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IX.
Argonauticus

Der Titel wird S. 151 erklärt: »Ich steure durchs Meer, ein Argonaut, zu fernen Wundergestaden ...«

»Argonauticus.«

Zastrow und die Urninge des pietistischen, ultra montanen und freidenkenden Lagers.

Mit Erörterungen über Blutgier und Zurechnungsfähigkeit, kleinen Mittheilungen aus der Urningswelt und den Criminalfällen: Bischoff Morell von Edinburg, Graf Czarnecky in Posen, Superintendent Forstner zu Wien.

Numa Numantius: Buch IX.

Von
Karl Heinrich Ulrichs,

Privatgelehrtem, königl. hannov. Amtassessor a. D., Verfasser der zu Göttingen und Berlin academischer Preise für würdig erkannten Schriften »de foro reconventionis« und »de pace Westphalia«, sowie der Schriften über Urningsliebe »Inclusa«,»Formatrix«, »Gladius furens« und »Memnon«.

Leipzig.
A. Serbe's Verlag.

1869.

Titelblatt

Vorbemerkung

Vorbemerkung 1. Ich veröffentliche diese Schrift als Wort der Wissenschaft für Männer der Wissenschaft. Wer an ihrem Gegenstande Anstoss nimmt, vergisst, dass es sich hier um gar ernste Dinge handelt und dass es Beruf der Wissenschaft ist, absolut nichts unerforscht zu lassen. Wer durch subjectiven Abscheu sich zurückscheuchen lässt von einer Prüfung wissenschaftlicher Fragen, hat dadurch eo ipso das Recht verwirkt, sich einen Mediciner, Juristen oder sonstigen Diener der Wissenschaft zu nennen.

Vorbemerkung 2. Männer, welche in Folge angeborner Natur durch den Zug geschlechtlicher Liebe sich ausschliesslich zu männlichen Individuen hingezogen fühlen, nenne ich Urninge, ihre Liebe urnische, die ganze Erscheinung Uranismus. Der Urning ist ein Naturräthsel. Nur von Körperbau ist er Mann, nicht dem Liebestriebe nach. Sein Liebestrieb ist vielmehr der eines weiblichen Wesens.

Erwachsene Urninge zählt:

das bisherige Gesammtdeutschland etwa 25 000;
Oesterreich-Ungarn etwa 25 000–28 000;
Preussen etwa 1 000–12 000;
Wien etwa 1 000;
Berlin etwa 600–900

Die Statistik fehlt in der Neuausgabe von 1898. Die »Vorbemerkung 3« lautet: »›Argonauticus‹ ist eine erweiterte Ausgabe von ›Incubus‹« . Die Kennzeichnung der Erweiterungen und Zusätze ist entfallen.

Unter etwa 500 erwachsenen Männern oder 2 000 Seelen der Bevölkerung überhaupt findet sich in Deutschland durchschnittlich ein erwachsener Urning. Städte von 100 000 Einwohnern zählen mithin durchschnittlich 50.

*Nach neueren Beobachtungen, die freilich noch nicht genügend constatirt sind, bleiben diese Zahlen weit hinter der Wirklichkeit zurück. Fast die Doppelzahl würde man annehmen dürfen.

* Vorbemerkung 3. »Argonauticus« ist Erweiterung und 2. Auflage von »Incubus«. Die erweiternden Paragraphen und Zusätze sind mit * bezeichnet.


I. Einleitung zum Fall Zastrow.

§. 1. Es ist eine wahrhaft teuflische That, deren seit dem 17. Januar 1869 der 48jährige Lieutenant a. D. Karl Ernst von Zastrow zu Berlin beschuldigt wird. (Pädication, Körperverstümmelung, versuchte und vollendete Tödtung, an 2 unmannbaren Knaben verübt; unten §. 26. Es kann nicht meine Absicht sein, die That in Schutz zu nehmen. Diese Schrift ist keine Vertheidigungsschrift. Wohl aber begehre ich, dass jenes Recht, welches man anderen Angeklagten gewährt, voll und unverkürzt auch ihm zu Theil werde, begehre, dass dasselbe nicht etwa desshalb ihm geschmälert werde, weil er Urning ist, und wäre er auch Pädicant Pädicant: in VIII. Incubus hatte Ulrichs noch ›Päderast‹ geschrieben.. Im Rechtsstaat darf auch der Pädicant, der eines Verbrechens angeklagt ist, nicht rechtlos sein.

§. 2. *Meine Aufgabe, einen solchen Gegenstand zu berühren, ist fürwahr eine undankbare. War es nicht gerathener zu schweigen? Aber den Gegnern der Sache, die ich verfechte, war der Fall Zastrow ein gefundener Bissen. Waren sie doch schon so recht geschäftig daran, aus ihm Capital zu schlagen gegen die Berechtigung der Urningsnatur, die von ihnen nicht begriffene, die der Machtspruch ererbter Unwissenheit bisher zu Unnatur stempelte. Ihnen galt es das Handwerk zu legen. Und dann noch eins. Bisher waren gegen Urninge die wichtigsten Criminalprocesse abgehandelt, ohne dass man dabei von urnischer Seite je mitgeredet hätte. Zu Gefängniss, Zuchthaus, Kerker, Ehrlosigkeit, und wie die schauerlichen Namen alle heissen, waren sie verurtheilt, weil sie dem Zuge der Natur gefolgt waren. Hinterm Eisengitter waren etliche dahingesiecht und gestorben. Der Schande zu entgehn, hatten andre im Augenblick der Verhaftung sich vergiftet oder den Hals sich zerschnitten. Das alles hatten die Urninge über Urninge schweigend ergehn lassen. Eingeschüchtert durch den Terrorismus der öffentlichen Meinung, hatten sie sich in Schlupfwinkel versteckt, von wo aus sie den Entwicklungsphasen des Schauspiels zusahn, sträflich feig, wenn schon verzweiflungsvoll sich die Haare ausraufend. Und doch hätten sie Aufklärungen geben können, für die vielleicht selbst der Richter, wahrscheinlich schon damals der Gesetzgeber, jedenfalls die Wissenschaft dankbar gewesen wäre. An ihnen war's, laut mitzureden, belehrend, protestirend, Halt gebietend, überall da, wo man Urningsliebe als Unnatur behandelte, überall, wo ein Urning Gefahr lief, blinder Wuth zur Beute zu werden. Und gerade in Atrocitätsfällen ist schweigen um so gefährlicher. Für mich galt es zu zeigen, dass jener Terrorismus nichts ist, als ein schreckendes Gespenst, dass diese schmachvolle Zeit überwunden ist. Und so beweist denn diese Schrift durch ihre Existenz, dass wir vorwärts gekommen sind.

§ 3. Die Thatfrage: War von Zastrow der Thäter? prüfe ich nicht, soweit sie nämlich aus den gewöhnlichen Beweismitteln zu beantworten ist. Ich prüfe nur, wie v. Z. zu beurtheilen ist, wenn er wirklich der Thäter war. Für die Thatfrage habe ich dagegen allerdings eine eventuelle Antwort vom Standpunct der Naturwissenschaft. (§66.)

Auch prüfe ich nicht die Frage: ob und wie, wer solche Grausamkeiten verübt, polizeilich unschädlich zu machen sei. Mich beschäftigt nur das Verfahren vor Gericht, nur die Frage: strafen oder nicht strafen?

§ 4. Dass v. Zastrow's Geschlechtsnatur identisch ist mit der der Urninge, die ich im »Memnon« geschildert, scheint mir nicht zweifelhaft.

Berliner Zeitungen sprachen von seiner »Rauhheit gegen Damen« und wie er »von den Frauen sich stets zurückgezogen habe.« Das sind Symptome jenes Horrors vor dem weiblichen Geschlecht, welcher jedem Urning angeboren ist.

Desgl. von »der Weichheit des Ausdrucks seiner Gesichtszüge«. Stimmt überein mit Memnon §. 92.

Dgl. von seinem »schattenhaften, katzenartig leisen Auftreten« und seinem unstäten, unheimlichen Benehmen.« Dies ist, gehässig geschildert, eine weiche, halbweibliche Gemüthsart, niedergebeugt unter dem Druck erlittener Demüthigungen, welche neuen Kränkungen, einem gehetzten Thiere gleich, scheu aus dem Wege geht.

Seine Vorliebe für geistliche Musik und für Andachtsbücher entspricht der weichen Gemüthsstimmung, welche den meisten Urningen eigen ist. Heuchelei zu wittern ist grundlos. Der Urning ist fast stets einsam gestellt. Mit halb weiblicher Gemüthsart begabt, kleben ihm darum, wenn die Jugend entfloh, oft Eigenthümlichkeiten an, welche jenen einer einsam gebliebenen alternden Jungfer gleichen. Gleich ihr ist er Haltes und Trostes bedürftig. Gleich ihr sucht er beides gern in der Religion, namentlich nach tiefgefühlten Kränkungen. Gleich ihr hascht sein Gemüth gern in der Religion nach Besänftigung seiner geheimen Qual bei aufgezwängter geschlechtlicher Entsagung. In weiblich gearteten Gemüthern wohnt Religiosität oft neben heftiger Liebesbedürftigkeit, ja maassloser Sinnlichkeit. Gerade bei Urningen kenne ich davon Beispiele. Begreiflich ist es, dass Liebesbedürftigkeit durch religiöse Schwärmerei oder Andachtsübungen nicht ausgerottet wird.

Dies erwidre ich zugleich jenen, welchen jüngst die schwärmerische »Frömmigkeit« des Gymnasiallehrer Dr. Preuss zu Berlin eine so willkommene Handhabe bot zu höhnen, als es an den Tag kam, dass er die schönen jungen Primaner seines Gymnasiums so ausserordentlich lieb gehabt.

Natürlich behaupte ich nicht, der Urning allein verstehe nicht die moderne Kunst, Frömmigkeit zu erheucheln.

§. 5. In Beziehung zu von Zastrow stand ich nie.

Als am 24. April 1867 der preussische General von Voigts-Rheetz meiner ausgesprochen politischen Rechtsanschauung wegen mich zum 2. Mal ohne Richterspruch zum Staatsgefangenen machte und auf die Festung Minden führen liess, wurden zugleich (vergl. Memnon II. S. XXXIII) aus meiner Wohnung in Burgdorf bei Hannover meine sämmtlichen Papiere polizeilich hinweggebracht. Darunter befanden sich auch mir zugegangene Verzeichnisse von Londoner, Pariser, italienischen und Berliner Urningen. Das für Berlin, etwa 150 Namen enthaltend, zum Theil sehr hochgestellte, enthielt auch den Namen von Zastrow.

Die Berliner »Börsenzeitung« vom 20. Feb. schreibt: »Offen und mit Vorliebe ergeht er sich in Bekenntnissen seiner Männerliebe, einer Liebe, welche in den vielgenannten Schriften des früheren hannoverschen Amtsassessors Ulrichs auf organische Ursachen und seelische Bedingungen zurückgeführt wird. Den Inhalt dieser Schriften hat er sich sehr zu eigen gemacht. Dieselben, namentlich »Memnon«, wurden auch in seiner Bibliothek vorgefunden.« Dies offene Bekennen seiner Männerliebe weckt meine vollste Sympathie. Ebenso sein wahrlich kühnes öffentliches Auftreten zu Gunsten des Dr. Preuss in einem Kaffeehause der Friedrichstadt (von dem die »Tribüne« erzählt), wobei er »derb unterbrochen« ward. (Natürlich! Wer kann unter dem bisherigen System da etwas andres erwarten als Rohheit!)

»Tribüne« schreibt: »Nie nahm er ein schmutziges Wort in den Mund.«

Vor Jahren soll in Berlin ein jüngerer Officier, Urning, von den übrigen Officieren gezwungen worden sein, den Abschied zu nehmen, weil er kühner und ehrenhafter handelte, als sonst die Urninge zu thun pflegen. Liebe zu Weibern zu erheucheln, verschmähte er. Beharrlich vertheidigte er jenen gegenüber die Berechtigung mannmännlicher Liebe. Und jene? Seine Darstellungen beantworteten sie mit der Erklärung, nicht länger mit ihm dienen zu können. Ein Heldenstück! Da war er denn ja widerlegt. Man erzählte es mir 1865. Ich müsste mich sehr irren, wenn man mir nicht den Namen von Zastrow dabei genannt hätte.

*Einer seiner Verwandten, der commandirendo General für Westphalen von Zastrow, Excellenz, beiläufig sei es erwähnt, besuchte mich im Officiersarrestzimmer zu Minden, in welchem man mich gefangen hielt, und beehrte mich mit einer ziemlich schroffen, ja drohenden, Anrede politischer Tendenz, in die er die grosse Artigkeit einflocht: »Sie scheinen mir ein gebildeter Mann zu sein.« Auf meinen täglichen Spaziergängen hatte mich zuvor nur ein Unterofficier begleitet. Er fügte noch einen Soldaten hinzu, bewaffnet mit Gewehr, aufgepflanztem Bayonnet und 3 scharfen Patronen.

§. 6. »Börsenztg.« vom 5. März brachte von mir unterzeichnet die Erklärung:

»... Man hat anzudeuten gewagt, als seien meine Schriften von der Tendenz getragen, derartige Verbrechen, wie jene, deren v. Zastrow angeklagt ist, zu beschönigen. Auch ist die Furcht hervorgetreten, Urningsliebe sei an sich geeignet zu solchen Verbrechen zu führen. Jene Verbrechen werden von mir, wie von jedem der bei Verstand ist, verabscheut. Urningsliebe ist in gleicher Maasse angeboren, wie eigentliche Mannesliebe es ist, und führt ihrer Natur nach ebensowenig zu Verbrechen wie diese. Aehnliche Verbrechen wie jene geschehn auch in der Liebe der eigentlichen Männer, sei es bei vorhandner, sei es bei gestörter Zurechnungsfähigkeit.«


II. Die Urninge des pietistischen, ultramontanen und freidenkenden Lagers.

§. 7. Ich erwähnte der Invectiven auf den Dr. Preuss, und wie willkommen dem Hohn gerade seine Frömmigkeit war.

Ueberhaupt muss man lächeln, wenn man aus der Vogelperspective die Parteien beobachtet, wie sie ihre Gegenparteien spiessen und dolchen, sobald in deren Reihen plötzlich ein Urning auftaucht.

Wie lästerten Kreuzzeitung und »Norddeutsche Allgemeine« auf das »Welfenthum«, als man bei mir einen unerwarteten Fang gemacht hatte, bei mir, dem die Annexion Hannovers, von Deutschen gegen Deutsche vollführt, ein nie zu rechtfertigender Gewaltact ist. Bei meiner 2. Wegführung nach Minden fand nämlich die preussische Polizei unter meinen erwähnten Papieren eine ausserordentliche Menge von Aufzeichnungen, Manuscripten, Briefen etc. über Urningsliebe. *Man hat sie mir noch heute nicht zurückgegeben! April 1867 bis Sept. 1869! Und wie lästern jetzt die Blätter des Liberalismus da in den Kreisen eben jener beiden Blätter der fromme Preuss sich plötzlich als Urning entpuppt!

*Die Erwähnung meines politischen Standpuncts ist eine absichtliche. In Preussen bin ich seinetwegen persona ingratissima. Wird man dort dennoch meinen Erinnerungen Gehör gewähren, so wird damit bewiesen sein, dass ich zwingende Gründe vorbrachte.

*Zu Ende Jan. 1869 ward der 62jährige Lehrer Zeidler zu Spielberg bei Kösen (Preussen) verhaftet wegen desselben »Verbrechens gegen die Sittlichkeit«, sagt die »Nat.-Ztg.«, wegen dessen kürzlich Dr. Preuss vom Amt entfernt ward. Früher war auch er ein »Mignon der Feudalpartei«. Im März ward er zu Naumburg zu 2 ½ j. Zuchthaus verurtheilt.

Hieher gehört auch jener pietistische Kaufmann zu Minden, welcher als Urning »entlarvt« wurde, an dessen Verhaftung und Verurtheilung (11. Feb. 1868) liberale Blätter sich so sehr weideten. Memnon S. 109.

Das liberale »Frankfurter Journal« schlägt seit Jahren jedesmal Capital gegen den Katholicismus daraus, wenn unter den »ultramontanen« Geistlichen ein Urning »entlarvt« wird. So bei dem Pfarrer Hofer in Tyrol 1864 (Memnon § 135), ferner 1862 bei einem Pfarrer in Lüttich, den Nachts ein Schildwach stehender Soldat, »sittlich empört« über eine ihm zugedachte Liebkosung, arretirte, und der darauf nach Mastricht floh. Die ultramontane »Rheinische Volkshalle« zu Köln machte es 1850 umgekehrt ebenso, als ein liberaler nassauischer Schullehrer, welcher für »religiöse Reform« schwärmte, urnischer Neigungen überführt war.

§. 8. Den socialdemocratischen Lassalleaner Dr. von Schweitzer zu Berlin hat, wie notorisch, am 5. Sept. 1862 das Amtsgericht Mannheim in eine Polizeistrafe verurtheilt, (s. Inclusa S. 35), weil er im Mannheimer Schlossgarten bei einer unbedeutenden Spielerei mit einem jungen Burschen durch Unachtsamkeit »öffentliches Aergerniss« erregt hatte, d. h. von zwei neugierigen bejahrten Jungfern belauscht worden war. Mit welcher Wollust haben seine Gegner dieserhalb Pfeile auf ihn geschossen! Als am 7. Sept. 1867 die democratischen Wähler von Elberfeld-Barmen so viel Reife bekundet hatten, ihn trotzdem zum Parlamentsabgeordneten zu wählen (mit 9000 gegen 6800 Stimmen), erhob das Witzblatt der bismarckisch gesinnten Bourgeoisie, der »Kladderadatsch«, am 13. October 1867 folgendes durchbohrende Zetergeschrei:

»Stimme aus dem Grabe:
Das also ist Socialdemocratie?
Und der ist Anwalt für des Volkes Rechte?
So roth war ich im Lehen nie,
Als ich darob im Grabe werden mochte!

Ferdinand Lassalle.«

Und jetzt, da von Schweitzer als verkappter Anhänger Bismarcks gilt, ist »Kladderadatsch« gegen ihn fromm wie ein Lamm. Dagegen begegnen wir nun in der bismarckfeindlichen »Frankf. Ztg.« (Nr. v. 21. Feb. 1869) einer Druckfehlerberichtigung in folgender Gestalt:

»Leipzig, 18. Feb. ...
Nicht »formlose« Bursche nannte ich v. Schweitzers Agitatoren für Sachsen, sondern »harmlose.«
Was habe ich mit ihren »Formen« zu thun? Ich bin ja nicht ... Herr v. Schweitzer!«

Das interessante bei der Sache ist die naive Unschuld, mit der diese Stimmen, das Kladderadatschgesicht voran, dann jedesmal ihre Augen tugendhaft in die Höhe schlagen, in denen dann geschrieben steht:

»Ich danke dir, Gott, dass unsre Partei« nicht ist, wie diese hier!«

§. 9. Niemandem wird entgehn, dass die Presse mehr ultramontane, »fromme« oder conservative Urninge denunciirt, als andre. Ob denn die freidenkende Partei gar keinen Urning in ihrem Schoosse birgt, als nur jenen Lehrer, den 1850 die »Rh. Volkshalle« so glücklich war in Nassau zu entdecken? Man vergisst, dass jene Seite von mehr »Entlarvern« überwacht wird! Die Correspondenten der nationalliberalen und der wirklich liberalen Blätter sind über ganz Deutschland zerstreut. Wer wird so grausam sein, von denselben die Denunciation gegen eignes Fleisch und Blut zu fordern?

Nachtrag. Zu den liberalen Parteien, welche in ihrer Mitte einen Urning bergen, gehörte 1848 –1850 auch die Bremer Democratie. Einer ihrer Hauptführer war Johannes Rösing, aus angesehener alter Patricierfamilie, als Urning damals wohlbekannt.

§. 10. Doch nein; der Wage Zünglein schwankt. Die Ultramontanen dürfen Revanche nehmen. Zu Wien, 21. Feb. 1869 Abends, hat der Artillerist Anton Vogel, 11. Artillerieregiments, einen Herrn der Polizei vorgeführt, und angezeigt, derselbe habe soeben um ¼ 9 Uhr im Stadtpark ihn angesprochen und zu einer unsittlichen Handlung aufgefordert; worauf er denselben sofort gezwungen habe, ihm zur Polizei zu folgen. Zögernd gab sich der Herr zu erkennen. (Wiener »Presse« v. 24. Feb.) Es ist wiederum ein Mann der »religiösen Reform«, einer, der mit Eclat aus der kath. Kirche ausgetreten war, Karl Forstner, der erst 25j. Superintendent der »Unitarier« zu Wien. (Ein Bekenntniss, dem Christus »Mensch« ist und die Bibel »historischen Werth« hat.) Man setzte ihn auf freien Fuss, leitete aber eine Untersuchung ein. Ob der Denunciant nicht auch hier, wie gewöhnlich, heimtückisch, um einen Urning denunciren zu können, eine Falle gestellt, ob nicht gerade er provocirt hatte? Die Berliner »Zukunft« schrieb: »Das Beispiel der Preuss, Zastrow und Comp. scheint in Oesterreich zu zünden. Der Superintendent der Unitarier befindet sich in Untersuchung wegen – – einer einem Kanonier gemachten Liebeserklärung.« Sogleich bemächtigte sich des Vorfalls der Wiener »Kikeriki«. Die Nr. v. 11. März bringt ein Bild: Scene Stadtpark; Bank; rechts daneben ein Kanonier, links, rasch davonlaufend, ein Herr mit dem Hals-Insigne eines Geistlichen. Dieser ruft: »Der Artillerist dort will einen unsittlichen Discurs mit mir führen und so etwas kann ich nicht hören. Das geschieht mir hier schon zum 2. Male!«

§ 11. Kikeriki thäte wohl, auch einmal die Gaunerbande der »Rupfer« abzumalen, die eben den Wiener Stadtpark zu ihrem Revier ausersehen haben, um gegen Urninge mit ehrlos vorgespiegelter Liebe Erpressung zu treiben unter dem Schirm des alten Strafgesetzbuchs, das man noch immer nicht beseitigte. Am 3. Feb. 1868 hat indess das Wiener Landesgericht doch den Kellner Joseph Wahli wegen Erpressung zu 8 Monat Kerker verurtheilt, welcher eben diesem Forstner im Stadtparke gedroht hatte, wenn er nicht 20 fl. zahle, ihn wegen eines unsittlichen Attentats anzuzeigen. Auf Forstners Verlangen hatte man ihn damals auf der Stelle verhaftet. In der Verhandlung erklärte er: ein Kamerad von ihm habe schon oft und mit Erfolg solche Versuche gemacht, namentlich bei jungen Geistlichen. (»Presse« v. 24. Feb. 1869.) Wiener »Tagblatt« v. 4. Feb. 1868.)

[In grellem Contrast zu diesem energischen Verfahren gegen einen Rupfer zu Wien, dem noch andere Fälle zur Seite stehn, steht, beiläufig erwähnt, das zweischneidige Vorgehen in Berlin. Ein Urning hatte mit einem Kellner ein Liebesverhältniss angeknüpft. Bei einem Besuche aber, den der Liebhaber dem Geliebten machte, liess dieser in einem Schranke einen Dritten lauschen, verabredeten Augenblicks hervorspringen und mit sofortiger Anzeige bei der Polizei drohn, falls er das Schweigen nicht erkaufe. Der geängstigte gab 300 Thaler baar und seine goldene Uhr und musste ausserdem noch einen Wechsel unterschreiben auf 600 Thaler. Dies war ihm doch zu arg. Jetzt ging er zur Polizei: worauf diese – nicht nur jene 2, sondern auch ihn, deren ausersehenes Opfer, verhaftete! (Feb. u. März 1869). Heisst das nicht, das bedrängte Opfer von aller Schutzanrufung abschrecken, geriebene Rupfer also trotz alle dem ermuthigen? Heisst das nicht, dem Gesetze, welches Erpressung straft, die Adern unterbinden? (Vgl. Gladius furens , Anhang.) So legt man Gaunern das Handwerk nicht! Berliner Zeitungen sagten ganz gelassen: »....... natürlich alle 3 verhaftete«! – In einem andren Falle zu Berlin ward der erst 16j. Gauner, der hier dem Urning vor dessen Augen frech die Uhr nahm (20. Feb. 1869), zwar rasch bestraft, auch der Urning nicht verhaftet, wohl aber dieser durch criminalpolizeiliche Haussuchung belästigt, bei der man 35 Schriftstücke und Bücher, darunter Memnon, ihm abnahm.] §. 12. Vom Presbyterium ward Forstner am 4. März vom Amt suspendirt, am 13. März indess die Suspension wieder aufgehoben. – Wer seine Pflichten als Mensch und als Staatsbürger, wer seinen Beruf treu erfüllt, dem sollte, ist er Urning, ein Schurke oder ein beliebiger dummer Junge im Handumdrehn Ehre und Lebensglück über den Haufen stossen können? So war es bisher! Diesem System ist auch dessen Lebensglück, der diese Zeilen schreibt, zum Opfer gefallen: nicht hoffentlich auch seine Ehre. Brav, ihr Herrn vom Presbyterium zu Wien, die ihr dem einen Riegel vorgeschoben habt!

Nachträglich lese ich (»Tagblatt« vom 26. Feb.) Forstners Entgegnung:

»Der Artillerist hat sich mir im Stadtpark zugesellt, nachdem er längere Zeit mir auf dem Fuss gefolgt war. In der Meinung, er verkenne mich, sprach ich ihn an, nachdem er sich unmittelbar vor mir auf eine Bank gesetzt. Es war dies in einem vielbesuchten Theile des Parks. Er begann zu erzählen, er habe bis 11 Uhr Ausgang (es war eben 7 Uhr; Sonntags) und wisse nicht, was bis dahin beginnen. Im Stadtpark habe er schon manches interessante Abenteuer erlebt. Er sei begierig, was ihm der heutige Abend bringen werde. Er vermuthe, auch ich werde nicht umsonst den Park aufgesucht haben, der in mancher Richtung Renommee besitze, etc. Da ich bemerkte, dass er mich nicht kannte, wollte ich mich entfernen: als er sich erkühnte, einen Vorwurf gegen mich auszusprechen, ... Ich forderte ihn auf, diese Beschuldigung vor seinem Hauptmann oder vor der Polizei mir in's Angesicht zu sagen; worauf er brutal wurde und auf letzteres einging. Bevor er zu mir kam, hat ein Civilist ihn auf mich aufmerksam gemacht; wesshalb es sich vermuthlich um eine gemeine Hetzerei handelte oder um eine misslungene Speculation. Seit mehreren Jahren besuche ich den Stadtpark täglich und ein solcher Fall kam mir bereits zum 2. Mal vor.«

Des Kanoniers erwähnte Worte tragen durchaus den Stempel innerer Wahrscheinlichkeit. Das ist ganz die Sprache dessen, der sich anbietet, oder die nachgeahmte dessen, der eine Schlinge legt. In diesem Stück sehn Wien und Berlin einander ähnlich wie ein Ei dem andern. Mir wird mitgetheilt, Vogel sei Wahli's Vetter. Danach liegt es wohl nahe, an Anstiftung aus Rachsucht zu denken. Dem Untersuchungsrichter gingen anonyme Briefe zu, voll der ärgsten Schmähungen gegen Forstner. – »Kikeriki« v. 8. April sagt, unter der Ueberschrift »Rechtgläubige Lehren«: Glaube mein Sohn, dass Superintendent Forstner in den Orden der Schulbrüder tritt.« (S. §. 14. §. 72.)

§. 13. Etwa 1863 ward bereits ein andrer Superintendent, ein pietistisch-protestantischer, einer urnischen Scene mit einem Soldaten bezichtigt, Sarnighausen, Pfarrer zu St. Albani in Göttingen, mein entfernter Vetter. Auf directes Einschreiten König Georgs V. veranlasste ihn der hannoversche Cultusminister, seinen Abschied zu nehmen. Er ging nach Amerika. Auch ihm musste man ja sein Lebensglück zertreten!

*Aehnliches wird mir mitgetheilt über den Superintendenten Henne zu Körnern *in einer sachsengothaischen Enclave bei Mühlhausen. Derselbe liebte den dortigen Apotheker-Provisor Feldcamp. Dieses Liebesverhältnisses wegen ward er, auf Anzeige der Gemeine, seines Amts entsetzt und musste ausserdem noch mehrjährige Gefängniss- oder Zuchthausstrafe verbüssen, vermuthlich zwischen 1850 und 1860. Gegenwärtig lebt er als bejahrter Mann im Herzogthum Gotha.

*Ueber die Verhaftung des Thomas Morell, Coadjutors des Erzbischofs von Edinburg, zu Nürnberg Jun. 1869, siehe §. 69.

*Der reverend father Cartridge , sehr frommer Geistlicher der Methodisten zu Stockton im Staat Californien, ward 1867 mit einem erwachsenen jungen Manne ertappt. In der Gemeinde erregte die Sache ausserordentlichen Aufruhr, um so mehr, da er zuvor sehr geachtet war. Indess erklärte sich doch nur ein Theil der Gemeinde gegen ihn. Das Gericht verurtheilte ihn zu 5 (7 ?) J. penitentiary (Zuchthaus), welche Strafe er gegenwärtig abbüsst.

*Auch Dr. Preuss ging nach Amerika. Zu St, Louis im Staate Ohio ist er wieder Knabenlehrer. Er ist Liebling der dortigen Ultrapietisten geworden, welche nun nach Kräften bestrebt sind, sein Berliner Urningthum auf Rechnung liberaler Verleumdung zu setzen. (»Zukunft.«) §. 14. Kaum ist dies niedergeschrieben, als das Zünglein sich doch schon wieder auf die katholische Seite hinüberneigt.

Der »Nürnb. Anzeiger« jauchzt, melden zu können (18. März 1869), was die Ztg. v. St. Gallen berichtet: Der kath. Pfarrer Römeler, Rector der Realschule zu Rorsehach am Bodensee, sei wegen »unnatürlicher Laster« in Untersuchung gezogen.

Unter dem 25. Feb. 1869 hatte man mir bereits aus der Schweiz geschrieben: »Im Canton St. Gallen ist ein Geistlicher wegen Urningsliebe (?) abgesetzt; er ist entflohn. (Nicht identisch mit Römeler.)

Am 17. Feb. 1869 ward aus dem k. k. Waisenhause zu Wien der Lehrer »Frater Marinus« vom kath. Orden der Schulbrüder, »frères ignorantins«, in seine Heimath, bei Augsburg, entlassen. Zwei Waisenknaben, Nicolaus v. Berghof und ein nicht genannter, 9 und 12j., haben ihn der Unkeuschheit beschuldigt und von ihrem Widerstreben geredet, ihm in einer gewissen Sache gefällig zu sein. Nach »Fremdenblatt« und »Presse« hätte er den Knaben nur dann, wenn sie ihm »gefällig« waren, günstige Zeugnisse ertheilt. (Vergleiche aus dem Jahr 1698 die urnischen Liebesverhältnisse des Jesuiten Morell am Jesuitengymnasium zu Augsburg mit seinen 3 jungen Schülern, Graf Ruprecht Fugger-Babenhausen, Graf Anton Fugger-Kirchberg-Weissenborn und Graf Crafto von Oettingen: Formatrix Note 12.) Wien's liberale Presse benahm sich wie von der Tarantel gestochen, weil der Beschuldigte ein kath. Ordensbruder war. Mit entsetzlichem Geräusch begehrte sie gerichtliche Untersuchung. Diese erfolgte. Sie ergab: »Die ihm vorgeworfene Handlungsweise ist theils völlig entstellt, theils geradezu unwahr.« (»Vorstadtsztg. v. 26. März.«)

Noch nicht genug! Man sendet mir einen Ausschnitt aus den Münchener »Neuesten Nachr.« (Nr. v. etwa Anf. März 1869). Darin heisst es:

»100 fl. demj., der über die Verführung und moralische Tödtung eines Jünglings durch F. M .... (gegenwärtig in A.........) weitere Belege liefert. Unter U L 99887 an die Exped.«

Man meldete Feb. 1869: ein kath. Priester in Augsburg habe mit einem 12j. Knaben im Punschzimmer einer Conditorei Unsittlichkeit verübt. Er sei dabei überrascht und dem Staatsanwalt denunciirt worden. Untersuchung sei indess nicht erfolgt, da der Vater sich weigerte, sie zu beantragen. (S. § 68.)

(Es bedarf keiner Versicherung, dass ich Verführung unreifer Knaben für strafwürdig erkläre.)

*Neuerdings ist der kath. Pfarrer Herzog zu Mödling bei Wien wegen urnischer Liebesübung zum Verbrecher gestempelt, d. i. verurtheilt.

Auf 2 Democraten und 2 Anhänger religiöser Reform kommen vorstehend also 2 deutschprotestantische Superintendenten, 1 englischprotestantischer und 1 methodistischer Geistlicher, 2 pietistische oder »feudale« Lehrer, 1 pietistischer Kaufmann und nicht weniger als 6 denunciirte kath. Geistliche der Jetztzeit.

*Etwas gröbere Waffen als heute, aber vielleicht auch weniger vergiftete, wählte man, wie es scheint, früher, wenn man in den Reihen der Gegner einen Urning wusste. Recht ungenirt machte es wenigstens in Frankreich zur Zeit Heinrich's IV. ein freisinniger Protestant freisinniger Protestant: Brunet (Dissertation sur L'Alcibiade fanciullo a scola S. 78) führt an: »Histoire notable d'un jesuite nommé le P. Henry qui a esté bruslé en la ville d'Anvers le 12 avril 1601« und kommentiert: »la condemnation et l'exécution du P. Henry sont des faits de pure imagination et qui n'avaient aucun fondement.«. In einem Büchlein, das er herausgab, schilderte er eines zeitgenössischen Jesuiten, den er mit Namen nannte, urnische Verbrechen, Entlarvung, Criminaluntersuchung, Verurtheilung zum Feuertode und Execution. Ein feines Titelkupfer zeigte diesen ultramontanen Heuchler auf dem brennenden Scheiterhaufen, Er war zu schaun, etwa wie Blücher im Pulverdampf: aus den Flammen sah gerade noch das Gesicht hervor. Urning mag er gewesen sein: alles übrige war – Erfindung. (Ausführlich erzählt von Gustave Brunet, dissertation sur l'Alcibiade fanciullo; s. Memnon § 134,9.) §. 15. Am 23. März 1869 hat hieselbst (Würzburg) ein 25j. Bursch, als man ihn wegen Betteins verhaftete, den 60j. Pförtner der hiesigen Franziscaner, Valentin, beschuldigt, in einer Räumlichkeit des Klosters ihn urnisch verführt zu haben. Er war nicht wenig erstaunt, dass man, bairischem Gesetz gemäss, in keiner Weise gerichtlich gegen Valentin einschritt. Von der Anzeige einer Handlung, die in Baiern gar nicht strafbar ist, hatte der Staatsanwalt offenbar einfach keine Notiz zu nehmen. Statt dessen nahm er ein detaillirtes Protocoll auf und übersandte es dem Kloster: worauf dieses den Valentin sofort entliess. Er wandte sich an mich. Am 31. März ging ich zum Pater Guardian Herrn Biergans, und stellte ihm vor, wie unbillig es sei, einem hergelaufenen Vagabunden die Macht einzuräumen, durch eine nicht bewiesene Behauptung, die ja auch aus der Luft gegriffen sein könne, einen ordentlichen Menschen im Handumdrehen um sein Brod zu bringen. »Wird man consequent bleiben,« fragte ich, »wenn es einem Strolch einmal einfallen wird, dergleichen gegen einen Geistlichen auszusagen?« Auch verwies ich Herrn Biergans auf den Verlauf der Affaire Forstner, die ihm neu war. Was ich erreichte, war ein Achselzucken und ein dem Valentin ertheiltes Lob; bei der Entlassung verblieb es! – Vielleicht konnte aber das Presbyterium eines freisinnigen Bekenntnisses unbefangener handeln, als ein kath. Kloster. Bleibt ja doch alles, was sich freisinnig nennt, von den Infamien der liberalen Presse verschont.

*Der Staatsanwalt hatte, zum empfindlichen Nachtheil eines Staatsbürgers, sich in nicht strafbare Handlungen eingemischt. Auf meinen Antrieb führte Valentin gegen ihn schriftliche Beschwerde beim Justizminister. Er erhielt – keine Antwort.

*Fern sei es von mir, jene Freisinnigkeit anzugreifen, die sich treiben lässt vom Feuer der Menschenliebe, welche Menschenrecht mit unwiderstehlicher Gewalt für alle Menschen fordert, welche eintritt für alle unverdient unterdrückten. Der vulgäre Liberalismus aber, der nur um Volksgunst buhlt, das Rechtsgefühl unter Phrasen erstickt, der Gewalt den Nacken beugt, um Gerechtigkeit ruft, wenn einer Magd die Absolution verweigert wird, und gen Himmel schreit, wenn man in Sachen eines einfachen Pressvergehens einen Bischof begnadigt, kalt aber zuschaut, wenn man tausenden Menschenrecht und Menschenwürde wie einen Wurm zertritt: welch ein Abbild von ihr?


III. Erörterungen über den Fall Zastrow.

§. 16. Durch obige Einleitung glaube ich den Leser über mein Hauptthema äusserlich orientirt zu haben. Ich stelle nunmehr 3 Fragen: nicht sowohl um sie zu beantworten, als vielmehr um aufmerksam zu machen auf die Nothwendigkeit sie zu prüfen. Zur Erleichterung dieser Prüfung werde ich Material zusammentragen, auch eigene Erörterungen hinzufügen, jedoch ohne Entscheidung.

Die Fragen, unter denen ich den Nachdruck auf die 3. lege, wie der Fall es fordert, sind:

A. Ist v. Zastrow verantwortlich für die Existenz seiner geschlechtlichen Neigung zu männlichen Individuen?

B. Ist er es für die von ihm (an unreifen Knaben) begangenen Handlungen urnischer Geschlechtsliebe? Beging er sie im Zustand der Zurechnungsfähigkeit?

C. Ist er es für die Grausamkeiten, die er bei diesen Geschlechtshandlungen in wilder Gier an geliebten Knaben beging? Beging er sie im Zustand der Zurechnungsfähigkeit?

A. Verantwortlichkeit für das Vorhandensein des Triebes urnischer Geschlechtsliebe.

§. 17. Für die Existenz seiner geschlechtlichen Neigung zu männlichen Individuen ist v. Zastrow sicherlich in keiner Weise verantwortlich.

Selbst die schmähsüchtigsten und ausrottungslustigsten Verfolger sind nach einiger Prüfung zu dem unumwundenen Geständniss gelangt:

»Diese Neigung sei bei vielen, vielleicht den meisten, angeboren« oder doch:

»in so zartem Alter frühester Kindheit sei der Keim zu ihr gelegt, dass von einer Verantwortlichkeit für ihre Existenz nicht die Rede sein könne.«

Ersteres sagt Casper, bekannte gerichtsärztliche Celebrität zu Berlin, 1864 leider zu früh verstorben, in seinen »Clinischen Novellen« (1863, S. 34; seine Worte sind abgedruckt: Memnon I. S. 32). Letzteres die Ende Jan. 1869 erschienene Schrift: »Das Paradoxon der Venus Urania« (S. 23 unten.) Dies ist eine Schrift, welche, wie eine Selbstanzeige rühmt, meine Schriften (namentlich Inclusa und Memnon) einer »zermalmenden Kritik« unterwirft, gleichwohl nicht umhin kann, meiner Theorie von dem Angeborensein der urnischen Liebe theils direct theils eventuell die erheblichsten Zugeständnisse zu machen. Sie zermalmt anonym. Ihr Verfasser ist Professor der Medicin, und zwar entweder Geigel zu Würzburg oder Virchow zu Berlin. Noch schlagender ist, was ich erst jetzt bei Casper lese (Handbuch der gerichtl. Medic., Aufl. 4; 1864; Bd. 1. S. 164):

»Bei den meisten, die der Päderastie ergeben sind, ist diese Neigung angeboren und gleichsam geistige Zwitterbildung. Vor geschlechtlicher Berührung mit Weibern empfinden diese wahrhaften Ekel. Ihre Phantasie ergötzt sich an schönen jungen Männern.« [Päderastie ist: Pädication, ausgeübt an männlichen Individuen.]

Im »Verein für Psychiatrie und forensische Medicin« zu Wien hat am 31. Octob. 1868 der Professor Beer daselbst auf ersterwähnten Ausspruch Casper's hingewiesen, denselben unterstützend durch Aristoteles' Ethik VII. 5. (unten § 22.) Vgl. auch (unten §. 20) die Ansicht des Dr. med. Reich über »körperlich-geistige Anlage dazu.« Meine eigene Theorie unten §. 49. §. 18. Von Interesse ist vielleicht auch eine Aeusserung Adolph Stahrs, eines sonst unversöhnlichen Gegners der Urningsliebe. Eine Probe seines Verfahrens unten! Hier bekundet er gleichwohl einen Lichtblick, wie ich unter den Nichturningen einem ähnlichen, wenn ich einzig Casper ausnehme, noch nicht begegnet bin. Im Anhang zu seiner Uebersetzung von Aristoteles' Politik, 1861, sagt er:

»Und doch dürfen wir diese Entartung« (Entartung?) »nicht zu hart beurtheilen. War doch diese Knabenliebe, die ganz in den Formen der heutigen Geschlechterliebe, unser Gefühl verletzend, auftritt, – war sie doch das ursprüngliche, ewige Gefühl der Liebe, das, von seiner rechtmässigen Stelle gleichsam vertrieben, an unrechter Stelle sich der Menschennatur bemächtigte.« (Ueber »an unrechter Stelle« vgl. Memnon §§. 5. 8 und Formatrix §§. 92–94). Seltsam nur, dass Stahr gar keine Ahnung zu haben scheint, dass das ewige Gefühl der Liebe in der Form der Jünglingsliebe auch heute noch tausenden und aber tausenden den Busen schwellt.


B. Verantwortlichkeit für begangene Acte urnischer Geschlechtsliebe.

§. 19. Ist nun aber der geborne Urning verantwortlich für seine geschlechtliche Handlungsweise? d. i. für die von ihm an männlichen Individuen begangenen Geschlechtsacte?

Ich werde Ansichten von Nichturningen zur Prüfung vorstellen, welche für Unzurechnungsfähigkeit sprechen; während ich in meinen 7 Schriften über Urningsliebe die Zurechnungsfähigkeit an sich nirgend in Zweifel ziehe. Ich berücksichtige nur den Einfluss jener Heftigkeit der Leidenschaft, die der Geschlechtsliebe überhaupt innewohnt und allerdings zu einer äusserst schwer bezwingbaren Gewalt werden kann. Aus dieser Heftigkeit habe ich aber nirgend volle Unzurechn. abgeleitet. Vgl. Gladius furens S. 28. 29. Dort rede ich nur von geminderter Zurechnungsfähigkeit und behandle diese Heftigkeit als Strafmilderungsgrund, nicht als Strafausschliessungsgrund.

Ausserdem erklärte ich Geschlechtsliebe zu unreifen Knaben für krankhaft, ohne damit indess die Verantwortlichkeit für Handlungen anzufechten. Memnon II. S. XIX.

In allen diesen Stücken stelle ich des Urnings Liebe auf gleiche Stufe mit der des Dionings, d. i. des eigentlichen Mannes: während die anzuführenden Stimmen ihr, gerade im Gegensatz zur Dioningsliebe, die Zurechnungsfähigkeit an sich absprechen.

§. 20. Dahin gehören nun 4 Dioningstimmen ganz neuen Datums, von denen 3, seltsam genug, gerade auf Grund meiner Schriften sich so aussprechen.

1) In der Wiener »Medic. Presse« (v. 3. Jan. 1869, Spalte 22) sagt ein ungenannter Mediciner, welcher Memnon einer äusserst heftigen Kritik unterwirft:

»Bas einzige, was sich geltend machen lässt, ist in einzelnen Fällen der Zustand der Unzurechnungsfähigkeit, in dem sich der Urning befindet und für die Ulrichs plaidirt, ohne es zu wissen.«

2) Rechtsanwalt Julius Sussmann zu Schubin bei Bromberg schreibt mir »Schubin, 26. Dec. 1868«:

»In Ihrer Schrift« (d. i. Memnon) »sehe ich einen sehr schützenswerthen Beitrag zur Lehre von der Zurechnungsfähigkeit. Im Interesse der Wissenschaft kann ich es nur bedauern, dass neue Wahrheiten so selten für Wahrheiten gehalten werden.«

[Hier schalte ich ein, was ein Wiener Dioning, J. Hornung, Anhänger Schopenhauers, mir schreibt, nachdem er beides gelesen, das zermalmende »Paradoxon« und die Heftigkeit der »Med. Presse.« Ueber das Nichtverschmähen unwissenschaftlicher Waffen, dem er an beiden Orten in der Angriffsweise begegnet, äussert er sich so (Wien, 23. Feb. 1869):

»In der »Med. Pr.« hatte ich eine wirkliche Kritik Ihres Memnon erwartet, fand aber ein unwürdiges Machwerk, das mit einer Kritik nichts als den Namen gemein hat. Beim Lesen des »Paradoxon« übermannte mich so sehr der Zorn, dass ich das Buch in einen Winkel warf. Jetzt habe ich gesehn, was für Gegner Sie haben!«

Auf solche Wirkung, und zwar unter Nichturningen, hatte man an beiden Orten wohl kaum gerechnet.

Mir ist es nur um den wissenschaftlichen Inhalt beider Geisteserzeugnisse zu thun.

3) Entschiedener, als 1. und 2., erklärt sich jenes »Paradoxon«. S. 29:

» Wir halten sie« (die seelische Geschlechtsnatur des Urnings) » ... für fixe Idee oder Monomanie. Wo sich ein solcher Grad der Verirrung von den normalen Erscheinungen des gesunden Lebens findet, da sind wir genöthigt, eine Störung, eine Krankheit anzunehmen. Urninge würden wir Geisteskranke nennen, weil bei ihnen geistige Functionen der Störung unterliegen.«

Ja der Anonymus geht noch weiter. In Memnon wies ich nach, dass selbst in der Körperbildung des Urnings oft entschiedene Abweichungen vorkommen von der des Mannes, dass dieselbe sich unverkennbar der des Weibes nähere. Auch diese körperlichen Abweichungen flicht er in jene Krankheit hinein. (Dieselben tragen durchaus das Gepräge der Gesundheit!) Er findet in ihnen »einen neuen Beweis, dass es sich um krankhafte Zustände des ganzen Menschen handelt.« S. 30 schliesst er Fälle jener Geistesstörung aus von der

» Verantwortung, soweit solche menschlichen Handlungen zugemuthet werden kann;« im Gegensatz zu: dort, wo vorhanden ist »klares Bewusstsein der That als einer excessiven Geschlechtsthätigkeit und Möglichkeit ihrer Bekämpfung durch ethische Motive.«

4) Ohne meine Schriften zu kennen, sagt in seinem Werkchen »Ueber Unsittlichkeit« (1866) Dr. med. Reich:

»Ich halte dafür, dass, wer Päderastie treibt, den Verstand verloren hat und in's Tollhaus gehört.« (S. 82.) – »Ohne die körperlichgeistige Anlage dazu wird unter keiner Bedingung der Trieb zur Päderastie erwachen. Diese Anlage aber genauer zu kennzeichnen, kann von der heutigen Wissenschaft noch nicht erwartet werden.« (S. 83.) – »Dadurch, dass man jedermann in den Stand setzt, baldmöglichst eine Familie zu gründen, ..... und Päderasten entweder in's Irrenhaus schickt oder öffentlich und hart bestraft, dürfte man der Verbreitung des Lasters am sichersten Abbruch thun.« (S. 93.)

Einmal also: »hat den Verstand verloren und gehört in's Tollhaus« und dann wieder: »öffentlich und hart bestrafen«; ferner: körperlich-geistige Anlage die Quelle des Triebes und dann wieder die kindliche Zuversicht, durch Heirathsermöglichung den Trieb zu beseitigen! Schwierig ist danach jedenfalls die Frage: wer eigentlich in's Tollhaus gehöre, der Päderast oder wer so tolles Zeug ausbrütet?

Von Wichtigkeit ist übrigens, dass auch Reich eine eigenartige selbstständige Anlage anerkennt als Quelle des Triebes.

§. 21. Wer den Trieb des Urnings für Erzeugniss krankhafter Gemüthsaffection hält, wird nun zu unterscheiden haben:

a) Wenn den Urning krankhafte Gemüthsaffection zu seinen Geschlechtshandlungen absolut zwingt, so befindet er sich bei denselben offenbar im Zustande völliger Unzurechnungsfähigkeit, so kann also auch für seine Geschlechtsacte an unmannbaren Knaben verübt Strafe gegen ihn überall nicht ausgesprochen werden.

b) Eine gemilderte Strafe dagegen allerdings, wenn im Zustande geminderter Zurechnungsfähigkeit, d. i. wenn jener innere Zwang kein absoluter war.

§. 22. Zwar für krankhaft, daneben aber doch für ein Werk aus den Händen der Natur, erklärt den urnischen Liebestrieb eine respectable Auctorität des Alterthums, Aristoteles.

Seine Worte berühren zugleich die Frage des Abschnitts C. Um sie nicht zu zerreissen, gebe ich sie hier ungetrennt.

Dabei muss ich Adolph Stahr's Verfahren rügen, welcher bestrebt ist, den ruhig und klar denkenden Griechen der modernen Verfolgungswuth mundgerecht zu machen, seine Uebersetzung darum wimmeln lässt von »unnatürlicher Wollust« und »Unzucht«: Ausdrücke, von denen der Urtext auch nicht eine Silbe weiss, ja welche dem Gedanken des Aristoteles direct widerstreiten. Ich überlasse es dem Leser, diese Textesänderungen jenen frommen Fälschungen an die Seite zu stellen, deren ich Memnon I. S. XIV Erwähnung that.

Ich bedaure, dass Professor Beer zu Wien sich nicht die Mühe genommen, seinem obengedachten Vortrage den Urtext zur Unterlage zu geben, dass er seinen Zuhörern all jene stahr'schen Interpolationen als Worte des Aristoteles vorgetragen hat!

Aristoteles, nicomachische Ethik, Buch VII Cap. 5. 7.

Cap. 5. §. 1: »Einige Dinge sind von Natur angenehm, .... andere dagegen nicht, sondern werden es ... theils durch Gewohnheiten, theils (durch verkehrte, fehlerhafte Naturanlagen). ... §.3. (Andre, nämlich Begierden, Neigungen, entstehn bei einigen durch Krankheiten oder durch Geistesstörung.) ... [Noch andre sind krankhaft« (nicht Folge einer Krankheit, sondern selbst krankhaft) »oder aus Gewöhnung entsprungen.] Dahin gehört das Verspeisen der Fingernägel, von Kohlen und Erde. Dahin gehört ferner [fehlt Text. Re.] [Dahin gehört ferner die (Neigung) zum Liebesgenuss mit männlichen Individuen. Denn sie finden sich« (die Neigung Erde etc. zu verspeisen und die urnische Neigung) »bei diesen von Natur« (wie Stahr dem Sinne nach ganz richtig übersetzt: » als angeborne Naturneigung«), »bei jenen aus Gewöhnung; wie z. B. bei denen, die von Kindheit an sich gewöhnt haben. §. 4. Alle diejenigen nun, denen die Natur die Ursache ist darf offenbar niemand (unenthaltsam, ausschweifend) unzüchtig nennen: ebensowenig wie (man) die Weiber desshalb (wird unzüchtig nennen dürfen), dass sie beim Liebesgenuss nicht activ sich verhalten, sondern passiv. Ebenso ist es mit jenen, welche krankhaft behaftet sind aus Gewöhnung.]« [Die Herbeiziehung der Natur der Weiber ist etwas ganz ähnliches, als wenn ich sage (Vindex §. 20. Memnon §. 58.): von der Henne ist nicht zu verlangen, dass sie lebendige Junge gebäre, noch von der Kuh, Eier zu legen. Aus Gewöhnung eines wirklichen Dionings an urnische Uebungen ist noch nie ein wirklicher Urning entstanden. [Memnon § 40, §. 81, 82.]

Cap. 7. §. 6: »Wohl aber ist der ein Gegenstand unsres Tadels, der sich überwinden lässt von Lustempfindungen, denen die meisten zu widerstehn fähig sind; vorausgesetzt, dass nicht fehlerhafte Naturanlage oder Krankheit die Schuld trägt.«

§. 23. Hiernach formulire ich die Frage:

»Ist v. Zastrow rücksichtlich seines geschlechtlichen Verkehrs mit unmannbaren Knaben zurechnungsfähig? bezieh. ist seine Zurechnungsfähigkeit gemindert? gemindert aus einem der Gründe, welche von den wiedergegebenen Stimmen oder von mir geltend gemacht werden?«

§. 24. Wenn ich geneigt bin, Geschlechtsneigung zu unreifen Knaben für krankhaft zu halten, [...fehlt Text. Re.], so constatire ich, dass Neigung zu unreifen Individuen ganz als Seitenstück auch auf Dioningsseite vorkommt. Auch hier dürfte sie krankhaft sein.

(Fall 1.) Ich kannte 1856 in Mainz einen 22j. Dioning aus Montjoie, Valentin H, welcher, wie er mir wiederholt eingestand, zu ganz kleinen Mädchen die leidenschaftlichsten Triebe empfand, während erwachsene ihn gänzlich oder fast gänzlich kalt liessen. Er zeigte mir eine Kleine von 6–7 Jahren, die ihn in dieser Weise aufregte. Schon seit Jahren hatte er ebenso gefühlt. Hievon abgesehen habe ich etwas krankhaftes nie an ihm wahrgenommen, weder geistig noch körperlich. Er war ein durchaus ehrenhafter Character. Später musste ich hören, diese Leidenschaft habe ihn über den Ocean getrieben. Einer Criminaluntersuchung sei er aus dem Wege gegangen.

Gegenüber der Annahme einer Krankhaftigkeit übersehe ich freilich nicht, dass einen übersättigten alten Sünder von Urning oder Dioning vielleicht ein unreifer Knabe oder ein unreifes Mädchen noch wird reizen können. Vorzugsweise hieher dürfte zu zählen sein, dass die Prostitution auch das jugendlichste Alter nie verschont hat. Darüber klagt schon Justinian in seinem Keuschheitsedict v. 1. Dec. 535 (»sancimus, omnes, secundum quod possunt, castitatem agere«), das er Gott dem Herrn darbringt zum süssen Geruch (»haec sacra nostra lex, domino Deo oblata pro alio quodam suavitatis odore«). Er sagt nämlich (Novelle 14): »Cognovimus, .... aliquos sic scelestos existere, ut puellas nec decimum annum agentes ad periculosam deponerent corruptionem«

Im Handb. d. ger. Med. erwähnt Casper (Aufl. 4; Bd. I ., Fall 95–100) eines Portiers und eines Lehrers, welche an Kindern unzüchtige Handlungen verübt hatten (Reibungen und Reizungen der Genitalien): der Portier an 5 Knaben, der Lehrer an 2 Knaben, (5j. und 6j.) und an 3 Mädchen (6j., 7j. und 9j.)!

Casper hat 218 weibliche Individuen untersucht wegen gegen sie verübter Nothzucht und Unzucht, Darunter waren (a. a, O. S. 117):

über 14 Jahre alt nur 25
unter 14   193
unter 10   124
von 7 –10   83
von 2 ½ – 3   6

Aehnliche Fälle zeigt in Nord und Süd fast jedes Schwurgericht.

Verführung unreifer Knaben kommt in Deutschland, wie er bezeugt (a. a. O. S. 168), verhältnissmässig nur selten vor. Einen besonderen Fall davon erzählt er (a. a. O. Fall 94), ein Seitenstück zum Fall Schleehaider (Memnon 11. S. XVII). Ein zwar kräftiger, aber kaum erst mannbarer Bauernbursch, erst 14 ½ J. alt, verführte bei einer Beschäftigung auf dem Felde einen 8j. Knaben. (Und zwar, wie selbst der ernste Casper lächelnd hinzufügt, um einen ländlichen, gar geringen, Preis: »gegen das Versprechen eines Butterbrots.« Hätte schon der ausgelassene Propertius den Fall gekannt, vielleicht würde er dem Virgil, nicht zugerufen haben:

»Felix, qui viles pomis mercaris amores!«)


§. 25. Es ist möglich, dass keinerlei Unzurechnungsfähigkeit sich bei v. Zastrow herausstellen wird rücksichtlich seines mit Knaben gepflogenen geschlechtlichen Verkehrs. Dennoch kann er unzurechnungsfähig sein rücksichtlich der bei diesem Verkehr verübten Grausamkeiten.


C. Verantwortlichkeit für an geliebten Knaben begangene Acte wilder Grausamkeit.


»Αἱ δὲ διά τε νόσους γίνονται καὶ μανίαν ἐνίοις· αἱ δὲ νοσηματώδεις« Aristot. ethic. Nicomach. VII. 5. 3. (»Andre« Begierden entstehn bei einigen durch Krankheiten oder durch Geistesstörung; noch andre sind krankhaft.«) – »Wo die Fähigkeit freier Willensbestimmung gehindert ist durch einen abnormen psychischen Process, da ist das Individuum psychisch unfrei.« Dr. med. v. Kraft-Ebing. (Bl. f. ger. Med. 1864.)


§. 26. Die That ist folgende:

1. An dem damals 5¾ährigen Knaben Emil Hanke, Tischlermeisterssohn. Zeit der That: 17. Jan. 1869, Nachm, etwa 4½ Uhr; Ort: Berlin, Bodenraum des Hauses Grüner Weg 45, über dem 4. Stockwerk.

a. Pädication.

b. Dem Knaben in's Gesicht gebissen. Zur Herstellung eines Sachverständigenbeweises liess der Untersuchungsrichter das Gesicht mit den Bisswunden photographiren, v. Zs. Gebiss dagegen in Wachs abformen.

c. Körperverstümmelung; ihm die Testikel abgeschnitten.

d. Den Hals mit einem Tuche gewürgt. In welcher Absicht? ihn am Schreien zu hindern? ihn zu erdrosseln? demnach Mordversuch? oder zwecklos aus wilder Gier?

e. Ihn mit dem Kopf in ein russisches Heizungsrohr gesteckt. Um ihn zu ersticken?

Den halb bewusstlos aufgefundenen brachte man in's Krankenhaus Bethanien. Dort blieb er, gefährlich erkrankt an Fieber und Bronchialkatarrh, bis er am 26. Febr. geheilt entlassen wurde.

* Abends 8 ¼ Uhr hörten die Hausbewohner vom Boden her ein leise wimmerndes Jammergestöhn. Sie eilten hinauf. Ihnen bot sich ein entsetzlicher Anblick. Sie fanden den Knaben nach »Gerichtsztg.« v. 6. Juli 1869: besinnungslos daliegend, nach »Tribüne« v. 6. Juli 1869: aufrechtstehend, »vermochte sich aber kaum auf den Füssen zu halten«; vor Kälte fast erstarrt (es war Frostwetter); Hände und andre Körperteile von Russ geschwärzt; am Gesicht und an andern Stellen Blut; das Gesicht geschwollen, es war »zerbissen« (Gerichtsztg.), auf der linken Wange eine Bisswunde mit eingegrabenen Spuren von Ober- und Unterzähnen (Trib.), an der Stirn Hautabschürfungen. Die Schuhe waren ihm ausgezogen, die Kleider ihm zum Theil vom Leibe gerissen, der Leib vom Hemde entblösst. Fest um den Hals war ein Tuch geschlungen; über dem Kehlkopf verlief um den Hals eine Strangulations-Marke, die diesem Tuch entsprach (Trib.)j der Hals zeigte »eine Marke, als habe jemand mit dem Finger einen starken Druck ausgeübt«. (Trib.) Auf dem Fussboden war ein handgrosser Fleck geronnenen Blutes.

II. An dem 15jähr. Bäckerlehrling Corny; 1867; auf einem freien Platze bei Berlin.

a. Pädication.

b. Körperverstümmelung und Mord. Corny's Leichnam fand man im nahen Bach, in der Panke. Ob der Befund ergeben, der Tod sei durch Ertränkung erfolgt, oder ob man Messerschnitte am Halse, Dolchstiche etc. gefunden oder gar ebenfalls Spuren von Erdrosselung, ist mir nicht bekannt. Dagegen waren hier die Geschlechtstheile ganz und gar abgeschnitten. Die abgeschnittenen Stücke waren auch nirgend aufzufinden. Dieses Falles bemächtigte sich sogleich das Gerücht. Märchenhaft schmückte es ihn aus: den Körper Corny's habe man gefunden – wie einst zu Colchis den des Absyrtus! – in kleine Stücke und Streifen zerschnitten und zerstreut. Wohl aber war in andrer Weise der Leichnam empörend behandelt worden. Der Mastdarm war »ganz ausgeschnitten.« (Was heisst das?) Durch die Mündung und durch den ganzen Körper war ein hölzerner Stock hindurch getrieben bis zur Lunge hinauf.

§. 27. »Diese teuflischen Grausamkeiten,« wird man sagen, »fallen einfach unter das Strafgesetz.« Allein, ob sie darunter fallen, dazu bedarf es einer Prüfung. Noch empörendere sind schon als nicht unter das Strafgesetz fallend erkannt, weil der Thäter im Augenblick der That unzurechnungsfähig war. Ohne Prüfung behaupten: »v. Zastrow war zurechnungsfähig« ist kurz und bequem; gerecht aber ist es nicht. Berliner Zeitungen haben gesagt: »Seine Zurechnungsfähigkeit erscheint nach den Verhören, die mit ihm abgehalten, ausser Zweifel.« So? Aber welche? Die gegenwärtige oder die im Augenblick der That? Ist letztere erkennbar aus den Verhören? Und wem hat sie sich herausgestellt? Die Beantwortung der Zurechnungsfähigkeitsfrage gehört dem wissenschaftlich prüfenden Gerichtsarzt, nicht dem Untersuchungsrichter.

*Nach einer Aeusserung des Staatsanwalts in der Verhandlung v. 5. Juli während der umfangreichen Voruntersuchung ist eine »Exploration des Gemüthszustands des Angeklagten« nicht erfolgt. (»Publicist« v. 6. Juli 1869.) §. 28. Man wird sich überzeugen, dass ich nicht etwa mich selbst als Auctorität aufdränge. Andren Vertretern der Wissenschaft gebe ich das Wort. Neben deren Aussprüchen trete meine eigene Ansicht völlig in den Hintergrund.

Zuvor wolle man Caspers Wort beachten: » Die Gränze ist so äusserst schwer zu ziehn zwischen leidenschaftlichem, aber noch zurechnungsfähigem, Affect und wirklicher Geistesstörung.« (Handb. I. 8. 493.)

Ich meinerseits mache daneben auf 4 Puncte aufmerksam:

1. In innigem, noch unerklärtem, Verwachsensein mit dem Geschlechtstriebe erscheinen oft auffallende Monomanien, krankhafte Gemüthsaffectionen, bei denen indess der Geschlechtstrieb selbst in keiner Weise krankhaft afficirt zu sein braucht. (Wie ich denn den Geschlechtstrieb des Urnings, wie gesagt, für einen krankhaft afficirten nicht halte.) Diesen Monomanien begegnen wir bei Dioningen, Weibern, Urningen.

2. An einzelnen Individuen gibt es zu Zeiten eine lechzende, wilde Gier, planlose und zwecklose Grausamkeiten zu verüben und Blut fliessen zu sehn, eine Blutgier, welche, wie es scheint, über zurechnungsfähigen Affect weit hinausgeht, welche in den Momenten, in denen sie sich einstellt, dem Individuum auf der Seele zu lasten scheint wie ein dem Reich der Finsterniss entstiegener Incubus.

3. Eine jener krankhaften Gemüthsaffectionen, welche oft mit dem Gcschlechtstriebe verwachsen sind, ist nun gerade diese Blutgier. Mit ihm verwachsen, erscheint sie als Gier, Grausamkeit zu verüben und Blut fliessen zu sehn im Augenblick des Gipfelpunctes geschlechtlicher Nervenerregung oder kurz nach erfolgter Sättigung, nach plötzlich eingetretner Erschlaffung, und zwar als Gier, diesen Blutrausch zu stillen grade an dem Wesen, welches leidenschaftliche Begierde entflammt hatte.

4. Psychologisch ist es offenbar von vorn hinein unwahrscheinlich, dass im Zustande ungetrübter geistiger Gesundheit derartig teuflische Schändlichkeiten verübt werden.

§. 29. Keine auch noch so extreme Handlung wilder Blutgier, die v. Z. verübt haben mag, schliesse ich von meiner Erörterung aus: und hätte er seine Opfer wirklich sogar getödtet oder zu tödten versucht. Wohl aber rede ich nur von Handlungen planloser und zweckloser Blutgier, schliesse also Handlungen aus, ausgeführt zu dem bewussten Zweck, nach verübter Gewaltthat deren Spur zu verwischen und den gefürchteten Zeugen stumm zu machen, also eigentlichen Mord und Mordversuch. Da wäre über Zurechnungsfähigkeit nicht mehr zu discutiren. Ob, wenn Tödtung oder Tödtungsversuch vorliegt, v. Z. zu bewusstem Zweck handelte oder aus planloser Blutgier? ist meine Erörterung gegenüber eine Vorfrage, die zu beantworten sein wird aus dem vom Untersuchungsrichter eruirten Beweismaterial, für die aber auch nachstehende Fälle z. Th. vielleicht ihrerseits Anhaltspuncte bieten mögen.

§. 30. Was hier verübt ist, sind brutale Gewaltthätigkeiten. Diesen Umstand möchte man vielleicht in Widerspruch stellen mit der dem Urning eignen weiblich weichen Gemüthsart, als sei dem Urning Gewaltthat zu verüben »contra naturam sui generis.« Sobald er sie dennoch verübte, möchte man darum geneigt sein, auch dies herbeizuziehn für Geistesstörung. Allein dem halte ich zwei Thatsachen entgegen, welche zwar nur Ausnahmen sind, immerhin aber bezeugen, dass Urninge doch auch bei gesunden Seelenkräften zu Gewaltthat disponirt sein können.

a. Dem Ackerbauer Kraft zu Wulzeshofen (Niederösterreich) war naturwidrig ein Weib angetraut. Er ist Urning, entschieden nicht Pädicant; wie denn in Deutschland unter den Urningen nur wenige Pädicanten sind. Hervortretende Züge der urnischen Weibähnlichkeit sind bei ihm actenmässig constatirt, z. B. weibliche Beschäftigungen und Lieblingsneigungen. Näheres darüber theilte mir sein Vertheidiger nachträglich mit, Dr. jur. Dostal zu Wien. Am 8. Feb. 1868 hat er dennoch jene seine Gattin mit seinen Händen erdrosselt. (Erzählt: Memnon II. S. XII.)

b. (Fall 2.) Folgender gewiss äusserst seltene Fall wird mir verbürgt. In einem Walde bei Bergamo (Lombardei) haben 1849 eines Abends 2 italienische Urninge einem schmucken österreichischen Soldaten, der zufällig des Weges kam, sich mit freundlichen Worten genähert. Derselbe war Deutschösterreicher, von der reitenden Artillerie und mit dem Säbel bewaffnet. Plötzlich haben sie ihm scharfgeladene Pistolen vorgezeigt, die sie versteckt bei sich getragen, und, unter der Androhung ihn auf der Stelle niederzuschiessen, (ganz nach Art der Nothzucht!) ihn genöthigt, dem activen Triebe eines jeden von ihnen Genuss zu gewähren. Er ward mir mit Vornamen genannt. 1864 soll er im Schleswig'schen Feldzuge ehrenvoll gefallen sein. Er war Dioning. Meine Quelle besteht in schriftlicher Mittheilung an mich von Seiten eines ehemaligen Cameraden. Dieser ist Urning, was er nicht ahnte; und diesem hatte er das Erlebniss einst anvertraut.

Schon bei Petronius, im Satyricon, kommt derartige urnische Vergewaltigung vor. Gegen den jungen schönen Giton zückt Ascyltus das Schwert: »Willst Du Lucretia spielen, so finde an mir deinen Tarquinius!«

§ 81. (Fall 3.) Ein seltsames Spiel des Zufalls will, dass in Berlin bereits früher an einem Knaben gerade Namens Hanke ein Attentat verübt ist, welches freilich anders liegt: directer Mord, ohne Verstümmelung, jedoch von jemandem, der geständig war, ihn zuvor wiederholt geschlechtlich missbraucht zu haben, (obgleich er das Geständniss, dass er sehr detaillirt abgelegt, später widerrief) und der schliesslich für unzurechnungsfähig erklärt ward. Johann Gnieser, 52j., schwächlich, gelähmt, schwach von Verstand, weichen Gemüths, fleissiger Kirchenbesucher, tödtete am 11. Feb. 18 .. (etwa 1840–50) den 12 j. Knaben in einem Keller durch 4–5 Beilhiebe, die den Kopf zerschmetterten. Um den Hauklotz im Holzkeller hatte er die Steine eines Dominospiels verstreut, weil er dachte, Hanke, der ihm in seiner kleinen Wirthschaft half, werde sich nach denselben bücken. Als dies auch geschah, versetzte er ihm den ersten Schlag, nach welchem Hanke niedersank, röchelte und stöhnte. Sofort ging er zur Polizei: »Ich habe einen Knaben erschlagen u. wünsche nun recht bald hingerichtet zu werden.« Zugleich lieferte er den Schlüssel zum Keller ab, worin Leiche und Beil lagen. Das letztemal, als er den Hanke missbrauchte, habe dieser geschrieen und gedroht, es seinem Stiefvater zu sagen. Darum habe er ihn erschlagen. Später giebt er an: ich that es aus Lebensüberdruss, um rasch und leicht auf dem Schaffot zu sterben. Er war bisweilen in »närrischen Ideen« befangen. 11 Tage vor der That sagte

er: »Bald schreiben sie mich »Rentier«, bald »Möbelhändler«. Wenn das nur nicht der Polizeirath erfährt, dass ich zweierlei Titel führe! Sonst lässt er mich abholen.« Casper: »Dieser Fall ist wieder ein Beweis, wie bei bestehendem Wahnsinn die nächsten Bekannten ihn nicht erkennen. .... Des Gebrauchs seiner Vernunft ist Gnieser nicht vollständig beraubt. Und so konnte er sehr wohl, wenn auch gebunden in seinen Gedankenrichtungen, planmässige Vorkehrungen treffen.« Er ward in eine Irrenanstalt gebracht, in der er starb. (Casper: Handb. d. ger. Med. Aufl. 4; Bd. I., S. 487. Clin. Nov. 1863 S. 299–304.)

§. 32. Mustern wir jetzt Fälle jener mit dem Geschlechtstrieb verwachsenen Grausamkeit. Beginnen wir mit Grausamkeiten niedren Grades. Sehr merkbar wird uns eine Steigerung entgegen treten.

Ein aus älteren Quellen schöpfendes kleines Sammelwerk: »Enthüllungen über Lehren u. Leben der kath. Geistlichkeit« (Sondershausen, G. Neuse, 1862; S. 73) meldet aus dem J. 1713:

»Magister Julius Pellanda zu Landsberg liebte die Knaben so unbändig, dass er ihnen aus Wollust, wie ein unsinniger, in die Wangen biss

Ganz dasselbe Martial (11, 71.) vom Urning Tucca, indem er denselben fragt in Bezug auf einen Knaben, den dieser geliebt hatte:

» Nil te deute movent saucia colla tuo«? Tucca hatte also, um hineinzubeissen, statt der Wangen den Hals gewählt.

(Fall 4.) Von guter Hand wird mir folgende Grausamkeit eines Pädicanten mitgetheilt. Ihn, eine sehr hochgestellte Persönlichkeit Norddeutschlands, trieb eine unbezähmte Gier, bei dem Act körperlicher Vereinigung sein Opfer gewaltthätig und schonungslos zu behandeln. Nur so empfand er dabei wahren Genuss, so dass er dann vor Wonne jauchzte, und zwar um so grösseren, je mehr dasselbe sich unter ihm vor Schmerz krümmte und je lauter es aufschrie. (Vgl. hiemit die weiter gehende Erscheinung: unten Fall 9 de Laval de Raiz.) Die Opfer waren hier (im Fall 4.) nicht Knaben, sondern preussische Soldaten. Die Persönlichkeit lebt noch.

Diese Schonungslosigkeit und jene Gier wirklich zu beissen sind doch eigenthümlich und schwerlich vereinbar mit der Natur des Liebestriebes in seiner Gesundheit, selbst im Stande der Erregung.

§. 33. *(Fall 5.) Dass der Geschlechtsgenuss momentan Störungen im Seelenzustand überhaupt bewirken könne, beweiset ein Fall, den mir 1868 von einem Wiener Urning ein andrer (27 j.) Urning erzählte. »Er begehrte von mir die Umarmung Brust an Brust, im Liegen, so dass ich auf ihm lag. Er umarmte mich mit Heftigkeit. Plötzlich entstellten sich seine Gesichtszüge, die Augen schlossen sich, die Hände krallten sich krampfhaft an meinen Körper. Er war bewusstlos. Ich gerieth nicht wenig in Angst, verhielt mich jedoch ruhig. Nach einiger Zeit kam er langsam wieder zu sich; alles verlor sich; er entschuldigte sich: in diesen Zustand verfalle er beim Liebesgenuss fast stets, wenn er längere Zeit enthaltsam gewesen. Bei öfterer Ausübung sei er frei davon. Sonst schien er mir ganz gesund zu sein.«

§. 34. Kehren wir zu den Grausamkeiten zurück. Völlig zwecklose Grausamkeiten kommen auch in der gemeinen Liebe vor, in Fällen geschlechtlicher Gewaltthat, welche ja vorzugsweise in einem Zustand von Geschlechtsaufregung begangen wird, der an Wuth streift. So hat z. B. in einem Falle der Nothzüchtiger, getrieben von lechzender Gier, der genothzüchtigten einen hölzernen Stock mit Heftigkeit in die Geschlechtstheile gestossen. Zu vergleichen mit der ähnlichen Schandthat im Fall Corny. Hieher gehören vielleicht auch die »entsetzlichen Umstände« (mir nicht näher bekannt), unter denen 1868 in Hessen-Darmstadt Peter Feuerbach von Ober-Wöllstadt ein 12j. Mädchen missbrauchte und ermordete.

Lächeln muss man über die Naivetät eines Gerichtsarztes, welcher den Vorzug blutgierig zu sein den Urningen zuspricht. In der Gerichtsverhandlung gegen jenen Gattinmörder Kraft, am 19. Juni 1868, sagte Dr. med. Alexander Küchler zu Kornenburg von jenen, welche »geschlechtlichen Umgang pflegen mit jungen Männern«: »Derlei Leute neigen zur Grausamkeit.« Solche Stufen der Wissenschaft mögen Samojeden und Pipuhoha's bereits ebenfalls erklommen haben.

§. 35. Den Gegenstand der Verstümmelungen bildeten bei Corny wie bei Hanke die Geschlechtstheile. Bei Corny's Leiche waren die abgeschnittenen Gegenstände auch nirgend aufzufinden: als habe der Verstümmler sie mit sich genommen! Zur psychologischen Vergleichung gebe ich hiezu 2 Seitenstücke.

a. (Fall 6.) In einem etwa 15j. Urning war mit erwachender Mannbarkeit das erste Feuer der Geschlechtslust entbrannt, ohne Befriedigung zu finden. In einsamen Stunden zwang ihn die Phantasie, ihren zügellosen Gebilden sich hinzugeben. Sie versetzte ihn auf ein Schlachtfeld. In quo campo militi alicui juoeni interfecto, formositate ceteros superanti, humi jacenti, membra genitalia abscindere sibi visus est. Einer ziellosen wollüstigen Gier, die ihn beherrschte, gewährte diese Phantasie eine gewisse Sättigung. Etwa 2 J. später fühlte er sich von dem unbefriedigt gebliebenen Geschlechtstriebe angestachelt, zu einem todten Hirsch, der einem Hausgenossen gehörte, sich Nachts hinzuschleichen, ihm membri virilis partem abzuschneiden und das Stück mit sich zu nehmen. »Bei der Ausführung dieses Wagstücks trieb mich Todesangst. Mich überkam ein Zittern und Beben, wie ich nie zuvor erlebt.«

b. (Fall 7.) Aus folgendem mysteriösen Falle ist leider weder zu ersehn; ob der Urheber der That Urning, noch, welche psychologische Ursache zu ihr trieb. Wiener »Presse« v. 24. Feb. 1869; aus Unterkrain, 18. Feb.: »Am 11. Feb. um Mittagszeit war der Militairabschieder N. unweit der Ortschaft Klein-Korren beschäftigt. Ihm näherten sich 3 unbekannte Männer, durch falsche Vollbärte entstellt, von denen einer ihm ein grosses Messer an die Kehle setzte und ihm drohte: »Du musst sterben, wenn du einen Laut von dir giebst.« Dann schleppten sie ihn einige Klafter weit in ein Gebüsch, wo sie ihm die Kleider abrissen und ihn theilweise entmannten; worauf sie sich mit ihrer Beute entfernten. Die Motive dieses Verbrechens sind unbekannt, auch dem Verstümmelten selbst. Er schwebt noch in Lebensgefahr. Vermuthlich ist Aberglaube im Spiel.« Doch was für ein Aberglaube? Sollte Aberglaube oder eines eifersüchtigen Dionings Rache vorliegen, so würde der Fall nicht hieher gehören. Doch wäre letzteren Falls dem verstümmelten das Motiv sicher nicht unbekannt gewesen. Auch hätte die Süssigkeit der Rache dem, der sie übte, schwerlich gestattet, im Augenblick seines Triumphs zu schweigen.

Für Entmannungen, die ein Urning verübt, wird das Motiv schwerlich je zu suchen sein in einfacher Grausamkeit: vielmehr in einer Gier, an männlichen Geschlechtstheilen geschlechtliche Aufregung zu sättigen, sei es durch eine an denselben verübte Grausamkeit, sei es durch deren Aneignung, um sich zu sättigen an ihrem Besitz. Dioninge pflegen nicht zu wissen, dass gerade in diesen Theilen eines jungen Mannes aller geschlechtliche Reiz, den er auf einen Urning ausübt, sich concentrirt. (Formatrix §. 8. 9.)

§. 36. Nunmehr treten wir ein in den geheimnissvollen Kreis jener Grausamkeiten, zu denen die an Hanke und Corny verübten gehören. Ich kann es nicht unterlassen, ihn zu eröffnen mit dem Ausspruch eines Mystikers. Abgesehn von seinen dämonischen Begriffen stimmt seine Anschauung nämlich mit der meinigen überein, obgleich er zu ihr gelangte auf dem Wege der mystischen Dämonologie, ich auf dem der naturwissenschaftlichen Psychologie.

J. v. Görres (Christliche Mystik; Bd. IV. Abth. II. 1842; S. 460) sagt, unter der Ueberschrift »Die dämonische Blutgier«: »Der Zeugungslust ist verwandt, ihre Kehrseite bildend, die Mordlust; beide wecken einen Blutrausch.« Zeugungstrieb und Blutgier sind ihm (S. 421) in gleicher Weise »Anknüpfungspuncte dämonischer Rapporte«, in heutiges Deutsch übersetzt, Neigungen, die mit Raserei in Berührung treten können. S. 461. 462: »Die anwachsenden Triebe werden gegen die Herrschaft des Willens ankämpfen, zuletzt sich ihr ganz entziehn. In ihrer Unwiderstehlichkeit werden sie ihren Leibeigenen nun von Gräuel zu Gräuel treiben und endlich die Obsession« (Art von Besessenheit) »hervorrufen .... Die Handlungen, die daraus entstehn, erscheinen als dämonischer Natur. Was anfangs Ueberwältigung durch den Affect war, wird zuletzt Ueberwältigung durch den Dämon

§. 37. (Fall 8.) Geschlechtslust, verwachsen mit Blutdurst und Wahnsinn, finden wir bei dem monströsen Jules Marquis de Sâde, geb. 1740, gest. 1814. Von seinem langen Leben musste er in Zwischenräumen 29 J. in Kerkern u. Irrenhäusern zubringen, in die man ihn brachte wegen seiner unglaublichen geschlechtlichen Excesse. Mit lüsterner Sinnlichkeit unerhörten Grades übte er nämlich, (wie es fast scheint, völlig mischweise) Weiberliebe u. Männerliebe u. missbrauchte unreife Mädchen u. Knaben: alles bis zum Extrem u. unter den grausamsten Martern seiner Opfer, die er peitschte, biss und schnitt, z. Th. sogar tödtete. Er starb in der Irrenanstalt zu Bicêtre, in der er, geistesumnachtet, seine letzten Jahre zubrachte, im Wahnwitz selbst noch lüstern und excessiv. Nachdem er einst in's Gefängniss oder Irrenhaus abgeführt war, liess man in seinem Schlossgarten einen versumpften Teich ab, der die Luft verpestete. Man fand darin die vollständig nackten, auf einander gebundenen, Leichen eines Knaben und eines Mädchens. Dieselben waren mit rosaseidenen Bändern, mit denen ihre Haut durchzogen war, gleichsam gespickt, in der Weise wie man einen Hasen spickt. Es war zu vermuthen, der Marquis habe sie gemissbraucht, lebendigen Leibes so gemartert, dann ersäuft. In Paris hielt er sich, so behauptete man, ein entlegenes Häuschen, in das er Leute hineinlockte. Einem Mädchen, erzählt die Marquise de Crequy in ihren »Souvenirs«, habe er gegen das Versprechen einer Geldsumme unterhalb des Knies die Haut aufgeschnitten und theilweise abgelöst. Auf ihr Geschrei hätten vorübergehende die Hausthür verschlossen gefunden, dieselbe erbrochen, worauf er floh. Sie sahen, wie ein Lappen Haut vom Bein herniederhing. Später sah ihn die Marquise in Bicêtre, als er mit den übrigen Narren eine Comödie aufführte. – Er schrieb 3 vielgenannte Romane: »Justine ou les malheurs de la vertu« (1794), »Juliette« (1798) und »Histoire de Dom Bougre, portier des Chartreux, ou mémoires de Saturnin« (1777). Dieselben enthalten die wahnwitzigsten Ausgeburten blutdürstiger Wollust, verübt an Weibern, Männern, Mädchen und Knaben, und schildern wahrhaft unerhörte Peinigungen und Marterungen, Geisselungen, Morde, bei denen dem Leser die Haare sich zu Berge sträuben. (Michaud, biographie universelle; Conversationslexica von Brockhaus, Pierer, Meyer; Jules Janin: »le marquis de Sâde;« jene »souvenirs«.

Auch hier finden wir neben dem Schneiden etc. das Beissen. In dieser Verbindung ist es offenbar acuteren Characters, als in den unschuldigen Fällen Pellanda und Tucca, wo es nur vereinzelt auftritt. So dürfte es das Gewicht der Gründe verstärken, welche für Geistesstörung sprechen.

§. 38. (Fall 9.) Einem merkwürdigen Seitenstück zu Sâde begegnen wir in Giles de Laval-Montmorency , Baron de Raiz, Marschall von Frankreich, welcher 1440 zu Nantes hingerichtet ward wegen Mordes von Kindern, Pädication und Zauberei. Er hatte sich ausgezeichnet im Krieg gegen die Engländer, gerieth in Geldnoth, suchte Hülfe zunächst von der Alchymie, dann vom Teufel. Seinem Freund und Helfershelfer Prelati erschien dieser in Gestalt eines 20j. Jünglings und zeigte ihm im Walde einen Haufen Goldbarren, der hernach aber als ein Haufen gelben Sandes sich erwies. (Prelati's Aussage im Gefängniss. Die Richter inquirirten ja auf Zauberei.) Ihm selber erschien er nicht. Als erstes Opfer brachte er ihm dar – – Hand, Herz, Augen und Blut eines getödteten Kindes. (!) Constatirter und zugleich wichtiger ist folgendes. Durch ein altes Weib liess er Hirtenknaben, Bettlerbuben etc. auf sein Schloss Machecou locken, wo sie stets spurlos verschwanden. »Er ergab sich (schreibt Görres; vermuthlich Worte Robineau's, s. unten) den schändlichsten Lüsten, die die Einbildungskraft nur ersinnen kann. Mit dieser Lust verband sich eine Blutgier, der Art, dass die Opfer seiner Brutalität nur im Augenblick ihres Todes wahren Reiz auf ihn übten! Mit eigner Hand tödtete er sie. Ihr Geschrei, ihr Röcheln, ihre Convulsionen und Zuckungen ergötzten ihn. In wilder Gier mühte er sich, ihre Qualen noch zu vermehren und zu verlängern. Um diesen Genuss recht zu geniessen, pflegte er sich auf die sterbenden niederzusetzen.« Im Thurm von Chantocé fand man eine ganze Tonne voll von Gebeinen seiner Schlachtopfer. Die Gesammtzahl der von ihm getödteten Kinder schätzte man auf 150. Klagbar waren indess nur 6 ihrer Kinder beraubte Väter. »Er gestand«, offenbar auf Suggestion, die Kinder den bösen Mächten geopfert zu haben, den Geistern Beelzebub, Belial etc. und jenem Jüngling. (Ob er auch Mädchen so behandelte, ist aus Görres nicht ersichtlich. Nur er war mir zugänglich.) Am 25. Oct. 1440 ward er auf der Magdalenenwiese bei Nantes lebendig verbrannt. Er starb reuevoll und in der Zuversicht, jenen Prelati »im Paradiese wiederzusehn.« Dieser Reue wegen ward seine Asche auch in geweihter Erde bestattet. (Die Processacten werden noch heute in Nantes verwahrt. Auszug daraus in der kaiserl. Bibliothek zu Paris sub nro. 493. – Robineau; histoire de Bretagne; tom. I. 1707; page 614-617. – J. v. Görres; a. a. O. S. 462-466). – Man hatte damals doch die Classiker. Warum beachtete man denn nicht Aristoteles' Wort? Πᾶσα γὰρ ὑπερβάλλουσα ἀκολασία καὶ χαλεπότης αἱ μὲν θηριώδεις αἱ δὲ νοσηματώδεις εἰσίν. (Aristot. ethic. VII. 5, 5.) »Jede über alles Maass hinausgehende Ausschweifung und Wildheit (Grausamkeit, Gier) ist entweder thierartig oder krankhaft.«

§. 39. Der wirklichen Blutgier steht gegenüber, ihr gleichsam parallel laufend, die nur in krankhafter Phantasie vorhandne. Auch von dieser lasse ich 3 Fälle folgen: 10, 11 und 12. 12 läuft parallel mit §. 28, 2. 10 und 11 dagegen scheinen ebenfalls (11 wenigstens hie und da) Beimischung geschlechtlicher Sinnlichkeit zu enthalten, grösseren oder geringeren Grades.

(Fall 10.) Eine fast noch merkwürdigere Erscheinung als Laval de Raiz bietet 1613 Maria von Sains, niederländische Nonne im Kloster Yssel. Die Wahngebilde ihrer Grausamkeit behandelte man als wirklich verübte Verbrechen. In damaliger Zeit, durchdrungen wie sie war vom Glauben an Zauberei, scheint der Irrsinn gern die Form der Wahnidee angenommen zu haben: Zauberer, Hexe, Währwolf etc. zu sein, ähnlich wie in unsren Tagen die Form: »ein Prinz«, »der König«, »der Messias«, etc. zu sein, nur freilich dass man gegen die Wahnidee, statt mit Psychiatrie, mit Criminaluntersuchung einschritt. Etwa 1611 denuncirte Marie von Sains sich selber und ward verhaftet. 1613 legte sie ein umfassendes Geständniss ab. »Ich habe viele Kinder gemordet. Einige habe ich lebendig ausgeweidet. Die noch schlagenden Herzen zermalmte ich mit den Zähnen und frass sie. Einige briet ich lebendig am Spiess oder sott sie in Töpfen, einige presste ich zu Tode unter Pressen, einige warf ich Löwen und Schlangen zum Frass hin, einigen schlug ich an der Wand den Schädel ein, zog ihnen die Haut ab und zerstückte sie wie zum Einsalzen, einige hängte ich auf am Hals, an einem Arm oder Bein oder an ihren (männlichen) Geschlechtstheilen.« (Sinnlichkeit!) »Alle opferte ich dem Teufel. Einige hängte ich dem Erlöser zur Schmach an's Kreuz. Die von mir erwürgten, die man begrub, scharrte ich Nachts wieder aus u. trug sie in unsre nächtl. Versammlungen.« (Gemeint sind die Phantasiezusammenkünfte der Hexen, der »Hexen-Sabbath.«) Das Kloster hatte die Clausur, so dass sie dessen Mauern gar nicht verlassen konnte. Es barg aber weder Kinder noch eine Menagerie von Löwen und Schlangen. Alles war nur Phantasie. Der 70j. Erzbischof von Mecheln jedoch erklärte: »Noch nie habe ich einen solchen Abgrund von Sünde, Laster, Verbrechen und Gräueln gesehen, wie an dieser unglücklichen Nonne!« Ohne Zweifel ward sie lebendig verbrannt; wie solches noch weit später auf Geständnisse gleichen Werthes hin üblich war, z. B. bei den »Hexen-Bränden« von 1634 in Würzburg, in ganz gleichem Umfange aber auch in protestant. Ländern, u. a. in Norddeutschland und England. Ohne Zweifel starb auch sie »reuevoll«; wie ja von fast allen verbrannten Hexen gemeldet wird. (Historia de tribus energumenis in partibus Belgic. – Görres; a. a. O. S. 468-470.)

(Fall 11.) Ein Beispiel von Blutgier in den Phantasiegebilden einer Monomanie gewähren auch jene Männer, die man einst in Deutschland etc., namentlich aber in Frankreich, als Währwölfe hinrichtete, meist ebenfalls lebendig verbrannte, ganz selten auf Lebenszeit in ein Kloster sperrte oder gar begnadigte. In Deutschland ward ein Währwolf verbrannt zu Constanz zur Zeit des Huss; der letzte 1603 zu Grenoble. Es kommen auch ganz junge Bursche und Weiber vor. Ohne alle Folter haben sie rückhaltlos ihre Phantasie-Verbrechen eingestanden. Diese seltsamen Geisteskranken glaubten, nachdem sie vermeintlich sich entkleidet, plötzlich Wolfsgestalt anzunehmen, von Wolfshaaren und Wolfszähnen umstarrt zu werden, auf allen Vieren zu schreiten, heulend Feld und Wald zu durchirren, die weitesten Strecken rasch wie der Gedanke sausend zu durcheilen, in der Luft einherjagend Flüsse und Ströme zu überschreiten, fühlen sich dabei stets von Blutgier getrieben, glaubten Kühe und Schafe zu zerreissen, ja selbst Menschen anzufallen und zu zerfleischen, namentlich Kinder und junge Mädchen, den erwürgten Kindern das Gehirn auszufressen, glaubten dann wieder sich unter wirkliche Wölfe zu mischen, mit Wölfinnen sich zu begatten. (Sinnlichkeit.) Nicht selten traf es zu, dass gleichzeitig wirklich Menschen und Vieh von Wölfen angefallen waren. Diese Thatsache war dann des Geständnisses Bestätigung: der Währwolf ward zum Tode verurtheilt. Ein Weib, das als Währwölfin in Criminaluntersuchung war, fiel vor den Augen des Gerichts in Ohnmacht. Nach 2 Stunden erwacht, erklärte sie: soeben habe sie in Wolfsgestalt bei der (2 Wegstunden entfernten) Stadt auf der Weide eine Kuh und ein Schaf zerrissen. Das Gericht hatte nichts eiligeres zu thun als nachzuforschen; und siehe da: zu jener Stunde hatte auf jener Viehweide wirklich ein Wolf Kuh und Schaf zerrissen, In den Perioden, wenn sie Wolf zu sein nicht glaubten, bezeigten diese Kranken oft eine unbezwingbare Lust, auf allen Vieren zu gehn, ja eine seltene Gewandtheit darin. Ein junger Währwolf ward belauscht, wie er heimlich die rohen Eingeweide eines Fisches verschlang. Dies war ein 13j. Bursch, den ein gerichtliches Erkenntniss auf Lebenszeit in ein Kloster gesperrt hatte. Auch bekannte er, im Kloster noch immer Appetit auf Menschenfleisch zu haben, namentlich auf das Fleisch junger Mädchen. (Sinnlichkeit.) Kaum 17 J. alt, starb er. Einst hatte ein Wolf ein Mädchen angefallen, ward aber durch einen Dritten mit einem Knittel vertrieben. Jener 13jährige erklärte: »Der Wolf war ich!« Obgleich er in der Nähe der That gar nicht gewesen, gab er doch alle Einzelheiten derselben an, unter andrem auch, welchen Ausruf jener Dritte dabei ausgestossen. Die Angabe traf zu. Wo er indess gewesen zur Zeit der That, und in welchem Zustande, ob ohnmächtig, tobsüchtig oder dgl., ist nicht constatirt. (Görres a. a. O., S. 472-484.) Hätte es in Deutschland und Frankreich nicht noch Wölfe gegeben, schwerlich hätte es Währwölfe gegeben. Dann hätte die Blutgier-Phantasie ohne Zweifel andre Formen angenommen.

Die vermeintlichen Währwölfe waren in Wirklichkeit unschuldige Geschöpfe, die keinem Kinde auch nur ein Haar krümmten. Nur von einem, Giles Garnier aus Lyon, wird berichtet, auch in Wirklichkeit habe er Kinder angefallen. Er ward hingerichtet zu Dôle 1573. (Görres S. 484).

Der Glaube an die Existenz wirklich verwandlungsfähiger Währwölfe ist uralt und vielleicht Gemeingut aller indogermanischen Völker. Die Römer verdanken ihn sicher nicht der Mythologie der Germanen.

In der jüngeren Edda geben die Äsen Loki's Sohne Wali Wolfsgestalt, worauf er seinen Bruder Narvi zerreisst. (Edda, übersetzt von Simrock, 1851; S. 284.) In der älteren Edda, in der ersten Helgakvidha, wirft Gudmundr dem Sinfiötli gar verdächtige Dinge vor:

»Du hast im Walde mit Wölfen geschwelgt.
Oft sogst du mit eisigem Athem Wunden.
Du warst ärger als Fenriswölfe. An Wolfsgeheul
gewöhnt, lagst du im Walde unterm
Gebüsch. Du warst Grani's« (vermuthlich
eines Wolfes) »Braut. Warst zum Lauf gezähmt
und gezügelt. Manche Strecke ritt
ich dich.«

(A. a. O. 8. 132. 133. 401.) Ausdrücklich erzählt wird Sinfiötli's Wandlung in einen Wolf in der Wolsungasage Cap. 12. 13.

Petronius lässt bei Trimalcio's Gastmahl den Niceros erzählen:

»Nachts kamen wir über einen Todtenacker. Mein Begleiter zog seine Kleider aus und legte sie an den Weg. Plötzlich ward er Wolf. Heulend lief er in den Wald. Seine Kleider waren Steine geworden. Auf den Tod erschreckt, kam ich Morgens in Melissa's Haus. Sie sagte mir: »»Soeben ist ein Wolf in unser Dorf gekommen und hat unter dem Vieh gewürgt. Unser Knecht hat ihm aber einen Spiess in den Hals geworfen.«« Auf dem Rückwege fand ich dort, wo die versteinerten Kleider gelegen, auf dem Erdboden viel Blut.« (Als habe dort ein stark blutender sich etwa angekleidet.) »Daheim aber fand ich meinen Begleiter im Bett liegen; ein Arzt verband ihm den Hals.«

(Fall 12.) Eine Dame meiner Familie, welche die Menschenfreundlichkeit und Herzensgute selber war, quälten Jahre hindurch seltsame Beängstigungen, von Jahr zu Jahr sich steigernd. So, wenn sie ein Kind am Wasser spielen sah. »Es ist mir, sagte sie, als ob etwas in mir wäre, was mich drängte, das Kind in's Wasser zu werfen.« Dieselbe Angst überkam sie, als sie einst nahe dem Säugling ihrer Tochter ein Messer liegen sah. Dringend sagte sie zur Tochter: »Nimm das Messer fort! Mir ist, als müsste ich deinem Kinde damit etwas anthun.« Einst sagte sie ihr sogar: »Sieh einmal nach, ob an dem Messer auch kein Blut zu sehen ist. Mir ist, als hätte ich dem Kinde schon etwas zu Leide gethan.« Entsetzt wich jene zurück vor der eignen Mutter. Und doch wagte diese das Messer nicht einmal anzurühren. Sie starb, ohne je den leisesten Versuch zu Handlungen gemacht zu haben, deren Gespenst sie wahrhaft gemartert hatte. Wahnideen andrer Art hatten nie sie heimgesucht.

§. 40. Ueber Zurechnungsfähigkeit und Geistesstörung hier einige gerichtsärztliche Aussprüche.

1) Casper verlangt zur Zurechnungsfähigkeit jemandes, a) dass er im Stande sei, die Folgen seiner Handlungen und ihren Zusammenhang mit dem Strafgesetz zu übersehn, b) dass er zugleich auch die Macht besitze, dem Andringen eines rechtswidrigen Gelüstes zu widerstehn. (Clin. Nov. S. 267.) Vgl. oben § 20, 3. »Der Geisteskranke, bei dem der freie Gebrauch der Vernunft aufgehört hat, ist nicht mehr im Stande, die Leidenschaften zu zügeln durch Vernunft und Sittengesetz. Emancipirt von beidem kommen sie daher bei ihm zum Durchbruch.« (A. a. O. S. 249.) [Kann der freie Gebrauch der Vernunft nicht auch auf Augenblicke gehemmt werden?] »Geistesstörungen verdunkeln keineswegs immer die ganze Sphäre der Intelligenz. Man sieht Geisteskranke, die klar, ja scharfsinnig, sprechen, die ihre gewohnten Studien fortsetzen.« (A. a. O. S. 273.) »Die Erfahrung zeigt uns Fälle vom partiellen Wahnsinn, die nie allgemeine geistige Reaction veranlassen, wieder andre, in denen er den Menschen zu Handlungen treibt, die entschieden den Stempel des Wahnsinns tragen.« (Vgl. oben die ungefährlichen Währwölfe im Gegensatz zu Giles Garnier, die Phantasie-Blutgier zur wirklichen.) »... Wenn die fixe Idee ... auf dem Boden einer Leidenschaft gewachsen ist, ... wenn sie den Kranken endlich zu einer gesetzwidrigen Handlung hinreisst, die er von ihrem Standpunct aus unternahm: dann ist der Beweis da, dass er aufgehört hatte, über sie die Herrschaft zu führen.« (Handb. I. S. 503.) [Vgl. oben den Ausspruch von Görres.] Sollte es aber nur bleibenden partiellen Wahnsinn geben? nicht auch einen nur augenblicklich erweckten, rasch wieder vorübergehenden, der das Gemüth eines Sâde, eines Laval de Raiz in Fesseln schlägt, einen Wahnsinn augenblicklicher Wuth?

2) Dr. med. v. Krafft-Ebing sagt (in Friedreich's Blättern für gerichtl. Med., 1864; S. 244):

»Die Gerechtigkeitspflege höre auf, den Ergebnissen der Naturforschung die Thür zu verschliessen. –Zu ergründen suche man die Gesetze menschlichen Empfindens und Wollens im kranken Zustande. Die daraus gewonnenen Resultate mache man zum Massstab für die Beurtheilung menschlichen Handelns. Wo die Fähigkeit freier Willensbestimmung gehindert ist durch einen abnormen psychischen Process, da ist das Individuum psychisch unfrei

3) *Ein nordamerikanischer Mediciner ein nordamerikanischer Mediciner: wohl Dr. Julius Hoffmann aus Jacksonville, Illinois, »dem 1868 eine Abtheilung des dortigen Irrenhospitals während längerer Zeit anvertraut war« ( X. Prometheus S. 24). citirt mir eine englische Auctorität, Taylor, practischen Gerichtsarzt von grosser Erfahrung. In seinem Werke »Medical jurisprudence« (1864) berichtet dieser eclatante Fälle von Blutgier bei Geschlechtsakten u. erklärt sich dabei für momentane Unzurechnungsfähigkeit. – Vgl. auch obige Aussprüche des Aristoteles.

§. 41. Dass Zurechnungsfähigkeit, wo sie irgend zweifelhaft ist, kaum sorgfältig genug geprüft werden könne, beweist der Fall des Grafen Chorinsky, den 1868 die Münchener Geschwornen sorglos genug waren für zurechnungsfähig zu erklären, nachdem einige Aerzte ihn für bereits partiell geisteskrank erklärt hatten. Ja, diese (namentlich Dr. Schilling in München und ein französischer Irrenarzt Dr. Moreau) hatten vorausgesagt, in kurzem werde auch allgemeiner Wahnsinn in ihm ausbrechen. In der That musste man ihn schon nach wenigen Monaten wegen ausgebrochener Tobsucht von der Festung Rosenberg in die Erlanger Irrenanstalt transportiren; auf welcher Transportreise er in einer Nacht seine wollene Schlafdecke von einem Ende bis zum andren zerzupfte und zerkaute. (*Man hat ihn seitdem, als unheilbar stumpfsinnig, von dort in eine österreichische Irrenanstalt entlassen.) Dies dürfte geeignet sein, zur Vorsicht selbst dann aufzufordern, wenn bei v. Z. ein späterer »Ausbruch« gar nicht zu befürchten sein sollte.

§. 42. Der zastrow'sche Fall steht in enger Beziehung zur urnischen Geschlechtsnatur. Dreimal darum seien die Richter gemahnt und gewarnt: die hervortreten den psychologischen Fragen nicht den gewöhnlichen Gerichtsärzten anzuvertrauen, die von der Eigenartigkeit dieser Geschlechtsnatur keine Kunde besitzen, niemals Studien über sie gemacht haben, darum auch z. B. noch nicht darauf verzichten, den ererbten, so gefährlichen, Begriff »naturwidrig« auf sie anzuwenden. (*Man liebte es ja bisher, den ganzen Uranismus mit einer Phrase abzufertigen: »Es ist unbelohnend und schauderhaft, die entarteten Triebe der menschlichen Natur kennen zu lernen.« Worte Rosshirt's: Criminalrecht 1821, § 219.) Man würde sonst ja wahrlich Gefahr laufen, Freiheit und Ehre eines Angeklagten in den Horizont Alexander Küchler'scher Kenntnisse zu verstellen! (*Die Küchler trifft man nicht nur in Kornenburg!)

§. 43. Noch gebe ich 4 Criminalfälle neuerer Zeit, in denen die Zurechnungsfähigkeit zur Prüfung stand und die auf den Fall Zastrow Seitenblicke gestatten.

(Fall 13.) Furius (Pseudonym), Dioning, hatte in wüthendem Zornausbruch auf die Brust eines Schutzmanns ein geladnes Terzerol losgedrückt. 7 Jahre zuvor war er kurze Zeit in einer Irrenanstalt gewesen, seither aber nicht mehr für geisteskrank gehalten. Der Untersuchungsrichter fand ihn vollkommen zurechnungsfähig. Casper bei einer ersten Untersuchung desgl. »Seine Gedanken sind klar, seine Antworten consequent; geschickt weiss er die Anschuldigung abzuwehren.« Und dennoch! Dennoch lautete sein erneutes Gutachten: »zur Zeit der That unzurechnungsfähig,« Inzwischen hatte man lange Reimereien von seiner Hand aufgefunden, die er äusserst geheim gehalten hatte, gerichtet an Damen, angefüllt mit »crassestem Unsinn und widerwärtigsten Unanständigkeiten«, »Ergüsse eines geisteskranken Kopfes.« (Casper Handb. I. Fall 184.)

(Fall 14.) Voigt hatte an ein und demselben Abend wiederholte Nothzuchtshandlungen verübt: auf der A. gekniet, mit der Hand ihr die Kehle zugedrückt; der B. mit der Hand die Kehle zuzuschnüren versucht; der C. mit der Hand die Gurgel zugedrückt, wobei er sie an der linken Hand blutig kratzte und ausstiess: »Hund, verfluchter, wenn du noch einen Laut von dir gibst, würge ich dich ab wie eine Katze.« In die Oharité gebracht, musste man ihn fesseln, weil er um sich kratzte und biss. Casper: »Solche geschlechtliche Aufregung ist um so mehr als eine krankhafte zu erachten, als er darin Mordandrohungen ausstösst, ja Schritte thut, sie zu verwirklichen.« Gutachten: »zur Zeit der That unzurechnungsfähig.« Nachträglich bestätigt: Voigt ist später bisweilen Nachts im Hemde zwei Treppen hinunter in den Hof gelaufen. Noch später spielte er mit Puppen und Läppchen. (Clin. Nov. S. 267–271.)

(Fall 15.) Ueber den Gemüthszustand des 36j. schlesischen Landedelfräuleins Ulrike v. Reinikendorf (Pseu.) waren 1858 die Aerzte uneinig. Früher hatte sie einmal 3 Bediente ihrer Aeltern nach einander glühend geliebt. Die Trennung von Julius und Albert, die zum Militair eingezogen wurden, machte sie »einer rasenden gleich«. Casper erklärte sie für geisteskrank: theils wegen dieser »überspannten« Liebesgluth, theils wegen des absonderlichen Inhalts ihrer geheimen Tagebücher. Diese bestanden aus einem »wirren, wüsten Durcheinander von Notizen und Phrasen.« Er giebt einige Proben. Nach der Trennung von Julius, 1847 (an verschiedenen Tagen niedergeschrieben): »Wovon ist mir der Mund so ausgeschlagen? Die kleine Katze scheint es zu wissen. Morgen kommt Militair durch; dann will ich mit. Also du wärst wohl gern Soldat? ... Er sah, dass ich lächelte .... »Du siehst so blass aus!« Da ward er roth. Nachtmützen! Ich fahre mit, weil der Mond scheint; und unter dem Tambour sitzt ein Hund .... Ich habe mich heute zum Kaiser-Franz-Regiment gemeldet.« Sie nennt ihn »mes uniques amours, honneur et charme de ma vie.« 1849: »Was ist das für ein reizendes Bild! Ich sehe es in diesem Spiegel, wie die untergehende Sonne 2 Menschen bescheint, 2 Menschen, die einander sehr lieb haben. Auf der Kehrseite des Spiegels stand ein Name. Dann hörte ich noch einmal die geliebte Stimme; aber ich sah ihn nicht mehr.« 1855: »Es war ein grässliches Chaos in meinem armen Kopf.« (Clin. Nov. Fall 34. »Aidoiomanie«.) Auch hier finden wir Wahnideen verwachsen mit der, vielleicht lange unterdrückten, geschlechtlichen Liehe. So gut dieselben aber chronisch vorkommen können oder gedehnt, ebenso gut ist dies offenbar auch acut denkbar oder concentrirt, als momentane Raserei. In Augenblicken erregter Geschlechtswuth und erwachten Blutrausches wird man auch bei Naturen von der Art der Sâde und Laval de Raiz sicherlich ein »grässliches Chaos in meinem Kopf« vermuthen dürfen. §. 44. (Fall 16.) Im Dorf Büttelborn bei Darmstadt ereignete sich 1868 ein seltsamer Criminalfall, den ich anführe wegen 3facher Beziehung zu dem Fall Zastrow: a) mit dem Geschlechtstrieb verwachsene Monomanie (§. 28,1; nicht 3) (dieser Punct ist hier freilich nicht vollständig constatirt), b) bestrittene Zurechnungsfähigkeit, c) – Novum! – parteiische Einmischung des Publicums in den Ausspruch der Gerichtsärzte. – Dort lebte der vermögende Krautbauer Peter Rusticus (Pseudonym); verschlossen, für »heimtückisch« gehalten, mir bezeichnet als antikatholisch-pietistischer Fanatiker; Urning, nicht Pädicant. Ueber ihn wird mir folgendes mitgetheilt. Seinen Liebestrieb befriedigte er am Körper eines jungen Burschen in der bei den Urningen gewöhnlichen Art, d. i. in der Umarmung Brust an Brust, ohne Eindringen in den Körper. Ihn trieb aber das schwer glaubliche, freilich auch nicht völlig constatirte, Gelüst, dass er zum Liebesgenuss vom Geliebten forderte, nudato corpore auf einem aufgeschlagenen Altarbuche zu liegen. Nicht genug! Das Altarbuch, (Messbuch, Bibel etc.) musste aus einer Kirche oder Sacristei gestohlen sein, und zwar je zu einmaligem Gebrauch. Welch eine Ideenverknüpfung! Nicht weniger als 20 derartiger Bibelentwendungen ward er überführt, nach andrer Mittheilung sogar 32, verübt fast sämmtlich durch gewaltsamen Einbruch. Verhaftet und zu Darmstadt 1868 vor das Schwurgericht gestellt, ward er freigesprochen: von »naturwidriger Unzucht« wegen Mangels genügenden Beweises, vom Kirchendiebstahl aber wegen mangelnder Zurechnungsfähigkeit. Er ward in Freiheit gesetzt. Es dauerte aber nicht lange, so hatte er sich mehr als verdächtig gemacht, schon wieder eine Anzahl von Bibeln etc. aus Kirchen sich angeeignet zu haben. In Folge dessen ward er im Jan. 1869 abermals verhaftet, sehr bald indess abermals auf freien Fuss gesetzt: während es allerdings vielleicht das richtigere gewesen wäre, ihn einer Irrenanstalt zu überliefern. Das Urtheil nahm an, die Strafbarkeit seiner That habe er nicht erkannt. Ein kreisärztliches Gutachten constatirte verschiedene »verkehrte Streiche«, die er schon früher ausgeführt. Die Richtung seiner Diebesgelüste auf einen für das Leben so unbrauchbaren Gegenstand, wie jene Bücher es sind, bezeichnet es als »unbegreiflich und ganz abnorm«. Es schliesst danach auf eine »unglückliche Neigung zu dergl. Handlungen, die der Wille zu bezwingen nicht vermocht hat.«

Mit diesem Gutachten war das Publicum durchaus unzufrieden. Die Freisprechung machte böses Blut. Man war förmlich ausser sich. »Heisst das nicht«, fragte man, »dem Verbrechen überhaupt einen Freibrief ertheilen?« Die Entrüstung galt aber wohl nur der Enttäuschung, den freigesprochen zu sehn, der Männer geliebt hatte! Hinc illae irae!

§. 45. Um so lauter fordre ich ungebeugtes Recht für Urninge und selbst für Pädicanten. Ich kann nicht umhin, dem »Volke« das Verdict zuzutrauen »»Der Angeklagte ist Pädicant: darum »schuldig!« sans phrase«« Nicht zum ersten Mal in der Geschichte würde das Recht gebeugt werden durch die rohe Gewaltthätigkeit der Volksmeinung. In welchem Grade insonderheit gegen v. Z. die Volksmeinung Berlins gewaltthätig ist, zeigen die Zusammenrottungen, welche vor seinem Gefängniss zu dem ausgesprochenen Zweck erfolgten: ihn, »den man ja aus der Untersuchung in ein Irrenhaus bringen wolle«, mit Volkshänden an einen Laternenpfahl zu hängen.

»Die Brandung rast; ihr Opfer will sie haben!«

Das zeigt ferner die Berliner Presse, welche die vorhandne blinde Wuth mehr anstachelt als zügelt. Nach solchen Vorgängen dürfte eine warnende Stimme gar sehr am Orte sein, dass das Recht nicht gebeugt werde, weder vor dem Geschrei des Pöbels, welcher lechzt, an dem Pädicanten Lynchjustiz zu üben, noch vor dem der sog. Gebildeten, welche »entrüstet« sein würden, sollte die unantastbare Unabhängigkeit des Gerichts über » solch einen Menschen!« ein unerwartetes Urtheil fällen.

Drum, Themis, jungfräulich und rein,
Hüte dich fein:
Dass nicht dein Kränzlein gefährdet sei!

§. 46. v. Zastrow soll beantragt haben, vor das Schwurgericht zu Brandenburg gestellt zu werden wegen in Berlin zu befürchtender Voreingenommenheit. War je, nach sittlicher Gerechtigkeit, ein Antrag begründet, so dürfte dieser es sein. Wer wird denn nach dem obigen noch zu entscheiden wagen, ob nicht Geschworne, solcher Bevölkerung entnommen, indem sie des Gerichtssaals Schwelle überschreiten, ein jeder einen Strick schon fertig gedreht in der Tasche tragen werden? Indess käme er in Brandenburg, wenn auch vielleicht aus der Dachtraufe, doch wohl nur in den Landregen. Wirkliche Gerechtigkeit ist nur dann ihm gewährt, wenn die Bank zur Hälfte von Geschwornen besetzt ist, welche Garantien bieten, dass sie nicht blinden Hass gegen ihn in die Verhandlung mitbringen, d. i. von Urningen. Eine begründete Forderung wird durch »Unthunlichkeit« nicht zur unbegründeten.

§. 47. Unter den erwähnten Personen, die gerichtsärztlich für unzurechnungsfähig erklärt wurden, begegnen wir bei mehreren, nicht bei allen, verschiedenen Absonderlichkeiten aus ihrem alltäglichen Leben: bei Gnieser närrischen Ideen, bei Rusticus verkehrten Streichen, bei Furius wüsten Reimereien, bei Ulrike einem Chaos aufgezeichneter Phrasen. Nicht z. B. bei Vogt und Sâde. Bei Vogt stellte sich das Spielen mit Puppen und Läppchen erst später ein. Auch Chorinsky erklärten einige Aerzte für partiell geisteskrank, als dgl. Absonderlichkeiten noch gar nicht vorlagen. Bei Sâde beruhte die Wahnsinnigerklärung, zu Anfang wenigstens, vermuthlich lediglich auf der grässlichen Abnormität und der Zwecklosigkeit seiner blutdürstigen Grausamkeit, bei Vogt auf der Excessivität seiner grobsinnlichen und mit Mordsucht verwebten Handlungsweise, d. i. auf jenem selbstständigen Moment, welchem z. B. bei Rusticus die Abnormität und Zwecklosigkeit seines Bibelgelüstes entspricht. Es drängt sich daher die Frage auf:

ob nicht auch v. Zastrow für unzurechnungsfähig zur Zeit der That zu erklären sei lediglich auf Grund der grässlich abnormen Excessivität und der Zwecklosigkeit seiner blutdürstig-wildgrausamen Handlungsweise?

Wichtig, wenn schon nicht massgebend, wäre es, auch bei v. Z. aus seinem alltäglichen Leben Absonderlichkeiten aufzufinden. Lediglich um mich von Veröffentlichung gegenwärtiger Schrift abzuhalten schreibt man mir: »Paris, 4. März 1869. ... Die Zurechnungsfähigkeitsfrage wird sicher auch ohne Ihr Zuthun geltend gemacht werden und zwar aus den verschiedensten Gründen. Wer ihn kannte, ja nur einmal sah, wusste, dass er halb quatsch war.«

*Eine Art von Absonderlichkeit darf man vielleicht schon in folgender Eigenthümlichkeit finden. Am 5. Juli befragte ihn der Schwurgerichtspräsident: warum er die Taschen seiner Beinkleider sich stets so auffallend tief habe anfertigen lassen? Er erwiderte: »Tiefe Taschen halte ich für sehr practisch, schon darum, weil ich stets mein ganzes Vermögen in Staatspapieren bei mir trug.« (Gerichtsztg.)

§.48. Aus den angeführten Fällen glaube ich folgendes Ergebniss abstrahiren zu müssen:

Bei einzelnen Individuen kommen krankhafte Gemüthsaffectionen vor – sei es dauernde, sei es nur augenblickliche, und mögen eigentliche Wahnideen neben ihnen vorhanden sein oder nicht – in denen das Individuum zu Handlungen wilder zweckloser Grausamkeit und Blutgier durch unwiderstehlichen innern Drang gezwungen ist. [Gleichwie in andren Fällen: dazu gezwungen zu sein nur wähnt.] Diese Zustände (*die man »zwingenden Blutrausch« nennen könnte) scheinen Aehnlichkeit zu haben mit jenem entsetzenerregenden Krankheitszustande, in welchem sich der vom tollen Hund gebissene befindet. Namentlich scheint durch dieselben das Bewusstsein ebenso wenig aufgehoben zu werden, wie durch die zum Ausbruch gekommene Wuthkrankheit des gebissenen. Mag man sie nun Wahnsinn nennen oder nicht: eine Verantwortlichkeit für Handlungen, die aus ihnen hervorgehn, scheint mir in gleicher Maasse ausgeschlossen, wie für das Umsichbeissen des Gebissenen, möge das Individuum auch mit vollem Bewusstsein gehandelt haben. In beiden Zuständen scheint die innere Freiheit zu handeln in gleichem Grade aufgehoben zu sein.

Von den an Hanke und Corny begangenen Schandthaten erscheinen als zwecklos-grausam das Beissen und das Durchspiessen mit dem Stock, als geschlechtswüthige Raserei das Abschneiden der Genitalien von einem lebenden Körper bei oder kurz nach Vollziehung eines Geschlechtsacts. Desshalb dürfte zu prüfen sein:

ob nicht v. Z. unter dem unwiderstehlichen innern Zwange jener wuthähnlichen Gemüthsaffection gehandelt habe?

Hiemit ist die Aufgabe, die ich mir stellte, erschöpft. Gelöst habe ich sie, soweit sie zu lösen war mit dem Material, das mir zu Gebote stand.

Würzburg, Feb., März u. April 1869.

K. H. Ulrichs.


IV. Theorie und Consequenzen.

§. 49. Meine naturwissenschaftliche Theorie über den Ursprung der Urningsnatur, wie ich sie am genauesten im Memnon niedergelegt, ist diese:

Das Geschlecht des Körpers des Urnings ist männlich, das seiner Seele weiblich. Er ist anima muliebris virili corpore inclusa. Darum fühlt er, wie das Weib, geschlechtlich sich zurückgestossen vor dem Weibe, zum Manne dagegen hingezogen. Durch Influenzirung des männlichen Körpers ist des Urnings Seele jedoch in einzelnen Stücken mannähnlich gemacht. Sie hat, ihrem Wesen nach weiblich bleibend, hie und da gleichsam männliche Färbung angenommen.

Der Professor des »Paradoxon« glaubt mich zu widerlegen, indem er sagt: »Unmöglich! Körper und Seele bilden zusammen nur ein einheitliches Wesen.« Wesentlich ebenso hat sich über meine Theorie kürzlich der Philosoph Frauenstädt zu Berlin gegen einen meiner dortigen Correspondenten ausgesprochen; »ohne jedoch dem Uranismus damit das Angeborensein bestreiten zu wollen.« Der Einheitlichkeit des Menschen aber bin weder ich entgegengetreten, noch wird mit ihr meine Theorie in's Gedränge getrieben. Die Sache ist ja ganz einfach. Gewisse Bestandteile des einheitlichen Menschen sind weder nach Längenmaass, Quadratzoll und Cubikfuss messbar, noch wägbar nach Pfund oder Loth: Denkvermögen, Gedächtniss, Willenskraft, das Vermögen Entschlüsse zu fassen, Leidenschaften, Neigungen, Gemütsart, das Gefühls- und Empfindungsleben, geschlechtliche Liebessehnsucht und geschlechtliches Sinnen-Begehren. Die Gesammtheit dieser gleichartigen, weil gleich unmessbaren und gleich unwägbaren, Dinge nenne ich »Seele«. Dieselben sind beim Manne und beim Weibe ihrer Art nach vielfach wesentlich von einander abweichend. Besonders merkbar: Gemütsart, Neigungen, Liebestrieb. Mannes und Weibes Liebestrieb stehen diametral einander gegenüber, in erster Linie in dem, was Anziehung ausübt: dort nur ein Weib, hier nur ein Mann, in zweiter in der Art des Sinnenbegehrens: dort activisch, hier passivisch. Aber auch in Gemütsart und Neigungen weichen ja Mann und Weib von einander ab. Demnach glaube ich reden zu dürfen von einem Geschlecht der Mannesseele und der Weibesseele. Während nun des Urnings Körper männlichen Geschlechts ist, ist das Geschlecht seiner Seele, so rätselhaft dies erscheinen mag, gleich dem der Seele des Weibes weiblich; jedoch mit Abweichungen, z. B. mit der Abweichung von jenem Merkzeichen 2ter Linie, vom passivischen Sinnenbegehren. Diese Abweichungen haben ihren Grund in der Influenzirung des männl. Körpers, mit dem die Urningseele ein Ganzes bildet, namentl. in der männl. Geschlechtskraft, die seinem männl. Genitalorganismus innewohnt. Gleichsam um Terrain wird gekämpft zwischen der männlichen Geschlechtskraft des männl. Genitalorganismus und der weiblichen Geschlechtskraft des weiblichen Liebestriebes. Ein Kampf sehr verschiednen Ausgangs: darum Weiblings- und Mannlings-Urninge und Mischlinge. Die Weiblichkeit des urnischen Liebestriebes selbst hat ihren Grund in den Keimen von Männlichkeit und Weiblichkeit, mit denen jeder Embryo ausgerüstet ist. Memnon §§. 3-12. §§. 73-80. Ich glaube meine Sätze an der Welt der thatsächlichen Wirklichkeit nachgewiesen zu haben (z. Th. schon in Inclusa und Formatrix). Diese Beweisführung selbst hat auch noch niemand beanstandet. Männlicher Körper u. weibliche Seele sind im Urning [ebenso in der Urnigin weiblicher Körper und männliche Seele] zu einem einheitlichen Menschen untrennbar verbunden. Das Wesen des Urnings [und der Urnigin] ist: geschlechtlicher Dualismus (Hermaphroditismus) in dem Gegensatz von Seele zu Leib innerhalb der Einheitlichkeit des Individuums. Sobald etwas aber ist, so hat der Einwand »es kann nicht sein« den Werth einer tauben Nuss. *Auf dem Wort »inclusa« bestehe ich nicht. Setze man »innata«. In verbis simus faciles. Uebrigens wiederhole ich (vgl. Memnon): meine naturwissenschaftliche Theorie selbst erscheint mir wichtiger, als all ihre Consequenzen, namentlich als die Consequenz der Abschaffung von Paragraphen des Strafgesetzes, welche durch sie unvermeidlich wird. Freilich gehe ich nicht so weit mir einzubilden, ein ungenannter habe Recht, der mir »Dresden 21. Jun. 1869« schreibt:

»Ihre Theorie der anima muliebris virili corpore inclusa halte ich für eins der glänzendsten Resultate wissenschaftlicher Forschung.«

*Im »Paradoxon« wird, neben Anfechtung meiner Theorie durch einzelne Scheingründe, das Urningthum hauptsächlich »zermalmt«, richtiger: mit einer Fluth ausgesuchter Schmähungen übergossen: übergossen aus dem Schlupfwinkel der Namenlosigkeit hervor. Ein einsam im Exil lebender einfacher Privatmann bekennt frei und offen vor aller Welt: »Urningsliebe ist berechtigt kraft des Rechts der Natur« und ein Professor der Medicin sucht ein Versteck auf, um ihm desto bequemer antworten zu können mit Schmähungen. Würde meine Feder ihm eine grössere Niederlage bereiten können, als er dadurch selber sich bereitet hat?

§. 50. *Die Consequenz meiner Theorie für das Sittengesetz ist diese. Die herrschende Meinung der Dioninge, mild sich selber, grausam andren messend, sagt: »Ausübung urnischer Liebe ist unter allen Voraussetzungen unsittlich. Der Urning hat seinen Liebestrieb lebenslänglich bedingungslos zu unterdrücken.« Ich sage:

a. Urnische Liebe hat gleich der dionischen ihren Ursprung in der Natur.

b. Sie hat gleich ihr einen Natur-Zweck (obschon nur für das Individuum, nicht, wie jene, für das Individuum und für das Menschengeschlecht; Incl. §. 100, Memnon §. 57.)

c. Liebe ausüben ist auch in der urn. Liebe: der Natur Folge leisten, nicht: ihr zuwiderhandeln.

d. Die Natur fordert dies Folgeleisten auch vom Urning. Auch ihm ist das Folgeleisten unbedingtes Naturbedürfniss, und zwar ein solches, dessen periodische Befriedigung zur Erhaltung der Gesundheit Körpers und Geistes nothwendig ist.

e. Lebenslängliche Unterdrückung des Liebestriebes kann von keinem lebenden Wesen gefordert werden.

*Aus diesen 5 Gründen ist, wie dionische, so auch urnische Liebe und ihre Ausübung vor dem Sittengesetz gerechtfertigt. [Nur aus diesen 5 Gründen ist nämlich dionische Liebesübung gerechtfertigt. Man wolle dies wohl beachten. Gerire man sich vor dem Urning doch nicht als Halbgott. Wären diese 5 Gründe nicht vorhanden für dion. Liebe, so würde dion. Liebesübung unbedingt, selbst in der Ehe, Schamlosigkeit u. Unsittlichkeit sein. (Memnon §. 84.) Auch ist sie gerechtfertigt keineswegs gerade nur durch ihren dem Menschengeschlecht dienenden Naturzweck, d. i. durch ihre Fortpflanzungsfähigkeit, sondern durch alle 5 Gründe. Diese Fähigkeit ist bei ihr ja ohnehin gar nicht stets vorhanden. S. XXX Zeile 3 nach dem Wort »Urning« schalte ein: »einem jungen Dioning«. Unsittlich wird urn. Liebe indess unter den Voraussetzungen, unter denen Geschlechtsliebe überhaupt unsittlich wird.

*Worin diese Voraussetzungen bestehn, ist ein discutirbares Problem. Soviel dürfte jedoch feststehn: das Sittengesetz kann die Ausübung des Rechts der Natur weder lebenslänglich unbedingt verbieten noch auch an unerfüllbare Bedingungen knüpfen, d. i. illusorisch machen. Darum kann es in der urnischen Liebe, gegenwärtig wenigstens, insonderheit Sanction durch Ehe nicht fordern. In der dionischen Liebe wird formelle Ehe selbst von der Kirche nicht unbedingt gefordert. Wo nämlich wegen Unmöglichkeit den Pfarrer zuzuziehn formelle Ehe unmöglich ist, da gestattet sie Nothehe. Dort genügt enunciatio consensus matrimonialis coram duobus testibus ohne all und jeden Hinzutritt religiöser Weihe. (Memnon II. Einl. Nr. VII u. §. 111.) In der urn. Liebe ist gegenwärtig Sanction durch formelle Ehe principiell völlig unmöglich, durch Nothehe thatsächlich fast unmöglich, ja meist auch thatsächlich völlig unmöglich: wenn auch aus ganz andren Gründen, nämlich durch Schuld des Hasses der Dioninge [Memnon I. Note 40; II. S. XXX*)], wenigstens ohne des Urnings Schuld. Aber nicht nur eine bestimmte Form der Sanction (religiöse Weihe etc.), nein, auch die Sanction selbst, ist nur etwas hinzutretendes: das schon vorhandne, zu dem sie erst hinzutritt, ist das Recht der Natur. Die Sanction ist auch etwas wechselndes, indem sie in der urnischen Liebe bei einzelnen Völkern bereits bestand, bei andren – dem Genius der Menschheit sei Dank – noch heute besteht (vgl. §. 54) während das Recht der Natur einem Wechsel nicht unterworfen ist. Die Quelle der sittlichen Berechtigung der geschlechtlichen Liebe ist nicht die Sanction sondern das Recht der Natur. Dies Princip scheint selbst die Kirche anzuerkennen, da jene Nothehe doch wohl ein Ausfluss desselben ist. Wo die Sanction aber möglich ist, da möchte auch ich sie unbedingt fordern: ganz so wie die Kirche des Pfarrers Assistenz unbedingt fordert, wo sie möglich ist. – Ich möchte doch fragen, ob sich etwas gegründetes gegen diese Sätze einwenden lasse, und ob nicht, was bisher die Dioninge uns predigten ohne zu erröthen, ein komisches Pseudosittengesetz sei? Rührend namentlich klingt es, wenn die lebenslängliche Abtödtung uns von einem protestantischen Pfarrer gepredigt wird, der gegen sich selbst keineswegs sonderlich grausam ist, wie die Fruchtbarkeit seines Eheweibes lehrt, die fast an das Zeitalter der Patriarchen erinnert, (Uebrigens bin ich selber Protestant.) Diese Herren, die sich selber nichts versagen, haben fürwahr gut reden.

*Unsrer Liebe unter allen Umständen die sittliche Berechtigung absprechen, d. i. ihr radical die Lebensader abschneiden, ist natürlich kurzer Process und zugleich ein recht verlockendes Mittel, da es scheinbar aller unbequemen Erörterung überhebt. Bei der Despotie sind dergl. Radicalmittel beliebt, auch bei der despot. Gesinnung des vulgairen Liberalismus. Auf Einwendungen »lässt man sich nicht ein.«

*Wollen die Dioninge sich doch bisweilen die Frage vorlegen: »Wie würde ich denken, wäre ich als Urning geboren?« Entsagen? entsagen auf Lebenszeit? Ja, wenn einer will! Selbst die Kirche hat Entsagung noch nie jemandem für Pflicht erklärt oder nicht entsagen für Sünde. Auch vor dem Sittengesetz giebt es Menschenrechte. Auch vor ihm giebt es eine Freiheit: zu entsagen auf Menschenrechte oder nicht zu entsagen. – Weshalb hat die Kirche nicht schon längst auch bei uns, wie auf der Balkan-Halbinsel, dem Urning die enunciatio vor dem Altar gestattet? – Näheres siehe Mem. §§.58. 111. Ara spei §§114. 118-120. Ara spei §§. 23.28. ff.

*Die Gaben der Natur sind ungleich vertheilt. Die Natur hat Kinder und Stiefkinder. Vor dem Sittengesetz dagegen sind alle Menschen gleich. Das Sittengesetz kann nicht messen mit zweierlei Maas. Was dem Kinde erlaubt ist, kann dem Stiefkind nicht Sünde sein. Das Sittengesetz hat keine Stiefkinder. Der Urning ist ein Stiefkind der Natur. Seine Liebe ist stets, was die des Dionings bisweilen ist, eine taube Blüthe. Zeugungsunfähige Blüthen blühn in der Schöpfung wie der Sand am Meer. Hat nicht aber auch die unfruchtbare Blüthe ein Recht zu blühn, ein Recht, der Morgenröthe ihren Kelch zu öffnen u. ihr Mysterium zu begehn? Was dem Kinde erlaubt, kann dem Stiefkind nicht Sünde sein.

§. 51. *Die Consequenz für das Strafgesetz ist diese. Auch der Urning ist berechtigter Bürger des Rechtsstaats. Als solcher aber darf er vom Gesetzgeber fordern, die Grundlagen der Gerechtigkeit auch ihm innezuhalten, nicht mit zweierlei Mass zu messen ihm und dem Dioning. D. i. er darf fordern, dass, so lange er weder Excesse (Rechtsverletzungen) begeht, noch öffentl. Orts das Schamgefühl verletzt, auch er nicht gestraft werde dafür, dass er dem Naturgesetz gehorcht, das für ihn massgebend ist.

*»Beobachter an der Spree« (Berlin) v. 10. Mai u. 14. Jun. 1869 und »Tribüne« (Berlin) v. 1. Jun. haben über »Incubus« Artikel gebracht. Der »Beob.« pflichtet mir bei, Männerliebe sei straffrei zu erklären. »Man müsse das Recht haben, über seinen Körper frei zu verfügen. Unsre Körper zu vernichten oder zu zerstören, müsse lediglich unsre eigne Sache sein.« Gestatte man mir eine ehrliche und offene Sprache. Der »Beob.« denkt, an diej. unter den verschiednen Modalitäten des urn. Liebesgenusses, die man sich gewöhnt hat sich als die einzige vorzustellen: die Pädication. Man spricht, als ob sie nur dem Urningthum angehöre. Sie kommt aber eben so gut in der dionischen Liebe vor: obgleich sie dort doch nur Laune, keinerlei Naturnothwendigkeit ist. Dieser mit solcher Entrüstung stets auf das Urningthum geschleuderte Pfeil prallt auf das Dioningthum zurück. Vgl. z. B. was Paris betrifft, Parent Duchâtelet, de la prostitution (I. S. 225; citirt bei Casper). In südlichen Ländern ist sie in der dionischen sogar ungemein verbreitet; wie jeder, der sich dort länger aufhielt, auf das bestimmteste bezeugt. Bekämpfe man sie mit welchen Argumenten man will: dass sie den Körper zerstöre, ist unwahr. Dass sie in der Urningsliebe den Körper zerstöre, erklärt schon Casper für ein albernes Ammenmärchen. (Abgesehn natürlich von Zwang, sowie von Vergewaltigung unreifer Knaben: Handb. d. ger. Med. 4. Aufl. 1864. Bd. I. S. 165. 166. 168. Clin. Nov. S. 40. 41.) Wozu doch diese längst widerlegten Fabeln stets erneuern? Vgl. Glad. fur. S. 20–23.

*Der urnische Liebestrieb ist ein solcher, welcher unter Umständen zur Pädication führt: der dionische ist, wie wir sehn, ebenfalls ein solcher, welcher unter Umständen zu ihr führt. Bezeichnend für das Gerechtigkeitsgefühl der Dioninge ist, dass sie einen dionischen Pädicanten noch nie anredeten : »Schandsäule der Menschheit«, »Pest« oder »infamer Affe« (vgl. Paradoxon). Noch bezeichnender ist, dass die bestehenden Strafgesetze dionische Pädication einfach – nun, mein Herr: zu erröthen haben Sie nicht, wenn Sie nicht etwa die Gesetze gemacht haben – einfach straffrei lassen. Liberale Verfassungen, Grundrechte und naive Parlamentsredner der Linken klingeln gern mit »gleiches Recht für alle« oder »Gleichheit vor dem Gesetz«. Nur darf man sie nicht beim Wort nehmen. Denn sonst ist der Despot sogleich wieder da. Nun freilich: wozu giebt es denn tönendes Erz, wenn man nicht auch einmal klingende Schellen daraus machen soll?

V. Aus der Urningswelt.

§. 52. * Don Francisco de Assis, Gemahl Isabella's II. Wenn man neben Isabella den Namen Marfori nennt, so berührt man damit erst die eine Hälfte der Missverhältnisse einer Ehe, welche geschlossen ward, indem man der Natur ins Antlitz schlug. Der Infant von Spanien, den ihr die Staatsklugheit an trauen liess, konnte Gatte ihr nicht sein, konnte das Glück der Ehe, das Glück der Liebe, einem Weibe überhaupt nicht gewähren: weil er nicht Mann war. Eine naturwidrige Ehe schuf man, von Ehe ein Zerrbild. Man fesselte Isabella an einen männerliebenden Urning. Ueber Don Francisco's Person glaube ich hinlänglich unterrichtet zu sein. Er ist innerlich Weib in noch weit höherem Grade, als die Urninge in ihrer Mehrzahl es sind. Des Weibes schüchterne Sanftmuth bildet den Grundton seines ganzen Gemüths. Seine Lieblingsbeschäfftigung besteht im Anfertigen weiblicher Handarbeiten, namentlich Stickereien. Am liebsten näht und stickt er der nuestra sennora de la Cabadonga, unsrer lieben Frau von Cabadonga, Kleider aus Seidenstoff, die er selber zuschneidet. Im Führen von Nähnadel, Strickstöcken, Scheere und Sticknadel besitzt er eine Kunstfertigkeit, um die ihn manche junge Dame beneiden darf, ja manche Putzmacherin. Seine Stimme ist hoch, hell, fistelartig. (Vgl. Memnon §. 86, d. §. 92.) »Seine Stimme ist so auffallend,« berichtet ein Dioning, »dass ich über sie fast erschrak.« Gustav Rasch in seinen Madrider Briefen an die »Frankfurter Ztg.« (Feb. 1869) nennt sie in seiner durchweg gehässigen Darstellungsweise »krähend.« Schon bei seiner Vermählung spotteten französische Blätter: er sei ja nicht Mann. Um den Leuten Sand in die Augen zu streun über seine wirklichen Neigungen, erzählten sie, habe er sich kürzlich mit einer Tänzerin liirt. (Ein bekannter Kunstgriff urnischer Feiglinge.) G. Rasch erzählt von 2 Verhältnissen Francisco's: mit Guelbenzu aus Navarra, welcher als sein Clavierlehrer figurirte, und mit Meneses, ehemaligem Strassenmusikanten zu Sevilla. Er wirft die Frage auf: »Welche Leidenschaft verband ihn mit Guelbenzu?« und fügte hinzu: »Hier räth man auf eine unnatürliche.« Von seinem Verhältniss zu Meneses hörte ich oft. Ihn lernte er erst vor einigen Jahren kennen. Derselbe muss damals ein prangendes Bild männlicher Jugendschönheit gewesen sein. Seine Begeisterung für ihn ging so weit, dass er für den Geliebten seines Herzens im Ministerrath den Herzogstitel begehrte. Die Königin war schon bereit, die Ernennung zum » Duca del Banno« zu unterzeichnen, als der Justizminister die Contrasignatur verweigerte. Er fürchtete den Spott Europa's. Damals herrschte in Madrid der Absolutismus eines Narvaez. In nächster Nacht ward Meneses ohne weiteres verhaftet und alsbald über die französische Gränze gebracht. Vorstehendes ist grossentheils bereits veröffentlicht: Wiener Vorstadtztg. 15. Oct. 1868; Grazer Tagblatt 16. Oct. 1868; Frkftr. Ztg. Febr. 1869 ; Wiener Tagblatt 26. Feb. 1869. G. Rasch möge selbst verantworten, was er über Meneses ausserdem erzählt: »Zuvor hatte ihn eine russische Dame kennen gelernt und ihn als Reisebegleiter zu sich genommen. In Malta ward sie ermordet. Ihre Kostbarkeiten waren verschwunden. Auf dem Begleiter haftete der Verdacht eines Raubmordes. Die dortige englische Behörde verfügte seine Verhaftung. Er entging ihr durch Flucht. Wenige Jahre darauf sah man ihn in den Strassen von Madrid Arm in Arm mit Francisco.« G. Rasch erzählt noch von einem nächtlichen Eindringen »Francisco's und seiner Spiessgesellen« in das Kloster Salersas reales, in welchem junge Mädchen erzogen wurden. Aber nur als Begleiter seiner muthwilligen Dioninge kann er Theil genommen haben, nicht weil es ihn zu den Mädchen hingezogen hätte; vielleicht wiederum um »Sand zu streun.« Meneses war im letzten Winter wieder in Paris, wiederum, wie früher, in Francisco's nächster Umgebung. Als damaliger Bevorzugter ward mir indess ein vornehmer junger Engländer Namens C. genannt. Francisco ist etwa 42 J. alt. Ein Pariser, der im letzten Winter ihn sah, schildert mir sein Aeusseres als angenehm; er sehe weit jünger aus als er ist. – Bekanntlich ist er lsabella's Vaters-Bruders-Sohn.

*Ausser Francisco und Isabella lebt in Europa noch ein zweites entthrontes königliches Ehepaar (welches aber mit grösserem Ruhm herniederstieg), in welchem der Gatte Urning ist. Als nach des Thrones Sturz die Königin einst fern war von dem Gemahl, soll sie geseufzt haben: »Ich bin ja weder Königin noch Gattin!«

*Wie sehr haben in einem andren Falle beide Theile sich glücklich zu preisen, dass, ehe der Priester den Segen sprach, die rechtzeitig erkannte geschlechtliche Abstossung ein Band löste, das von unschuldvoller Unwissenheit, nicht von Liehe, geknüpft war.

*Herzog Gustav von Mecklenburg, gest. zwischen 1830 und 1840, 50–60 J. alt. In der Villa Gustava zu Ludwigslust und im Winterpalais zu Schwerin giebt es Zimmer, nur mit Möbeln besetzt, deren Ueberzüge des Herzogs eigne Hand gestickt. Sein Urningthum ist landeskundig.

§. 53. * Moskau. Dort lebt ein Urning, welcher früher durch wahrhaft mädchenhafte Schönheit sich auszeichnete. In Sammt und Seide gekleidet, spielte er einst auf einem Balle so täuschend die junge Dame, und durch weibliche Anmuth zog er die Blicke der Dioninge in dem Grade auf sich, dass ihm von einem Mitgliede der Aristocratie die dort übliche Huldigung des Fuss-Kusses zu Theil ward. In dortigen Urningskreisen führt er davon den Beinamen » Knägina«, d. i. »Fürstin«, auf den er noch heute nicht wenig eitel ist.

*Den Hang, in Weiberkleidern zu tanzen, kann ein andrer dortiger Urning nicht unterdrücken trotz seiner gar verrätherischen Körpergrösse, Er war früher Flügelmann eines Grenadierregiments!

*Zwei Urninge in Moskau, beide deutscher Abstammung, Protestanten, zwischen 20 und 30 J. alt, liebten einander. (Der eine war vermuthlich mehr Mannling, der andre mehr Weibling.) Zur Besiegelung ihres Liebesbildnisses, als Schwur der Treue, nahmen sie (etwa 1857) in einer dortigen protestantischen Kirche gemeinsam das heil. Abendmahl. Eine sanctionirende Form für das urnische Liebesbündniss, die der Urning so schmerzlich vermisst, hatten sie damit aus eigner Idee gefunden. (Oben §. 50. Ara spei §. 148. S. XXIII.)

§. 54. *Von der Küste des adriatischen Meeres schreibt man mir am 10. Dec. 1868: »Wenn wir die Erscheinungen des Gefühlslebens bei den verschiednen Nationen so äusserst verschieden zu Tage treten sehn, so beruht dies grossentheils sicher auf der Verschiedenheit des Bluts. Aber mir will es scheinen, als sei daneben ihr schwächeres oder kräftigeres Hervorblühen, gleich dem der Pflanzen, abhängig von Klima, Temperatur und geographischen Verhältnissen überhaupt. Nördlich der Alpen erfordert die Entwicklung eines Schaftes der Aloe bei aller künstlichen Unterstützung eine 10mal längere Dauer, als hier auf der unfruchtbarsten dalmatinischen Klippe. Dort muss auch die Entfaltung der Nervenfaser in gleichem Verhältniss gegen hier Zurückbleiben. Jenen Gedanken, der in des Symposion's goldnem Pocal sich abspiegelt. Plato's »Symposion«(»Gastmahl«) handelt von urnischer Liebe, finden Sie wahrhaft lebendig nur noch im Orient und bei den südslavischen Völkerstämmen: ganz ohne Vergleich gegen den kühlen Herzschlag deutscher Naturen. Aber selbst des alten Griechenlands attisch maassvolle, daneben leicht geschürzte, Verhältnisse werden von den Südslaven weit überboten an Tiefe der Leidenschaft. Auf der ganzen Balkan-Halbinsel hat der antike Cultus der »(männlichen)« Schönheit sich durchdringen lassen vom Christenthum des Mittelalters. So ward er für des Orientalen Innigkeit und Innerlichkeit zur schwärmerisch-sinnlichen Mystik. Das gegebene und angenommene Wort: hier führt es vor den Altar. Das Herkommen fordert eine Ceremonie. Die Art, wie sie vollzogen wild, ist ein bedeutungsvolles Symbol für den Ernst, mit dem beide Theile das Bündniss auffassen. Getreu führt dasselbe seinen alt-ererbten Namen fort. Das nach heiligen Gebräuchen einmal vermischte Blut knüpft ein Band, das absolut untrennbar ist. Diese Untrennbarkeit begründet ganz andre Pflichten, giebt aber auch ganz andre Kraft, als irgend ein Menschenbund, der ohne Weihe geschlossen ward.« (Gluth der Urningsliebe der Albanesen: Memnon §, 31–32., Schwur und Eifersucht der Albanesen: Ara spei S. X., sanctionirende Form in Epirus etc: Ara spei S. XXIII. Hoffentlich bin ich im Stande, in einer nächsten Schrift Einzelheiten zu bringen.) [Memnon § 111).

§. 55. * London. Zu Anfang des Juni 1869 sah ein dortiger junger Kaufmann seine Liebessehnsucht zu einem jungen Manne verschmäht. Seine Verzweiflung nahm er sich so sehr zu Herzen, dass er nicht länger mehr leben mochte. Gegen seine Brust feuerte er einen Revolver ab. Er hatte direct auf's Herz gezielt. Die Brust ward von der Kugel auch wirklich durchbohrt. Dennoch wurden, wie durch ein Wunder, edle Theile nicht verletzt. 3 volle Wochen lang freilich schwebte er zwischen Leben und Sterben, bis endlich die Aerzte Rettung in Aussicht stellten. Vor kurzem war die Wunde zwar noch im Eitern, jedoch bereits mehr und mehr in Heilung begriffen. Nach jener That wollte ihn der andre doch nicht länger das Opfer seiner Grausamkeit sein lassen. Er handelte an ihm, wie nur je ein Liebender handeln wird. Er gewährte ihm die aufopferndste Pflege; Tag und Nacht wich er nicht von dem Bette des so schwer verwundeten. Diesem konnte natürlich kein Trost süsser sein, als beim Erwachen aus Schlaf und Fieberphantasie mit seinem Blicke dem des Geliebten zu begegnen. Sobald er hergestellt sein wird, wollen sie eine Erholungsreise nach Frankreich und Deutschland antreten. Uebrigens ist letzterer keineswegs Dioning. Meine Leser kennen ihn schon. Es ist der in Memnon genannte junge übermüthige Urning Viola. Ueber den Fall erhielt ich 2 Berichte, beide von einem Dritten. Im ersten heisst es: »Nach 48 Stunden schien er ausser Gefahr. Nach dem 7. Tage jedoch, in Folge eines Unfalls, trat wahre Lebensgefahr erst ein. Sie dauert noch fort. Viola ist dem Wahnsinn nah.« Ich weiss, dass Viola's Herz ein echtes ist. Auch den verwundeten schildert man mir als einen vortrefflichen jungen Mann.

§. 56. *Aus Bern 1. März 1869 meldet man mir folgende mysteriöse Notiz: »Bald nach seiner Verlobung, vor etwa 2 Jahren, las man im hiesigen Intelligenzblatt: »»In der Frühe des Morgens fand man auf den Stufen des königl. Schlosses den Leichnam eines jungen blühenden Stallbedienten, der sich eine Kugel durch den Kopf gejagt hatte, vermuthlich aus Gram über die Verlobung und die bevorstehende Heirath.«« Das war leider alles. Das Intelligenzblatt wird die Nachricht einem deutschen Blatte entlehnt haben.« Da dieselbe mir neu war, so erkundigte ich mich. Erfolglos. Auch in der Residenz war sie es, wie man mir von dort schrieb. Daraus folgt mm freilich noch nicht ihre Unechtheit. Als ich das Ergebniss nach Bern meldete, erwiderte man mir: »Als Erdichtung scheint sie mir fast ebenso bedeutungsvoll.« Warum sollte aber nicht auch eines armen Stallbedienten Herz urnisch schlagen können, warum nicht auch der Verzweiflung zugänglich sein? Hatte ihn doch vielleicht ein einziger freundlicher Blick in das Paradies versetzt, nachdem er nicht gewagt, von selbst seine Augen in die Höhe zu heben.

§. 57. *Aus Paris meldet, man mir einen urnischen Raubmord. (Vgl. Memnon §. 119. 120: »Selbstmorde und Morde«.) Durch Gewährung urnischer Liebesgunst gelangte dort im Winter 1868/9 ein junger Dioning zu einem reichen Urning in's Wohnzimmer oder Schlafzimmer, wo er die Abwesenheit Dritter dazu benutzte, ihn zu ermorden. Näheres ist mir noch nicht bekannt. Doch soll er bald nach der That verhaftet und bereits gerichtlich abgeurtheilt sein. Er handelte in Verbindung mit einem ganzen Complott.

§. 58. * Rom. Was ich lange befürchtete, ist eingetreten. Ein von Rom zurückgekehrter Capitular hat die Nachricht mitgebracht: meine Schriften seien dort, und mit ihnen beschäftige sich bereits die Index-Congregation. »Damit ist indess noch keineswegs gesagt, schreibt man mir, die Congregation werde sie dem Index wirklich einreihen. Die römischen Theologen gehn gründlicher zu Werk, als der Professor des Paradoxon.« Wie ich über die etwaige Einreihung denke: Formatrix S. IX. X.

§. 59. * Hamburg. Als in Sachen Schleswig-Holsteins 1850 österreichisches Militair dort garnisonirte, traf es sich, dass 2 österr. Cavallerieofficiere, welche beide Urninge waren, einen jungen Mann kennen lernten Namens N. ..., von blühender Schönheit, und dass beide ihn liebten. Er war von 18–20 Jahren, Lehrling in einer Weinhandlung, und – selber Urning. Er schwärmte für beide, da beide schön waren. Ihrer Schönheit wegen war er auf beide stolz. Zwischen beiden entstand Eifersucht, aus der Eifersucht ein Duell, ein Duell auf Pistolen. Der eine ward verwundet.

§ 60. * Würzburg. Meine Schriften scheinen hie und da ganz unerwartete Wirkung auszuüben. Die in Memnon geschilderten Züge urnischer Weiblichkeit sah ich mit eignen Augen von dionischen Studenten scherzweise nachgeahmt. 2 derselben, vom hiesigen Corps der »Rhenanen«, hielten am 22. Jun. 1869 auf hiesigem Bahnhofsperron vor aller Augen lange weisse Florstreifen in den Händen, mit denen sie sich Kühlung zufächelten. Dabei nannten sie einander, wie in Memnon, »Comtesse«.

*Ein Amerikaner, der hier Medicin studirt und dem es mit der wissenschaftlichen Forschung Ernst ist, hat meine Schriften gelesen. Am 2. August 1869 sprach er mir persönlich den Wunsch aus, durch Blut-Transfusion, d. i. durch Transfusion meines Blutes, einmal auf etwa 14 Tage zum Urning umgewandelt zu werden, um während solcher Zeit an sich selber Studien über Uranismus machen zu können. Vgl. Forinatrix Einl. S. XVIII.

§. 61. *Memnon und Gladius furens wurden im Aug. 1868 zu Schleiz vom Staatsanwalt einstweilig beschlagnahmt. Durch Urtheil des Kreisgerichts zu Schleiz v. 17. März 1869 wurden sie als »unzüchtige Schriften« confiscirt. Das Urtheil des Appellationsgerichts zu Eisenach v. 23. Juni hob die Confiscation wieder auf und gab nach 10monatiger Versiegelung beide Schriften rechtskräftig frei, da sie nicht unzüchtige, sondern wissenschaftliche seien. Im Namen der Freiheit der Wissenschaft hatten 4 deutsche Universitätsprofessoren sich schriftlich entschieden gegen die Confiscation ausgesprochen, ihre Erklärungen auch durch mich vorlegen lassen: Rokitansky zu Wien v. Bamberger und Geigel zu Würzburg, Tewes zu Graz, während Gneist und Virchow zu Berlin dem beizutreten ablehnten. Somit sind denn nunmehr meine sämmtlichen 8 Schriften frei, nachdem 4 confiscirt gewesen. In Cassel ist daneben der Vertrieb von Glad. fur. dem Buchhändler Württenberger (auf dem Titel genannt) seltsamer Weise von dortiger k. preuss. Polizeidirection verboten, ohne Angabe von Gründen, unter Androhung einer Strafe von 100 Thalern, ev. 6monatigem Gefängniss. Das Verbot (v. 14. Mai 1868) ist noch heute in Kraft. Habent sua fata libelli. Habent sua fata libelli: Bücher haben ihre Schicksale. – In der Anklageschrift d. d. Schleiz, 26. October 1868, unterzeichnet vom Staatsanwalt F. Horn, wird die »Unzüchtigkeit« so abgeleitet: »Die Befriedigung dieser Geschlechtsliebe ist mit den allgemein geltenden Begriffen von Sittlichkeit nicht zu vereinbaren: durch deren Rechtfertigung wird mithin die Sittlichkeit verletzt. Nun aber ist eine Verletzung der Sittlichkeit auf geschlechtlichem Gebiet Unzüchtigkeit: also sind jene Schriften unzüchtige.« Giebt es etwas kühneres, als der salto mortale, mit dem hier ein gewandter Springer die Kluft überspringt zwischen den herrschenden Begriffen von Sittlichkeit und dem Sittengesetz selbst? – Vertheidigt gegen obige Anklage wurden die Schriften in Eisenach (Jun. 1869) durch den dortigen Rechtsanw. Hering.

§. 62. * Wien. 2 Rupfer. Man schreibt mir: »Wien, 13. Jun. 1869. Gestern Vormittags 11 Uhr stand ich am Ende der Wollzeile hieselbst, die vorübergehnden musternd, hübschen Soldaten und hübschen Burschen vom Civil vielleicht längere Blicke nachsendend. Mir näherte sich ein schöner junger Mann, etwa 26 J. alt, der Aussprache nach ein Berliner, und knüpfte ein Gespräch mit mir an. Er sei hier fremd, komme von der Reise, wünsche sich des Staubes zu entledigen, und bat mich, ihm eine Badeanstalt zu zeigen: Zu einer solchen führte ich ihn hin. Er war recht liebenswürdig und vertrauenerweckend. Dort angelangt, wollte ich gehn. Er bat mich, doch ein Bad mit ihm nehmen zu wollen, damit wir hernach noch weiter mit einander spazieren gehn u. plaudern könnten. Ich willigte ein. Wir nahmen eine gemeinsame Cabine. Als wir ganz entkleidet auf dem Sopha sassen, fühlte ich mich von der so lange zurückgehaltenen Gluth überwältigt, umarmte ihn: und Brust an Brust stillte ich meinen brennenden Liebesdurst. Als wir wieder angekleidet waren, verlangte er von mir ein Geschenk. Jetzt gingen mir die Augen auf. Ich begriff, mit wem ich es zu thun hatte. Ich gab ihm 3 fl., mit denen er jedoch nicht zufrieden war. Er ergriff schon die Klingelschnur, um zu läuten, wenn ich nicht noch 2 fl. zulegte. Gezwungen zahlte ich diese und wir verliessen das Badehaus. Jetzt stellte sich uns aber ein eleganter Herr in den Weg: »Meine Herren! In Folge Anzeige der Badeinspection bin ich beauftragt, Sie beide zu verhaften. Sie folgen mir also augenblicklich zur Polizei.« Mein Begleiter begann zu heulen und auf mich zu schimpfen, erzählte, wie ich ihn für 5 fl. verführt, und betheuerte seine Unschuld. Er machte solch einen Lärm, dass sich schon Leute um uns sammelten. Unsrem »Polizeicommissar« mochte dies indess nicht recht passen. Er führte uns in eine entlegene Gasse. Hier nahm er zunächst meinem Begleiter die 5 fl. ab, und begann sodann mit mir zu unterhandeln. Er schlug mir vor, sein Schweigen mit 20 fl. zu erkaufen. Ich: »Lieber wünsche ich zur Polizei geführt zu werden.« Wieder sammelten sich Leute um uns, was mich doch veranlasste, ihm alles zu geben, was ich noch bei mir hatte, nämlich 5 fl. Dies war ihm längst nicht genug. Schon griff er nach meiner Uhr sammt goldner Kette, welchen Griff ich jedoch noch rechtzeitig verhinderte. Zum Glück fuhr in diesem Augenblick ein Fiaker vorbei. Rasch sprang ich hinein und enteilte dem Schauplatz. In Wien scheint eine wohlorganisirte Bande zu bestehn und dies einträgliche Gewerbe mit grosser Umsicht zu betreiben. Mich beschlich ein Gefühl unbeschreiblicher Bitterkeit. Ich schäme mich nicht, zu sagen, dass mir die Thränen in die Augen traten. Dass ich mir sagen musste: »Du warst das Opfer solcher Schurkerei,« war mir unerträglich. Gegessen habe ich den ganzen Tag nichts und die Nacht schlaflos oder in schweren Träumen zugebracht. Ich zweifelte an der Allgerechtigkeit des Schöpfers, welcher mir diesen verhängnissvollen Naturtrieb gab, es aber unterliess, für dessen Befriedigung Fürsorge zu treffen. Und gerade in letzter Zeit fühle ich mehr denn je das verzehrende Feuer des unbefriedigten Triebes in mir wüthen.«

§. 63. Berlin. Der Eindruck des Falls Zastrow auf die Berliner Bevölkerung muss ein überwältigender gewesen sein. Mündlich vernehme ich darüber haarsträubendes. Im Volksmund haben sich bereits 2 neue Ausdrücke eingebürgert: »ein Zastrow« und (urnisch vergewaltigen) »zastriren«. »Ich werde dich zastriren« soll z. B. förmlich Casernenausdruck geworden sein. Der Hass gegen »die Zastrows« hat so völlig alle Fessel gesunden Menschenverstandes abgeworfen, dass er schon beginnt auf die Dioninge selber zurückzufallen. In Kaffeehäusern und Concertsälen genügt es, dem Nachbar in's Ohr zu raunen: »Jener Herr dort ist ein Zastrow«: um innerhalb weniger Minuten einen Scandal hervorzurufen, gegen den es für den bezeichneten, sei er wirklich auch Dioning, Rettung nicht giebt. Ein Rathsherr aus Freienwalde, Dioning, war mit der Bahn angekommen. Ein Strolch, dem eine Bettelei bei ihm misslungen war, rief ihm nach: »Das ist ein Zastrow!« worauf in wenig Minuten ganze Schaaren des Pöbels ihn insultirend umringten. Herbeieilende Polizeibeamte wurden mit einem vollständigen Histörchen empfangen, welches inzwischen von der schöpferischen Gesammtphantasie hervorgezaubert war. Er aber ward – geschützt? o nein! – als eines »Zastrow«-Attentats verdächtig einstweilen verhaftet! Die liberalen Blätter Berlins schrien jetzt über Gefährdung der persönlichen Freiheit. Ei! ei! Hatten sie doch selbst zur Erregung der Volkswuth, die sich und die Polizei belog, redlich das ihrige beigetragen!

*Man schreibt mir: »Berlin 8. Aug. 1869. Im Local bei Liebenow sassen kürzlich an einem Tisch einige Herren, Dioninge. An einen andren setzten sich 2 Herren, darunter der eine ein Jüngling, der durch scherzhaftes Coquettiren u. Affectiren bald ihre Aufmerksamkeit auf sich zog. Sie witterten in ihm einen Urning und begannen die hergebrachten Sticheleien. Endlich redete einer ihn an:

»Hören Sie mal, junger Mann, Sie sehn aus wie Zastrow's Bruder.«

Junger Mann:

»»So? Das mag wohl sein. Als Zastrow's intimer Freund müssen Sie das ja wissen.««

Dioning 1:

»Woraus schliessen Sie denn, dass ich sein Freund bin?«

Junger Mann: »»Sonst würden Sie ja solche Aehnlichkeiten nicht entdecken.««

Dioning 2. (zu Dioning 1.):

»Hör' mal, lass uns lieber gehn. Die Zastrow's wollen uns sonst am Ende noch zastroen.«

Die anwesenden Gäste hörten auf jedes Wort u. lachten. Nach einigem ferneren Geplänkel fühlten sich die Herren Dioninge jedoch geschlagen, schwiegen und – entfernten sich.«

§. 63b. *Im Aug. spöttelte wieder die Frftr. Z.: »Dass v. Schweitzer beim Berliner Maurerstrike die Hand im Spiel hat, ist nicht staunen erregend. Von seiner Vorliebe für junge Maurergesellen Vorliebe für junge Maurergesellen: dies ist offensichtlich die Quelle für Hirschfelds Aussage (Die Homosexualität des Mannes und des Weibes [1914, Nachdruck 1984] S. 522 und 983), Schweitzers Partner in Mannheim sei ein Maurer gewesen. wissen ja die Mannheimer Gerichtsacten zu erzählen!«

*Nach dem Eisenacher Arbeitercongress (Aug. 1869) sagte N. F. Pr.: »Mit seinem Unzuchtsprocess ist v. Schweitzer in seinem Privatleben hinlänglich gekennzeichnet, um denkende und unbefangene nicht mehr zu täuschen.« Also etwas derart, wie ein geistiges Cainsmal vor der Stirne; nicht wahr? Warum es nicht lieber gleich körperlich mit glühendem Eisen ihm einbrennen? Das geistige wird ja von 99 vorübergehenden auf der Strasse gar nicht einmal erblickt.

*Bemerkenswerth ist die Schreibweise eines Artikels d. N. Würzb. Z. v. 16. August 1869 (der seinem Inhalt nach eine Notiz des §. 11 ergänzt):

»Ein 2ter Zastrow. Ein Berliner Kaufmann stand gestern nebst seinem »Geliebten«, einem Tapeziergehülfen, vor dem Criminalgericht, unter der Anklage naturwidriger Unzucht. Wegen ungenügenden Beweises mussten indess beide freigesprochen werden. Interessant ist dabei, dass den Lüstling früher einmal ein raffinirter Kellner um etwa 700 Thlr schröpfte. Bei einem Besuch des alten Herrn hielt dieser nämlich einen Collegen im Kleiderschrank versteckt, der dann im passenden Augenblick als »deus ex machina« erschien und den Lüstling mit einer Anzeige bedrohte. Der Kaufmann hatte damals die Keckheit, den Kellner wegen Erpressung zu denunciiren, wurde damit aber abgewiesen.«

*Wie ein »Lüstling« »geschröpft« wird, dient dem Verfasser natürlich zu ungeheurer Heiterkeit! Bei obigem Vorfall in Wien (§. 60), wenn er ihn las, wird er sich vermuthlich vor Lachen den Bauch gehalten haben.

*So oft ein Urning verhaftet, ehrlos verrathen, beschimpft oder sonst gemartert wird, erregt dies Befriedigung, ja Ergötzen, bei unsren gebildeten – Hausknechten? Gott bewahre! bei unsren gebildeten Gebildeten! Dies erinnert mich immer daran, wie einem unsrer Hausthiere seine besondren Begattungsverhältnisse so manchen Steinwurf eintragen von roher Hand, und wie Wurf und Schrei des gemarterten Thiers den Umstehenden so oft ebenfalls zum Ergötzen gereichen.

*In folgendem Falle sollte man fast den waltenden Finger eines Deus ultor erblicken. In Schwerin wohnt ein höherer Officier, der eines Urnings Lebensglück auf der Seele hat, den er einst mit kalter Grausamkeit aus seiner Existenz hinausstiess; was damals in den betr. militairischen Kreisen »zu allgemeiner Befriedigung« gereichte. Ein seltsames Geschick wendete den Spiess. Er hatte ein Söhnchen, die einzige Hoffnung seines Lebens, einen Herzensknaben, den er hütete wie seinen Augapfel. Als dieser heranwuchs: siehe, was da sich zeigte! »Καὶ σὺ τέκνον?« Ja: er war Urning! Sollte man nicht bekennen: es giebt einen Rächer? Doch was frage ich noch? Sahst du ihn in Wettern fahren flammend über Fels und Thal? Uranide Uranide, Uranide: Abwandlung des Verses ›Uranide, Uranide, auch dein Frühling kommt einmal‹, mit dem Ulrichs' Gedicht Hybla und Enna schließt, das er 1862 schrieb und 1870 in X. Prometheus (S. 76 f.) veröffentlichte., Uranide: auch dein Rächer fährt einmal.

§. 63c. Mir wird mitgetheilt, die Berliner Polizei führe geheime Listen mit Signalement und mit Eintragung fortlaufender Personalnotizen über mehr als 2000 dortige Urninge. (Vgl. Vorbemerkung 2.) Wären nicht die beiderseitigen Zwecke ein wenig verschieden (ungefähr wie Südpol und Nordpol), so könnte ich aus den chiffrirten Personalnotizen, die ich führe, jene vielleicht hie und da ergänzen. Als einzige Erkenntlichkeit würde ich mir dafür erbitten Befriedigung einer kleinen Neugier: ob jene Listen ebenso hoch hinaufreichen als diese? *oder ob sie etwa vor gewissen Namen Halt machen?

§. 64. Die Berliner »Börsenztg.« v. 20. Feb. 1869 schreibt: »Die Forderung, die Ulrichs stellt und die er sehr beharrlich, auch auf dem Juristentage, vertreten hat, dass §. 143 ausgemerzt werde, hat bei den Redactoren des norddeutschen Bundesstrafgesetzentwurfs Berücksichtigung gefunden. Eine dem §. 143 entsprechende Bestimmung ist in denselben nicht aufgenommen worden.« »Börsenztg.« v. 5. März enthält die von mir unterzeichnete Erklärung: » . . . Mit hoher Genugthuung hat es mich erfüllt, dass jene Redactoren meiner Forderung gerecht geworden sind: urnische Geschlechtsliebe (unter erwachsenen) für die Zukunft straffrei zu erklären. Eine 2te von mir gestellte Forderung indess ist damit noch keineswegs erfüllt: die zahlreichen Urninge, welche wegen ihrer Geschlechtsliebe gegenwärtig in Kerkern gehalten werden, der Freiheit zurückzugeben. Ist aber jene begründet, so muss auch diese es sein.«

§. 64b. *Die Berliner Polizei steht im Begriff, nunmehr auch Listen der dortigen Rupfer anzufertigen, wie bisher ihrer Opfer. Zwar wird dieser Schritt erfolglos bleiben, so lange das Gesetz, das die Natur verfolgt, noch nicht gefallen ist. Allein da dies Fallen in naher Aussicht steht, so ist es erfreulich, dass man schon jetzt Vorbereitungen trifft, welche in der That dazu beitragen werden, den Gaunern das Handwerk zu legen. Alle Urninge fordre ich auf, Namen, Alter, Stand, Personalnotizen über ihnen bekannte Rupfer .– Auflauerer, wie Lockvögel – den Polizeibehörden einzusenden. (Auch Einsendungen ohne Namensunterschrift wird man vermuthlich berücksichtigen, sobald der Einsender hinweisen wird auf die Scheu, sich als Urning zu demaskiren.) Der Gedanke: »die Rupfer werden polizeilich überwacht.« wird umgarnte Urninge künftig wesentlich ermuthigen, zu der einzigen wirklichen Rettung zu greifen: den Rupfer auf frischer That der Polizei vorzuführen. Während der Urning der Behörde bisher im Nimbus des Verbrechers erschien, den ein beliebiges Subject höchst loyal »wohlverdienter« Strafe überliefern konnte: wird der Rupfer seine Denunciantenrolle künftig ausgespielt haben, die Polizei dagegen dem Urning dankbar sein, wenn er es ihr erleichtert, die Gegend von solchen Individuen zu säubern.

§. 64c. *Warnung. Im Memnon §. 118, 3 erzählte ich, von wem und wie der Angeklagte Feldtmann zu Bremen verrathen ward: von einem Rupfer, Namens Filsinger, der sich in sein Vertrauen eingeschlichen hatte und selber Urning war. Von diesem gefährlichen Menschen berichtet man mir einen seither begangenen neuen Streich. Ich halte es für Pflicht vor ihm zu warnen. Ihn sah in Giessen ein ganz junger Urning aus wohlhabender Familie. Es entging ihm nicht, dass dieser sich sogleich in die Netze seiner dunklen Augen verstrickt hatte. Er beschloß natürlich, dessen Unerfahrenheit auszubeuten. Dem geübten gelang es zunächst, demselben 100 fl. zu entwinden, was ihm selbstverständlich nicht genügte. Der junge Mann konnte nichts mehr geben, da der Vater misstrauisch geworden war und mehr zu schicken sich weigerte. Filsinger war nicht der Mann, der sein Opfer so schnell schon losliess. Den geängstigten umklammerte er wie mit den Armen des Polypen. Seinem Begehren gab er endlich noch den erforderlichen Nachdruck durch die Drohung alles zu melden. Als er trotzdem gar nichts mehr erzwang, ging er in der That zum Principal, dem er alles verrieth worauf dieser den jungen Mann sofort entliess und die Sache dem Vater anzeigte. Karl Wilhelm Otto Filsinger, etwa 28 J. alt, ist in Preussen gebürtig, war eine Zeit lang Schauspieler; ist von Statur schlank, etwas über mittelgross; Haar braun; trägt zierlichen blonden Schnurrbart, elegante moderne Kleidung, schminkt sich blass, beehrt mit seiner Gegenwart nur grössere Städte und Curorte, nennt sich gern Felseck oder Baron v. Felseck. Unter dem Namen v. Felseck trat er auch in Giessen auf.

*Mainz. Ein höherer kath. Geistlicher zu Mainz hat neulich zugegeben: »Urningsliebe, wie Numa Numantius sie schildert, kann man allerdings als nicht sündhafte Neigung ansehn. Zur Sünde wird sie erst unter den Voraussetzungen, unter denen auch Dioningsliebe dazu wird.«

*An Herrn Univ.-Prof. Dr. Maxim. Perty zu Bern auf dessen Schreiben v. 9. Sept. 1869 und an Herrn Dr. jur. Prager zu Berlin auf dessen Zuschrift vom gleichen Tage:

Uebersättigung am Weibergenuss oder auch Onanie, meinen Sie, wecke in Dioningen Geschlechtslust an Knaben und Jünglingen? und aus so afficirten Dioningen bestehe des Urningthums hauptsächlichstes Recrutencontingent? Aber wie mag man diese ererbten Fabeln doch noch wiederholen? Gedruckt freilich sind sie! Von Geschlecht zu Geschlecht! Zeigen Sie mir einen einzigen zuverlässig constatirten Fall! Schon Casper kam von dieser Phantasie zurück. So entartungsfähig, so verächtlich ist die Dioningsnatur doch nicht, wie sie hier – von Dioningen selbst! –dargestellt wird.


VI. Criminalfälle.

§ 65. * Schwurgerichtsverhandlung gegen v. Zastrow; 5. Juli 1869.

1) *Vor mir liegen die ausführlichen Berichte 3er Blätter v. 6. Juli: »Tribüne«, »Berl. Gerichtsztg.« und »Publicist«. Trib. und Grtsz. bringen zugleich Holzschnittabbildungen; Trib. und Grtsz. bringen zugleich Holzschnittabbildungen; Trib: Gerichtssaal, die Richter, v. Z., Vertheidiger und Knabe Hanke (recht anschaulich dargestellt,); Grtsz.: ein Portrait, angeblich v. Z.'s, scheint das eines Pavians zu sein. Den ganzen Bericht der Grtsz. schrieb eine in Gift getauchte Feder. Publ, allein berichtet leidenschaftslos. Aus Trib. erfahre, ich nebenbei, Grz. habe einen »bekannten Artikel zu v. Z.'s Gunsten«, vom Schriftsteller Jüterbogk, gebracht. – Nicht im ordentlichen Schwurgerichtssaal wird verhandelt, sondern in einem Saal des Criminalgefangnissgebäudes. Trib. »Bei der im Volke herrschenden Aufregung wollte man v. Z. nicht über die Strasse transportiren. Man befürchtete Aufläufe«. (Vgl. §. 45) Die Verhandlung betraf nur den Fall Hanke. Die schwierigere Untersuchung über den Fall Corny ist noch nicht geschlossen. [Nach Grz. v, 13. Aug. soll jetzt von New-York aus ein ziemlich vager neuer Verdachtsgrund in Sachen Corny's gegen v. Z. und einen Mitschuldigen, Namens Müller aus Steina a.  O., in Berlin angemeldet sein.] Präsident ist: Delius, Staatsanwalt: Henke, Vertheidiger: Holthoff. Die Öffentlichkeit ward ausgeschlossen, die Vertreter der Presse .jedoch zugelassen. Es erfolgte: Vorlesung der Anklageschrift, Vernehmung des Angeklagten, Vertheidigers Antrag auf Prüfung der Zurechnungsfähigkeit, Vernehmung 3er Aerzte dieserhalb, und Vertagungsbeschluss.

2) *Aus der Anklageschrift. Als man den halberstarrten Knaben fand und ihn fragte: »Wer hat dich so schändlich zugerichtet?« rief er: »Ein Mann, ein Mann! Er hat auch Licht gehabt.« Mehr war von ihm nicht zu erfahren. Als eine Hausbewohnerin ihm Thee zu trinken gab, entfiel seinem Munde ein Klumpen Blut. Bei seiner ersten Vernehmung, bei der er noch fieberhaft war, sprach er immer von 2 Männern, die ihn misshandelt. Später: »Ein Mann mit grossem Bart versprach mir Bilderbücher und trug mich auf den Boden, wo es finster war. Hier schenkte er mir einen Handschuh. Er hat mich mit seinem Stock geschlagen und mich gebissen. Dabei sagte er immer: »Junge, sei artig!« Dann hat er mich mit meinem Halstuch gewürgt und mich in ein russisches Heizungsrohr gesteckt, den Kopf nach unten. Durch langes Stemmen mit Händen und Füssen gelang es mir endlich, den Kopf herauszubringen.« (Die Hauptsache ist, wie man sieht, hier übergangen.) Die Bewandtniss mit dem Rohr ist nicht recht klar. Grz. nimmt an, den vermeintlich erwürgten Knaben habe der Thäter ganz im Rohr verbergen wollen; Trib., nur dessen Kopf habe er in's Rohr gesteckt, um ihn nämlich erst wirklich zu ersticken. – Nach allem darf man der Trib. beipflichten, wenn sie sagt: »Die That gewährt Einblick in einen Abgrund der menschlichen Natur, von dem man früher keine Ahnung hatte.«

3) *Auf Grund verschiedener, nicht sonderlich zwingender, Verdachtsgründe nimmt nun die Anklage an, der Thäter sei v. Z. Er habe unter Anwendung von Zwang den Knaben pädicirt, sodann vorsätzlich und mit Ueberlegung den Versuch gemacht, ihn mit dem Tuch zu erwürgen, in der Absicht nämlich, das Opfer zum Schweigen zu bringen; mithin Mordversuch. Bemerkenswerth ist, dass die Anklage annimmt:

a) zur Pädication »habe er Misshandlungen gefügt, um an den Qualen seines Opfers sich zu weiden.« (Oben Laval de Raiz etc.) Noch bemerkenswerther dies: b) »v. Z.'s Männer-Liebe lässt den Schluss gerechtfertigt erscheinen, er sei der Mann, von dem man sich des an diesem Knaben begangenen Verbrechens versehen könne.« (Unten §. 66.)

4) *v. Z's Persönlichkeit und Ansichten, v. Z's Vater war Generallieutenant in der Armee. Nach Grz. ward er schon bei der Affaire Corny verhaftet; nach kurzer Haft wieder entlassen. Im Fall Hanke ward er noch am Tage der That verhaftet. 1852 ward er aus Dresden ausgewiesen wegen »anrüchigen Lebenswandels.« v. Z.: »Es handelte sich um eine harmlose Berührung eines Mannes.« Sehr glaublich! Ein Dioning mag sich zügellos aller geschlechtlichen Ausschweifung hingeben, er mag Mädchen verführen, verlassen und zum Kindesmord treiben, durch Ehebruch den Frieden ganzer Familien untergraben: kein Haar krümmt ihm die Polizei. Gegen Urninge war man von je her sehr glücklich in der Auffindung eines Anlasses zur polizeilichen Massregelung, sowie in Benennungen dafür. Das Eigenschaftswort »anrüchig« ist der Polizei ebenso unentbehrlich, wie der liberalen Presse das Zeitwort »entlarven«. Anrüchige Dioninge giebt es nicht. Hätte in Dresden etwas ernstliches vorgelegen, so hätte man ihn natürlich bestraft. Die bisherigen Gesetze sind ja so überaus bequem dazu! Warum bestrafte man ihn nicht? – Präsident: »Haben Sie es nie zur Selbstbeherrschung gebracht?« d. i. zur Erdrückung des Liebestriebes. Um Vergebung, Herr Präsident: haben Sie Ihren Liebestrieb stets erdrückt?

*Ein Zug tritt an v. Z. hervor, der mir tiefes Mitleid einflösst: seine grosse Trost- und Haltbedürftigkeit. »Statt sympathische Bande neu anzuknüpfen, vereinsamte ich immer mehr. Daher fühlte ich mich im Bruch mit der Gesellschaft.« (Mit der Phalanx der Verfolger!) In einem Augenblick der Haltlosigkeit und Trostlosigkeit, gebrochen von den Qualen langer Haft, schrieb er im Gefängniss an einen Freund Namens Haberkorn die Worte der Verzweiflung: »Ich fühle mich als einen naturwidrigen Verbrecher. Meiner Lieblingssünde bin ich zu sehr nachgegangen.« Auf die Folter gespannt, wenn die Kraft gebrochen war, hat auch schon manche Hexe sich bekannt als Verbrecherin und Sünderin. Fast alle starben sie ja zerknirscht und reuevoll! Allerdings machen seine mündlichen Ausführungen, wenn schon Geist verrathend, hie und da den traurigen Eindruck, als spreche aus ihnen ein eignes Gedrücktsein und Geschwächtsein und eine eigenthümlich gebrochene Willenskraft – und zwar nicht erst seit der Haft –: das völlige Gegenstück zu jener innern Festigkeit, der man getrost zurufen kann: »Du wirst im Sturme nicht untergehn.«

*v. Z. erklärte: »Vorliebe für schöne männliche Formen ist mir angeboren und mit mir gross geworden, wie auch der Trieb, mich ihnen anzuschmiegen. Es giebt 3 Geschlechter, nicht 2; zu dem 3ten zähle ich mich. Die Neigung dieses 3ten Geschlechts besteht ebenfalls in der Liebe, aber nicht zu den Weibern. Auch sie ist durch die Natur berechtigt. Nie sollte die Gesetzgebung sich richtend in dieselbe einmischen.« Dabei hat er sich auf mich berufen. Trib: »Unter Berufung auf Autoritäten, wie Assessor a. D. Ulrichs.« Grz.: »In seinen Ausführungen beruft er sich auf die vortrefflichen Schriften von Ulrichs.« Zum Wort »vortrefflichen« setzt sie lächelnd ein (?!). Nach Publ. hat er sich »den Ausführungen geistreicher Männer angeschlossen.« »Zu heirathen wäre für mich eine Sünde gewesen an der Wahrheit. Aber nur jene Männerliebe habe ich geübt, welche sich genügen lässt an gegenseitiger körperlicher Annäherung und Berührung. Nie übte ich Pädication. Nur erwachsene üben auf mich Anziehung aus. Nie empfand ich Neigung zu unreifen Knaben. Grausamkeiten und Brutalitäten, wie die vorliegenden, sind meiner Natur so entgegengesetzt, dass ich sie nicht begreifen kann.«

5) *Zurechnungsfähigkeit. Der Vertheidiger beantragte, v. Z'.s Zurechnungsfähigkeit »zur Zeit der That« zu ermitteln. Seine Mutter habe an einer fixen Idee gelitten, ebenso auch deren Vater. Er beantragt Zuziehung des Professors Dr. Ludwig Meyer zu Göttingen, der als Irrenarzt bekannt, auch im Process Chorinsky zugezogen sei. »Es schien mir angemessen,« sagt er, »auch gerade auswärtige zu hören. Warum? brauche ich nicht näher zu motiviren. Jeder wird es selber fühlen.« (Also neue Bestätigung der Voreingenommenheit der Bevölkerung und der Gefahr für das ungebeugte Recht.) Präsident: »Angeklagter, behaupten Sie selbst, unzurechnungsfähig zu sein, oder irgend wann es gewesen zu sein?« v. Z. (»nachdem er sich mehrmals an die Stirn gefasst, als erwache er aus einem Traum« fügt Publ. poetisch hinzu): »Selbstkenntniss ist eine schwere Sache. Aber ich habe in der letzten Zeit so furchtbares erfahren, so schwere Trübsal erduldet, dass ich sagen muss: ich zweifle an der Zurechnungsfähigkeit entweder der Zeugen oder an meiner eignen.« Anwesend waren die Professoren der Medicin Liman, Skrzecka und Westphal. Vom Präsidenten befragt, erklärte Westphal: »Der Bedenken über seine geistige Zurechnungsfähigkeit kann ich mich nicht erwehren. Jemand kann epileptischen Anfällen ausgesetzt sein oder andren Störungen, die bei Ausübung einer solchen That in Betracht kommen müssen. Es bedarf längerer Beobachtung des Individuums.« Liman: »Zu erwägen ist der hervorgehobene Geisteszustand von Mutter und mütterlichem Grossvater und des Angeklagten anormale Geschlechtsrichtung.« (Also auch diese? S. oben §. 19. 20. 22.) Präsident: »Sind Menschen mit dieser Geschlechtsverirrung überhaupt geistig zurechnungsfähig?« (»Geistig« zurechnungsfähig? Giebt es in Berlin auch zurechnungsfähige Körper?) Skrzecka: »Geisteskranke zeigen erhöhten Geschlechtstrieb, auch geschlechtliche Rohheiten.« Westphal: »Ich kenne einen älteren Mann, der Männer, und ein 30j. Mädchen, das Mädchen liebte. Beide wurden später geisteskrank.«

*Gerichtsbeschluss: auf Grund der im wesentlichen übereinstimmenden 3 Gutachten wird die Verhandlung vertagt, um den Sachverständigen Gelegenheit zu geben, v. Z. zu beobachten. Der Antrag auf Zuziehung des Dr. Meyer wird abgelehnt.

§. 66. *Im § 3 sprach ich von einer eventuellen Antwort für die Thatfrage. Sollte der Beweis seiner Thäterschaft nicht etwa klar und unanfechtbar erbracht sein, so wäre zurückzugehn auf seine individuelle urnische Natur. Es entstände die Vorfrage: »Ist v. Z. Mannling, Weibling oder Mischlingsurning?« Ist er nämlich Weibling so ist seine Thäterschaft durchaus unwahrscheinlich. Sie wäre eine psychologische Unmöglichkeit. Nur ein Mannling kann die That begangen haben oder ein Mischling mit entschiedenen Mannlingszügen. Einem Weibling ist es seiner Natur nach ganz entschieden widerstrebend, sowohl unreife Knaben geschlechtlich zu berühren, als überhaupt activen Gcschlechtsgenuss zu suchen. Ihn reizt das diametrale Gegentheil. Memnon §§. 15. 16. 17. 21. 83. 136. fgde. II. Einleit. S. XV. fgde. Wäre dagegen der Beweis vollkommen erbracht, so würde daraus umgekehrt folgen: v. Z. ist Mannling, bez. Mischling, nicht Weibling. Ja ich gehe noch weiter, indem ich von der Eventualität, v. Z. sei Weibling, ganz absehe. Von vorhandener Geschlechtsneigung zu Männern schliesst die Anklageschrift auf gleichzeitig vorhandene Geschlechtsneigung zu Knaben. Dies beweist nur, mit welch gefährlicher Sorglosigkeit die Dioninge über Urningsliebe im Finstern umhertappen. Es ist wahrhaft erschreckend, solch einer Oberflächlichkeit Freiheit und Ehre eines Angeklagten preisgegeben zu sehn. Nach meinen Erfahrungen u. Studien ist feurige Liebe zu erwachsenen Männern und feurige Liebe zu unreifen Knaben so völlig von einander verschieden, dass sie nothwendig einander ausschliessen. Wer Knaben liebt, liebt nicht Männer; und umgekehrt. Von einem Falle gleichzeitigen Vorkommens hörte oder las ich nie. Im Gegentheil weiss ich, dass, wer Männer liebt, vor unreifen Knaben eine an Abneigung gränzende Kälte zu empfinden pflegt. Dass umgekehrt, wer unreife Knaben liebt, vor geschlechtlicher Berührung mit erwachsenen Männern geradezu Abneigung empfindet, dafür finde ich ein classisches Zeugniss in der italienischen Schrift »Alcibiades« von 1652, erwähnt Memnon §, 107. Wiederholt, namentlich S. 76. 77. 97, drückt sie diese Abneigung aus, z. B. in den Worten, trop gros im Gegensatz zu gracieux; boue im Gegensatz zu chevreau; répugnant; la viande du bouc est fétide; en dégoûter. Das umfangreiche Beweismaterial: v. Z. liebe Männer, bildet für die Anklage nicht nur keinerlei Unterstützungsgrund, sondern gerade vollwichtigen Gegenbeweisgrund.

§. 67. *Die Berl. Gerichtsztg. v. 6. Juli schreibt: »Die Urheberschaft beider Verbrechen musste man suchen im Kreise jener ausschweifenden Wüstlinge Berlins, welche polizeilich – man sagt uns: in der Höhe von 3000! – gekennzeichnet sind, unter jenen Gestalten, welche unheimlichen und stieren Blicks auf Strassen und Promenaden umherwanken, dem schönen Geschlecht abhold, Männern und Knaben in Liehe zugethan.«

Das müssen ja entsetzliche Gestalten sein! Vgl. unten Wiener »Presse« über Forstner: »breiter Mund mit zusammengekniffenen Lippen.« So auch die Tribüne v. 6. Juli, indem sie v. Z. schildert: »Gross, aber von schlaffer Haltung; in seinen Zügen liegt etwas welkes, schlaffes, das auf den Beschauer einen unangenehmen Eindruck macht«. (Sie sagt nicht, dass er bereits fast 6 Monat hindurch die langsame Qual der Untersuchungshaft erduldet hatte!) »Das Auge scheint matt und erloschen. Bei näherem Betrachten indess erkennt man, dass unter den kalten, farblosen Zügen eine geheime Gluth sich birgt.« Doch die Urninge mögen ruhig sein. Kaiser Hadrians Kopf ist auf Münzen und in Büsten uns vielfach portraitgetreu erhalten; und seine Züge gehören zu den edelsten, die aus dem Alterthum auf uns gekommen sind. Unter der Feder solch eines Dionings aber – in dem Augenblick, der ihn über Hadrian und Antinous belehrt, – würden auch sie sofort das Gepräge der Grauenhaftigkeit annehmen. Kleine Fälschungen sind ja Bagatelle. Sie gehören einmal zu der Art, wie man vor Urningen die erforderliche sittliche Entrüstung in Scene setzt. Doch warum giebt man uns nicht lieber einen unter der Kleidung verborgenen Meerkatzenschweif und glacébehandschuhte Rüsselthierkrallen? Würde das nicht ungleich besser wirken? Seltsam! wenig Zeilen über jener Abzeichnung begegnet man dem Motto des erstgenannten Blattes:

» Unser Ziel ist Gerechtigkeit!«

Man ist überrascht. Es mag eine heitere Gerechtigkeit sein, zu der das löbliche Blatt auf diesem Wege gelangen wird.

§. 68. Fall Griot. Jener Augsburger Priester (§. 14) ist der 53j. Domvicar Max Griot, Ceremoniarius des Bischofs von Augsburg. Man hat doch noch Untersuchung über ihn verhängt, nicht wegen Verführung 12–16j. Individuen, dazu hätte es des Antrags des Vaters bedurft, nur wegen (fahrlässiger) Erregung von Aergerniss durch Vornahme geschlechtlicher Handlungen an öffentlichem Ort. Das Punschzimmer der Conditorci hat man als zur Zeit »öffentlichen Ort« betrachtet. (Ueber »öffentlicher Ort« und über Aergernisserregung durch Fahrlässigkeit vgl. Glad. fur. S. 28. 29.) Am 5. Mai 1869 ward er vom Bezirksgericht Augsburg zu 8tägiger Festungsstrafe verurtheilt. 5 Zeugen bekundeten die Einzelheiten. Die Fahrlässigkeit scheint stark gewesen zu sein! Die Münchner »Neuesten Nachr.« v. 30. April höhnten: »Griot, der schon seit 20 J. Knaben erzieht, wird vor Gericht Aufklärung geben über seine Erziehungsmethode!« Das » Augsb. Anzeigebl.« v. 6. Mai weidet sich an der schimpflichen Verurtheilung eines kath. Geistlichen: »Es ist zu wünschen, dass solche Heuchler jederzeit entlarvt werden.« Solchen Artikeln darf namentlich nie die Würze fehlen, welche das Wort »entlarven« verleiht! [*Ein Wiener Blatt fiel sogleich in Krämpfe. Im Zustand der Unzurechnungsfähigkeit bereicherte es unsre Sprache, die schon so viel erduldete, um den Ausdruck »Auswürfling der Menschheit«. – Griot hat zu seinem Nachtheil appellirt. Das Appellationsgericht Neuburg hat am 28. Jun. die Strafe zu 30tägiger Haft erhöht. Vom Bischof ward er seiner Aemter enthoben.] – Verführung schutzloser und schutzbedürftiger, unreifer oder erst halbreifer Knaben werde ich übrigens nie, nie! mildernd darstellen, und wären es, wie vermuthlich gerade hier, auch nur unbedeutende Berührungsspielereien. Eines Knaben Keuschheit sei jedem Erwachsenen ein Heiligthum. Freisprechung oder Verurtheilung ist Nebensache, die That unverzeihlich. Ich beklage ihn, der sie beging, und den Trieb, der zu ihr stachelte. (Vgl. §. 19.) Der Urning soll aber seine Triebe zügeln! *Dies gilt in voller Maasse natürlich auch für Zastrow, falls er der Thäter war. *Ich mache nur eine einzige Voraussetzung: dass des Knaben Keuschheit eben noch vorhanden ist; was im halbreifen Alter keinesweges stets ohne weiteres vorauszusetzen sein möchte.

§. 69. * Fall Morell. Zu Nürnberg ward am 18. Juni 1869 Abends ein 47j. Engländer, »der kein Wort deutsch spricht«, verhaftet: ein Geistlicher der anglicanischen Kirche, Thomas Baker Morell, wie er sich nannte: Coadjutor des Erzbischofs von Edinburg. Am 30. Juni verurtheilte ihn das Bezirksgericht Nürnberg zu 4monatigem Gefängniss, weil er öffentliches Aergerniss erregt habe durch »fortgesetzte, ehr- und schamlose« unzüchtige Betastung 2er Knaben, 13j. u. 14j., verübt auf der Hallerwiese, einem frequenten, jedermann zugänglichen, Erholungsplatz vor der Stadt. Das Urtheil betont »das ungewöhnliche Aergerniss« des Falles und »die grosse Gefahr für die sittliche Integrität der Jugend.« Die Pflicht diese Integrität zu achten habe ich bereits oben aus vollem Herzen anerkannt. Ausserdem sagt es indess, und zwar ganz allgemein, ohne Hinblick auf unreife Knaben: »Erfahrungsmässig bewährt sich geistlicher Stand nicht stets als Abschreckungsmittel gegen unnatürliche Handlungen.« Die Hand aufs Herz! meine Herren Richter. Ist es gerecht, vom Staatsdiener oder vom Geistlichen, der als Urning geboren ward und kein Gelübde ablegte, lebenslänglich den Riesenkampf absoluter Abtödtung jener Geschlechtsliebe zu fordern, welche Natur ist gleich der eurigen? Hat nicht auch er ein Recht, Mensch zu sein? – M. appellirte. Vom Appellationsgericht Eichstädt ward er am 13. Juli freigesprochen, »weil keine feste Ueberzeugung gewonnen sei, dass er die Eigenschaft der Hallerwiese als eines öffentlichen, jedermann zugänglichen, Ortes gekannt.« – Auch hier wieder begegnen wir einer Unzufriedenheit der öffentlichen Meinung mit der Freisprechung eines Urnings. (Vgl. oben §. 44.) Der Nürnberger »fränkische Courier« schreibt am 22. Juli: »Ueber dies freisprechende Urtheil in Sachen so grober Unzuchtshandlungen enthalten wir uns jedweder Kritik.« Aber es handelte sich, wie er selbst sogleich nachweist, gar nicht um grobe Unzuchtshandlungen, sondern lediglich um Aergernisserregung an öffentlichem Ort: juristisch ganz so wie im Fall Griot. »Die unzüchtigen Betastungen verübte er Nachmittags mit Gewalt und unerachtet aller Gegenwehr. Doch konnte wegen Gewaltthätigkeit nicht eingeschritten werden, da die Väter den Antrag auf Bestrafung zwar stellten, aber,« wie er mysteriös hinzusetzt, »wieder zurücknahmen: aus welchen Motiven? entzieht sich der Besprechung.« Ferner: »Nachträglich stellte sich heraus, der durch 4 Zeugen überführte Angeklagte sei nicht bischöflicher Coadjutor, sondern der Bischof von Edinburg selbst.« Zu der jüngst angeordneten Verlegung des Appellationsgerichts Eichstädt nach Nürnberg macht der »Nürnb. Anzgr.« v. 4. Aug. den Witz: »Sie geschieht vermuthlich, um den Herren vom Appellationsgericht Gelegenheit zu geben, die Eigenschaft der Hallerwiese als eines öffentlichen Ortes an Ort und Stelle zu studieren.« Die »N. Würzbgr. Ztg.« v. 9. Aug. berichtet, von dem Falle habe bereits die englische Regierung Notiz genommen, u. fordert diese mit Heftigkeit auf, ihre Schuldigkeit zu thun, d. i. den Bischof seiner Würde zu entsetzen. Wolle das Würzburger Localblatt dies doch der englischen Presse überlassen.

§. 70. * Seckbacher Selbstmord. Zu den 8 Selbstmorden, vorgeführt Mem. §. 119, kommt ein 9ter hinzu. Der Urning Ch. Hinkel zu Seckbach bei Frankfurt a. M. ward am 1. Nov. 1868 wegen eines urnischen Vorgangs vom Tage zuvor von 3 Rupfern bis in seine Wohnung verfolgt. Dieselben gaben sich für Polizeibeamte aus, erklärten ihn für verhaftet und forderten ihn auf, einen Wagen, den sie mitgebracht, zu besteigen, um in Frankfurt der Behörde vorgeführt zu werden. Auf einen Augenblick begab er sich, »um sich umzukleiden,« noch in den oberen Stock, wo er aber in der Verzweiflung sich entleibte, indem er mit einem Rasirmesser sich Luftröhre und Halsadern zerschnitt. Auf entstandenes Wehegeschrei ergriffen die 3 jetzt schleunigst die Flucht, wobei sie in der Eile einen Regenschirm stehn liessen, mittels dessen die Nemesis sie der wirklichen Polizei in die Hände lieferte. Es waren: Matthesius, Kaufmann, 22j., Spengler, Kellner, 31j. und Schulze, Kellner, 23j. Schulze hat Abends zu seiner Geliebten gesagt: »Heute hätten wir viel Geld verdienen können; aber der Kerl hat sich den Hals abgeschnitten.« So rohem Gesindel ist der Urning an Händen und Füssen gebunden durch das Gesetz thatsächlich überliefert. Welch kümmerliche Sühne war es den Manen des geopferten, dass am 26. Jan. 1869 die Strafkammer zu Frankfurt sie mit 2, 2 ½ und 3 J. Gefängnis strafte? Und was nützen so vereinzelte Bestrafungen der Erpressung, so lange die Bestrafung der Urningsliebe besteht und durch ihr Bestehen stets auf's neue zu Erpressungen anspornt? §. 71. * Fall Czarnecky. Rechtsunsicherheit Wie sehr in Preussen gegenwärtig des Urnings Lebensglück allem Zufall der Rechtsunsicherheit schutzlos preisgegeben ist, beweist das haarsträubende Geschick des bejahrten Rittergutsbesitzers Graf Karl Czarnecky auf Chwaliszewo in Posen, welcher gegenwärtig hinter dem Eisengitter schmachtet. Ich will, ich darf diesen Fall nicht verschweigen. Ich will, ich muss ihn, den man todtschweigt, an's Licht ziehn. Er ist wohl noch erschütternder, als die Einsperrung einer irrsinnigen Nonne im Kloster der Karmeliterinnen zu Krakau. Der Graf (vielleicht schwach von Muskelbau: Memnon §. 123, unten 5) liebte kraftvolle junge Bursche. Er liebte sie auf eine weiblich-passive Art (nicht passive Pädication) welche weiblich-passivem Begehren unzweifelhaft entspricht. Den erstaunten Richtern war diese Modalität völlig neu, obgleich schon Martial, Lucian im Apophras, u. ;a. sie erwähnen und sie auch heute keineswegs selten ist. Wenn die Natur gerade sie von ihm forderte (was nie ein Dioning zu entscheiden fähig ist), so war sie berechtigt nach dem Recht der Natur. (Vgl. Memnon §. 54.) Vor dem Kreisgericht Schubin ward er zuerst 1861 ihretwegen angeklagt, aber freigesprochen, »weil die That gar nicht unter das Gesetz falle«. Musste er sie jetzt nicht für straflos halten? Der gleichen Liebesübung wegen ward er 1867 abermals an geklagt, vor demselben Gericht, Was musste er erleben? Das Urtheil v. 23. Feh. 1867, unterzeichnet von den Richtern Müller, Güthe und Schmid, liegt mir im Wortlaut vor. Es sagt: »Das Gericht ändert seine Rechtsansicht. Es hält die That jetzt nicht nur für dennoch unter das Gesetz fallend, sondern für in dem Grade sittenlos und unnatürlich, dass sofort das höchste Strafmass des §. 143 dafür zu erkennen ist.« Ueber unnatürlich oder natürlich und sittlich oder sittenlos bei einem Urning abzuurtheilen, waren jene 3 Herren gar nicht fähig. Es sind Dioninge, die von der ganzen Urningsnatur nicht einmal eine Ahnung haben, die überall nur ihren dionischen Massstab anzulegen wissen. Kann auch ein blinder über die Farbe urtheilen? Demnach ward der 1861 freigesprochene 1867 verurtheilt zu 4j. Gefängniss und 4j. Entziehung der Ehrenrechte! Ist die Justiz ein Würfelspiel geworden? Und im norddeutschen Entwurf hat man diese ganze Bestrafung bereits ausgemerzt! (Wie in Frankreich schon 1810, in Bayern 1813, bestätigt 1861.) Welche Zustände! Essen muss er die Kost der Diebe. Licht oder Heizung darf er sich Abends nicht einmal auf eigne Kosten verschaffen. So verbringt er im Herbst und Winter entsetzliche Abende und Nächte. Er ist 70 J. alt! Wird man auch ihn, wie im vorigen Jahrzehnt zu Berlin den Freiherrn v. Malzan (Inclusa §. 67), im Kerker dahinsiechen und sterben lassen? Wird die Verfolgung der Natur auch dieses Opfer noch fordern? – Ein Begnadigungsgesuch hat er nicht eingereicht. Man schreibt mir: »Er war zu stolz dazu.« Was wollt ihr, ihr Beschimpfer? Sind wir der Freiheit werth?

*In seiner Antritts-Proclamation v. 4. März 1869 sagte General Grant, Präsident der Vereinigten Staaten:

»Durch nichts wird ein schädliches Gesetz so sicher der Abschaffung zugeführt, als durch stricte Vollziehung.«

Ganz richtig! Nur so wird die ganze Unerträglichkeit nackt und bloss hingestellt. Eine Vollziehung, die vor keiner Härte zurückbebt, wird den Vollzieher aber auch auf und niederjagen zwischen Südpol und Nordpol und damit Thür und Thor öffnen der Rechtsunsicherheit. Indem sie schuldlose zu Verbrechern stempelt, wird sie ferner wirkliche Verbrechen, die raffinirtesten Erpressungen, freilich ohne es zu wollen, wie Pilze aus der Erde schiessen lassen. Die schuldlosen selbst wird sie zu Selbstmorden treiben oder sie zu hingeopferten Märtyrern machen. So wird sie, die Vollziehung selbst, nachdrücklicher als theoretischer Nachweis, zu dem Ruf hindrängen: »Fort mit diesem Gesetz!«

§. 72. * Fall Forstner. (Fortsetzung von §. 10 u. 12.) Der Generalvicar der Unitarier, Professor Benisch, erliess (24. Jun.) in Tagblatt und Presse die »bestimmte Erklärung«: »Unter den obwaltenden Umständen werde er in diesem speciellen Falle Forstners Amtsentsetzung nicht beantragen, sollte derselbe auch schuldig gesprochen werden.« Constit. Vorstadtztg. gab hierauf (30. Jun.) der Gemeine den Rath: für jeden Fall Herrn Benisch zu entlassen. – Nach dem Tgbl. v. 9. Jul. hatte soeben Forstners Vertheidiger angezeigt, Kanonier Vogel habe inzwischen 2 neue Erpressungsversuche gemacht: an einem durchreisenden Fremden Namens H. und, am 7. Jul., auf 50 fl. gerichtet, ebenfalls im Stadtpark, an einem Kaufmann Sp. aus Mähren. Chor der Rupfer: »O Stadtpark, o Stadtpark, du wunderschöner Park!« Anm. d. Setzers [Die Anmerkung des Setzers fehlt in der Neuausgabe von 1898.]. – Am 12. Jul. war – bei geschlossenen Thüren – Verhandlung vor dem Wiener Landesgericht. Vogel sagte aus: »Als wir im Stadtpark auf der Bank sassen, begann er mit mir ein Gespräch, anfangs gleichgültiger Natur. Später sagte er mir Schmeicheleien; dann umarmte und küsste er mich, genitalia mea manu tetigit, non tamen nudans ea, und sagte: » Sie sind ein hübscher junger Mann; noch nie habe ich einen so schön gebauten jungen Mann gesehn« und: »Mit einem Manne lieben gewährt mehr Reiz, als mit einem Weibe.« Das ward mir endlich zu viel. Längst hatte ich den Verdacht, er hege unlautere Absichten auf mich. Dieser war zur Gewissheit geworden; ich ging daher mit ihm zur Polizei. Von dem ganzen Vorgang hat übrigens niemand etwas gesehn. Zuerst hatte ich ihn am Wienufer erblickt. Dort bemerkte ich, dass er mich auffallend ansah und meinen Schritten folgte. Ich ging zu einem Baume, ut urinam solverem.« Letzteres ist das wohlbekannte Manöver eines anlockenden, um eines Urnings neugierige Blicke zu provociren. Vogel hat mithin einfach als nichtswürdiger Verräther gehandelt. Es ist freilich üblich, die ehrlosesten Schurkenstreiche, wenn an einem Urning verübt, zu übersehn. – Forstner, der vorstehende Aussagen bestritt, sagte noch, dass am Wienufer ein Civilist dem Kanonier halbleise zurief: »Das ist der Forstner.« Neue fr. Pr.: »Eine ganze Schaar junger Leute von 18–20 J. sagte ihm heute die Beschuldigung in's Gesicht.« Geradezu falsch! Nicht »die Beschuldigung«, sondern nur Aeusserungen des Wohlgefallens und Liebkosungen. O schwere Beschuldigung, wenn einmal eine ganze Schaar hübscher Bauernmädchen einem Dioning in's Gesicht sagen würde, er habe ihnen allen liebkosend in die Wangen gekniffen! Wiener Morgenpost: »Heute zerriss der Schleier seiner Unschuld!« Ja, ja; wer junge Männer liebt, ist Auswürfling der Menschheit«: »unschuldig« ist, wer Weiber liebt. O ihr unschuldigen Dioninge! N. fr. Pr. wirft ihm vor, so oft ihm Fatalitäten drohten, habe er das Prävenire gespielt. Dies nennt sie falsche Beschuldigung. So sei Wahli auf seine falsche Beschuldigung verurtheilt. N. fr. Presse schreibt einmal ein wenig in den Tag hinein. Jemand gestattet mir im Stadtpark eine Liebkosung. Plötzlich legt er das Gesicht in die Falten sittlicher Entrüstung, springt auf u. erklärt: »Jetzt zeige ich Sie an, falls Sie mir nicht 50 fl. zahlen!« Ich rufe Rechtsschutz an, ihn der Erpressung anklagend. Ich spiele ihm das Prävenire. Ist das falsche Beschuldigung ? Der Schurke' mag er doch zusehn, wie weit er daneben mit seiner Anklage kommen wird. Und diese Verräther: N. fr. Pr., der alles Ehrgefühl abhanden gekommen zu sein scheint, nimmt sie in Schutz! – Mgpst. sucht selbst diesen Fall, so gut es eben gehn will, gegen die Ultramontanen zu verwerthen. »Er, der die frühesten geistigen Eindrücke an einer Lehranstalt empfing, die von Priestern geleitet ward, dann in ein Jesuitenkloster eintrat«, etc. Da haben wir's! Priester u. Jesuiten hatten ihm seinen Geschlechtstrieb eingeimpft. Wie abscheulich!

§. 73. *In die Sache war noch ein junger Maurergesell hineingezogen, Namens Tischer, welcher in seiner Aussage wechselte, schliesslich behauptete: F. habe an ihm einen äusserlichen Geschlechtsact vorgenommen. Das Gericht verurteilte F. nun wegen »Verbrechens der versuchten Verleitung zur Unzucht wider die Natur«, nämlich zur Pädication (Fall Vogel) und wegen » vollbrachten Verbrechens der Unzucht wider die Natur« (Fall Tischer) zu 1jähr. schwerem Kerker, geschärft alle 14 Tage durch Fasttag und einmaliges hartes Lager. N. fr. Pr. nennt dies Urteil ein mildes. Nun, anerkennungswerth finde ich wenigstens die Milde, dass die Schärfungen nicht, wie im 16. Jahrh., bestehn sollen in einmaligem Zwicken mit glühenden Zangen.

Also versuchte Verleitung zur Pädication! Ueber die Ziele des urnischen Geschlechtstriebes tappen die Dioninge einfach im Finstern. Stets wittern sie eine auf Pädication gerichtete Absicht.

*Die verschiednen Acte äusserlicher Berührung sind ihnen fremd. Der Irrthum wäre belächelnswerth, wenn er nicht über Freiheit u. Ehre der Urninge entschiede. Tactus genitalium eines schönen, blühenden jungen Mannes gewährt dem Urning selbstständigen Genuss, ähnlich wie dem Dioning die Betastung der entblössten Brüste eines Mädchens. [Hier waren die angerührten Theile nicht einmal entblösst.] (Vgl. oben §. 35, a. E.: »Dioninge pflegen nicht zu wissen« etc. Vindex §. 26. Formatrix §§. 8. 9. 13. 16. 18, a. 23) Und solcher Unwissenheit sind in Oestereich die Urninge auf Gnade und Ungnade preisgegeben!

Forstner legte gegen das Urtheil Berufung ein. Das Oberlandesgericht Wien hat durch Urtheil v. 13. (17?) Aug. von dem vollbrachten Verbrechen ihn freigesprochen, des Versuchs der Verleitung ihn dagegen als schuldig bestätigt, und für dies geringere eine die ganze Strafe mit ihren Schärfungen beibehalten.

Nach so langer Uebung im Strafen wissen also die österr. Richter selbst noch nicht, worin sie eigentlich bestehe, ihre sogen. Unzucht wider die Natur: ob schon in äusserlichen Acten (Landesgericht) oder erst (Oberlandesgericht) in Pädication. Und solcher Rechtsunsicherheit, solchem Würfelspiel, sind etwa 20 000 österr. Staatsbürger preisgegeben! Auch das Oberlandesgericht fasst einen tactus genitalium auf als Versuch der Verleitung zur Pädication. Vom bösen Willen der Richter rede ich nicht. Sie mussten ja urtheilen über etwas, wovon sie nichts verstehn, Doch das darf mir gleich gelten. Ich halte mich an das Ergebniss: in Oestereich haben sie im J. 1869 einen tactus genitalium, durch den einem Naturtriebe Folge gegeben ward, mit 1jähr. schwerem Kerker als Verbrechen bestraft. Das ist Hexenverbrennung 19ten Jahrhunderts. Ja, noch mehr; urnischer tactus genitalium als Verbrechen bestraft: und daneben dionische Pädication straffrei. Das ist ein Schandfleck am heutigen Oestreich.

§. 74. *Nachträglich erhalte ich die 1. Nr. des Wiener »Morgensterns«, redigirt von dem genannten Benisch, v. 1. Aug. Einem darin enthaltenen Artikel über die Verhandlung v. 12. Jul. entnehme ich noch folgende Einzelheiten. »Zeuge Wahli nahm seine vorjährige Beschuldigung zurück. Bei Aufstellung einer neuen verwickelte er sich in solche Widersprüche, dass selbst der Staatsanwalt ihn darauf aufmerksam machte. Uebrigens beanspruchte er von F. noch Schadenersatz, weil er durch dessen Schuld, nämlich seit seiner vorjährigen Verurtheilung, keine Stelle mehr finden könne. Der Vorsitzende wies diesen Anspruch jedoch zurück aus Gründen, die wir aus Schonung für Herrn Wahli nicht veröffentlichen wollen.« Nun, N. fr. Presse? – Die anonymen Schmähbriefe (§. 12) kamen nicht zur Verlesung. Empfangen hatten dieselben der Pfarrer Grazl zu Mödling und der Redacteur der »Kirchenztg.« Wiesinger. Diese hatten sie dem Gericht vorgelegt. Mgstrn. erwähnt noch eines 2 Spalten langen Berichts der »Presse« über die Verhandlung (mir nicht zugegangen), der mit Schmähungen gegen E. angefüllt sei. »Ein redlicher Mensch, meint Mgstrn., giebt sich zu solchen Berichten nicht her. Schon aus der blossen Beschreibung von Fs. Person: »hager, fahle Gesichtsfarbe, breiter Mund, schmale, zusammengekniffene Lippen« spricht der einfache Hass. Gegen den Schluss hin steigert sich dieser bis zur Raserei. (Vgl. oben §. 67.) Ich glaub's gern! Doch wozu staunen? Wenn man im 16. Jahrh. in Darmstadt einen Urning lebendig verbrannte – »gemeiner Gewohnheit nach«, wie die peinliche Gerichtsordnung sagt –, so verdiente sich der Scharfrichter für seine Bemühung taxmässig seine 15 fl. Nun, der Herr Berichterstatter der »Presse« wollte augenscheinlich bei seiner Redaction sich das Darmstädter Scharfrichterhonorar verdienen; und er hat gewiss redlich das seine gethan, um einen Urning lebendig wenigstens um seine Ehre zu bringen.

§. 75. *Die Aufregung in der Gemeine ist unbeschreiblich. Blinde Wuth macht sich Luft in ungezügelten Ausbrüchen. Fs. Vorleben, bis in die kleinsten Einzelheiten hinab, bis zu den auswärtigen Curorten, die er besuchte, wird durchspionirt. Sämmtliche junge Männer der Gemeine unter 20 J. hat die Kirchenbehörde ausgeforscht nach ähnlichen »Attentaten.« Alle verneinten; 2 sagten: beim Confirmationsunterricht habe er ihnen bisweilen die Wangen gestreichelt. Die Blätter entsenden in Gift getauchte Pfeile. Der Syndicus der Gemeine, Dr. Alphons Huber, hat erklärt: »Da Fs. Liebestrieb offenbar auf junge Männer gerichtet ist, so ist er der männlichen Jugend der Gemeine gefährlich; weshalb ich seine Amtsentsetzung beantrage.« Aber so lange die Unitarier für ihre geistlichen Aemter nicht Castraten finden, müssen sie unweigerlich sich schon mit Individuen begnügen, welche mit einem Liebestrieb begabt sind, mithin mit Dioningen oder Urningen. Wie aber der Geistliche, der Dioning ist, noch keineswegs der weiblichen Jugend der Gemeine schon deshalb gefährlich ist, weil seine Geschlechtsliebe von Natur auf das weibliche Geschlecht gerichtet ist: so ist es auch der, welcher Urning ist, noch nicht deshalb der männlichen, weil ihm die Natur den Liebestrieb auf das männliche gerichtet hat. F. würde ihn ad absurdum führen einfach durch den Gegenantrag: »Da Dr. Hubers Liebestrieb offenbar auf junge Weiber gerichtet ist, so ist er der weiblichen Jugend der Gemeine gefährlich; wesshalb ich seine Amtsentsetzung beantrage.« Der Geistliche, der weder Castrat ist noch ein Gelübde abgelegt hat, verletzt seine Pflichten gegen die Gemeine erst dann, wenn er seinem geschlechtlichen Begehren gemeindeangehörige Personen dienstbar macht. So lange er diese Grenzlinie respectirt, erfüllt er, was sie von ihm zu fordern befugt ist. Zu unbedingter Geschlechtslosigkeit den Geistlichen zu verdammen, der weder Castrat ist noch ein Gelübde abgelegt hat, dazu hat niemand auf dem ganzen Erdenrund ein Recht, mag derselbe Dioning sein oder Urning. Dem Urning aber zurufen: »Heirathe!« heisst: statt des Brotes einen Stein bieten. Zu heirathen ist ihm einfach naturwidrig. Die Katholiken fordern von ihrem Geistlichen geistige Selbstcastrirung kraft ausdrücklichen Rechts: auf Grund abgelegten Gelübdes. Die Unitarier dagegen, denen das Gelübde ein Gewaltact ist, leisten selber gerade das doppelte, wenn sie ihm absolute geistige Selbstcastrirung aufzwängen, da sie der Gewalthätigkeit ja noch die Rechtlosigkeit hinzufügen. Ist das die Freisinnigkeit der Unitarier? *Unmenschliche Gesetze des Staats verpflichten eine Gemeine nicht, durch Amtsentsetzung die Unmenschlichkeit noch zu verschärfen. Wer ist unter euch, der auf eine grausam geschlagene Wunde noch einen Peitschenhieb setzt? Umgekehrt wäre es einer Gemeine würdig, ihren Geistlichen gegen grausame Gesetze aus allen Kräften in Schutz zu nehmen.

§. 76. * Neue Verfolgungen in Wien. Der 26j. Vergoldergehilfe Franz W. (Tgbl. v. 1. Jul. nach der »Corresp. Wilhelm«) ward am 27. Jun. 1869 verhaftet. Mit einem fremden jungen Manne hatte er in einem Hotel »naturwidrige Unzucht« getrieben. Gleichsam zu seiner Entlastung benannte er eine Anzahl von Personen, welche ebenfalls der Männerliebe ergeben seien. Der Untersuchungs-Richter, Landes-Gerichtsrath Zepharowich (Severawiz?) schritt wirklich sofort gegen dieselben ein und liess bereits 3 verhaften. Schöner wäre es freilich gewesen, wenn sämmtliche Urninge Wiens aus freiem Antrieb vor Herrn Zepharowich hingetreten wären mit der Forderung: »Strafe auch uns, wenn es ihm strafwürdig war, zu lieben, wie das Gesetz der Natur ihm vorschrieb. Strafe auch uns, wenn es einem Menschen ein Verbrechen ist, ein Mensch zu sein!«

*Daneben scheint dort, wie man mir meldet, neuerdings eine systematische Verfolgung der Urninge im Plan der Behörden zu liegen. Im Dec. 1868 verfügte man u. a. eine strengpolizeiliche Ueberwachung der »in dieser Hinsicht berüchtigten« Plätze. Unter diesen Umständen haben die Rupfer leichtes Spiel. Ihr Erwerbszweig blüht. Diese Gaunerei erhebt ihr Haupt kühner u. frecher als je, thatsächlich unantastbar gemacht. Entsetzliche Fälle werden mir mitgetheilt. Natürlich; der Rupfer wird erzogen, nicht geboren. Jede neue Criminaluntersuchung stampft 99 Schurken aus dem Boden.

§. 77. *Die Abschaffung der Bestrafung der Natur hatte schon am 26. Jun. 1867 der vorparlamentarische Justizminister v. Komers – Ehre seinem Namen! – in Angriff genommen: und der parlamentarische hat dieses Werk nun schon 2 volle Jahre sträflich verzögert. Jauchze, du freies Oesterreich! Ob tausenden von schuldlosen Staatsbürgern Jahr aus Jahr ein Ehre und Lebensglück schmachvoll zertreten wird durch ein ruchloses Gesetz, das der nackte Hass erfand: was thut's? Dass die Wissenschaft diese Bestrafung längst verworfen hat, weil für dieselbe unter Erwachsenen auch nicht ein Schein von Rechtsgrund sich auffinden lässt: was thuts? Dein Pöbel mag sich ja einstweilen noch fernerhin weiden an den Martern der Verfolgten: du aber hast deine parlamentarischen Minister und was willst du mehr?

How many scholars, wasting o'er their lamp,
How many jurists, versed in legal rules,
How many poets, honoured in the schools,
How many captains, famed for deeds of arms;
Have found their solace in a minion's arms!

(Lord Byron; Memnon I. S. X.)

Auf den Urning vermag nun einmal nur männliche Körperschönheit Anziehung zu üben. So wollte es ein unabänderliches Gesetz der Natur, das kein Hass und kein Wüthen jemals erschüttert wird, das nicht einmal die Scheiterhaufen früherer Jahrhunderte aufzuheben vermochten. Woher nimmt nun der Staat ein Recht, strafend einzuschreiten, wenn der Urning von den Reizen eines jungen Mannes überwältigt wird? wenn er dem Zuge der Natur, unter deren Gesetzen auch er steht, folgt, wenn er, an ungesehenem Ort, ohne Beleidigung der öffentlichen Schamhaftigkeit sieh hinreissen lässt zu Liebkosung, Berührung und Genuss irdischer Seligkeit, welche auch ihm Naturgesetz, Naturzweck und Naturbedürfniss ist? Ist es seine Schuld, dass der Leib des Jünglings das prangendste Werk der ganzen Schöpfung ist? Hat nicht jeder Mensch, hat nicht jedes lebende Wesen rings um uns her seinen Liebestrieb? Und ist nicht der Liebestrieb einer der heftigsten aller Triebe? Meint ihr, dass nicht auch vom Urning die Natur ihren Tribut fordre? Wer giebt euch das Recht gerade von ihm den Riesenkampf wider die Natur absolut und lebenslänglich zu fordern? gerade ihm ein Gelübde aufzulegen? ein Gelübde, das er gar nicht abgelegt! es ihm aufzuzwängen mit naturwidrigem Zwang und rohem Terrorismus, unter Androhung und Vollziehung von Criminalstrafe und Infamerklärung? Ist das eure Sittlichkeit? das euer Rechtssinn? das eure Freisinnigkeit? Ich protestire gegen diese Verfolgung der Natur! Halt gebiete ich ihr im Namen der Sittlichkeit, des Rechts und der Freiheit! Und du Oesterreich: Schande über dich, wenn du nicht endlich, wenn du nicht bald, die Natur der Freiheit zurückgibst!

 

 

Ich steure durchs Meer, ein Argonaut, zu fernen Wundergestaden, wo mein goldenes Vliess unter Palmen und Myrten glänzt. Was säumst du, mein Argo? Beflügle den Kiel, deines Zieles gewiss. Mich dürstet zu schaun der Erlösung Land, das Land meiner Sehnsucht, mein Colchis zu ergreifen im Hain der Gerechtigkeit, der Freiheit goldnes Vliess. 

 

 

Würzburg, 25. Septbr. 1869.

K. H. Ulrichs.

 

Aufforderung.

1) Wer sich an mich zu wenden wünscht, wolle mir direct nach Würzburg schreiben. Falls nach 14 Tagen keine Antwort von mir eingetroffen sein sollte, wolle man die Vermittlung der Verlagsbuchhandlung in Anspruch nehmen. Auch auf Briefe ohne Unterschrift werde ich antworten (an eine zu benennende Postrestant-Adresse), sobald die Nichtnennung des Namens gerechtfertigt erscheint. Ich nehme das Recht in Anspruch, alles mir mitgetheilte, was von naturwissenschaftlicher Wichtigkeit ist, zu veröffentlichen, in streng discreter Form, aber wahrheitgetreu, ohne Ausschmückung und ohne Weglassung; es sei denn, dass etwas mir mitgetheilt würde unter der Bedingung der Nichtveröffentlichung.

2) Ich wünsche eine Unterstützungskasse zu errichten für Urninge, die unverdient verfolgt oder ihrer Existenz beraubt sind, ihnen möglichst auch eine Zuflucht zu gewähren. Ich erbitte dazu Beiträge. Es giebt unter uns gar viel des bedrohten oder bereits zertretenen Lebensglücks, so viel der Angst und Noth, so viel der schlaflos durchwachten Nächte! Oft wenigstens vermöchte ich lindernd, ja schützend, einzuschreiten: wenn man mich nicht so tropfenweise dazu in den Stand setzte wie bisher. Lasset euch aufrütteln, ihr trägen, aus eurer Ruh! Kennt ihr keine Ehrenpflicht? 3) Falls §. 152 des nordd. Entwurfs wirklich in's Leben treten sollte (s. unten), so fordre ich die 12000 Urninge Norddeutschland auf, ein Land zu verlassen, das unsre Liebe auf's neue feierlich zum Verbrechen stempelt. Sich nicht länger als Verbrecher behandeln zu lassen, wird nunmehr wirklich zur Ehrensache.

– Nachtrag zu §. 64. c. Ausser »Baron Felseck« führt er noch verschiedene andre Namen. Im Sommer 1868 ist er in Frankfurt a. M. im Hôtel du nord abgestiegen unter dem Namen Feché. Den Giessener Streich spielte er etwa Oct. 1867.

– An einen gewissen preuss. Unterofficier zu Berlin. Wenn Sie Ihre Rupferei in M–au nicht sofort einstellen, so werden Sie bald Ihren Namen und Ihr Signalement gedruckt lesen. Vergleichen Sie gefälligst einstweilen §. 64. c.

Bitte. Ich wünsche 2 Urninge in die Urningskreise Köln's, bez. Hamburg's, einzuführen; erbitte Adressen.

§. 78. Im nordd. Strafgesetzentwurf wird § 148 (preuss.) als §. 152 nun dennoch aufrechterhalten! Die Motive sagen: »Vom Standpunct der Medicin, wie durch manche Gründe der Theorie des Strafrechts, rechtfertigt sich zwar die Abschaffung. Entscheidend war jedoch die Erwägung, dass im Rechtsbewusstsein des Volks diese Handlungen strafwürdig gelten.«

Aber das blinde Geschrei der Menge: »Strafet den Urning!« »Rechtsbewusstsein« zu nennen, ist doch wohl nur Euphemismus. Vor 240 J. rief man: »Verbrennet den Zauberer!« und einst in Rom: »Christianum ad bestias!« Wird man auch dies »Rechtsbewusstsein« nennen? In London errichtete man einst Legate für Lieferung des Holzes zu Scheiterhaufen »to burn heretics«, weil damals im »Rechtsbewusstsein« des Volks Ketzerei strafwürdig galt. Solchem Rechtsbewusstsein sich unterordnen; der Gesetzgeber darf es nicht. Nur wo sie rein ist, darf er der Volkstimme gehorchen: nie dort, wo sie auf falschen Vorstellungen beruht, wo sie ungerecht ist, wo sie despotisch ist. In unsrem Falle würde er antasten die Rechte der Natur, die staatsbürgerliche Berechtigung von tausenden und das oberste Princip der Gerechtigkeit: Gleichheit vor dem Gesetz. Einen wirklichen Rechtsgrund für die Bestrafung räumt man ziemlich offen ein, giebt es nicht. Diesen Mangel soll nun ersetzen, dass urnische Liebesübung im Volk strafwürdig gilt. Welch ein gefährliches Beginnen! Die Strafwürdigkeit ist also nur in der Phantasie des Volkes vorhanden: vom Gesetzgeber wird sie mithin nur fingirt. Fingirte Verbrechen aber dem Volk zu Gefallen bestrafen ist nichts geringeres als: dem Volk zu Gefallen Rechtsmorde begehn. Wir haben Justizminister, nicht Minister der Volksleidenschaften! So protestire ich denn auch gegen eine Gesetzgebung der Volksleidenschaften. Wäre es nicht unerhört, 12 000 Staatsbürger, sobald sie dem Naturgesetz folgen, durch einen Federstrich für Verbrecher zu erklären ohne Rechtsgrund? Echte Freisinnigkeit fordert Freiheit nicht nur für das Volk, sondern auch für unterdrückte Minoritäten, die nach Freiheit ringen: auch dann, wenn gerade das Volk der Despot ist.

Würzburg, 27. Sept. 1869.

Karl Heinrich Ulrichs,
k. hann. Assessor a. D.


Schriften über Urningsliebe

von Karl Heinrich Ulrichs
(Numa Numantius.)

»Inclusa.« 1864. Naturwissenschaftlicher Theil A. Der urnischen Liebe Angeborensein. 72 Seiten 12 ½ Ngr. = 46 kr. (Confiscirt; gerichtlich freigegeben).

»Formatrix.« 1865. Naturwissenschaftlicher Theil B. XVIII. u. 66 Seiten. 15 Ngr. = 54 kr.

»Vindex.« 1864. Juristischer Theil. Stoff zur Vertheidigung vor Gericht. (Ergänzung hiezu in Vindicta und in Ara spei Vorbericht.) 40 S.; 5 Ngr. = 18 kr. (Confiscirt; gerichtlich freigegeben.)

»Vindicta.« 1865. Forderung einer Revision der bestehenden Strafgesetze. XXIV u. 28 S.; 7 ½ Ngr.= 27 kr.

»Ara spei.« 1865. Verhältniss der urnischen Liebe zu Moral, Christenthum und sittlicher Weltordnung. Urnisches Liebesbündniss. Unter welchen Voraussetzungen ist Genuss sittlich erlaubt? Antinous, ein Gedicht. XXIV. u. 94 S.; 20 Ngr. = fl. 1. 12 kr.

»Gladius furens.« 1868. Eine Provocation an den deutschen Juristentag. Mit Verfassers mündlichem Vortrage v. 29. Aug. 1867 im Münchner Juristentage. 37 S.; 5 Ngr. = 18 kr. (War 10 Monat lang gerichtlich confiscirt; in II. Instanz freigegeben.)

»Memnon.« 1868. Die Geschlechtsnatur des mannliebenden Urnings. Körperlich-seelischer Hermaphroditismus. Anima muliebris virili in corpore inclusa. Eine naturwissenschaftliche Darstellung. Introite! nam et hoc templum naturae est.« Abth. I. XX u. 50 S.; 15 Ngr. = 50 kr. Abth. II. XXXVI u. 85 S.; 20 Ngr. = 70 kr. (10 Monat lang confiscirt; freigegeben.)

»Incubus,« 1869. Urningsliebe und Blutgier. Leipzig, A. Serbe. 93 S.; 15 Ngr.

 

Jede Schrift und jede Abth. wird einzeln abgegeben.

Obige Schriften werden auch durch A. Serbe's Buchhandlung in Leipzig, gegen Einsendung der betreffenden Beträge, direct und franco versandt.


Sonstige Schriften über Urningsliebe.

I. Griechenland.

1. Plato; »Gastmahl« und »Phaedrus.« (Deutsch von Prantl; » Gastmahl« 5 Ngr. = 15 kr. »Phaedras« 5 Ngr. = 15 kr

2. Theocrit; Idyll 12: »Der Geliebte« 13: »Hercules, u. Hylas« 23: »Der unglücklich liebende.« (Deutsch von Mörike und Notter; 15 Ngr. = 45 kr.)

II. Rom.

3. Tibullus; Elegie 4 (Buch I): urnische »ars amandi«; Elegie 9 (Buch I): »ad puerum suum perfidum.«

4. Virgilius; Ecloge 4: »An Alexis.«

5. Calpurnius Siculus; Ecloge 11.

III. Italien.

6. Alcibiáde fanciullo a scola, 1652; nach Baseggio's vager Vermuthung von Ferrante Pallavicini; übersetzt ins Französische : Alcibiàde enfant à l'école; 1866. (Vgl. Memnon §. 107. §. 134, 11; Einl. zu II. §. 137. §. 140.) Neben naturwissenschaftlich wichtigen Stellen enthält das Buch so viel schlüpfriges, dass ich es hier nicht aufführen möchte. Wer zu wissen wünscht, wo und wie es zu erhalten sei, wende sich an mich.

IV. Albanien (Türkei).

7. »Albanesische Studien« von Dr. jur. J. G. v. Hahn. Abschnitte: »Knabenliebe der Albanesen« I. S. 166 ff. »Gegische Poesien« II. S. 141 ff. (Memnon §. 31. 32.)

V. Frankreich.

8. Ambroise Tardieu; études medico legales sur les attentats aux moeurs. Deutsch von Medicinalrath Theile zu Weimar, 1860: unter dem Titel: »Die Vergehen gegen die Sittlichkeit.« (Ueber die Maassen gehässig und wimmelnd von Irrthümern; jedoch viel Material enthaltend, sämmtlich aus Paris. (Memnon §. 134, 6, c.)

9. »Monsieur Auguste«, roman inédit, par Mery; Paris (etwa) 1860. (Memnon Note 65.)

10. Dissertation sur l'Alcibiade fauciullo, traduite de l'italien de Baseggio et accompagneé de notes etc. Paris; J. Gay; 1861. Tiré à 254 exemplaires numerotés. (Von Gustave Brunet.) (Memnon §. 134, 9. Inhalt wichtig, schwer indess noch ein Exemplar zu erlangen.)

VI. England.

11. Lord Byron; Don Leon, a poem, forming part of the private Journal of his lordship. London: printed for the booksellers: 1866. 105. 6 d. (Glühende Vertheidigung urniseher Liebe. Memnon §. 134, 10; eine Probe: Mem. I. Einl. Ward auf buchliändlerischcm Wege jüngst vergeblich bestellt. In London indess jedenfalls zu haben in den kleinen Boutiquen von Wych und Holywell-Street.

VII. Schweiz.

12. Heinrich Hössli: Eros; die Männerliebe etc. II Bde. St. Gallen; Scheitlin & Zollikofer; 2te Ausgabe (nur Titelerneuerung) 1859: 2 Thlr. 3 fl. 12 kr. 6 fr. 75 Cs. (Memnon §. 134, 8. § 109. Gladius furens S. 2.)

VIII. Deutschland.

13. Graf Platen-Hallermund; Gedichte.

14. Casper; Handbuch der gerichtl. Medicin, Aufl. 4,1864: S. 16.. ff. (Argonauticus §. 17.)

15. Casper; Clinische Novellen zur gerichtl, Med. 1863: S. ...ff. (Argonauticus §. 17.) 16. Das Paradoxon der Venus Urania, 9 Ngr. = 30 kr. (Characterisirt sich, nur eines Tardieu würdig, durch Schmähworto, wie »Pest«, »Schandsäule«, »infamer Affe«. Argonauticus §§. 17. 20. 3. 49. 50.)

17. »Omnibus«, illustr. Wochenbl. (Hamburg u. Leipzig.) 1868, No. 28; 6 Xr. Hier angeführt wegen des Bildes »der Rattenfänger«.)

18. »Drei seltsame Erinnerungen« von Emerich Graf von Stadion, Bochnia, W. Pisz, 1858. (Memnon §. 100, c.)

19- »Hadrian«, Tragödie von Paul Heyse. 25 Ngr. (Aus Dioningsfeder – ebenso anziehend als verständnissreich – eine poetische Behandlung des Stoffes: Hadrians und Antinous.)

Obige Schriften werden auch durch A. Serbe's Buchhandlung in Leipzig, gegen Einsendung der betreffenden Beträge, direct und franco versandt.

 

Druck von W. Schneider in Querfurt.

 

Hinweise und Erläuterungen

VIII. Incubus

S. 3 Aristoteles: siehe S. 37 ff.

S. 9 von vorn hinein (ebenso S. 50): vgl. das Vorwort.

S. 14 Schweitzer: siehe zu II. Inclusa S. 35.

S. 43 korrigiert Ulrichs: Cognovimus enim ...): Wir haben erfahren, daß es verbrecherische Menschen gibt, die Mädchen, die noch nicht einmal zehn Jahre alt sind, zu diesem verderbenbringenden Handeln bestimmen.

S. 93 Würzburg, Mai 1869: in der Neuausgabe von 1898 (S. 72): 4. Mai 1869. Aufforderung: fehlt in der Ausgabe von 1898.

Argonauticus

S. 36 f. Paradoxon: das Zitat ist nicht wörtlich und stark verkürzt.

S. 43 Justinian, Novelle 14: siehe zu VIII. Incubus S. 42.

S. 44 Propertius: siehe zu VIII. Incubus S. 43.

S. 48 Absyrtus: Bruder der Medea.

S. 54 Petronius: Kapitel 9.

S. 55 Martial: siehe zu VIII. Incubus S. 54.

S. 58 In quo campo: siehe zu VIII. Incubus S. 57.

S. 63 Pellanda, Tucca: siehe S. 55.

S. 71 Petronius: Kapitel 62.

S. 105 Index: siehe zu IV. Formatrix S. IX f.

S. 152-159: fehlen in der Ausgabe von 1898.

 

Druckfehler: inhaltlich wesentliche korrigiert.
Hinweise und Erläuterungen: z. größten Teil als Fußnoten eingepflegt.
Aus arbeitsökonomischen Gründen konnten die Textmarkierungen fett und gesperrt nicht übertragen werden. Alle Hervorhebungen wurden kursiv umgesetzt. Re, PG

 


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