Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Niemand konnte leugnen, daß Burrowes diesmal wirklich überrascht war; er drehte sich um und starrte dem Neger nach. Der Gedanke, daß zwischen dem Mord und Hauptmann Theobalds Diener irgendeine Verbindung bestünde, war ihm scheinbar neu, und keineswegs angenehm.
»Aber, Herr, Sie werden doch sicher nicht den Verdacht …?«
»Pst, mein Amt ist nicht, hier Leute zu verdächtigen, sondern die Ursache der Vergiftung herauszubekommen. Es gibt Gifte in Nigeria, die schnell den Tod herbeiführen. Bitte, tun Sie, was ich Ihnen sage. Wo ist der Leichnam?«
Der achtbare Diener schauderte.
»Er liegt in meinem Zimmer, Herr Doktor, im obersten Stockwerk. Ich habe es für das beste gehalten, mein Zimmer dazu herzugeben. Er liegt auf meinem eigenen Bett.«
Er war rasch vorausgegangen, als wäre er nunmehr genau so darauf bedacht, die Sache aufzuklären, wie der Arzt selbst. Als sie im ersten Stock angekommen waren, hielt Burrowes einen Augenblick inne, indem er nach einem durch einen Vorhang verdeckten, kleinen Raum zeigte:
»Hier habe ich den Toten gefunden.«
Der Arzt warf einen Blick in einen kleinen, kaum drei Meter im Quadrat messenden Alkoven, der durch einen orientalischen Teppichvorhang gegen die Treppe abgeschlossen war. Das Dach sowohl als auch die entferntere Wand waren aus Glas, und eine Anzahl Blumentöpfe standen in Reihen auf kleinen Regalen an den Seiten entlang.
Wie auch der Verwalter schon vorher berichtet hatte, waren keinerlei Spuren eines Kampfes zu sehen, jedenfalls keine Blutspuren. Wenn niemand versucht hatte, die Spuren zu verwischen, dann mußte der Tod plötzlich und absolut kampflos gewesen sein. Ein Blick durch die Glaswand zeigte einen kleinen Hof, von hohen Mauern umgeben, die sicherlich für Einbrecher nicht leicht zu überklettern waren; auch ohne diese Tatsache war der Arzt überzeugt, daß der Tote bestimmt nicht als Einbrecher das Haus betreten hatte.
Dr. Tarleton schüttelte ungeduldig den Kopf und winkte seinem Führer zu, weiterzugehen. Stockwerk um Stockwerk und Korridore und Räume passierten sie, ohne daß sich Lebenszeichen regten.
Immer noch schien der große Palast in tiefstem Schlummer zu liegen, und kein Laut außer den Schritten der beiden, gedämpft durch den dicken Teppich, war zu hören. Aber bald konnte man bemerken, daß diese Ruhe im Hause nur trügerisch war, denn sie hatten kaum das dritte Stockwerk erreicht, als ein unterdrückter Schrei von Burrowes seinen Begleiter nach links den Korridor entlangblicken ließ, wo sich ihm ein Bild zeigte, das sowohl gefällig als auch überraschend wirkte. Es war ein junges Mädchen von seltener Schönheit, das sich ihm zeigte. Ein leichter Frisiermantel, der ganz aus Spitzen und Stickerei zu bestehen schien, umflutete sie, während die bloßen Füße aus seidenen Pantöffelchen hervorschauten. Das ungebändigte Haar umwallte die weißen Schultern. Sie war nicht weniger als die beiden Herren überrascht, als sie ihrer ansichtig wurde, und blickte ihnen furchtsam entgegen.
Tarleton war sich nicht im Zweifel, wer die schöne Erscheinung sei; er verstand nun auch die Begeisterung, mit der sich Burrowes über die Dame geäußert hatte. Sogar er, der doch schon im reiferen Alter stand, fühlte, wie sein Herz rascher klopfte, als er eine verlegene Verbeugung machte. Der Eindruck, den die plötzliche Erscheinung der jungen Dame auf Burrowes machte, war ganz anders; er sah furchtsamer aus als das junge Mädchen selbst und verriet dies in einem leichten Ton des Tadels, als er die Dame anredete:
»Aber Lady Rosa! Was machen Sie hier draußen zu dieser frühen Morgenstunde?«
Die junge Herrin hatte schnell ihre Selbstbeherrschung zurückgefunden, sie richtete sich mit einem ihr gutstehenden Stolz auf:
»Ich wüßte nicht, Burrowes, was Sie das anginge. Lady Agatha ist nicht in ihrem Zimmer, und ich wollte sehen, was los ist.«
»Ihre Herrlichkeit kommt oft noch später heim als es jetzt ist,« erwiderte der Verwalter.
»Das wohl, aber …,« sie unterbrach sich, und sah Tarleton an, als wenn seine Gegenwart sie abhielte, sich weiter zu äußern.
»Hier scheint etwas los zu sein. Wer ist dieser …?«
Ihre Augen überprüften den Arzt, seine ungebürsteten Kleider, aber auch sein beherrschtes, charaktervolles Gesicht, und sie schloß in weniger verächtlichem Tone: »… dieser Herr?«
Der Diener hatte die Sprache verloren, und das erste Mal, seit ihn der Arzt kannte, auch seine Beherrschung. Er konnte nur stottern – – –.
»Verzeihen Eure Herrlichkeit – – –.«
Diesmal war es der Arzt, der die Lage rettete. Es war ja nicht das erste Mal, daß von ihm verlangt wurde, über seine Anwesenheit in fremden Häusern Auskunft zu geben, ohne den wirklichen Grund zu verraten; die Erklärung für Lady Rosa war deshalb schnell gefunden:
»Ich bin Sachverständiger für gesundheitliche Fragen,« sagte er in beruhigendem Ton. »Der Herzog hat mich auf den Rat Sir Philipp Blennerhassets hin kommen lassen. Hoffentlich habe ich Sie nicht gestört.«
Die Besorgnis schwand aus den Blicken der jungen Dame, die nun sanft errötete, als sie sich der leichten Kleidung, in der sie dem Fremden gegenüberstand, bewußt wurde.
»Nein, absolut nicht, – bitte, entschuldigen Sie sich nicht,« sagte sie mit einem bezaubernden Lächeln, das in des Doktors Ehrbarkeit alles Vertrauen zu setzen schien. »Ich dachte, ich hörte jemand herumgehen, und kam heraus, um zu sehen, wer es sei.«
Sie nickte ihm graziös zu und wandte sich der Richtung wieder zu, in der ihr Zimmer lag.
»Lady Rosa!« flüsterte Burrowes voller Sorgen. »Ich möchte keinesfalls, daß sie etwas von den Geschehnissen erfährt.«
Tarleton betrachtete ihn zum ersten Male mit wirklicher Sympathie.
»Sie können sich darauf verlassen, daß ich mein Möglichstes tun werde, damit sie nichts erfährt – das heißt wenn es die Gerechtigkeit des Falles zugibt.«
Burrowes runzelte die Stirn, als sei er der Meinung, daß die Belange der Justiz unbedingt hinter denen des herzoglichen Hauses zurückzutreten hätten, obgleich er wirklich dankbar war, daß der Arzt so viel Rücksicht für die junge Dame aufbrachte; von diesem Augenblicke an wandelte sich sein Benehmen gegen den Doktor.
Sie stiegen die Treppe zum vierten Stock empor, wo der Gang enger war, und die näher beisammenliegenden Türen andeuteten, daß auch die Zimmer kleiner seien – man mochte sie für die Dienerschaft der Besucher reserviert halten, oder für Diener höheren Grades des eigenen Hauses. Als sie sich einer der geschlossenen Türen näherten, wurde die Ruhe des herzoglichen Verwalters wieder schwer auf die Probe gestellt. Das Murmeln einer Stimme – – scheinbar einer betenden – drang durch die Zimmertür auf den Korridor hinaus.
»Um Gottes Willen,« rief der überraschte Mann aus. »Jemand hat den Körper entdeckt.«
Ohne zu antworten, drückte Dr. Tarleton den Griff nieder und warf die Tür auf. Was sie sahen, war ebenso merkwürdig wie eindrucksvoll.
Der Körper eines jungen Mannes von gepflegtem Äußeren – genau wie ihn Burrowes beschrieben hatte – lag auf dem im Zimmer stehenden Bette ausgestreckt. Am Fußende stand ein kleines Tischchen, mit weißer Leinwand umkleidet, und diente als Altar. Neben diesem improvisierten Altar kniete eine junge Frau, gekleidet in schwarzen Habit, mit weißem Kragen und Häubchen der Nonnen. Sie hatte ein Gebetbuch in der Hand und betete laut.
»Lady Agatha!« brach der erschreckte Verwalter los. »Wie haben Sie dies erfahren?«
Die junge Dame, in ihrem Gebet unterbrochen, erhob sich und schloß ihr Gebetbuch. Ihr Gesicht war von einer fahlen Blässe, und der Doktor glaubte in ihren Augen das Feuer religiösen Fanatismus zu bemerken. Sie erweckte den Eindruck, als hätte sie geweint.
Sie wandte Burrowes ihr trauriges Gesicht zu und sagte im Tone schweren Vorwurfs:
»Ich weiß mehr davon, was in diesem Haus der Sünde vor sich geht, als Sie vermuten.« Und indem sie beinahe einen Blick des Hasses auf den Fremden warf, wandte sich Lady Agatha an diesen:
»Wenn Sie ein Arzt sind, Herr – so vermute ich wenigstens – dann kommen Sie zu spät. Jetzt hat nur noch ein Priester das Recht, hier zu weilen.«
Dr. Tarleton war nicht so leicht einzuschüchtern, aber er konnte keine passende Antwort auf die verachtungsvollen Worte finden. Es schien, als sollten die Vorwürfe ihm wie auch dem Diener ihres Vaters gelten; sie versuchte es nicht, ihre Kenntnis von einem Verbrechen zu verbergen, das vertuscht werden sollte, und gab gleichfalls zu erkennen, daß sie der Meinung war, daß der Arzt dazu seine Hand leihen wollte.
Was den sonst so ruhigen Burrowes anbetraf, so war es beinahe mitleiderregend, seinen Zusammenbruch mit anzusehen. Die angebliche Unwissenheit, die er bisher – seiner Meinung nach – so gut aufrechterhalten hatte, war mit einem Schlage zerstört. Angesichts der offenen Anschuldigung, die in Lady Agathas Worten gelegen hatte, war es nutzlos, weiterhin vorzutäuschen, daß der vor ihnen liegende Tote ins Haus eingebrochen und als gemeiner Dieb zu seinem Ende gekommen war. Weder seine Identität, noch auch, was er eigentlich im Hause des Herzogs zu suchen hatte, waren allem Anschein nach ein Geheimnis für die älteste Tochter des Hauses.
Während der Arzt noch nach Worten suchte, um eine Frage zu stellen, hatte der Verwalter endlich seine Geistesgegenwart wiedergefunden.
»Ich flehe Eure Herrlichkeit an, kein Wort mehr ohne die Genehmigung Seiner Gnaden zu sprechen. Doktor Tarleton« – hier verbeugte er sich gegen diesen – »ist auf Wunsch Seiner Gnaden im Hause.«
Ein kaltes Lächeln huschte über Lady Agathas Lippen, aber Tarleton wandte sich mit strengen Worten dem Verwalter zu:
»Ich möchte Sie, Mr. Burrowes, darauf hinweisen, daß ich dergleichen Instruktionen nicht in meiner Gegenwart zu dulden vermag. Ich möchte Sie weiter darauf aufmerksam machen, daß ich Beamter des Innenministeriums bin, und es scheint mir hier ein krimineller Fall vorzuliegen. Ich kann vorläufig über meine weiteren Schritte in dieser Sache noch keine Entscheidung treffen, aber wenn ich merke, daß mir etwas verheimlicht wird, würde ich mich sofort genötigt sehen, die Polizei zu benachrichtigen.«
Der Verwalter errötete tief erschrocken. Die Beterin hatte der Rede des Arztes mit der Geistesabwesenheit eines Menschen zugehört, dessen Gedanken ganz wo anders weilen, und ihre Miene veränderte sich nicht, als der Sachverständige sie ansprach:
»Ich bin gerufen worden, um die Todesursache dieses Mannes festzustellen. Wenn Sie dieses Geheimnis irgendwie aufklären können, bitte ich Sie, dies zu tun.«
»Alles, was ich zu sagen beabsichtigte, habe ich bereits gesagt,« war die Antwort Lady Agathas, im gleichen verachtungsvollen Ton gesprochen, wie ihre früheren Worte. »Es wäre ja doch zwecklos, wenn ich Ihnen sagen würde, daß er durch eine Heimsuchung Gottes umgekommen ist.«
»Gott macht aber manchmal von menschlichen Werkzeugen Gebrauch,« erwiderte Tarleton, der durch das Benehmen Lady Agathas etwas aufgebracht war. »Wenn Sie über diese Angelegenheit wirklich etwas wissen, dann ist es Ihre Pflicht, im Interesse der Gerechtigkeit …«
»Menschliche Gerechtigkeit bedeutet mir gar nichts,« gab die Fanatikerin unbewegt zur Antwort. Sie warf einen trauernden Blick auf den Toten. »Seine Sünde ist auf ihn zurückgefallen, aber er war noch nicht der schlimmste unter diesen Sündern. Ich verlasse Sie, meine Herren, – tun Sie Ihre Pflicht.«
Mit leiser Herablassung verbeugte sie sich leicht und verließ das Zimmer.
Dr. Tarleton schob sich selbst die Schuld zu, daß er sich in der kleinlichen Erregung eines Augenblickes von seinem Temperament hatte hinreißen lassen, wo er durch Diplomatie vielleicht etwas hätte erfahren können.
Seine Gedanken wurden durch den Verwalter unterbrochen:
»Ich bitte Sie, Herr Doktor, den Reden der Lady Agatha keinerlei Wichtigkeit beizumessen, denn seit sie dem Schwesternorden beigetreten ist, ist sie ein wenig merkwürdig – streng in ihren Ansichten geworden, wenn ich mich so ausdrücken darf. Seine Gnaden ist darüber sehr trostlos, und er würde tief erschrecken, wenn er von dieser Szene erführe.«
Der Spezialist nahm seine Uhr heraus und pendelte sie nachdenklich hin und her. Obgleich er bisher noch nicht das Vergnügen gehabt hatte, den Herzog kennen zu lernen, war er doch sicher, daß Seine Gnaden einer jener Leute war, die nicht die volle Zustimmung einer Frommen zu ihren Taten bekommen hätten. Es war offensichtlich, daß seine Tochter Dinge erfahren hatte, die nicht gerade mit ihren sittlichen Begriffen übereinstimmten. Auch die zweite Heirat des Herzogs mußte die Gefühle der Töchter verletzen, besonders der ältesten, die sich ja bereits als Herrin des Hauses gefühlt haben mußte. Alles wies darauf hin, daß eine sehr ernsthafte Entfremdung zwischen Vater und Tochter eingetreten war. Auch schien Lady Agatha nicht ganz von der Selbstgerechtigkeit und Einbildung frei zu sein, die zu den Schattenseiten der Sittenstrengen nun einmal gehören. Im großen und ganzen war Tarleton nicht geneigt, die Reden Lady Agathas für bare Münze zu nehmen, obgleich er sich dazu entschloß, Burrowes von der Sorge, die dieser anscheinend in dieser Beziehung hegte, nicht so schnell zu befreien.
Er antwortete deshalb mit kalter Stimme:
»Ich kann mich natürlich nicht in Ihr Vertrauen eindrängen, Mr. Burrowes, wenn ich auch nicht daran zweifle, daß Sie nur unter dem Gefühl, Ihrem Herrn die Treue wahren zu müssen, so handeln. Ob Sie dabei Befehlen des Herzogs nachkommen oder nicht, vermag ich nicht zu sagen. Sie dürfen sich dann aber auch nicht wundern, wenn ich auch mein Wissen für mich behalte. Jedenfalls wissen wir doch jetzt alle beide, daß Lady Agatha von dieser Sache mehr ahnt als wir, das heißt, mehr als ich, denn wir haben sie ja hier im Zimmer bei der Leiche angetroffen. Woher, denken Sie denn, hat sie davon erfahren, daß hier im Hause etwas passiert ist?«
Der Verwalter schüttelte trostlos den Kopf.
»Ich weiß nur, daß Ihre Herrlichkeit sehr früh aufsteht, um am Morgengottesdienst in St. Alfgar in Brompton teilzunehmen. Sie muß gesehen haben, wie wir den Leichnam hier heraufgetragen haben.«
»Kommt sie denn auch spät nachts nach Hause?«
»Manchmal, Herr Doktor. Lady Agatha ist freiwillige Helferin in der gynäkologischen Klinik in Claridge Street, und ich weiß, daß sie sogar schon die ganze Nacht ausgeblieben ist.«
Die Uhr des Sachverständigen pendelte schneller hin und her, denn das Zugeständnis, das Lady Agatha gemacht hatte, sie sei über alles, was im Hause vorgehe, unterrichtet, erschien ihm nun glaubhaft; bei ihrem Kommen und Gehen zu allen Nachtstunden mußte sie oftmals verstohlene Besucher des Hauses getroffen haben. In dieser Nacht hatte sie vielleicht den Unglücklichen die Treppe hinaufschleichen sehen, und es war sogar möglich, daß sie Augenzeuge seines Todes gewesen war.
Die goldene Taschenuhr des Arztes hatte sich in immer schnelleren Schwingungen um den Finger gedreht, während Dr. Tarleton all dies erwog. Jetzt steckte er die Uhr wieder in seine Tasche, während er sich zusammenraffte, um seinen beruflichen Pflichten gerecht zu werden.
»Sie können jetzt Sir Philipp Blennerhasset benachrichtigen, daß ich gekommen bin. Wahrscheinlich will er hier mit dabei sein,« sagte er seinem Führer.
Der Verwalter warf einen bedrückten Blick auf die lang ausgestreckte Gestalt auf seinem Bett und verließ offensichtlich nur ungern das Zimmer. Er wußte selbstverständlich, daß seine Anwesenheit bei der Autopsie nicht geduldet werden würde. Aber es waren andere Entdeckungen, die er bei der Sezierung des Körpers befürchtete.
Tarleton näherte sich dem Bett, um nach den Symptomen, die er befürchtete, zu suchen; diese aber waren noch nicht in Erscheinung getreten. Der Hausarzt des Herzogs war nicht im Irrtum gewesen, als er den Tod, vor einigen Stunden eingetreten, feststellte. Das bemerkte der Spezialist auf den ersten Blick. Als er das Leinentuch zurückzog, sah er, daß der ihm gegebene Bericht bisher vollkommen richtig war, denn nicht die geringste äußerliche Verletzung ließ sich sehen, woraus man hätte schließen können, wie der Unglückliche ums Leben gekommen war. Der Körper war in einen tadellos passenden Frackanzug gekleidet. Das Fehlen der geringsten Verletzung – eines Kratzers oder Fleckens – schien die Bemerkung des Verwalters zu rechtfertigen, daß keine Gewalttat vorläge, und so war vorläufig auch die Theorie des Selbstmordes nicht zu widerlegen. Aber Tarleton lächelte, als er den kostbaren Ring sah, der an der linken Hand des Opfers funkelte und blitzte. Wenn der Arzt nicht schon die Theorie eines Einbruches von sich gewiesen gehabt hätte, dann würde er es sicherlich angesichts des kostbaren Schmuckes getan haben.
Es war nun notwendig, den Leichnam zu entkleiden, um ihn genauer nach Verletzungen irgendwelcher Art zu untersuchen, und er führte dies mit einer Zartheit aus, die im krassen Gegensatz zu seiner sonstigen rauhen Art stand. Gleichzeitig vollzog er als Beamter der Polizei die Untersuchung, denn er war sicher, daß der Verwalter ihn in die Irre zu führen versuchte. Er leerte die Taschen eines jeden Kleidungsstückes des Toten, in der Hoffnung, ihn identifizieren zu können. Die Taschen enthielten keinerlei Schriftstücke, Brieftasche oder Visitenkartentäschchen, aber auch kein Taschentuch, durch die man die Person hätte feststellen können. Man mußte unvermeidlich zum Schluß gelangen, daß jemand vor dem Arzt die Taschen des jungen Mannes untersucht und alles, was auf seine Person hinwies, entfernt hatte.
Der übrige Inhalt der Taschen war unangetastet geblieben: eine Uhr, ein wertvolles Streichholzetui, eine größere Geldsumme, ein Stahlschlüsselchen und ein Bund mit andern Schlüsseln. Aber Burrowes – wenn er es war, der die Taschen des Toten durchsucht hatte – hatte einen sehr bedenklichen Fehler begangen, denn am Schlüsselbund entdeckte das scharfe Auge des Sachverständigen den kleinen Messingschlüssel, das Gegenstück zu dem, mit dem der Verwalter die Hintertür des herzoglichen Palais geöffnet hatte, als er den Arzt einließ.
»Aha! Das muß ich gut in Verwahrung nehmen,« murmelte der Arzt vor sich hin, während er den kleinen Schlüssel vom Ring löste und ihn in die Tasche steckte.
Diese Entdeckung ermutigte ihn, nach weiteren Fehlern des Durchsuchers zu forschen. Er hatte gerade in diesem Augenblick an das Etikett gedacht, das die meisten Schneider in die Kleidungsstücke irgendwo einzunähen pflegen und auf das sie den Namen – meist auch die Nummer, die die Kunden in ihren Büchern führen – einschreiben. Wieder wendete er die Kleidungsstücke des Toten hin und her und entdeckte endlich in der inneren Brusttasche des Fracks ein Etikett, auf dem ein Name geschrieben stand – »E. Dunlop«.
Obgleich ihm der Name in diesem Stadium der Untersuchung nichts bedeutete, war dessen Kenntnis für Dr. Tarleton doch zu wichtig, als daß dieses Beweismittel vernachlässigt werden durfte. Er nahm eine Arztschere aus seinem Besteck, trennte das Etikett sorgsam heraus und steckte es zu dem bereits beschlagnahmten Schlüssel.
Nun, nachdem ihm nur noch die medizinische Untersuchung übrig blieb, nahm er sich mehr Zeit. Er zog aus seiner Tasche ein starkes Vergrößerungsglas und untersuchte zentimeterweise die Haut des Toten.
Er suchte nach Spuren des schrecklichen Giftes, auf das er bereits in seiner Unterhaltung mit Burrowes hingewiesen hatte. Als er den Nacken untersuchte, sah er ein ganz geringfügiges Zeichen, das wohl den Augen eines jeden andern Arztes entgangen wäre: eine ganz wenig entfärbte Stelle in der Haut, die weiter nichts anzeigen mochte, als daß der Tote diesen Flecken seit einiger Zeit nicht mit Wasser in Berührung gebracht haben mochte. Tarletons scharfes Auge sah aber, daß die schwarze Stelle dunkler wurde, je mehr sie sich dem Kopf näherte, und er drehte den Körper um. Dort, wo das Haar aufhört, war der Fleck am dunkelsten. Er führte nun sein Vergrößerungsglas an die Stelle, und hier sah er nun ein kleines, kaum sichtbares Loch – nicht größer als die Spitze eines Bleistiftes und genau so schwarz –.
Der Sachverständige richtete sich auf und holte tief Atem.
»Ganz, wie ich erwartet hatte,« murmelte er. »Ich sehe schon, das wird eine recht eklige Sache werden. Was mag dieser diskrete Diener seines Herrn eigentlich wissen?«
Als wenn der Verwalter dieses Selbstgespräch gehört hätte, öffnete er in demselben Augenblick die Tür und betrat das Zimmer. Er warf einen stark interessierten Blick auf die Arbeit, die der Arzt getan hatte, aber seine beherrschten Züge verrieten nichts.
Ein strenger Blick Dr. Tarletons rief ihm seine Botschaft ins Gedächtnis zurück.
»Eine Empfehlung von Sir Blennerhasset. Er läßt sagen, daß er die Angelegenheit vollkommen in Ihren Händen läßt. Er ist mit Seiner Gnaden im Arbeitszimmer, im Falle Sie ihn, ehe er das Haus verläßt, sprechen wollen.«
»Selbstverständlich will ich ihn sprechen,« antwortete der Sachverständige empört. »Sie haben mir doch gesagt, ich sei auf seinen Wunsch hinzugezogen worden.«
»So hatte ich es auch aufgefaßt, Herr Doktor,« war die respektvolle Entgegnung.
Tarleton starrte ihn mißtrauisch an.
»Also ist es doch natürlich, daß wir uns sprechen müssen. Was ist denn Sir Philipp nur eingefallen?«
Noch während er sprach, hatte der Arzt seine hochgeschlagenen Hemdärmel in Ordnung gebracht und zog seinen Rock, den er bei der Untersuchung der Leiche abgelegt hatte, wieder an. Dann nahm er sein Bestecketui in die Hand.
»Führen Sie mich sofort zu Sir Philipp!«