Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zwölftes Kapitel.
Der Weg zur Macht


In der Zeit zwischen dem ersten und dem zweiten Krankheitsanfall konnte Lenin nur die Hälfte seiner früheren Energie für die Arbeit aufwenden. Sein Arteriensystem war ständigen Erschütterungen ausgesetzt, die geringfügig zu sein schienen, in Wirklichkeit aber bedrohlich waren. Als er sich einmal auf einer Sitzung des Politischen Büros erhob, um jemand einen Zettel zu überreichen, taumelte er leicht. Ich bemerkte es nur, weil gleich darauf sein Gesicht förmlich einfiel – abermals eine der zahlreichen Warnungen, die ihm seine Lebenszentren schickten.

Lenin machte sich keine Illusionen. Seine Hauptsorge war damals die Zukunft der Partei: wie würde die Arbeit ohne ihn und nach ihm weitergehen? Zu jener Zeit schon formte er im Geiste das Dokument, das später als sein Testament bekannt geworden ist.

Zur selben Zeit, einige Wochen vor dem zweiten Anfall, hatte ich mit ihm eine bedeutsame Unterredung. Wegen der politischen Wichtigkeit der Unterredung berichtete ich mehreren meiner Freunde von ihr; das ist einer der Gründe dafür, daß mir das, was Lenin sagte, sehr genau in Erinnerung geblieben ist.

Lenin hatte mich gebeten, ihn in seinem Zimmer im Kreml zu besuchen. Er hatte, als er seine Tätigkeit wieder aufnahm, festgestellt, daß der Bürokratismus in unserem Sowjet-»Apparat« in erschreckendem Maße gewachsen war; dem mußte dringend Einhalt geboten werden. Er schlug die Bildung einer besonderen Kommission des Zentralkomitees vor und bat mich, an ihr aktiv teilzunehmen. Ich antwortete:

»Wladimir Iljitsch, ich bin überzeugt davon, daß wir bei dem Kampf gegen den Sowjetbürokratismus nicht eine Erscheinung übersehen dürfen, die die allgemeine Lage kennzeichnet: in der Hauptstadt und in den Provinzen, auch in den örtlichen Parteistellen, wird eine ganz besondere Auslese von Funktionären und Spezialisten, von Parteimitgliedern und Parteilosen vorgenommen, die auf der Ergebenheit gegenüber gewissen Persönlichkeiten, die in der Partei eine beherrschende Stellung einnehmen, und gegenüber gewissen Gruppen innerhalb des Zentralkomitees selbst, basiert. Jedesmal, wenn man einen kleinen Sekretär angreift, stößt man auf einen hohen Parteiführer ... Ich kann also unter den gegebenen Umständen nicht an der Kommission, von der Sie sprechen, mitarbeiten.«

Lenin blieb einen Augenblick lang nachdenklich und sagte dann – ich zitiere ihn wörtlich –: »Mit anderen Worten, ich schlage einen Feldzug gegen den Bürokratismus im Sowjetapparat vor und Sie schlagen mir vor, ihn zu verbreitern und ihn auch gegen den Bürokratismus im Organisationsbüro der Partei zu führen?«

Das kam mir so unerwartet, daß ich lachen mußte: »Nehmen wir an, es sei so!«

»Also gut«, antwortete Lenin, »ich schlage Ihnen einen ›Block‹ vor!«

»Es ist ein Vergnügen, mit einem braven Mann einen ›Block‹ zu bilden«, sagte ich.

Wir kamen überein, daß Lenin die Anregung zur Schaffung einer Kommission des Zentralkomitees vorbringen sollte, einer Kommission für den Kampf gegen den Bürokratismus »im allgemeinen« und den des Orgbüros im besonderen. Daraufhin trennten wir uns. Zwei Wochen vergingen. Lenins Gesundheitszustand verschlechterte sich. Daraufhin brachten mir seine Sekretärinnen die Entwürfe und den Brief über die nationale Frage. Dann lähmte ihn die Arterienverkalkung monatelang, und für unsern »Block« gegen die Parteibürokratie konnte nichts getan werden. Es ist klar, daß Lenins Plan vor allem gegen Stalin gerichtet war, obwohl dessen Name nicht erwähnt wurde; das lag in der Linie der Gedanken und Besorgnisse, die Lenin in seinem Testament ausdrücklich formulierte.

(Während Stalin zu jener Zeit die Zentrale Kontrollkommission, das Organisationsbüro und das Parteisekretariat in seinen Händen hielt, verfügte Sinowjew über die Mehrheit im Politischen Büro und im Zentralkomitee, was ihm den ersten Platz im Triumvirat sicherte. Der Kampf zwischen ihm und Stalin, der sich im Verborgenen abspielte, aber nichtsdestoweniger sehr heftig war, hatte die Eroberung der Mehrheit auf dem Parteitag zum Gegenstand. Sinowjew kontrollierte die Petrograder Organisation völlig, sein Partner Kamenew die von Moskau. Die zwei stärksten Parteizentren brauchten also nur die Unterstützung von einigen wenigen andern, um die Mehrheit auf dem Parteitag zu erhalten. Diese Mehrheit war notwendig für die Wahl des Zentralkomitees und die Annahme der für Sinowjew günstigen Resolutionen. Sinowjew brachte jedoch diese Mehrheit nicht auf; die meisten Parteiorganisationen, außer Moskau und Petrograd, standen unter der straffen Kontrolle des Generalsekretärs.

Sinowjew erhob nichtsdestoweniger auf dem Zwölften Parteitag den Anspruch, Lenins Platz einzunehmen und offen die Rolle von Lenins Nachfolger zu spielen, indem er gleich auf der Eröffnungssitzung das politische Referat hielt. Während der Vorbereitungen zum Parteitag war die umstrittenste Frage die, wer dies Hauptreferat halten würde; seit der Gründung der Partei war das immer das Vorrecht Lenins gewesen. Als sie vor dem Politbüro gestellt wurde, sagte Stalin als erster: »Das politische Referat muß natürlich vom Genossen Trotzky gehalten werden.«

Das konnte ich nicht annehmen, denn es hätte meiner Auffassung nach bedeutet, daß ich mich anschickte, Lenins Nachfolge in dem Augenblick anzutreten, wo Lenin schwer krank daniederlag. Ich antwortete ungefähr folgendermaßen: »Es handelt sich um ein Interim; wir hoffen, daß Lenin bald wieder hergestellt sein wird. In der Zwischenzeit muß das Hauptreferat vom Generalsekretär gehalten werden. Das entspricht seiner Funktion und das wird allen leeren Spekulationen den Boden entziehen. Übrigens gibt es zwischen Ihnen und mir ernsthafte Meinungsverschiedenheiten, besonders in den ökonomischen Fragen, und ich bin in der Minderheit.« »Und wenn wir annehmen würden«, fragte Stalin, »es gäbe keine Meinungsverschiedenheiten?«, um zu verstehen zu geben, daß er bereit wäre, Konzessionen zu machen, das heißt, ein faules Kompromiß zu schließen. Kalinin griff in das Zwiegespräch ein. »Was für Meinungsverschiedenheiten?«, fragte er mich; »Ihre Vorschläge werden vom Politbüro immer angenommen.« Ich bestand weiter darauf, daß Stalin den politischen Bericht gäbe. »Auf keinen Fall«, entgegnete er mit demonstrativer Bescheidenheit, »das würde die Partei nicht verstehen. Das Hauptreferat muß vom populärsten Mitglied des Zentralkomitees gehalten werden.«

(Die Frage wurde schließlich vom Zentralkomitee entschieden, in dem Sinowjew die Mehrheit hatte. Damit sah jedes Parteimitglied klar, daß Sinowjew nunmehr Lenins Platz an der Spitze der Partei einnahm. Der Generalsekretär hatte nun alle Eile, seinem Mit-Triumvirn einen Knüppel zwischen die Beine zu werfen, und Sinowjew wurde nicht mit dem üblichen Beifall empfangen – drückendes Schweigen lastete während seiner ganzen Rede auf der Versammlung. Das Verdikt der Delegierten war klar: Sinowjew wurde in seiner neuen Rolle als ein Usurpator betrachtet.

(Der Zwölfte Parteitag – der eine Woche dauerte, vom 17. bis zum 23. April 1923 – hob Stalin vom Stande der Unterordnung auf den ersten Platz im Triumvirat. Sinowjews Mehrheit im Zentralkomitee und im Politbüro wurde umgestoßen, Stalin gewann die Kontrolle des einen wie des anderen. Seine Hauptleistung betraf jedoch die Zentrale Kontrollkommission und das Netz der Kontrollkommissionen in den Provinzen. Auf dem Elften Parteitag war Stalin der geheime Herr und Meister der Zentralen Kontrollkommission geworden, deren Mitglieder in der Mehrzahl seine Leute waren, doch entgingen ihm die örtlichen und Provinzkommissionen, von denen viele erst gewählt wurden, nachdem er Generalsekretär geworden war. Stalin ging in der für ihn bezeichnenden Weise an das Problem heran. Unter irgendeinem Vorwand wurden solche Angelegenheiten, die der Regelung durch ihm feindliche Kontrollkommissionen unterstanden, einfach, sobald sie an die Interessen des Sekretariats rührten, der Zentralkommission übertragen; außerdem wurden – überall, wo das möglich war, ohne viel Aufsehen zu erregen – diese Kommissionen kurzerhand durch Beschluß der Zentralkommission abgeschafft.

Der auf dem Zwölften Parteitag geschlagene Sinowjew wollte seine politische Stellung mit einem Kuhhandel wieder aufrichten. Er schwankte zwischen zwei Plänen: erstens dem, das Sekretariat der Partei wieder auf das alte Statut zurückzubringen, das es vom Politbüro abhängig machte und es all der Vorrechte beraubte, die er, Sinowjew, sich zugebilligt hatte; zweitens demjenigen, innerhalb des Sekretariats ein drei Mitglieder starkes Sonderkollegium zu bilden, das die höchste Autorität besitzen sollte, wobei die drei Mitglieder Stalin und Trotzky sein sollten und entweder Kamenew, Bucharin oder Sinowjew. Eine solche Kombination sei nötig, glaubte er, um den übermäßigen Einfluß Stalins zu mindern.

Er begann mit seinen Machenschaften in Kislowodsk im September 1923. Woroschilow, der damals in Rostow war, erhielt eine telegrafische Einladung. Ebenso Stalins Freund Ordschonikidse. Die anderen anwesenden führenden Persönlichkeiten waren Sinowjew, Bucharin, Laschewitsch und Jewdokimow. Sinowjew, der ein Résumé der auf der Konferenz geäußerten Ansichten verfaßte, schrieb, daß »der Genosse Stalin mit einem Telegramm in grobem, aber freundschaftlichem Ton antwortete ... Er traf etwas später ein, und wir hatten mehrere Unterhaltungen. Schließlich wurde beschlossen, daß an das Sekretariat nicht gerührt werden sollte, daß wir aber, um die Organisationsarbeit und die politische Arbeit zu koordinieren, drei Mitglieder des Politbüros ins Orgbüro entsenden würden. Dieser nicht sehr praktische Vorschlag wurde vom Genossen Stalin gemacht, und wir nahmen ihn an ... Die drei Mitglieder des Politbüros waren Trotzky, Bucharin und ich. Ich nahm an den Sitzungen des Orgbüros, glaube ich, ein- oder zweimal teil; Bucharin und Trotzky erschienen kein einziges Mal. Bei der ganzen Sache kam nichts heraus ...«

(In dieser Zeit spitzte sich die revolutionäre Lage in Deutschland zu. Die Triumvirn waren aber viel zu sehr mit dem Kampf gegen Trotzky und mit den Rivalitäten unter sich selbst beschäftigt, als daß sie dieser lebenswichtigen Frage – die damals allen anderen voranstand – genügend Aufmerksamkeit hätten schenken können. Im erweiterten Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale, das Sinowjew vom 12. bis zum 24. Juni in Moskau versammelte, um in der großen Linie die künftige Tätigkeit und die Rolle festzulegen, die jeder Sektion der Kommunistischen Internationale darin zukam, waren die Diskussionen und Konklusionen so wirr, daß die Teilnehmer selbst nicht imstande waren anzugeben, was für Beschlüsse gefaßt worden waren, und daß alle Beschlüsse verschieden ausgelegt wurden. Daß die Verwirrung unter den Teilnehmern nur die widerspiegelte, die unter den Triumvirn herrschte, wurde klar, als folgender, am 7. August 1923 geschriebener Brief Stalins veröffentlicht wurde:)

Sollen wir Kommunisten (in der gegenwärtigen Phase) versuchen, ohne die Sozialdemokraten die Macht zu ergreifen? Sind wir reif genug dafür? Das ist nach meiner Ansicht die ganze Frage. Als wir die Macht übernahmen, hatten wir in Rußland als Reserven: a) das Brot, b) konnten wir den Bauern das ganze Land geben, c) unterstützte uns die überwiegende Mehrheit der Arbeiterklasse, d) sympathisierten die Bauern mit uns. Die deutschen Kommunisten haben im gegenwärtigen Augenblick nichts dergleichen. Gewiß, sie haben in ihrer Nachbarschaft die Sowjetnation, was wir nicht hatten, aber was können wir ihnen im gegenwärtigen Augenblick bieten? Wenn die Macht heute in Deutschland sozusagen fallen würde und die deutschen Kommunisten sie aufnähmen, würden sie mit Krach durchfallen. Das im ›günstigsten‹ Falle. Im schlimmsten Fall werden sie in Stücke gehauen und zurückgeworfen werden. Die Sache ist nicht, daß Brandler ›die Massen erziehen‹ will, die Sache ist, daß die Bourgeoisie, und mit ihr die rechten Sozialdemokraten, bestimmt den Unterricht – die Demonstration – in eine allgemeine Schlacht umwandeln (im gegenwärtigen Augenblick sind alle Chancen auf ihrer Seite) und sie vernichten werden. Gewiß, die Faschisten schlafen nicht, aber wir haben ein Interesse daran, daß sie als erste angreifen: das wird die ganze Arbeiterklasse um die Kommunisten scharen (Deutschland ist nicht Bulgarien). Übrigens sind unseren Informationen nach die Faschisten in Deutschland schwach. Meiner Ansicht nach müssen wir die Deutschen zurückhalten und sie nicht anspornen.

(Dieses jämmerliche Dokument, in dem jede Zeile von krasser Ignoranz zeugt, stellt den Beginn von Stalins Teilnahme an den Arbeiten der Kommunistischen Internationale dar; er hatte an keinem der Kongresse der Internationale teilgenommen, und es ist leicht zu verstehen, warum die Leitung der russischen Kommunistischen Partei ihn davon ferngehalten hatte.

Daß eine unter solchen Bedingungen unternommene revolutionäre Aktion mit einer Niederlage endete, ist nicht erstaunlich. Die Triumvirn, die die volle Verantwortung dafür trugen, hatten jedoch keine größere Sorge als die, einen Sündenbock zu finden und alle Kritik von sich abzulenken. Sie brandmarkten den Mann, der damals an der Spitze der deutschen kommunistischen Partei stand, Brandler, als »Rechten« und ließen ihn von allen Sektionen der Kommunistischen Internationale, in der sich der »Monolithismus« breitzumachen begann, verurteilen.

Der deutsche Fehlschlag hatte seine unmittelbaren Nachwirkungen innerhalb der kommunistischen Partei der Sowjetunion. Die aufrichtigen Bolschewiki waren beunruhigt, viele von ihnen verlangten mehr als nur einen rein formalen Bericht über die Haltung, die die Parteiführer bei dieser Gelegenheit eingenommen hatten; sie wollten die öffentliche Diskussion dieser Probleme. Ihre erste Forderung war deshalb die Wiederherstellung des Rechts zur Fraktionsbildung innerhalb der Partei, das 1921 vom Zehnten Parteitag abgeschafft worden war. Die im Innern der Partei zutage tretende Unzufriedenheit mit dem Triumvirat hatte seit dem Zwölften Parteitag aufzuflackern begonnen; sie beschränkte sich nicht auf das Triumvirat, sie war gegen das Zentralkomitee in seiner Gesamtheit gerichtet. Sechsundvierzig hervorragende Bolschewiki, darunter Pjatakow, Sapronow, Serebrjakow, Preobraschensky, Ossinsky, Drobnis, Alsky, W. M. Smirnow, veröffentlichten eine Erklärung, in der es unter anderem hieß:)

Das Regime, das in der Partei errichtet worden ist, ist absolut unerträglich. Es erdrückt jede Initiative im Innern der Partei. Es ersetzt die Partei durch den Apparat ... der einigermaßen gut funktioniert, solange alles gut geht, der aber unvermeidlicherweise in Krisenperioden ins Schaukeln kommt und der droht, vollständigen Bankrott zu machen, wenn er sich den schwerwiegenden Ereignissen gegenüber sehen wird, die vor uns stehen. Die gegenwärtige Situation ergibt sich aus der Tatsache, daß das Regime der Fraktionsdiktatur, das sich nach dem Zehnten Parteitag entwickelte, die Periode seiner Nützlichkeit überdauert hat..

(Die Sechsundvierzig gaben sich nicht zufrieden mit den leeren Gesten der September-Vollsitzung, die in der Partei »die Demokratie erweitern« sollte. Es wurden Protestversammlungen organisiert, und gegen das bürokratische Regime wurde nicht nur innerhalb der Sowjetinstitutionen offen bemerkbar agitiert, sondern sogar in den Parteiorganisationen. Bemüht, die wachsende Protestbewegung, die sich zu einer vereinten Linksopposition zu entwickeln drohte, zum Scheitern zu bringen, veröffentlichte Sinowjew im Namen des Triumvirats in der »Prawda« vom 7. November zum Sechsten Jahrestag der bolschewistischen Revolution einen Artikel, der die Diskussion freigab und in dem auch behauptet wurde, in der Partei existiere eine »Arbeiterdemokratie«. Gleichzeitig mündeten die Debatten unter den Führern schließlich in eine Resolution, die sich das Zentralkomitee am 5. Dezember 1923 zu eigen machte, in der die Bürokratie, besondere Vorrechte usw., verurteilt und in der die Wiederherstellung des Rechts auf Kritik sowie einwandfreie Wahlen auf allen Gebieten feierlich versprochen wurden. Trotzky, seit Anfang November krank und infolgedessen nicht imstande, an der allgemeinen Diskussion teilzunehmen, fügte seine Unterschrift zu denen der übrigen Mitglieder des Zentralkomitees.

Der interne Kampf spielte sich so vollständig im geheimen ab, daß die Partei in ihrer Gesamtheit nicht das geringste von ihm wußte; außer einer Handvoll Eingeweihter hielten alle Mitglieder der Partei Trotzky für einen Verteidiger des herrschenden Systems. Deshalb entschloß sich Trotzky, nachdem er die Resolution vom 5. Dezember unterzeichnet hatte, eine Erklärung zu veröffentlichen, worin er seine eigene Stellungnahme präzisierte, offen seine Befürchtungen im Hinblick auf die bürokratische Gefahr wie die Möglichkeit einer Entartung der bolschewistischen Bewegung darstellte und die Jugend aufrief, passiven Gehorsam, Strebertum und Servilität mit Verachtung zu strafen.

Dieser Brief rief bei den Spitzenfunktionären einen Entrüstungssturm hervor. Am wütendsten war Sinowjew, der, wie Bucharin vier Jahre später enthüllte, darauf bestand, daß Trotzky verhaftet und des Hochverrats angeklagt würde. Darüber hinaus arbeitete die Zentrale Kontrollkommission ohne Unterbrechung weiter, obwohl die Diskussion gestattet worden war. Die Dreizehnte Parteikonferenz, die vom 16. bis 19. Januar tagte, um den Dreizehnten Parteitag vorzubereiten, der im Mai stattfinden sollte, nahm, gestützt auf einen Bericht Stalins, eine Resolution an, die die Diskussion um die Demokratie im Innern der Partei und das Auftreten Trotzkys verurteilte, und zwar mit folgenden Worten:)

»Die von Trotzky geleitete Opposition stellt das Losungswort auf: ›Der Parteiapparat muß zerschlagen werden!‹, und sie versucht, das Schwergewicht des Kampfes gegen die Bürokratie im Staatsapparat auf den Kampf gegen die ›Bürokratie‹ im Apparat der Partei zu übertragen. Solche jeder Grundlage entbehrende Kritik und der direkte Versuch, den Parteiapparat zu diskreditieren, können objektiv nur dazu führen, daß der Staatsapparat dem Einfluß der Partei entzogen wird.«

(Schließlich wurde dem immer noch kranken Trotzky vom Politbüro befohlen, sich zu einer Kur in den Kaukasus zu begeben. Auf der Reise dorthin erhielt er ein Telegramm von Stalin mit der Mitteilung, daß Lenin, dessen Gesundheitszustand sich erst kürzlich noch gebessert hatte, plötzlich gestorben war.)

Politisch hatten Stalin und ich lange Zeit in einander unversöhnlich gegenüberstehenden Lagern gestanden. In gewissen Kreisen ist es nun aber zur Regel geworden, von meinem »Haß« gegen Stalin zu sprechen und a priori geltend zu machen, daß alles, was ich nicht nur über den Diktator von Moskau, sondern auch über die Sowjetunion schreibe, von diesem Gefühl inspiriert sei. Während der zehn Jahre meines jetzigen Exils haben sich die schreibenden Agenten des Kreml mit der allzubequemen Anspielung auf meinen »Haß« gegen Stalin systematisch der Notwendigkeit entzogen, sachlich auf das zu antworten, was ich über die UdSSR sage. Freud hat diese billige Sorte von Psychoanalyse entschieden zurückgewiesen. Haß ist schließlich und endlich eine Spielart von persönlicher Bindung. Stalin und ich aber sind durch Ereignisse voneinander getrennt worden, die alles, was es an Persönlichem zwischen uns gegeben haben könnte, vernichtet und zu Asche zerrieben und keinen wie immer gearteten Rest hinterlassen haben. Im Haß steckt ein Stück Neid. Für mich bedeutet, geistig und gefühlsmäßig, Stalins beispielloser Aufstieg den allertiefsten Sturz. Stalin ist mein Feind. Aber Hitler ist auch mein Feind und ebenso Mussolini und ebenso viele andere. Heute hasse ich Stalin so wenig, wie ich Hitler, Franco oder den Mikado hasse. Ich bemühe mich vor allem darum, sie zu verstehen – um für den Kampf gegen sie besser gerüstet zu sein. Allgemein gesprochen ist in historisch bedeutenden Fragen der persönliche Haß ein minderwertiges und verächtliches Gefühl. Es degradiert nicht nur, es macht blind. Im Lichte der Ereignisse, die sich neuerdings in der Welt und auch in der Sowjetunion abgespielt haben, haben sich selbst viele meiner Gegner davon überzeugen müssen, daß ich so blind nicht war: diejenigen meiner Voraussagen, die am wenigsten plausibel schienen, haben sich als richtig herausgestellt.

Diese einführenden Zeilen pro domo sua sind um so notwendiger, als ich nunmehr zu einem besonders heiklen Thema komme. Ich bin bemüht gewesen, die für Stalin allgemein charakteristischen Züge auf der Grundlage aufmerksamer Beobachtung und peinlich genauen Studiums seiner Biographie aufzuzeigen. Ich leugne nicht, daß das Porträt, das dabei zustande kam, düster und sogar furchtbar ist. Ich fordere jedoch jedermann auf, ein anderes an die Stelle dieses Porträts zu setzen, ein menschlicheres Antlitz hinter den Dingen zu finden, die das Vorstellungsvermögen der Menschheit in den eben vergangenen Jahren verletzt haben, hinter den Massen-»Säuberungen«, den beispiellosen Anklagen, den phantastischen Prozessen, der Ausrottung einer ganzen Generation von Revolutionären und schließlich den kürzlichen Machenschaften in der Weltpolitik.

Ich werde jetzt recht außergewöhnliche Tatsachen beibringen sowie Gedanken und Vermutungen, die zu ihnen gehören – zum Thema: Wie ein Provinzrevolutionär Diktator eines großen Landes wurde. Die Gedanken und Vermutungen sind mir nicht mit einem Schlage gekommen. Sie sind langsam gereift, und jedesmal wenn sie mir in vergangenen Zeiten in den Sinn kamen, habe ich sie als das Produkt übertriebenen Mißtrauens zurückgewiesen. Aber die »Moskauer Prozesse« – die ein diabolisches Knäuel freilegten von Intrigen, Erdichtungen, Fälschungen, Vergiftungen und Morden, ausgegangen vom Kreml-Diktator – haben auf die früheren Jahre einen düsteren Schein geworfen. Ich begann mich mit wachsendem Nachdruck zu fragen: Was war Stalins wirkliche Rolle zur Zeit von Lenins Krankheit? Hat der »Schüler« nichts getan, um des »Lehrers« Tod zu beschleunigen?

Von der Ungeheuerlichkeit eines solchen Verdachts lege ich mir besser als irgendjemand sonst Rechenschaft ab. Was aber tun, wenn er aus den Umständen, aus Tatsachen, aus Stalins eigenem Charakter aufsteigt? Lenin hatte, seinen Befürchtungen Ausdruck gebend, 1922 gewarnt: »Dieser Koch wird nur scharfe Suppen kochen!« Die Suppen sollten aber nicht nur scharf gewürzt sein, sondern vergiftet, und das nicht nur im übertragenen, sondern im wörtlichen Sinn. 1937 schrieb ich zum erstenmal Tatsachen nieder, die zu ihrer Zeit (1923 – 1924) nur sieben oder acht Personen, und auch nur teilweise, bekannt waren. Von diesen Leuten befinden sich außer mir selbst nur noch Stalin und Molotow unter den Lebenden. Die beiden letzteren aber – vorausgesetzt, daß Molotow unter den Eingeweihten war, wessen ich nicht sicher bin – haben keinen Grund, sich zu dem zu bekennen, was ich jetzt berichten will. Ich muß noch hinzufügen, daß jede von mir erwähnte Tatsache, jeder Hinweis, jedes Zitat, entweder durch offizielle sowjetische Veröffentlichungen bestätigt werden kann oder durch Dokumente, die in meinen Archiven aufbewahrt werden. Ich habe Gelegenheit gehabt, mündliche und schriftliche Erklärungen vor der von John Dewey präsidierten Untersuchungskommission über die Moskauer Prozesse abzugeben, und nicht eins von den Hunderten von Dokumenten und Zitaten, die ich vorgelegt habe, ist jemals angefochten worden.

Die in den letzten Jahren angefertigte Ikonographie, reich an Quantität (über die Qualität wollen wir schweigen), zeigt beständig Lenin in Gesellschaft Stalins. Sie sitzen, einer des anderen Rat hörend, Seite an Seite, und sehen einander freundschaftlich an. Dies aufdringliche Motiv, in der Malerei, in der Bildhauerei, auf der Kinoleinwand immer wieder dargeboten, entspringt dem Wunsch, die Tatsache vergessen zu machen, daß die letzte Lebensperiode Lenins unter dem Zeichen eines heftigen Konfliktes zwischen ihm und Stalin stand, eines Konfliktes, der mit dem vollständigen Bruch endete. Wie immer war auch hier absolut nichts Persönliches in der Feindschaft Lenins gegen Stalin. Lenin schätzte gewisse Züge Stalins sicher hoch ein, so seine Entschlossenheit, seine Hartnäckigkeit und selbst Rücksichtslosigkeit und Verschlagenheit – in Kämpfen unentbehrliche und deshalb dem Hauptquartier der Partei nutzbringende Eigenschaften. Mit der Zeit aber zog Stalin wachsenden Vorteil aus den günstigen Gelegenheiten, die sein Posten für die Rekrutierung ihm persönlich ergebener Männer bot, um sich an seinen Gegnern zu rächen. 1919 war ihm die Leitung des Kommissariats der Arbeiter- und Bauerninspektion übertragen worden – Stalin wandelte sie nach und nach in ein Instrument der Günstlingswirtschaft und der Intrigen um. Aus dem Generalsekretariat der Partei machte er eine unerschöpfliche Quelle für Begünstigungen und Pfründen. In gleicher Weise mißbrauchte er seine Stellung als Mitglied des Organisationsbüros und des Politischen Büros für persönliche Zwecke. In allen seinen Handlungen war ein persönliches Motiv zu erkennen. Nach und nach überzeugte sich Lenin davon, daß gewisse Züge Stalins, durch den Parteiapparat multipliziert, direkt schädlich waren. So reifte sein Entschluß, Stalin aus dem Apparat zu entfernen und ihn wieder zu einem einfachen Mitglied des Zentralkomitees zu machen. Nichts ist heute in der Sowjetunion in höherem Maße tabu, als die Briefe Lenins aus jener Zeit. Glücklicherweise habe ich von einer gewissen Anzahl davon Durchschläge und Fotokopien in meinen Archiven; einige habe ich schon veröffentlicht.

Lenins Gesundheitszustand verschlimmerte sich plötzlich gegen Ende 1921. Den ersten Anfall erlitt er im Mai des folgenden Jahres. Zwei Monate lang war er nicht imstande, sich zu bewegen, zu sprechen oder zu schreiben. Anfang Juli begann langsam die Genesung. Als er im Oktober in den Kreml zurückkehren und seine Arbeit wieder aufnehmen konnte, war er förmlich erschüttert über das Ausmaß, das Bürokratie, Willkür und Intrigantentum in den Partei- und Regierungskörperschaften angenommen hatten. Im Dezember eröffnete er das Feuer gegen Stalin wegen der Verfolgungen, denen die nationalen Minderheiten ausgesetzt waren und besonders wegen der Politik, die Stalin Georgien gegenüber durchsetzen wollte, wo der Autorität des Generalsekretärs öffentlich die Stirn geboten wurde. Er griff Stalin in der Frage des Außenhandelsmonopols an und bereitete, für den nächsten Parteitag eine Rede vor, die seine Sekretärinnen, seinen eigenen Worten zufolge, als »eine Bombe gegen Stalin« bezeichneten. Am 23. Januar legte er zum großen Schrecken des Generalsekretärs ein Projekt zur Schaffung einer Arbeiter-Kontrollkommission vor, die der Allmacht der Bürokratie ein Ende bereiten sollte. »Sprechen wir frei und offen«, schrieb Lenin am 2. März, »das Kommissariat der Arbeiter- und Bauerninspektion genießt heute nicht die geringste Autorität ... Es gibt bei uns keine schlimmere Institution als die Arbeiter- und Bauerninspektion.« An der Spitze dieser Inspektion aber stand Stalin. Er wußte, was solche Sprache zu bedeuten hatte.

Mitte Dezember 1922 verschlechterte sich Lenins Gesundheitszustand von neuem. Er konnte an den Konferenzen nicht teilnehmen, blieb aber mit dem Zentralkomitee durch schriftliche Mitteilungen und Telefongespräche in Verbindung. Stalin nützte die Situation sogleich aus, indem er einen großen Teil der im Parteisekretariat zusammenlaufenden Informationen Lenin vorenthielt. Er unternahm alles, um Lenin zu isolieren und die ihm Nahestehenden nicht zu ihm gelangen zu lassen. Die Krupskaja tat, was sie konnte, um den Kranken vor diesen feindseligen Machenschaften zu schützen. Lenin war jedoch imstande, sich einen Gesamtüberblick über die Lage mit Hilfe bloß zufälliger und kaum wahrnehmbarer Anzeichen zu verschaffen. »Bewahren Sie ihn vor allen Sorgen!«, betonten die Ärzte. Das war leichter gesagt als getan. Ans Bett gefesselt und von der Außenwelt abgeschnitten, wurde Lenin ein Opfer der Besorgnis und des Unwillens, deren Hauptursache Stalin war, der sich um so schamloser aufführte, je beunruhigender die ärztlichen Bulletins wurden. In diesen Tagen war Stalin mürrisch, die Tabakpfeife fest zwischen die Zähne geklemmt, einen düsteren Schimmer in den gelblichen Augen, brummend statt antwortend. Sein Schicksal stand auf dem Spiel. Er war entschlossen, alle Hindernisse zu überwinden. Damals fand der endgültige Bruch zwischen Lenin und ihm statt.

Der Stalin sehr freundlich gesonnene ehemalige Diplomat Dmitrijewsky berichtet, was man in der Umgebung des Generalsekretärs über diese dramatische Episode sagte: »Als ihm die Krupskaja, deren ständige Beschwerden ihn ärgerten, wieder einmal telefonierte, um eine Information zu erhalten ... antwortete Stalin mit beleidigenden Ausdrücken. Die Krupskaja lief, mit Tränen in den Augen, sofort zu Lenin, um sich zu beschweren. Lenin, dessen Nerven durch die Intrigen schon aufs höchste gespannt waren, konnte nicht mehr an sich halten. Krupskaja schickte den Brief, der den Bruch vollzog, gleich an Stalin. ... ›Sie kennen doch aber Wladimir Iljitsch‹, sagte die Krupskaja triumphierend zu Kamenew, ›er wäre nie bis zum Abbruch aller persönlichen Beziehungen gegangen, hätte er nicht geglaubt, daß es notwendig sei, Stalin politisch zu vernichten‹«

Was hier wiedergegeben ist, hat die Krupskaja tatsächlich gesagt, aber keineswegs in triumphierendem Ton; im Gegenteil, diese stets aufrichtige und fein empfindende Frau war voller Kummer und Befürchtungen. Auch ist nicht richtig, daß sie sich über Stalin »beschwerte«, sie war im Gegenteil stets nach Kräften bemüht, als »Puffer« zu dienen. Sie konnte jedoch Lenin auf seine dringlichen Fragen nicht mehr antworten, als ihr der Generalsekretär hatte mitteilen wollen, und der hielt die wichtigsten Informationen zurück. Der den Bruch vollziehende Brief oder vielmehr die wenige Zeilen lange Mitteilung vom 6. März, die einer vertrauenswürdigen Sekretärin diktiert worden war, kündigte in dürren Worten den Abbruch »jeder persönlichen und kameradschaftlichen Beziehung mit Stalin« an. Dieser kurze Brief ist Lenins letzter Text und auch die Endsumme seiner Beziehungen zu Stalin. Dann kam der schlimmste Anfall und der Verlust des Sprachvermögens.

Ein Jahr später, als Lenin schon einbalsamiert in seinem Mausoleum lag, wurde die Verantwortung für den Bruch, wie aus Dmitrijewskys Bericht klar hervorgeht, offen der Krupskaja zugeschoben. Stalin beschuldigte sie, gegen ihn »intrigiert« zu haben. Jaroslawsky, der für gewöhnlich die zweifelhaften Aufträge Stalins übernahm, sagte im Juli 1926 auf einer Sitzung des Zentralkomitees: »So tief sind sie gesunken, daß sie nicht davor zurückschreckten, den kranken Lenin aufzuregen mit ihren Jeremiaden, daß sie von Stalin beleidigt worden wären. Welche Schande, persönliche Dinge mit politischen Angelegenheiten von entscheidendster Bedeutung zu vermengen!« »Sie«, das war die Krupskaja. So rächte man sich an ihr für Lenins Affront gegenüber Stalin. Sie sprach mir zu verschiedenen Malen von dem tiefen Mißtrauen, das Lenin in den letzten Monaten seines Lebens Stalin gegenüber hatte: »Wolodja sagte zu mir, ›er‹ (seinen Namen sprach sie nicht aus, sondern deutete mit dem Kopf in die Richtung der Wohnung Stalins) sei bar der elementarsten Ehrlichkeit, der einfachsten menschlichen Ehrlichkeit ...«

Lenins »Testament« – das heißt, seine letzten Ratschläge für die Zusammenstellung der Parteiführung – wurde an zwei verschiedenen Tagen während der zweiten Krankheitsperiode niedergeschrieben, am 25. Dezember 1922 und am 4. Januar 1923. »Dadurch, daß Stalin Generalsekretär geworden ist«, heißt es im Testament, »hat er in seinen Händen eine gewaltige Macht konzentriert, und ich bin nicht davon überzeugt, daß er von ihr immer mit genügender Vorsicht Gebrauch machen wird.« Zehn Tage später erschien Lenin diese reservierte Formulierung als nicht ausreichend, und er fügte ein Postskriptum hinzu: »Ich schlage den Genossen vor, einen Weg zu finden, um Stalin von diesem Posten zu entfernen und statt seiner einen Mann zu ernennen, der dem Genossen Stalin in jeder Beziehung überlegen ist, das heißt, der geduldiger ist, loyaler, höflicher und aufmerksamer den Genossen gegenüber, weniger launisch usw.« Lenin war bemüht, seine Einschätzung Stalins in möglichst inoffensiven Worten auszudrücken, aber er unterstrich die Notwendigkeit, ihn von dem einzigen Posten zu entfernen, der ihm außergewöhnliche Machtbefugnisse verlieh.

Nach allem, was in den voraufgegangenen Monaten geschehen war, konnte das »Testament« für Stalin keine Überraschung bedeuten. Nichtsdestoweniger traf es ihn wie ein furchtbarer Schlag. Als er diesen Text – den ihm die Krupskaja für den bevorstehenden Parteitag übermittelt hatte – zum erstenmal las, und zwar in Gegenwart seines Sekretärs Mechlis, des späteren politischen Leiters der Roten Armee, und eines anderen führenden Parteimitglieds, Syrtsow, der inzwischen von der Bildfläche verschwunden ist, brach er in unflätige Verwünschungen aus, die seine wahren Gefühle für den »Lehrer« aufdeckten. Bajanow, ein anderer ehemaliger Sekretär Stalins, hat die Sitzung des Zentralkomitees beschrieben, auf der Kamenew das Testament verlas: »Eine schreckliche Verlegenheit lähmte alle Anwesenden. Stalin, der auf den Stufen der Rednertribüne saß, fühlte sich klein und elend. Ich beobachtete ihn aufmerksam. Trotz seiner Kaltblütigkeit und äußerlichen Ruhe sah man ihm an, daß er wußte, daß es jetzt um sein Schicksal ging ...« Radek, der auf dieser denkwürdigen Sitzung neben mir saß, neigte sich zu mir und sagte: »Jetzt wird man nichts mehr gegen Sie zu unternehmen wagen!« Er dachte an zwei Stellen im Testament, eine, in der ich als der »fähigste Mann im gegenwärtigen Zentralkomitee« bezeichnet wurde und die, die Stalins Entfernung vom Posten des Generalsekretärs verlangte, wegen seiner Grobheit, seiner Unaufrichtigkeit und seiner Neigung, die Macht zu mißbrauchen. Ich antwortete Radek: »Im Gegenteil, jetzt werden sie aufs Ganze gehen wollen und sogar so schnell wie möglich.« In der Tat setzte das Testament dem internen Kampf kein Ende – wie Lenin das gewollt hatte –, sondern steigerte ihn bis zum höchsten Grade. Stalin konnte nicht mehr daran zweifeln, daß es den politischen Tod des Generalsekretärs bedeutete, wenn Lenin je seine Tätigkeit wieder aufnehmen würde. Umgekehrt, nur Lenins Tod konnte den Weg für Stalin freilegen.

Auf einer Sitzung des Politischen Büros, gegen Ende Februar 1923 als Lenin das zweite Mal krank war – und an der Sinowjew, Kamenew und der Verfasser dieser Zeilen teilnahmen, sagte uns Stalin, nach Weggang des Sekretärs, Lenin habe ihn plötzlich rufen lassen und Gift von ihm verlangt. Lenin hatte abermals das Sprachvermögen verloren, er hielt seinen Zustand für hoffnungslos, sah einen neuen Anfall kommen und traute seinen Ärzten nicht, die er des öfteren bei Widersprüchen ertappt hatte. Bei völliger geistiger Klarheit litt er unerträgliche Schmerzen. Mir war es möglich, die Entwicklung von Lenins Krankheit von Tag zu Tag zu verfolgen, da wir denselben Arzt hatten, den mit unserer Familie befreundeten Dr. Guétier.

»Ist es möglich, Fedor Alexandrowitsch, daß es zu Ende geht ?«Beklommen stellten meine Frau und ich wieder und wieder diese Frage.

»Das ist unmöglich zu sagen. Wladimir Iljitsch kann wieder auf die Beine kommen. Er hat eine glänzende Konstitution.«

»Und seine geistigen Fähigkeiten?«

»Im wesentlichen werden sie intakt bleiben. Nicht jeder seiner Sätze wird die frühere Reinheit haben, aber der Virtuose bleibt ein Virtuose.«

Wir hofften weiter. Mit einem Mal stand ich nun ganz unerwarteterweise der Eröffnung gegenüber, daß Lenin, die Inkarnation des Willens zum Leben, Gift für sich verlangte. Was für innere Kämpfe hatte er durchstehen müssen!

Ich entsinne mich, wie sehr mir Stalins Gesichtsausdruck ungewöhnlich, rätselhaft und durchaus nicht den Umständen entsprechend vorkam. Das Verlangen, das er uns übermittelte, war tragisch; dennoch klebte ein unreines Lächeln an seinem maskenhaften Gesicht. Solch Mißverhältnis zwischen seinen Worten und dem, was seine Züge ausdrückten, war uns an ihm nicht neu; diesmal aber war es einfach unerträglich. Das Widerwärtige an dieser Diskrepanz wurde noch dadurch gesteigert, daß sich Stalin jeder Meinungsäußerung über Lenins Verlangen enthielt, als wolle er abwarten, was die anderen sagen würden: wollte er erst sehen, wie unsere Reaktion sein würde, ohne selbst Stellung zu nehmen, oder hatte er seine Hintergedanken? ... Ich sehe noch Kamenew vor mir, bleich und schweigend – er schätzte Lenin aufrichtig – und Sinowjew, bestürzt, wie immer in schwierigen Augenblicken. Hatten sie schon vor der Sitzung etwas gewußt? Oder präsentierte Stalin seine trübe Nachricht den Verbündeten vom Triumvirat ebenso überraschend wie mir?

»Schon der bloße Gedanke daran, dies Verlangen zu erfüllen, ist unzulässig!«, rief ich aus. »Guétier hat nicht alle Hoffnung aufgegeben. Lenin kann wiederhergestellt werden.«

»Das alles habe ich ihm gesagt«, antwortete Stalin mit einem gewissen Widerwillen, »aber er wollte nichts davon hören. Der Alte leidet. Er muß das Gift in Reichweite haben ... nehmen wird er es nur, wenn er überzeugt davon ist, daß sein Zustand hoffnungslos ist.«

»Das kommt auf keinen Fall in Frage«, betonte ich, und wurde diesmal, glaube ich, von Sinowjew unterstützt; »er könnte einer vorübergehenden Krise nachgeben und einen nicht wieder gutzumachenden Schritt tun.«

»Der Alte leidet«, wiederholte Stalin; er starrte blicklos über unsere Köpfe hinweg und sprach sich wie zuvor weder in dem einen noch in dem anderen Sinne aus. Sein Gedankengang folgte offenbar einer Linie, die mit der unserer Unterhaltung parallel lief, ohne aber mit ihr übereinzustimmen.

Es ist zweifellos möglich, daß die späteren Ereignisse gewisse Details meiner Erinnerungen beeinflußt haben, obschon ich mich im allgemeinen auf mein Gedächtnis verlassen kann. Dieser Auftritt jedoch hat in mir einen unauslöschlichen Eindruck hinterlassen. In meiner Wohnung angekommen, beschrieb ich ihn in allen Einzelheiten meiner Frau. Und so oft ich ihn mir seither wieder vor Augen geführt habe, konnte ich nicht umhin, mir zu sagen: Stalins Verhalten, seine ganze Art, war beunruhigend und unheilkündend. Was wollte dieser Mensch? Warum dieses hinterlistige Lächeln auf seinem Gesicht? Ein Beschluß wurde, da es sich nicht um eine regelrechte Sitzung, sondern um eine Privatbesprechung handelte, nicht gefaßt, doch gingen wir in schweigendem Einverständnis darüber auseinander, daß selbst der Gedanke, Lenin Gift zu übergeben, aus unserem Gedächtnis zu löschen sei.

Hier stellte sich natürlich eine Frage: wieso und warum wandte sich Lenin, der Stalin zu der Zeit aufs äußerste mißtraute, an ihn mit einem Verlangen, das schon als solches größtes persönliches Vertrauen voraussetzte? Einen Monat vorher hatte Lenin das unerbittliche Postskriptum unter sein Testament gesetzt. Und einige Tage nach Stalins Besuch bei ihm brach er alle Beziehungen zu ihm ab. Stalin wird nicht umhin gekonnt haben, sich selbst zu fragen: warum wendet sich Lenin gerade an mich? Die Antwort ist einfach: Lenin sah in Stalin den einzigen, der ihm diese tragische Bitte erfüllen würde, weil er ein direktes Interesse daran hatte, es zu tun. Mit seinem untrüglichen Instinkt erriet der Kranke, was innerhalb und außerhalb der Kremlmauern vorging und was Stalins wirkliche Gefühle ihm gegenüber waren. Lenin brauchte nicht erst die Reihe seiner nächsten Kampfgenossen durchzugehen, um davon überzeugt zu sein, daß auch nicht einer, Stalin ausgenommen, ihm diese »Gunst« erweisen würde. Gleichzeitig ist möglich, daß er Stalin auf die Probe stellen wollte, daß er wissen wollte, inwieweit der Koch der scharfen Suppen von der Gelegenheit Gebrauch machen würde. Lenin dachte in diesen Tagen nicht nur an den Tod, sondern auch an das Schicksal der Partei. Seine revolutionäre Ader hörte unzweifelhaft als letzte zu pulsen auf.

 

Als noch sehr junger Mensch hatte Koba im Gefängnis in hinterhältiger Weise hitzköpfige Kaukasier gegen seine Widersacher aufgehetzt: gewöhnlich endete so etwas mit einer Schlägerei, einmal sogar mit einem Mord. Mit der Zeit hatte er seine Technik vervollkommnet. Der allmächtige Parteiapparat, kombiniert mit der totalitären Staatsmaschine, eröffnete ihm Möglichkeiten, die sich selbst sein Vorläufer Cäsar Borgia nicht hätte träumen lassen. Das Büro, in dem die Untersuchungsrichter der GPU ihre inquisitorischen Verhöre vornehmen, ist durch ein Mikrophon mit Stalins Büro verbunden. Der unsichtbare Josef Dschugaschwili, die Pfeife zwischen den Zähnen, folgt eifrig dem von ihm selbst vorbereiteten Dialog, reibt sich die Hände und lächelt schweigend. Mehr als zehn Jahre vor den berüchtigten Moskauer Prozessen hatte er Kamenew und Dzerschinsky an einem Sommerabend in den Ferien, bei einer Flasche Wein, anvertraut, daß es seine höchste Freude im Leben wäre, einen Feind auszuwählen, alles sorgfältig vorzubereiten, um unbarmherzige Rache zu üben und dann schlafen zu gehen. So sollte er sich später an einer ganzen Generation von Bolschewiki rächen! Es erübrigt sich, hier auf die Gerichts- und Polizeikomplotte von Moskau zurückzukommen – das Urteil, das seinerzeit über sie gefällt worden ist, war sowohl maßgeblich wie erschöpfend. Siehe: »The Case of Leon Trotsky«, Report of Hearings on the Charges Made Against Him in the Moscow Trials, by the Preliminary Commission of Inquiry, John Dewey, Chairman, and others. Harper and Brothers, New York and London, 1937, Seite 617 ff.
»Not Guilty«, Report of the Commission of Inquiry Into the Charges made against Leon Trotsky in the Moscow Trials, by John Dewey, Chairman and others. Harper and Brothers, New York and London, 1938, Seite 422 ff.
Für das Verständnis des wirklichen Stalin und seines Verhaltens in den Tagen von Lenins Krankheit und Tod ist es aber erforderlich, hier einige Episoden des letzten der großen Prozesse, der im März 1938 begann, zu beleuchten.

Einen besonderen Platz auf der Anklagebank nahm Heinrich Jagoda ein, der sechzehn Jahre lang in der Tscheka und der GPU gearbeitet hatte, zuerst als Chef-Stellvertreter, später als Oberster Leiter – stets in engstem Kontakt mit dem Generalsekretär, der in ihm seinen zuverlässigsten Gehilfen im Kampf gegen die Opposition fand. Das System der Geständnisse von Verbrechen, die nie begangen worden sind, ist von Jagoda ausgearbeitet, wenn auch nicht von ihm ausgedacht worden. 1933 belohnte Stalin ihn, indem er ihn mit dem Lenin-Orden dekorierte, 1935 verlieh er ihm den Rang eines Generalkommissars für Staatssicherheit, das heißt, den eines Marschalls der Politischen Polizei, zwei Tage nur nachdem der brillante Tuchatschewsky zum Marschall der Roten Armee aufgestiegen war. In der Person Jagodas war eine Null befördert worden, jedem als solche bekannt und von allen verachtet; die alten Revolutionäre werden empörte Blicke gewechselt haben. Selbst innerhalb des diensteifrigen Politbüros wurde der Versuch gemacht, dagegen zu opponieren. Doch Stalin war an Jagoda durch einige Geheimnisse gebunden, und zwar, so schien es, für immer. Das mysteriöse Band riß jedoch auf mysteriöse Weise. Bei der großen »Säuberung« entschloß sich Stalin, zugleich den Komplicen zu liquidieren, der zuviel wußte. Im April 1937 wurde Jagoda verhaftet. Wie immer war Stalin darauf bedacht, sich mehrere zusätzliche Vorteile zu sichern: gegen das Versprechen einer Begnadigung willigte Jagoda ein, auf dem Prozeß die Verantwortung für die Verbrechen zu übernehmen, die das Gerücht Stalin zugeschrieben hatte. Natürlich wurde das Versprechen nicht gehalten: Jagoda wurde hingerichtet, damit auch der rechte Beweis dafür geliefert würde, daß Stalin und Moral miteinander unvereinbar sind. Doch gelangten auf dem Prozeß höchst aufschlußreiche Umstände an die Öffentlichkeit. Der Zeugenaussage seines Sekretärs und Vertrauten Bulanow nach, besaß Jagoda einen besonderen Giftschrank, welchem er gegebenenfalls die kostbaren Phiolen entnahm, um sie mit den entsprechenden Instruktionen seinen Agenten anzuvertrauen. Als früherer Apotheker interessierte sich das Oberhaupt der GPU für Gifte ganz besonders; er hatte mehrere Toxikologen in seinen Diensten, für die er ein besonderes Laboratorium eingerichtet hatte und die unkontrolliert über unbegrenzte Mittel verfügten. Es ist natürlich ausgeschlossen, daß Jagoda ein solches Unternehmen nur für seine persönlichen Zwecke gründen konnte. Im Gegenteil! Hier wie in anderen Fällen übte er lediglich seine offiziellen Funktionen aus. Als Giftmischer war er bloß instrumentum regni, so wie es die alte Lokusta an Neros Hof gewesen war – mit dem Unterschied, daß er seine Vorgängerin im Technischen weit hinter sich ließ.

An der Seite Jogadas saßen die vier Kremlärzte auf der Anklagebank, die des Mordes an Maxim Gorki und an zwei Regierungsmitgliedern beschuldigt wurden. »Ich gestehe, daß ... ich Arzneien verschrieben habe, die bei dieser Krankheit unangebracht sind ...« Also: »Ich bin verantwortlich für den vorzeitigen Tod von Maxim Gorki und Kuibyschew.« In den Tagen, als sich dieser Prozeß abspielte, dessen Untergrund aus Fälschungen bestand, erschien mir alles, die Anklage wie das Geständnis, den alten und kranken Schriftsteller vergiftet zu haben, als phantastisch. Spätere Informationen und eine aufmerksamere Analyse der Umstände bewogen mich, mein Urteil zu ändern. Alles an diesem Prozeß war nicht Lüge. Es gab Vergiftete und Giftmischer, und alle Giftmischer saßen nicht auf der Anklagebank. Der Hauptgiftmischer leitete telefonisch den Prozeß.

Gorki war weder ein Konspirator noch ein Politiker. Er war ein weichherziger alter Mann, ein Verteidiger der Erniedrigten, ein sentimentaler Protestler. Das war seine Rolle in den ersten Tagen der Oktoberrevolution gewesen. In der Zeit der Hungersnot während des ersten und des zweiten Fünfjahrplans war die Unzufriedenheit außerordentlich, und die Unterdrückung kannte keine Grenzen. Die Höflinge protestierten. Selbst Stalins Frau, die Allilujewa, protestierte. In solcher Atmosphäre war Gorki eine ernstliche Gefahr. Er korrespondierte mit europäischen Schriftstellern, Ausländer kamen zu ihm zu Besuch, die Opfer wandten sich an ihn, er formte die öffentliche Meinung. Noch weit unmöglicher wäre es Gorki aber gewesen, der Ausrottung der alten Bolschewiki zuzustimmen, die Stalin vorbereitete; Gorki hatte zu den alten Bolschewiki jahrelang in nahen Beziehungen gestanden. Ein öffentlicher Protest Gorkis gegen die Polizeikomplotte hätte in den Augen der ganzen Welt sofort den hypnotischen Zauber der Stalinschen Justiz gebrochen.

Ihn zum Schweigen zu veranlassen, daran war nicht zu denken. Ihn zu verhaften, auszuweisen, gar ihn hinzurichten, war noch weniger vorstellbar. Die Idee, sein Ende mit Hilfe Jagodas und »ohne Blutvergießen« zu beschleunigen, mußte dem Diktator vom Kreml als der unter den gegebenen Umständen einzig mögliche Ausweg erscheinen. Stalins Gemüt ist so beschaffen, daß sich ihm solche Entschlüsse mit der Durchschlagskraft von Reflexen aufdrängen. Nachdem er den Auftrag übernommen hatte, wandte sich Jagoda an seine »eigenen« Mediziner. Er riskierte nichts. Eine Weigerung hätte, Dr. Lewins Worten nach, »den Ruin für mich und meine Familie bedeutet«. Außerdem »ist es vollständig ausgeschlossen, Jagoda zu entkommen. Er ist ein Mensch, der vor nichts zurückschreckt. Der kriegt einen, und wenn man sich unter der Erde versteckt«.

Warum aber beschwerten sich die autorisierten und respektierten Kremlärzte nicht bei den Mitgliedern der Regierung, die sie alle gut kannten, waren es doch ihre Patienten? Allein auf der Liste Dr. Lewins stehen vierundzwanzig Funktionäre von höchstem Rang, darunter Mitglieder des Politischen Büros und des Rates der Volkskommissare. Die Antwort lautet, daß Dr. Lewin genau so gut wußte, wie jeder andere innerhalb und außerhalb des Kremls, wessen Agent Jagoda war. Dr. Lewin unterwarf sich Jagoda, weil er gegen Stalin machtlos war.

Was Gorkis Unzufriedenheit betrifft, seine Bemühungen um eine Reise ins Ausland, Stalins Weigerung, ihm einen Paß ausstellen zu lassen – so war das bekannt und wurde im Flüsterton diskutiert. Gleich nach dem Tode des großen Schriftstellers tauchte der Verdacht auf, daß Stalin den zerstörerischen Kräften der Natur Vorschub geleistet habe. Einer der Gründe für den Prozeß war, Stalin von diesem Verdacht reinzuwaschen. Daher die wiederholten Bekundungen Jagodas, der Ärzte und der anderen Angeklagten, daß Gorki »ein intimer Freund Stalins« gewesen sei, »ein zuverlässiger Freund«, »ein Stalinist«, daß er die Politik des »Führers« vollkommen gebilligt und »mit ungewöhnlichem Enthusiasmus« von Stalins Rolle gesprochen habe. Wenn nur die Hälfte davon wahr wäre, hätte Jagoda es nie auf sich genommen, Gorki umzubringen und noch viel weniger hätte er gewagt, einen Kremlarzt mit einem solchen Werk zu beauftragen, der sich seiner hätte mit einem einfachen Anruf bei Stalin entledigen können.

Das ist nur ein »Detail« aus einem einzigen Prozeß. Und es gab viele Prozesse und zahlreiche »Details«. Alle tragen sie den unverwischbaren Stempel Stalins. Im Grunde ist alles sein Werk. In seinem Büro auf und ab wandernd, studiert er aufs genaueste die verschiedensten Pläne, mit denen er irgendeinen, der ihm mißfällt, auf die unterste Stufe der Demütigung hinunterbringen kann, zur verlogenen Denunziation seiner besten Freunde, zum schrecklichsten, zum Selbstverrat. Für den, der trotz alledem widersteht, ist immer eine kleine Phiole bereit. Nur Jagoda ist verschwunden, sein Giftschrank ist geblieben.

In dem Prozeß von 1938 klagte Stalin ganz nebenbei Bucharin an, im Jahre 1918 ein Attentat auf Lenin geplant zu haben. Der naive und feurige Bucharin verehrte Lenin, liebte ihn, wie ein Kind seine Mutter liebt, und bewahrte, wenn er mit ihm polemisierte, stets die kniefällige Haltung des Schülers. Bucharin, »weich wie Wachs«, um Lenins Ausdruck zu gebrauchen, hatte und konnte keine persönlichen Ambitionen haben. Wenn jemand vor der Stalinschen Ära vorausgesagt hätte, daß ein Tag kommen würde, wo Bucharin des Mordversuchs an Lenin angeklagt werde, dann hätten wir alle gelacht und Lenin mehr als jeder andere – er hätte vorgeschlagen, einen solchen Propheten ins Irrenhaus zu stecken. Warum also greift Stalin zu einer so ganz offensichtlich absurden Anschuldigung? Die Vermutung, die die höchste Wahrscheinlichkeit für sich hat, ist, daß eben das Stalins Antwort auf Bucharins unvorsichtigerweise geäußerten Verdacht gegen Stalin selbst war. Ganz allgemein sind die Anklagen nach diesem Modell zugeschnitten. Die wesentlichen Elemente der Stalinschen Polizeikomplotte sind keine reinen Phantasieprodukte; sie sind der Wirklichkeit entnommen – meist Handlungen oder Plänen des »Kochs« selbst. Derselbe defensiv-offensive »Stalin-Reflex«, der sich im Falle von Gorkis Tod so klar gezeigt hat, zeigt sich ebenfalls mit all seiner Gewalt im Falle von Lenins Tod. Im ersten Falle hat Jagoda mit seinem Leben gebüßt, im zweiten – Bucharin.

Ich stelle mir vor, daß die Dinge etwa folgendermaßen verliefen. Lenin bat Ende Februar 1923 um Gift. Anfang März war er noch gelähmt. Die ärztliche Prognose war zu diesem Zeitpunkt mit Vorbehalt ungünstig. Stalin fühlte sich selbstsicherer und begann so zu handeln, als sei Lenin schon tot. Der Kranke spielte ihm aber einen Streich. Sein kräftiger Organismus, von einem unbeugsamen Willen gehalten, behauptete sich. Gegen den Winter zu begann sich Lenins Zustand langsam zu bessern und erlaubte ihm, sich freier zu bewegen, sich vorlesen zu lassen und selbst zu lesen; das Sprachvermögen kehrte zurück. Der ärztliche Befund gab mehr und mehr Hoffnung. Lenins Wiederherstellung hätte natürlich nicht verhindern können, daß die Revolution der bürokratischen Reaktion Platz machte; die Krupskaja hatte ihre guten Gründe, als sie 1926 sagte: »Wenn Wolodja lebte, würde er jetzt im Gefängnis sitzen!«

Für Stalin ging es nicht um den allgemeinen Kurs der Revolution, sondern vielmehr um sein eigenes Geschick: entweder konnte er sofort, an diesem Tage noch, so manöverieren, daß er Herr des politischen Apparats und damit der Partei und des Landes wurde, oder aber er wurde für den Rest seines Lebens auf einen drittrangigen Platz verwiesen. Stalin wollte die Macht, alle Macht, was da auch kommen mochte: schon hielt er sie fest in der Hand, das Ziel war nahe, aber die von Lenin drohende Gefahr war noch näher. In diesen Tagen muß Stalin klar geworden sein, daß unverzügliches Handeln geboten war. Er hatte überall Komplicen, die auf Gedeih und Verderb mit ihm verbunden waren. Der Apotheker Jagoda stand bereit. Ob Stalin Lenin das Gift zukommen ließ, indem er darauf anspielte, daß die Ärzte alle Hoffnung aufgegeben hätten, oder ob er mehr direkte Mittel anwandte, das weiß ich nicht. Aber ich bin fest davon überzeugt, daß Stalin da nicht untätiger Zuschauer bleiben konnte, wo sein Lebensschicksal auf dem Spiel stand und die Entscheidung abhing von einer kleinen, sehr kleinen Bewegung seiner Hand.

Kurz nach Mitte Januar 1924 reiste ich nach Suchum im Kaukasus ab, um zu versuchen, dort von einer hartnäckigen, mysteriösen Infektion geheilt zu werden, deren Natur meinen Ärzten bis heute ein Rätsel geblieben ist. Die Nachricht von Lenins Tod erreichte mich auf der Fahrt. Einer weitverbreiteten Auffassung nach habe ich die Macht verloren, weil ich bei den Trauerfeierlichkeiten nicht zugegen war. Das erklärt wohl kaum ernstlich etwas. Doch hat die Tatsache meiner Abwesenheit bei der Trauerkundgebung für Lenin bei vielen meiner Freunde schwere Besorgnis hervorgerufen. In dem Schreiben meines damals knapp achtzehn Jahre zählenden ältesten Sohnes lag ein Gran jugendlicher Verzweiflungsstimmung: Ich hätte um jeden Preis kommen sollen! Das war gewiß auch meine Absicht. Das Chiffretelegramm mit der Nachricht vom Tode Lenins erreichte meine Frau und mich auf dem Bahnhof von Tiflis. Ich sandte sofort eine chiffrierte Note an den Kreml: »Ich halte es für notwendig, nach Moskau zurückzukommen. Wann findet die Trauerfeier statt?« Eine Stunde später traf die Antwort aus Moskau ein: »Die Trauerfeier findet am Sonnabend statt. Sie werden nicht rechtzeitig zurück sein können. Das Politbüro meint, daß Sie wegen Ihres Gesundheitszustands Ihre Reise nach Suchum fortsetzen müssen – Stalin.«

Ich glaubte nicht, nur meinetwegen einen Aufschub der Feierlichkeiten verlangen zu können. Erst in Suchum, als ich in Decken gehüllt auf der Veranda eines Sanatoriums lag, erfuhr ich, daß sie auf Sonntag verlegt worden waren. Die ganzen Umstände der Festsetzung des Datums der Trauerfeier und deren späterer Verschiebung sind so verwickelt, daß sie nicht in wenigen Zeilen klargelegt werden können. Stalin manöverierte und täuschte nicht nur mich, sondern anscheinend auch seine Verbündeten vom Triumvirat. Zum Unterschiede von Sinowjew, der jede Frage vom Standpunkt der unmittelbaren Agitationswirkung aus sah, ließ sich Stalin bei seinen gewagten Manövern von viel handgreiflicheren Erwägungen leiten. Er mag gefürchtet haben, daß ich einen Zusammenhang zwischen Lenins Tod und dem Gespräch über das Gift im vergangenen Jahr herstellte, daß ich die Ärzte darüber befragte, ob eine Vergiftung vorliegen könne, daß ich eine spezielle Autopsie verlangte. Es war also in jeder Beziehung sicherer, mich fernzuhalten, bis der Körper einbalsamiert, die inneren Organe dem Feuer überantwortet und eine Untersuchung post mortem nicht mehr möglich war.

Als ich später in Moskau die Ärzte nach der unmittelbaren Ursache von Lenins Tod fragte, der für sie überraschend gekommen war, wußten sie darauf nichts Rechtes zu antworten. Die Krupskaja, die mir in wärmsten Worten nach Suchum geschrieben hatte, wollte ich mit Fragen über diese Dinge nicht peinigen. Mit Sinowjew und Kamenew knüpfte ich persönliche Beziehungen erst wieder zwei Jahre später an, nachdem sie mit Stalin gebrochen hatten. Sie vermieden augenscheinlich jede Diskussion über die Umstände von Lenins Tod, antworteten einsilbig und wichen meinen Blicken aus. Wußten sie etwas oder hatten sie nur einen Verdacht? Auf jeden Fall waren sie in den vergangenen drei Jahren mit Stalin zu eng verbunden gewesen, um nicht befürchten zu müssen, daß auch auf sie ein Schatten von Verdacht fallen würde.

Über Lenins Sarg verlas Stalin den auf ein Stück Papier geschriebenen Schwur, das Vermächtnis des Lehrers treu zu hüten, in jenem Predigtstil verfaßt, den er im Tifliser Theologenseminar erlernt hatte. Seinerzeit wurde dieser Schwur kaum beachtet. Heute steht er in allen Schulbüchern und nimmt den Platz der Zehn Gebote ein.

 

Die Namen Neros und Cäsar Borgias sind anläßlich der Moskauer Prozesse und der letzten internationalen Ereignisse öfter als einmal genannt worden. Wenn schon die Gespenster der Vergangenheit wieder heraufbeschworen werden, dann scheint es mir angemessen, nunmehr von einem Über-Nero und Über-Borgia zu sprechen, so bescheiden und so fast naiv erscheinen uns heute die Verbrechen jener Epochen, verglichen mit den Großtaten unserer Zeit. Immerhin ist es möglich, in solchen bloßen Personalanalogien eine tiefere geschichtliche Bedeutung zu entdecken. Die das zerfallende römische Imperium kennzeichnenden Gebräuche bildeten sich während des Übergangs von der Sklaverei zum Feudalismus heraus, des Übergangs vom Heidentum zum Christentum. Die Epoche der Renaissance bezeichnet den Übergang von der feudalen zur bürgerlichen Gesellschaft, vom Katholizismus zum Protestantismus und Liberalismus. In beiden Fällen war die alte Moral ausgehöhlt, bevor sich die neue gebildet hatte.

Wir leben abermals im Übergang von einem System zu einem andern, in einer Epoche der tiefsten gesellschaftlichen Krise, die wie immer von einer Krise der Moral begleitet ist. Die alte Moral ist in ihren Grundfesten erschüttert. Die neue hat kaum begonnen zu erscheinen. Wenn das Dach eingestürzt ist und Türen und Fenster aus den Angeln sind, dann ist das Haus traurig und das Leben in ihm hart. Heute fegt ein scharfer Wind über den ganzen Planeten. Alle traditionellen Grundsätze der Moralität werden mehr und mehr entwertet, nicht nur die, die Stalins Praxis herabgewürdigt hat.

Aber eine historische Erklärung ist keine Rechtfertigung. Auch Nero war ein Produkt seiner Epoche. Nichtsdestoweniger wurden, als er verschwunden war, seine Statuen zerbrochen und sein Name überall ausgelöscht. Die Rache der Geschichte ist schrecklicher als die des mächtigsten Generalsekretärs. Ich wage zu glauben, daß das tröstlich ist.


 << zurück weiter >>