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1. Einleitung.

Handschriftliche Sammlungen aus dem deutschen Mittelalter haben uns eine Fülle von Liedern aufbewahrt, wie sie seit der Mitte des 12. bis in den Anfang des 14. Jahrhunderts für den Gesang gedichtet wurden. Diese Lieder sind zumeist Erzeugnisse des Ritterstandes und waren bestimmt, auf den Burgen, an den Höfen weltlicher und geistlicher Herren lautbar zu werden, als Minnesang um den Beifall edler Frauen zu werben. Sie sind, was gewöhnlich zusammengeht, nicht bloß Standes-, sondern zugleich Kunstdichtung, denn wie sie dem Inhalte nach in den Vorstellungen und Sitten des bevorrechteten Kreises sich bewegen, dem sie entwachsen und dem sie zum Genusse geboten sind, so tragen sie äußerlich das Abzeichen einer gewählteren, reicheren Kunstform. Sänger aus geistlichem oder bürgerlichem Stande, die letztem mehr erst gegen den Schluß des bemerkten Zeitraums hinzutretend, folgen, wie sie den Höfen nachgingen, auch demselben Kunstgebrauche. Vor und neben solcher Kunstübung auf Burgen und am Hofe ward aber, laut mannigfacher Meldungen, auch von den Bauern, an den Straßen, im Volke gesungen, und es ist anzunehmen, daß dieser überall gangbare Gesang, wie mit gemeingültigen Gegenständen, so auch in schlichterem Stil und einfacheren Formen sich hervorgestellt habe, dem Hof- und Kunstliede gegenüber das Volkslied. Zwar fehlt es nicht gänzlich an Überresten dieses alten Volksgesangs, seine aus unvordenklichen Zeiten vorschreibende Entwicklung, seine Verbreitung unter allen Ständen und über alle deutschen Stämme, dazu die ausdrücklichen Geschichtzeugnisse geben zureichende Gewähr, daß er nicht weniger fruchtbar war, als der auf einen engeren Kreis und auf einen bestimmten Zeitverlauf angewiesene Kunstgesang; der letztere selbst zeigt in seinen ältesten Denkmälern einen ursprünglichen Zusammenhang mit der Volksweise, besonders aber sind die zahl- und umfangreichen Heldengedichte der heimischen Sagen wesentlich aus Liedern des Volkes hervorgegangen. Gleichwohl ist nicht zu verkennen, daß durch die großen, gelehrten und kunstmäßigen Dichtungskreise, die im geistlichen und Ritterstande sich herangebildet hatten, der Volksgesang mehr und mehr zurückgedrängt, daß durch solche Absonderung und neue Geistesrichtung dem Gemeinsamen, Volksmäßigen ein bedeutender Teil dichterischer Kräfte entzogen, das Gebiet geschmälert und die Aufmunterung verkümmert, daß durch die Ausbildung zu künstlichern Liedesformen, durch die Einverleibung in umfassende Schriftwerke das Volkslied aufgesogen und, wie es vornherein in mündlicher Überlieferung gelebt hatte, nun um so weniger mehr von denen, die schreiben konnten oder schreiben ließen, der Aufzeichnung in unveränderter Weise wert erachtet wurde. Sowie jedoch im Laufe des 14. Jahrhunderts jene mittelalterlichen Dichtungskreise sich ausleben, rührt sich in den poetischen Leistungen der Zeit alsbald wieder die unverlorene Volksart. Es schlägt der Ton durch, es entbindet sich der Geist, darin die geschiedenen Stände sich als Volk zusammenfinden und verstehen. Bearbeitungen deutscher Heldensagen kommen hervor, denen man Wendungen und Handgriffe der Volkssänger abhört und deren altertümlicher Stil über die Zeit hinaufweist, in welcher das ausgebildete Rittertum sich dieser Stoffe zur Darstellung in seinem Geiste bemächtigte. Liederbücher vom Eingang des 15. Jahrhunderts, wie schon einzelne Anklänge aus dem 14., ergeben eine Mittelgattung zwischen dem abscheidenden Minnesang und dem wieder andringenden Volkstone; der Adel sowohl, der seines früheren Kunstgeschicks nicht mehr mächtig ist, als auch bürgerliche Meister, die noch an den Höfen umherziehn und noch nicht im schulmäßigen Zunftgesang abgeschlossen sind, haben sich leichteren, freieren Liederformen zugewandt. Die zerfallende Kunstbildung des Ritterstandes ist ein Zeichen, daß überhaupt die glänzendste Zeit seiner Herrschaft vorüber war, der auflebende Volksgesang geht gleichen Schrittes mit dem erstarkenden Selbstgefühl des Bürgerstands und örtlich auch der Bauerschaft. Der Kampf selbst, in dem Ritter und Bischöfe mit Bürgern und Bauern zusammenstießen, drängte zu gemeinsamer Sangweise, denn wie mit den Waffen traten die Stände sich mit Liedern gegenüber und diese mußten, um zu wirken, nach allen Seiten verständlich sein, wie man sich auf demselben Felde schlug, mußte man auch mit den Liedern auf gleichem Boden stehn. Ihres geschichtlichen Inhalts wegen wurden derlei Lieder vor andern aufgezeichnet, besonders auch, so weit sie noch erreichbar waren, den Zeitbüchern eingeschaltet, seit man diese deutsch abzufassen begonnen hatte. So erweist sich schon das 14. Jahrhundert ausgiebig an noch vorhandenen geschichtlichen Volksliedern, deren Reihe sich im 15. und 16. dichtgedrängter fortsetzt. Geistliche Lieder in Handschriften des 15. sind mehrfach auf Grundlage und Singweise weltlicher Volksgesänge gedichtet und beurkunden damit, daß letztere zuvor schon gangbar waren. In Menge jedoch kommen Volkslieder aller Art erst mit dem Eintritt des 16. Jahrhunderts zum Vorschein, nicht bloß in Handschriften, sondern hauptsächlich auch in Folge rüstiger Verwendung der Druckkunst zu diesem Zwecke. Wenn auch das gedruckte Wort die Herrschaft des mündlichen in Sang und Sage zuletzt gebrochen hat, so war doch die neue Erfindung, einmal eingeübt, das bereite Mittel, alten und neuen Liedern den raschesten und weitesten Umlauf zu geben. Fliegende Blätter, gleich Bienenschwärmen, und wohl- feile Liederbüchlein gingen von den Druckanstalten der gewerbsamen Städte in alles Land hinaus; was die Flugblätter brachten, wurde zu Büchern gesammelt; was die Bücher enthielten, in Blätter verspreitet. Wirklich ist der größere Teil der vorhandenen Lieder nur noch im Druck erhalten. Singnoten waren häufig beigefügt oder bildeten den Hauptbestand der ausgegebenen Stimmhefte; von den berühmtesten Tonkünstlern, fürstlichen Kapellmeistern, wurden die alten Volksweisen mehrstimmig bearbeitet und ausgeschmückt, wohl auch durch eigene ersetzt. Immerhin mochten die Lieder oft nur ihrer Singweise die Aufnahme verdanken, aber auch das zeugt von neuer Geltung des Volksmäßigen, daß Stimmen aus Feld und Wald an den Höfen, vor allen auf der Pfalz zu Heidelberg, willkommen waren. Dieser lebhafte Vertrieb zog sich noch in das 17. Jahrhundert hinein, aber in denselben Jahren, in welchen die letzten nam- haften Liederbücher der alten Art gedruckt wurden, erschienen auch schon Weckherlins Oden und die erste Ausgabe Opitzscher Gedichte, womit einer neuen Liederdichtung des gelehrten Standes die Bahn geöffnet war. Einzelne der alten Volkslieder trifft man noch jetzt auf fliegenden Blättern, gedruckt in diesem Jahr; mannigfach verkümmert und entstellt, aber mit trefflichen Singweisen, haben sich ihrer viele bis auf die letzte Zeit im Munde des Volkes erhalten, besonders in Gegenden, die von der Heerstraße weiter abliegen.

Die Quellenangabe zu meiner Sammlung zeigt, daß diese zumeist auf Handschriften und Drucke des 16. Jahrhunderts, oder weniger Jahrzehnte vor- und rückwärts, gegründet ist. Daraus ergab sich das Hauptgut, das den Zuwachs aus früheren und späteren Quellen an sich zog. Alles zusammen kann wohl als ein Ganzes betrachtet werden, sofern die einzelneu Bestandteile entweder gleichzeitig und auf gleiche Weise verbreitet waren, oder doch durch eine allgemeine Verwandtschaft des Tones, sowie durch viele besondere Berührungen, unter sich verbunden sind. Aber neben dem Gemeinsamen stellen sich innere und äußere Unterschiede so bedeutend hervor, daß man, wenn auch die Lieder im 15. und 16. Jahrhundert miteinander umliefen, doch ihren Ursprung in ganz verschiedenen Zeiten und Zeitbestimmungen suchen muß. Allerdings gibt sich ein ansehnlicher Teil derselben häufig schon durch den geschichtlichen Inhalt als eigenes Erzeugnis der bemerkten Jahrhunderte kund. Andern dagegen ist nicht bloß durch Sprache, Vers und Stil ein früherer Ursprung angewiesen, sondern es waltet auch die innere Unmöglichkeit ob, daß sie mit jenen aus dem Geist einer und derselben Zeit hervorgegangen seien. Während die Leistungen des genannten Zeitraums ihr vorzügliches Verdienst darin erweisen, daß sie tatkräftig in die Kämpfe der Gegenwart eingreifen, gebührt der Vorzug des poetischen Wertes unbestreitbar den älteren Überlieferungen; nachdem den Liedern des Volks überhaupt wieder Boden bereitet war, kam mit der neuen Saat manch seltene Blume von längst vergangenen Sommern zum Lichte. Die späteren Lieder sind durch zeitige Feststellung in Schrift und Druck im allgemeinen wohl erhalten und lassen sich leicht in den Zusammenhang ihrer Zeit einreihen, wogegen jene des älteren Schlags in beider Hinsicht die Forschung in Anspruch nehmen. Lange schon mündlich umgetrieben, dem jüngeren Geschlechte bereits fremdartig geworden, als man sie in Liederbücher und Flugblätter aufnahm, erscheinen manche schon hier mangelhaft und verunstaltet. Außer den absichtlichen Umwandlungen im Sinn und für den Gebrauch einer andern Zeit führten Vergeßlichkeit, Mißverstehen, vorherrschender Bedacht auf die Singweise, die vielleicht allein den Text noch fristete, zu allmählicher Entstellung und Zersetzung des letztern; Stücke verschiedener Lieder auf denselben Ton warf man zusammen, besonders wenn zugleich der Inhalt einigen Anklang darbot; die Gewohnheit, in Notenbüchern nur die ersten Gesätze mitzugeben, ließ die folgenden verloren gehn, und sie wurden durch neue oder aus andern Liedern herübergenommene ersetzt; der Druck selbst war nur behilflich, diese Verderbnisse festzuhalten und fortzupflanzen. Des Zustandes solcher Lieder im heutigen Volksgesang ist schon gedacht worden. So konnte sich aus altem und neuem Wirrsal die Meinung bilden, als gehöre die Zerrissenheit, das wunderliche Überspringen, der naive Unsinn zum Wesen eines echten und gerechten Volkslieds. Schon die bessere Beschaffenheit andrer Lieder gleichen Stils weist darauf hin, daß auch den nun zerrütteten die ursprüngliche Einheit und Klarheit nicht werde gefehlt haben. Aber nicht allein der üble Zustand vorhandener Texte, noch weit mehr ist der gänzliche Verlust so vieler Lieder eben dieser älteren, dichterisch belebteren Gattung zu beklagen. Von ihrem vormaligen Dasein zeugen noch die Anfangzeilen, welche andern nach ihrem Tone gesungenen geistlichen und weltlichen Liedern eben zur Bezeichnung der Singweise vorgesetzt oder den im 16. Jahrhundert beliebten Quodlibeten eingefügt sind und vom Inhalt und der Art des Verlorenen eine Ahnung geben. Mag es aber auch gelingen, manches dieser vermißten oder ähnlicher Stücke nachträglich beizutreiben, so wird dennoch der versunkene Schatz des mittelalterlichen Volksgesangs damit keineswegs gehoben sein.

Erscheint hiernach die Sammlung als solche lückenhaft und bruchstückartig, so ist es um so nötiger, daß die Forschung erläuternd und ergänzend sich beigeselle. Dieser liegt es ob, die verunstalteten Lieder, wenn nicht dem Wortbestande nach, der überhaupt wandelbar ist, doch für die innere Anschauung herzustellen, den rätselhaft gewordenen ihre Deutung, den vereinzelten ihren Zusammenhang zu geben, das Neuere an seine Vorgeschichte anzuknüpfen, von dem Erhaltenen in die verdunkelte Zeitferne Licht zu werfen und so wenigstens annähernd auf ein volles und frisches Geschichtbild der deutschen Volksliederdichtung hinzuarbeiten.

Mittel und Wege dieser Forschung sollen hier vorläufig bezeichnet werden.

Der eine Weg führt hinauf in die Geschichte der deutschen Poesie ältester und mittlerer Zeit. Hier ergeben sich mannigfache Beziehungen unserer Lieder zu den Nachrichten von früherem Volksgesang und zu dessen sparsamen Überbleibseln. Auch schrift- und kunstmäßige Dichtungskreise, wie das Heldengedicht mit der ihm einverleibten Göttersage, Tierfabel, Minne- und Meistergesang, wenn sie schon dem Bereiche des Volksliedes weit entwachsen sind, verleugnen doch nicht ihre Abstammung von diesem; Nachklänge des Volksgesangs sind noch vielfach aus jenen vernehmbar, und sie haben den einstigen Inhalt desselben nicht so gänzlich aufgezehrt, daß nicht den vorhandenen Volksliedern noch manches mit ihnen gemeinsam wäre. Es wird sich vielmehr herausstellen, daß die verschiedenen Klassen der Volkslieder größtenteils je einer bestimmten Gattung der mittelalterlichen Dichtkunst entsprechen. Besonders blühend ist der Stand des deutschen Volkslieds für diejenige Zeit vorauszusehen, in welcher die starre Hülse seiner ältesten Formen gesprengt und doch seine Triebkraft noch unerschöpft genug war, um die neuen Bildungen des Minnesangs und des größeren Heldengedichts aus sich zu erzeugen. Die jugendliche Frische der ersten Minnelieder, wie sie eben aus der Volksweise hervorkommen, und von der andern Seite der poetische Glanz einiger auf Flugblättern erhaltenen Volkslieder, die in altertümlichem Vers und Stil zu jenen hinaufreichen, gibt einige Vorstellung von solcher Blüte der Volkspoesie im Laufe des 12. Jahrhunderts.

Zweitens wendet sich die Forschung nach den Volksdichtungen des Auslands. Viele der älteren deutschen Lieder wurden auch anderwärts gesungen, und manche haben dort noch minder verkümmerte Gestalt; andre, von denen sich nachweisen oder leicht erraten läßt, daß sie einst auch in Deutschland gangbar waren, sind nur in befreundeten Sprachen noch vorhanden. Auch über das einzelne hinaus zeigt sich in Anschauungsweise und äußerer Haltung eine weitgreifende, gegenseitig aufhellende Gemeinschaft ganzer volkstümlicher Liederschätze. Die Niederlande, vormals ein Glied des Reiches und in der Sprache nur mundartlich verschieden, standen mit dem übrigen Deutschland in so vollkommener Liedergenossenschaft, daß die älteren hoch- und niederdeutschen Volkslieder mit den niederländischen füglich in ein Liederbuch gebracht werden können; England und Schottland, Dänemark und Schweden sind unter sich, wie mit den deutschen Stammgenossen, durch das Lied von alters her nahe verbunden, und nicht selten wird man bis zu angelsächsischen Gedichten und den Eddaliedern hinaufgeführt. Aber auch die fremderen Sprach- und Liederstämme, die romanischen, die slawischen und der neugriechische, selbst noch die zurückgedrängten keltischen und finnischen laden zu mannigfacher Anknüpfung ein. Mittellateinische Lieder deutschen Ursprungs zählen, sofern ihr Inhalt volkstümlich ist, nicht zu den fremden. Von romanischer Seite hat besonders Nordfrankreich in manchen Bestandteilen seiner mittelalterlichen Poesie die germanischen Blutsbande nicht verleugnet, und auch die noch wenig erschlossenen französischen Volkslieder bieten Gemeinsames; ebenso die altspanischen Romanzen und Liebeslieder. Auf slawischem Gebiete klingen altrussische Lieder überraschend an, ohne Zweifel durch normannische Vermittlung. Je altertümlicher das Gepräge des Liedes, um so weiter wird meist die Gemeinschaft sich erstrecken, demnach vorzugsweise bei Stücken, die dem Bereiche des Mythus und der ältesten Naturanschauung heimfallen, ja, es begegnen sich in solchen Fällen oft eben die sonst geschiedenern Stämme, als erinnerten sie sich engerer Befreundung aus längst vergangenen Tagen. Anziehend ist es überall, zu beobachten, wie bald dieses, bald jenes Volk den gemeinsamen Grundgedanken am reinsten und vollkommensten ausgedichtet oder bewahrt hat.

Ursachen und Anlässe, Mittel und Träger der völkerverbindenden Liedesgemeinschaft sollen hier nur angedeutet werden. Gleichmäßige Bildungsstufe und ähnliche Lebensweise müssen im Liede sich übereinstimmend abspiegeln, und die gemeinsamen Bedingungen aller Volkspoesie zielen auf ein gleichförmiges Ergebnis, bestimmter jedoch wirken erst die besondern, tatsächlichen Verhältnisse der Einigung und des Austausches. Als solche sind namhaft zu machen: Stammverwandtschaften verschiedenen Grades, Völkerzüge, Eroberung, Grenznachbarschaft; das Wanderleben der Sänger und die Festlichkeiten, wobei Sänger und Gäste von nah und fern sich zusammenfanden. Ritterfahrten, Kreuzheere aus allen Nord- und Westländern, Wallfahrten und einzelne Pilgerschaften nach allen Gnadenorten; ausgebreitete Verbrüderungen der Mönchsorden und die Vermittlung auch volksmäßiger Gegenstände durch die Gemeinsprache des Mönchslateins; der Handelsverkehr, besonders die Verbindungen und Ansiedlungen der deutschen Hanse; das Umherschweifen fahrender Schüler, sanglustiger Reiter und Landsknechte, wandernder Handwerker und Bergleute. Die Art der Lieder selbst, die einfache Form, der kunstlose Ausdruck, vermittelte leicht zwischen verschiedenen Sprachen und Mundarten: Tonweisen sind eine überall verständliche Sprache. Eigentliche Übersetzungen, nicht bloß mundartlich umlautend, fallen erst in die Zeit der aufkommenden Mitteilung durch Schrift und Druck.

Die Stellung der deutschen Volkslieder in diesem Gemeinleben ist nicht durchaus günstig. Wie sie jetzt gesammelt vorliegen, fehlt ihnen der gleiche Schnitt, der eine Guß, der durchgehende volkspoetische Charakter, wodurch viele Sammlungen aus andern Ländern sich auszeichnen, besonders solchen, in denen die alte Volksweise noch bis auf den heutigen Tag sich ungestört erhalten konnte. Dies war in Deutschland nicht möglich, über das alle Zeitbewegungen und Bildungszüge auf breitester Straße hingingen, wo schon im Mittelalter aus und neben dem Volksgesange so reiche poetische Entwicklungen sich hervordrängten, und wo nun großenteils nur der Nachwuchs, ein zweites, nachgebornes Geschlecht von Volksliedern sich dem Sammler darbietet. Ist aber auf dieser Stufe das poetische Verdienst nicht das vorherrschende, so ist es gleichwohl eine lebensvolle Erscheinung, wie der deutsche Volksgesang vom 13. Jahrhundert an immer mehr der wichtigsten Ereignisse und Zeitfragen sich bemächtigt, wie er im 16. der gewaltigsten Bewegung der Geister so unentbehrlich sich erweist, daß Murner sich in Bruder Veiten Ton wehren muß, daß der klassisch geschulte Hutten ein Reiterlied anhebt und Luther selbst die Psalmen zu Volksliedern stimmt. Auf solche Weise fallen Erzeugnisse namhafter, gelehrter Dichter dem Kreise des sonst namenlosen Volksgesanges anheim. Dieselben Umstände, die einer vollständigeren Abrundung und Geschlossenheit des deutschen Liederwesens hinderlich waren, dagegen der Vielseitigkeit und Wirksamkeit seiner innern Entwicklung zustatten kamen, haben auch sein Verhältnis nach außen bedeutend und beziehungsreich gemacht. Das Haupt- und Stammgebiet germanischer Bevölkerung, das europäische Mittelland, war nach Lage und Geschichte mehr als irgend ein andres berufen, gebend und empfangend nach allen Seiten anzuknüpfen; da nun zur Erforschung seines eigenen früheren Liederbestandes unerläßlich ist, diese mannigfachen Anknüpfungen zu verfolgen, so führen oft unscheinbare Reste jenes vormaligen Besitzes zu den weitesten Ausblicken in den gesamten Volksgesang.

Endlich ein dritter Weg der Erläuterung senkt sich hinab in das innere Leben und Wesen des Volkes, das die Lieder gesungen hat. Die Liederbildung kann noch halbfertig und unabgelöst von ihren Anlässen im Volksleben aufgewiesen werden, wie sie aus mancherlei Beschäftigungen und Bedürfnissen, aus sinnbildlichen Handlungen, Festlichkeiten, Spielen und andern öffentlichen oder häuslichen Vorkommnissen erst nur formelhaft, spruchartig und rufsweise auftaucht. Aber auch ausgestaltete Lieder geben gleichartigen Ursprung durch ihre typische Beschaffenheit kund, ihre Grundanlage ist überliefert und in altherkömmlichen Gebräuchen vorgebildet, doch triebkräftig genug, daß die Ausführung sich in freiem und mannigfachem Wechsel bewegen kann. Es fehlt nicht an solchen, die Ort und Zeit ihrer Entstehung, selbst, wie schon berührt, den Namen ihres Dichters an der Stirne tragen; andre der besten Art bewähren in der Einheit des Gedankens und der Empfindung, sowie in der abgerundeten Darlegung die ungeteilte Tat des unbekannten Urhebers. Obgleich aber ein geistiges Gebilde niemals aus einer Gesamtheit, einem Volke, unmittelbar hervorgehen kann, obgleich es dazu überall der Tätigkeit und Befähigung einzelner bedarf, so ist doch gegenüber derjenigen Geltung, die im Schriftwesen der Persönlichkeit und jeder besondersten Eigenheit oder augenblicklichen Laune des Dichters zukommt, in der Volkspoesie das Übergewicht des Gemeinsamen über die Anrechte der einzelnen ein entschiedenes. Und wenn auch zu allen Zeiten die natürliche Begabung ungleich und mannigfach zugemessen ist, die einen schaffen und geben, die andern hinnehmen und fortbilden, so muß doch für das Gedeihen des Volksgesangs die poetische Anschauung bei allen lebendiger, bei den einzelnen mehr im Gemeingültigen befangen vorausgesetzt werden; hervorstechende Besonderheit kann hier schon darum nicht als dauernde Erscheinung aufkommen, weil die vorherrschend mündliche Fortpflanzung der Poesie das Eigentümliche nach der allgemeinen Sinnesart zuschleift und nur allmähliches und gemeinsames Wachstum gestattet. Bedingt ist diese Beteiligung eines ganzen Volkes am Liede dadurch, daß in jenem die Geistesbildung nach Art und Grad soweit gleichmäßig verteilt sein muß, um einer durchgreifenden Gemeinschaft des geistigen Hervorbringens und Genießens stattzugeben. Im Begriffe der Volkspoesie und im Worte selbst liegt jedoch nicht bloß die eine Anforderung, daß die Poesie volksmäßig, sondern auch die andre, daß die gemeinsame Bildung und Sinnesart des Volkes poetisch geartet sei. Vollständig wird letzteres dann zutreffen, wenn in einem Volke noch alle Geisteskräfte unter dem vorwaltenden Einfluß derjenigen, welche eigentümlich zur Poesie wirken, der Einbildungs- und der Gefühlskraft, gesammelt sind, wenn von denselben Einflüssen das gesamte vom Geiste stammende Volksleben durchdrungen und danach in Sprache, Geschichte, Glauben, Recht und Sitte ausgeprägt ist. Hat nun dieses poetisch gestimmte Gesamtleben sich zu Liedern gestaltet, dann sind es die wahren und echten Volkslieder. Man kann zweifeln, was höher anzuschlagen sei: diese fertigen, besondern Gestaltungen oder die inwohnende, allgemeine Grundstimmung, jener alles Volksleben tränkende und durchströmende Quell der Poesie. Jedenfalls hat die Beleuchtung der Lieder nicht nur auf die Geschichten und Gebräuche des Volkes, woran der Gesang sich heftet, sondern auch auf die poetischen Vorstellungen, die durch alle Lebensgebiete walten, soweit einzugehen, als je die Liedergattung oder das einzelne Lied dazu Anlaß gibt.

Die Abhandlung wird im ganzen derselben Anordnung folgen, welche für die Sammlung angemessen erachtet wurde. Nur daß in dieser solche Liedertypen, die nur sparsam vertreten waren, anderwärts eingereiht werden mußten, während einige derselben in der Abhandlung mittels der sich hier darbietenden Ergänzungen eigene Abschnitte bilden. Es wird überhaupt eine stets wiederkehrende Aufgabe sein, die poetischen Grundgedanken und Grundanschauungen, ja ihre ganze Leiter von Farben und Tönen aus verschiedenen Zeiten und Ländern durchspielen zu lassen, ihren vollendeten Ausdruck in einzelnen Musterstücken, wo solche zu Gebote stehn, aufzuweisen oder eben im wechselnden Spiele die gemeinsame Bedeutung, die Seele des Beweglichen zu erfassen. Wie alles natürliche Wachstum mit einem Zustande der Geschlossenheit, des eingeblätterten Keimes, anhebt, so erscheint auch die jugendliche Volksdichtung nicht nur im Verbande mit den ihr verschwisterten Künsten des Gesanges und des Tanzes, sondern es sind auch in ihrem eigenen Bereiche die poetischen Grundformen, lyrisch-didaktisch, episch, dramatisch, erst noch ohne schärfere Abgrenzung beisammen gehalten und entwickeln ihre besondern Ansätze nur allmählich, je nach Gegenstand und Bedürfnis, zu verschiedenen Dichtgattungen. Hiernach war es auch nicht die Form, sondern der Inhalt, wodurch die Einteilung der Lieder sich zu bestimmen hatte. Nach ihren Anlässen im Volksleben treten sie fast von selbst gruppenweise zusammen, und der Bildungsgang des Volkes von den ältesten Zuständen bis in die geschichtlichen Bewegungen des 15. und 16. Jahrhunderts ordnet die Reihenfolge dieser größeren oder kleineren Liedergruppen auch für die nachstehende Ausführung. Stil, Vers und Strophenbau, Singweisen und Vortrag, der ganze Betrieb dieses Liederwesens, sollen am Schlusse noch eigens besprochen werden.

In den ursprünglichsten Volkszuständen wurzelt eine der deutschen Volkspoesie zum Wahrzeichen gewordene und verbliebene Eigenschaft, der lebendige Sinn, womit überall die umgebende Natur in Teilnahme gezogen ist. Dieser Eigenschaft ist schon hier zu gedenken, eben weil sie dem Ganzen zukommt; nicht nur entstammen ihr die besondern Liederklassen, von denen die vordern Abschnitte handeln werden, sondern auch durch andre Gattungen, welche dem Gegenstande nach ferner liegen, windet sich, voller oder leichter, dieselbe frischgrüne Ranke. Blättert man nur im Verzeichnis der Liederanfänge, so grünt und blüht es allenthalb. Sommer und Winter, Wald und Wiese, Blätter und Blumen, Vögel und Waldtiere, Wind und Wasser, Sonne, Mond und Morgenstern erscheinen bald als wesentliche Bestandteile der Lieder, bald wenigstens im Hintergrund oder als Rahmen und Randverzierung. Anfänglich mag ein Naturbild an der Spitze des Liedes, weniger Schmuck als Bedürfnis, der unentbehrliche Halt gewesen sein, woran der nachfolgende Hauptgedanke sich lehnte; die uralten Lieder der Chinesen berühren sich in dieser Form mit den noch täglich aufschießenden Schnaderhüpfeln des bayerischen und österreichischen Gebirges, dort wie hier ist nicht einmal durchaus ein bestimmter Zusammenhang des Bildes mit dem Gegenstande ersichtlich. Die schönsten unsrer Volkslieder sind freilich diejenigen, worin die Gedanken und Gefühle sich mit den Naturbildern innig verschmelzen; aber auch wo diese mehr in das Außenwerk zurücktreten, selbst wo sie nur noch herkömmlich und sparsam geduldet sind, geben sie doch immer dem Lied eine heitere Färbung, wenn sie völlig absterben, geht es auch mit der deutschen Volksweise zur Neige.

Das angegebene Wahrzeichen ist, wie schon berichtet, so wenig ein zufälliges, daß im Gegenteil auch hierbei die Kunst des Volkes gänzlich in der Art desselben ihren Ursprung hat. Das altgermanische Sonderwohnen am Quell, im Feld und Holz ( Germ. c. 16) ergab einen täglichen, trauten Verkehr mit allem, was im Freien sichtbar und regsam ist: dieses ländliche Einzelleben setzte sich im Burgwesen fort, das nur stolzer und weitschauender in Wind und Wolken hinausgebaut war. Von den Einflüssen dieses Naturverkehrs, von der angestammten Wald- und Feldlust war nun das deutsche Leben auch in allen geistigen und sittlich-geselligen Richtungen durchdrungen. Laut der frühesten Kunde vom religiösen Geiste der Germanen, faßten sie ihre Götter nicht in Bilder und Wände, sondern verehrten ein Unsichtbares im Schatten geweihter Haine ( Germ. c. 9. 39); so verwob sich ihnen das heiligste Geheimnis des ahnenden Geistes mit dem Eindrucke der tiefgrünen Waldesnacht. Jährlich wiederkehrende Volksfeste behielten auch in christlicher Zeit das Gepräge, den sinnbildlichen Aufschmuck alter Naturfeiern. Das deutsche Recht, wie es zu großem Teile das Eigentum und die Nutzungen an Feld und Forst, Jagd und Weide, Fluß und Teich betrifft, so ist es auch in seinen Bezeichnungen, Formeln, Symbolen voll der lebendigsten Naturanschauung. Von den Künsten ist es nicht bloß die Poesie, die, auf dem Land und umwaldeten Burgen erwachsen, davon ihre grüne Farbe trägt; der alten Musik wird es nicht an Nachhallen des Jägerschreis und Berghirtenrufes fehlen; aber auch diejenigen Künste, die innerhalb der städtischen oder klösterlichen Ringmauern groß geworden sind, verleugnen nicht das tiefgepflanzte Naturgefühl: die deutsche Baukunst auf ihrem Höhepunkte hat das Steinhaus in einen Wald von Schäften, Laubwerk und Blumen wieder umgesetzt, die Malerei hat, während sie dem menschlichen Angesichte den reinsten Seelenausdruck gab, die Hinterwand durchbrochen, die Aussicht in das Grüne aufgetan und dadurch die alte Verbindung des Geistes mit der Natur wieder hergestellt, ja sie hat weiterhin für die Landschaft ein eigenes Fach ausgebildet, in welchem, wie in jenen Götterhainen, der Geist nur unsichtbar seine Nähe fühlen läßt. Es wird im folgenden nachgewiesen werden, wie zur Bezeichnung des irdischen Lebensglückes überhaupt deutsche Dichter im Mittelalter nichts Köstlicheres anzugeben wissen, als die Sommerwonne, die unendliche Freude an Blumen und Klee, am belaubten Wald und der duftenden Linde, am Gesänge der Waldvögel.

Hat diese Naturliebe als Grundzug des Lebens und der Poesie sich bei den Deutschen besonders innig und bis in die geistigsten Beziehungen nachhaltig erwiesen, so ist sie doch keineswegs ein ausschließliches Vorrecht derselben, sie wirkt in aller Volksdichtung und bekundet sich anderwärts noch in der unmittelbaren Kraft des sinnlichen Ausdrucks, sie beruht in dem allgemeinen Bedürfnis, das menschliche Dasein in die Gemeinschaft der ganzen Schöpfung gestellt zu wissen. Die Natur ist dem Menschen, der in ihr lebt, nicht bloß nützlich oder schädlich als nährende, hilfreiche Macht oder als feindliche, zerstörende Gewalt, sie nimmt nicht bloß seine werktätige Kraftanstrengung oder wissenschaftlich seinen Scharfsinn und Forschungstrieb in Anspruch, auch mit seiner dichterischen Anlage, seinem Schönheitssinne findet er sich auf ihre Schönheit, die milde und die erhabene, hingewiesen. Er sucht in ihr nicht bloß Gleichnis, Sinnbild, Farbenschmuck, sondern, was all diesem erst die poetische Weihe gibt, das tiefere Einverständnis, vermöge dessen sie für jede Regung seines Innern einen Spiegel, eine antwortende Stimme hat. Es ist nicht die Selbsttäuschung eines empfindsamen Zeitalters, daß Lenzeshauch und Maiengrün, Morgen- und Abendrot, Sonnenaufgang, Mondschein und Sternenglanz das Gemüt erfrischen, rühren, beruhigen, daß der Anblick des Meeres, daß Sturm und Gewitter den Geist zum Ernste stimmen. Eben die jugendkräftige Poesie der unverbildeten Völker ist von diesen Einwirkungen durchdrungen. Sage man immerhin, der Mensch verlege nur seine Stimmung in die fühllose Natur, er kann nichts in die Natur übertragen, wenn sie nicht von ihrer Seite auffordernd, selbsttätig anregend entgegenkommt. Die wissenschaftliche Forschung hat überall den Schein zerstört, der alte Glaube an die götterbeseelte Natur ist längst gebrochen, und dennoch bleibt jene Befreundung des Gemütes mit der Natur eine Wahrheit, das Mitgefühl, das in ihr geahnt wurde, rückt nur weiter hinauf, in den Schöpfer, der, über dem Ganzen waltend, die Menschenseele mit der schönen Natur zum Einklang verbunden hat und damit sich selbst dem empfänglichen Sinne stündlich nahebringt.

Indem nun gezeigt worden, daß die deutschen Volkslieder aus dem Volksleben zu erläutern und zu ergänzen seien, so konnte sich zugleich bemerklich machen, daß auch umgekehrt das Volk ohne Beiziehung seiner Poesie nur unvollständig erkannt werde. Wenn die Sonne hinter den Wolken steht, kann weder Gestalt noch Farbe der Dinge vollkommen hervortreten; nur im Lichte der Poesie kann eine Zeit klar werden, deren Geistesrichtung wesentlich eine poetische war. Das dürftige, einförmige Dasein wird ein völlig andres, wenn dem frischen Sinne die ganze Natur sich befreundet, wenn jeder geringfügige Besitz fabelhaft erglänzt, wenn das prunklose Fest von innerer Lust gehoben ist; ein armes Leben und ein reiches Herz. Erzählt die Geschichte meist von blutigen Kämpfen, sprechen die Gesetze von roher Gewalttat, so läßt das Lied, die Sage, das Hausmärchen, in die stillen Tiefen des milderen Gemütes blicken. Besonders aber wird im alten Götterreich und im weiten Gebiete des Aberglaubens sich manches vernunftgemäßer ausnehmen, wenn es vom Standpunkte der Poesie beleuchtet wird. Die Herrschaft des dumpfesten Irrwahns hebt eben da an, wo die poetischen Vorstellungen im Wandel der Zeiten zum Gespensterspuk verdunkelt oder zu unverstandenen Formeln erstarrt sind. Es ist des Versuches wert, diesen Bann zu lösen und den gebundenen Geist, wo er es fordern kann, in seine Freiheit herzustellen.


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