünsche ich ja auch.«

Als ein Lakai erschien, nickte der Herzog diesem zu, als wenn er sagen wollte, daß der Arzt bevollmächtigt wäre, den nun folgenden Befehl auszusprechen.

»Unglücklicherweise,« fuhr der Arzt fort, als er den Diener fortgeschickt hatte, »sagte mir soeben Herr Hauptmann Theobald, er hätte Falai gestern Mitteilung davon gemacht, daß die Prégut ihn beschuldigte, den Mord begangen zu haben. Dies würde ihn, wenigstens soweit der zweite Mord in Frage kommt, ganz bestimmt in eine schiefe Lage versetzen.«

Der Hauptmann kratzte sich überrascht den Kopf, als er seinen Gönner diese unerwarteten Worte sprechen hörte, aber er war klug genug, sich nicht einzumischen. Es wurde jedoch offenbar, daß der Herzog bedeutend weniger Interesse an dem Schuldnachweis des Negers hatte als daran, daß die Öffentlichkeit nichts über die Tragödie erführe.

»Glauben Sie, daß es möglich sein wird, diesen zweiten Mord den Zeitungen fernzuhalten?« erkundigte er sich besorgt. »Ich brauche nicht erst zu betonen, wie sehr ich mich Ihnen dadurch verpflichtet fühlen würde. Ich glaube auch im Sinne Sir Charles' zu sprechen.«

»Das hängt großenteils von Ihnen selbst ab, Herr Herzog. Wenn Sie damit einverstanden wären, eine etwas ungewöhnliche Untersuchungsmethode vorzunehmen, glaube ich nicht, daß es sich nötig erweisen wird, die Ereignisse in die Öffentlichkeit zu zerren.«

In kurzen Worten erklärte nun der Arzt dem Herzog, worum es sich bei dem Wunsche des Negers, sich einer Schuldprobe zu unterwerfen, handelte. Der Herzog war zwar erstaunt, aber der ausgeworfene Köder der absoluten Geheimhaltung der Tragödie genügte, ihm die Zustimmung zu entlocken. Um seinem Familiennamen einen Skandal fernzuhalten, würde er seine Zustimmung zu noch merkwürdigeren Dingen gegeben haben, und er nahm deshalb die vorgeschlagene Prozedur in ihrem ganzen Umfang an.

Der Neger hatte offenbar große Angst. Unschuldig oder schuldig, war es dem Neger, fern seiner Heimat und in einem fremden Land mit fremden Menschen und Sitten, schrecklich, einer derartigen Anschuldigung ausgesetzt zu sein. Als einzige Stütze galt ihm offenbar sein Herr, dem er daher seine großen Augen flehend zuwandte.

Der junge Offizier verließ ihn nicht. Einige Fragen und Antworten wurden in der Haussasprache zwischen ihnen ausgetauscht, die der Hauptmann anschließend übersetzte.

»Er wiederholt, daß er an beiden Morden schuldlos sei. Er weiß nichts davon. Er bittet weiter, ihn der in seinem Lande üblichen Schuldprobe zu unterziehen.«

Der Herzog nickte großmütig. Nach kurzer Beratung über die Handhabung der Prozedur, wurde der Verwalter fortgeschickt, um eine Schale Reis zu besorgen. Theobald erklärte dem Neger, was beschlossen worden war, und nach einigen zwischen Herrn und Diener gewechselten Worten wandte sich Theobald dem Herzog zu:

»Falai erwartet, daß jeder der Bewohner des Hauses sich der gleichen Prozedur unterziehen soll. Das allein vermag ihn selbst dazu zu bringen, denn er muß die Gewißheit haben, daß man ihn gerecht behandelt. Jeder,« wiederholte der Hauptmann mit Betonung.

»Bin ich etwa darin auch mit eingeschlossen?« erkundigte sich der Herzog hochmütig.

»Sogar die Frau Herzogin, befürchte ich!«

»Unmöglich. Nicht einen Augenblick würde ich das erlauben.«

Tarleton hatte diesen Widerspruch erwartet, auf den er scheinbar sofort einging.

»Im großen und ganzen betrachtet, glaube ich, daß Sie recht haben, Herzog. Dies ist eine etwas ungewöhnliche Prozedur, und ich halte es, wenn ich mir die Sache nochmals überlege, für besser, den Neger gleich der Polizei zu übergeben.«

Schon das Wort »Polizei« genügte, um den Herzog zu einer anderen Meinung zu bringen.

»Nein, nein, Doktor! Wir wollen die Sache nicht überstürzen. Letzten Endes hat der arme Teufel hier mit seinem Wunsche recht, und es wird niemand weh tun, eine Handvoll Reis zu verschlucken.«

Und so kam es, daß der erstaunte Burrowes, als er mit einer Schale Reis in die Bibliothek zurückkam, den Befehl erhielt, jeden Bewohner des Hauses sofort in die Bibliothek vor den Herrn zu zitieren.


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