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Zehntes Kapitel.
Der Bürgerkrieg II


Im Frühjahr 1919 unternahm die »Freiwilligenarmee« des Nordwestens unter dem Kommando des Generals Judenitsch unerwarteterweise eine Offensive und bedrohte Petrograd. Gleichzeitig fuhr die englische Flotte in den finnischen Meerbusen ein. Oberst Bulak-Balachowitsch stieß an der Spitze seiner Truppen gegen Pskow vor, die estländischen Truppen ihrerseits gingen auf der ganzen Frontlinie zum Angriff über. Am 14. Mai drückte das Armeekorps des Generals Rodsjanko die Front der Siebenten Armee ein – die dadurch sehr geschwächt war, daß ihr Truppen entzogen und an Fronten gesandt worden waren, an denen größere Aktivität herrschte – besetzte Jamburg und Pskow und nahm zu gleicher Zeit den Vormarsch gegen Gatschina, Petrograd und Luga auf. Der Kommandeur der Siebenten Armee, die in der Nähe von Petrograd stand, nahm mit Judenitsch Verbindung auf und organisierte eine Verschwörung in den Garnisonen, die die Hauptstadt der Oktoberrevolution umgaben: Kronstadt, Oranienbaum, Krassnaja Gorka, Sieraja Loschad, Krassnoje Selo. Die Verschwörer trafen im Einverständnis mit Judenitsch Vorbereitungen, um die Hauptstadt zugleich mit Judenitschs Truppen zu besetzen. Sie hofften auf Unterstützung durch die unzufriedenen Matrosen und auf aktive Hilfe seitens der Flotte. Aber die Matrosen der beiden sowjetischen Panzerkreuzer unterstützten den Aufstand nicht, und die englische Flotte beschränkte sich auf wachsames Abwarten. Das Unternehmen schlug fehl, aber am 12. Juni 1919 waren Krassnaja Gorka und Sieraja Loschad noch in Händen der Verschwörer, und während vier Tagen wurde kein Versuch gemacht, sie zu vertreiben. Schließlich wurde Krassnaja Gorka nach einem Artillerieduell mit Kronstadt am 16. Juni von einer Abteilung roter Matrosen eingenommen.

Stalin kam in den letzten Maitagen des Jahres 1919, vom Zentralkomitee der Partei und der Regierung mit außerordentlichen Vollmachten versehen, in Petrograd an. Zwei Wochen später telegrafierte er an Lenin:

 

Nach Krassnaja Gorka ist Sieraja Loschad auf dieselbe Weise liquidiert worden. Die Kanonen sind vollständig in Ordnung. Die Säuberung und Verstärkung des Forts und der Festungen werden aktiv durchgeführt. Die Marinespezialisten versichern, daß die Einnahme Krassnaja Gorkas von der Meerseite aus gegen alle Regeln der Seekriegswissenschaft ist. Alles, was ich dazu sagen kann, ist, daß man diese sogenannte Wissenschaft über den Haufen werfen muß. Die schnelle Einnahme von Gorka erklärt sich durch das brutalste Eingreifen in die militärischen Operationen durch mich und andere Zivilisten, das soweit ging, daß wir zu Land und Wasser bereits erteilte Befehle zurücknehmen ließen und die unsrigen durchsetzten. Ich halte es für meine Pflicht zu erklären, daß ich in Zukunft genau so handeln werde, trotz meines Respekts vor der Wissenschaft.

 

Lenin war über diesen Ton provokatorischer Prahlerei ungehalten. Von Petrograd aus war es in jedem Augenblick möglich, sich mit dem Kreml in Verbindung zu setzen, unfähige oder unzuverlässige Kommandeure abzuberufen und das Oberkommando straffer zu gestalten, das heißt, das zu tun, was die Parteiarbeiter an der einen oder der anderen Front taten, ohne dabei die elementaren Regeln einer angemessenen Haltung umzuwerfen, die für die Aufrechterhaltung freundschaftlicher Beziehungen unumgänglich sind, und ohne die Autorität des Oberkommandos und des Generalstabs zu untergraben. Stalin aber konnte so nicht handeln. Um sich anderen überlegen zu fühlen, mußte er sie beleidigen. Seine Arbeit bot ihm nur Befriedigung, wenn er seiner Verachtung für die ihm Unterstellten auf die gröbste Art Luft machen konnte. Da ihm kein anderes zur Verfügung stand, griff er zur Grobheit als dem Mittel, mit seinem besonderen Genie zu prunken, das in der Verachtung für Institutionen und Männer bestand, die allgemeine Achtung genossen. Sein Telegramm endete mit den Worten: »Sendet eiligst zwei Millionen Geschosse zu meiner Verwendung für sechs Divisionen.«

Dieses typisch Stalinsche Postskriptum deckt ein ganzes System auf. Die Armee hatte natürlich ihre eigenen Verantwortlichen für das Munitionswesen. Granaten waren immer nur in ungenügender Zahl vorhanden und mußten unter Zugrundelegung der verfügbaren Reserven und der jeweiligen Wichtigkeit der Fronten und der Armeen aufgeteilt werden. Über all das setzte sich Stalin hinweg. Er tat, als ob die Leitung für Munitionsversorgung nicht vorhanden wäre, und verlangte durch die Vermittlung Lenins Munition, und zwar nicht, um sie dem Armeekommando zuzustellen, sondern um sie zur eigenen Verfügung zu haben und sie wie ein Geschenk demjenigen Kommandeur zukommen lassen zu können, dem er imponieren wollte.

(Zehn Jahre später wurde dieser kurze Aufenthalt Stalins in Petrograd im Frühjahr 1919 von Woroschilow dazu benützt, eine neue Geschichtsfälschung vorzunehmen, die heute zu einem der unerhörtesten Mythen der Stalinlegende geworden ist: »Stalin, der Retter von Petrograd.« In Wirklichkeit) hat Judenitsch 1919 zweimal versucht, Petrograd einzunehmen – im Mai und noch einmal im Oktober.

Judenitschs erster Vorstoß wurde mit geringfügigen Kräften unternommen und diente nur der Erkundung; er wurde von der Partei, deren Aufmerksamkeit sich auf die Vorgänge an der Ost- und Südfront konzentrierte, praktisch nicht zur Kenntnis genommen. In den folgenden Monaten stellte Judenitsch, mehr denn je unterstützt von England und durch Estland gedeckt, eine neue, mit zahlreichen Offizieren und sehr guter Ausrüstung versehene Armee auf. Dieser zweite Versuch war die eigentliche Kampagne gegen Petrograd. Lenin nahm an, daß wir uns nicht an allen Fronten gleichzeitig würden verteidigen können, und schlug vor, Petrograd aufzugeben. Ich stellte mich dem entgegen. Die Mehrheit des Politbüros, mit Einschluß von Stalin, unterstützte mich. Ich war schon in Petrograd, als Lenin mir am 17. Oktober schrieb:

 

Habe die vergangene Nacht auf dem Verteidigungsrat verbracht. Ich sende Ihnen das Dekret, das beschlossen worden ist. Wie Sie sehen, ist Ihr Plan angenommen worden. Aber die Evakuation der Petrograder Arbeiter ist natürlich nicht rückgängig gemacht worden. (Es heißt, daß Sie in einem Gespräch mit Krassin und Rykow für diese Maßnahme eingetreten sind.) In der Anlage ein Appell, mit dessen Abfassung mich der Rat beauftragt hat. Ich war in Eile; er ist schlecht herausgekommen. Besser, meine Unterschrift unter die Ihrige zu setzen. Grüße.

Lenin.

 

Der Kampf um Petrograd nahm äußerst dramatischen Charakter an. Der Feind gelangte bis in Sichtweite der Hauptstadt, die sich auf den Straßenkampf vorbereitete. Ich zweifelte nicht daran, daß die fünfundzwanzigtausend Mann starke weiße Armee, selbst wenn es ihr gelänge, in die über eine Million Einwohner zählende Stadt einzudringen, dem Untergang geweiht war, wenn sie auf ernsthaften und gut organisierten Widerstand stieß. Darüber hinaus hielt ich es für notwendig – vor allem für den Fall, daß sich Estland und Finnland am Feldzug beteiligten –, für die Armee und die Arbeiter einen Rückzugsplan nach dem Südosten vorzubereiten: das war das einzige Mittel, die Elite der Petersburger Arbeiterklasse, der Ausrottung drohte, zu retten.

Der 21. Oktober wurde zum entscheidenden Tag; am 22. Oktober ergriff die Rote Armee ihrerseits die Offensive. Judenitsch hatte Zeit gehabt, Verstärkungen heranzuholen und seine Reihen wieder aufzufüllen. Die Kämpfe wurden immer heftiger. Am Abend des 23. Oktober nahmen wir Djetskoje Selo und Pawlowsk ein. Unterdes marschierte die Fünfzehnte Armee, die in der Nachbarschaft stand, von der Südseite aus heran und bedrohte mehr und mehr die rückwärtige und die rechte Flanke der Weißen. Nun erfolgte ein Umschwung. Jene Teile unserer Truppe, die von der Offensive überrascht worden und über eine Reihe von Rückschlägen in Aufregung geraten waren, übertrafen einander nun an Opfergeist und Heroismus. Mit Hinblick auf den wilden Charakter der Gefechte erließ ich am 24. Oktober einen Tagesbefehl, in dem es hieß: »Wehe dem unwürdigen Soldaten, der seine Waffe gegen einen Gefangenen erhebt!« Und nachdem drei unserer Torpedobootzerstörer auf Minen gelaufen waren, wiederholte ich meine Warnung: »... Aber selbst jetzt, wo wir den gedungenen Söldner Englands, Judenitsch, mit Erbitterung bekämpfen, fordere ich Euch auf, niemals zu vergessen, daß es nicht nur ein England gibt. Neben dem England des Profits und der Korruption gibt es ein England der Arbeit, das voll geistiger Kraft und dem Ideal der internationalen Solidarität ergeben ist. Wir haben das England der Börsenjobber gegen uns. Das werktätige England, das Volk, ist mit uns.« Mit den Aufgaben, die der Krieg stellte, verbanden wir eng die hehre Aufgabe der sozialistischen Erziehung.

Heute fällt es schwer, sich den Sturm von Begeisterung vor Augen zu führen, ja, sich seiner überhaupt zu entsinnen, der anläßlich des Sieges bei Petrograd losbrach. Sinowjew ließ mir folgendes Dokument zukommen:

 

Das rote Petrograd schützen; hieß, dem Weltproletariat und infolgedessen der Kommunistischen Internationale einen unschätzbaren Dienst leisten. Der erste Platz in der Verteidigung Petrograds kommt selbstverständlich Ihnen zu, teurer Genosse Trotzky. Im Namen des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale lasse ich Ihnen Fahnen überbringen, die ich Sie bitte, den verdienstreichsten Elementen der von Ihnen geführten glorreichen Roten Armee zu übergeben.

Sinowjew.

 

Ähnliche Dokumente erhielt ich vom Petrograder Sowjet, von den Gewerkschaften und anderen Organisationen. Ich übergab die Fahnen den verschiedenen Regimentern, meine Sekretäre klassierten die Dokumente in den Archiven. Die offizielle stalinistische Geschichtsschreibung lehrt jedoch heute, daß Petrograd von Stalin gerettet worden ist.

 

In den ersten Monaten des Jahres 1919 führte die Rote Armee einen entscheidenden Schlag gegen die Konterrevolution im Süden, wo deren Hauptstütze die Armee der Donkosaken unter dem Befehl des Generals Krasnow war. Hinter Krasnow aber zog Denikin im Kubangebiet und im nördlichen Kaukasus seine Armee zusammen. Mitte Mai ging unsere Armee weiter vor; sie war jedoch von den Anstrengungen des Feldzuges sehr mitgenommen und begann zurückzuweichen, als sie auf frische Truppen Denikins stieß. Schließlich verloren wir alles wieder, was wir gewonnen hatten, so vor allem die erst kürzlich von uns befreite Ukraine. An der Ostfront hingegen, die der ehemalige Oberst Kamenew mit Smilga und Laschewitsch als Mitgliedern des Kriegskomitees befehligte, hatte sich die Lage so weit gebessert, daß ich es für unnötig hielt, mich dorthin zu begeben. Vom Erfolg berauscht, nahmen Smilga, Laschewitsch und Gussew ihren Kommandeur auf die Schultern und sandten begeisterte Berichte über ihn nach Moskau. Als der Oberkommandierende Watsetis, prinzipiell mit meinem Einverständnis, vorschlug, die östliche Frontlinie den Winter über am Ural zu halten, um die Überführung mehrerer Divisionen an die Südfront möglich zu machen, an der die Lage bedrohlich wurde, setzte Kamenew, von Smilga und Laschewitsch unterstützt, dem einen lebhaften Widerstand entgegen.

Stalin bemächtigte sich dieses Konflikts zwischen der Ostfront und jenem Oberkommandierenden, der es offen verurteilt hatte, daß sich Stalin in strategische Fragen einmische. Stalin stand Watsetis feindselig gegenüber und wartete nur auf eine Gelegenheit, sich an ihm zu rächen. Jetzt war die Gelegenheit gekommen, Laschewitsch und Gussew schlugen, natürlich im Einverständnis mit Stalin, vor, Kamenew zum Oberkommandierenden zu ernennen. Die Erfolge, die die Ostfront davongetragen hatte, machten es möglich, Lenin für diese Ansicht zu gewinnen, und brachen meinen Widerstand. Kamenew wurde am 3. Juli 1919 zum Oberkommandierenden ernannt, und das Revolutionäre Kriegskomitee wurde vom Zentralkomitee folgendermaßen umgebildet: Trotzky, Skljansky, Gussew, Smilga, Rykow; Oberkommandierender S. Kamenew.

Die erste Aufgabe des neuen Oberkommandierenden war, einen Plan auszuarbeiten, der die Streitkräfte an der Südfront zusammenzufassen erlaubte. Kamenew zeichnete sich durch Optimismus und lebhafte strategische Einbildungskraft aus. Doch blieb seine Sicht immer ziemlich beschränkt. Die Bedeutung per sozialen Faktoren an der Südfront – der Arbeiter, der ukrainischen Bauern, der Kosaken – sah er nicht genügend klar. Er betrachtete die Südfront mit den Augen des Kommandeurs der Ostfront. Seiner Auffassung nach war es das richtigste, die aus dem Osten abkommandierten Divisionen längs der Wolga aufzustellen und den Angriff gegen den Kuban vorzutragen, wo sich Denikins Hauptquartier befand.

In strategischen Fragen hatte ich immer dem Oberkommandierenden das letzte Wort überlassen. Meine Vertrautheit mit der Südfront gab mir jedoch unmittelbar die Überzeugung ein, daß dieser Plan grundfalsch sei. Es war Denikin gelungen, seine Basis vom Kuban nach der Ukraine zu verlegen. Jetzt gegen die Kosaken vorgehen, hieß unbedingt, sie Denikin in die Arme treiben. Es war mir klar, daß der Hauptangriff der Linie entlang ausgelöst werden mußte, die Denikin von den Kosaken trennte – in einem Gebiet, in dem die ganze Bevölkerung gegen die Kosaken, gegen Denikin und für uns war. Mein Widerstand gegen den Plan Kamenews wurde aber als eine Fortführung des Konfliktes zwischen dem Kriegskomitee und der Ostfront ausgelegt. Smilga und Gussew, immer in Zusammenarbeit mit Stalin, behaupteten, daß ich gegen den Plan wäre, weil ich in den neuen Oberkommandierenden in bezug auf die allgemeinen strategischen Grundsätze kein Vertrauen setzte. Lenin teilte offenbar diese Befürchtung. Diese Auffassungen waren aber vollkommen falsch. Ich überschätzte Watsetis nicht. Ich hatte Kamenew durchaus freundschaftlich aufgenommen und bemühte mich, ihm seine Aufgabe in jeder Beziehung zu erleichtern. Doch lag der Irrtum seines Plans so klar zutage, daß ich mich entschloß, meine Demission einzureichen, als der Plan vom Politbüro bestätigt wurde, wo alle, mit Einschluß von Stalin, gegen mich gestimmt hatten. Am 5. Juli antwortete mir das Zentralkomitee mit folgendem Entscheid:

 

Das Organisationsbüro und das Politische Büro des Zentralkomitees haben die Erklärung des Genossen Trotzky in allen ihren Aspekten geprüft und diskutiert und sind einstimmig zu der Schlußfolgerung gekommen, daß sie auf keinen Fall seiner Bitte nachkommen und seine Demission akzeptieren können. Das Organisationsbüro und das Politische Büro werden alles tun, was von ihnen abhängt, um dem Genossen Trotzky die Arbeit an der Südfront – die augenblicklich die schwierigste, die gefährlichste und die wichtigste ist und die der Genosse Trotzky selbst gewählt hat – zu erleichtern und sie für die Republik so fruchtbar wie möglich zu gestalten. Als Volkskommissar für den Krieg und Vorsitzender des Revolutionären Kriegskomitees ist der Genosse Trotzky vollauf ermächtigt, auch als Mitglied des Kriegskomitees der Südfront gemeinsam mit dem von ihm selbst ernannten Frontkommandeur, den das Zentralkomitee bestätigt hat, zu handeln. Das Organisationsbüro und das Politische Büro lassen dem Genossen Trotzky völlige Freiheit, um mit allen Mitteln das zu erreichen, was er für eine Verbesserung an der Generallinie in der Militärfrage hält, und werden sich, wenn er es wünscht, bemühen, die Einberufung des Parteitages zu beschleunigen.

Lenin, Kamenew, Krestinsky, Kalinin, Serebrjakow, Stalin, Stassowa.

 

Wie man sieht, trägt dieser Beschluß auch die Unterschrift Stalins. Nachdem er hinter den Kulissen seine Intrige weitergesponnen und Lenin des Mangels an Mut und Festigkeit geziehen hatte, entschloß sich Stalin jedoch nicht dazu, im Zentralkomitee offene Opposition zu machen.

Ich zog meine Demission zurück und begab mich sofort an die Südfront.

Die Vorbereitung der Offensive an der Südfront ging inmitten ernsthafter Schwierigkeiten vor sich. Gegen Ende der ersten Augustwoche – das heißt, ungefähr eine Woche nach Auslösung der Offensive – stand das Politbüro vor mehreren Problemen von höchster Bedeutung. Es war völlig klar, daß Denikin seinen Angriff nicht in östliche Richtung, sondern gegen die Ukraine lenken wollte, um die Verbindung mit Rumänien und Polen herzustellen und seine Basis von Jekaterinodar nach Odessa und Sewastopol zu verlegen. Außer den Maßnahmen, die das Oberkommando traf, um dieser Gefahr zu begegnen, die für den Augenblick die ernsthafteste war, mußte sofort entschieden werden, was im Hinblick auf die in der Ukraine unmittelbar bevorstehende Schlacht unternommen werden sollte. Vor allem war es unerläßlich, die Verbindung zwischen der Zwölften und der Vierzehnten Armee herzustellen, die, da es an telegrafischen Leitungen fehlte, von der Südfront abgeschnitten war. Nicht nur hatten sich ihre rückwärtigen Abteilungen schon miteinander verschmolzen, sondern beide Armeen waren überhaupt mehr und mehr gezwungen, gegen denselben Feind, nämlich Denikin, vorzugehen. Infolgedessen schlug ich vor, die Vierzehnte Armee der Befehlsgewalt der Südfront zu entziehen, die Kommandogewalt über die beiden Armeen in der Person des Kommandeurs der Vierzehnten Armee, Jegorow, und seines Stabes zu vereinigen, diese neue Frontgruppe als Südwestfront zu bezeichnen, deren Hauptquartier in Konotop sein würde, und sie der Befehlsgewalt des Oberkommandierenden und des Generalstabs zu unterstellen. Um an dieser Front ein Mindestmaß von Kampfkraft aufrechtzuerhalten, war es vorerst notwendig, mit Hilfe von kommunistischen Einheiten, die für eine Zeitlang aus ruhigeren Frontabschnitten herauszuziehen waren, eine außergewöhnliche Anstrengung zu machen, die dem Räuberunwesen und der Zerstörung der Eisenbahnlinien ein Ende setzen würde. Alle zur Verfügung stehenden roten Offiziere wurden sofort mit Sonderzügen in die Ukraine überführt. Alle zu anderen Armeen beorderten Parteiarbeiter wurden gleicherweise mit aller Ausrüstung, die aufgetrieben werden konnte, dorthin gesandt. Der Zwölften Armee fehlte es an Munition. Die Kriegskomitees beider Armeen waren schwach. Im Einverständnis mit dem ukrainischen Verteidigungsrat und den Kriegskomitees beider Armeen wurde Woroschilow dazu bestimmt, den Kampf gegen die Rebellion im Rücken der Armeen zu leiten.

(Ähnliche Schwierigkeiten, obwohl von je nach dem Gebiet verschiedener Natur, tauchten überall und in jedem Augenblick auf. Lenin war sehr besorgt. Noch zu Beginn der Offensive schrieb er an Skljansky:)

 

Ich bin krank. Muß das Bett hüten. Antworten Sie also durch Boten. Der Zeitraum für die Offensive in Richtung Woronesch (vom 1. bis zum 10. August!) ist ungeheuerlich. Denikins Erfolg ist alarmierend.

Was geht vor? Sokolnikow sagt, daß unsere Kräfte dort unten viermal stärker waren als die des Feindes.

Was ist also los? Wie konnten wir derart die Gelegenheit verpassen?

Sagen Sie dem Oberkommandierenden, daß die Sache so nicht weitergehen kann. Er muß ihr seine ganze Aufmerksamkeit widmen.

Lenin, Vorsitzender des Verteidigungsrates.

 

(Die Offensive an der Südfront begann nach den Plänen S. Kamenews Mitte August. Sechs Wochen später, Ende September) schrieb ich an das Politbüro, das meinen Plan zurückgewiesen hatte: »Die längs der Linie des größten Widerstandes eingeleitete Offensive hat sich wie vorausgesehen als ausschließlich zugunsten Denikins verlaufend herausgestellt ... Jetzt ist unsere Lage schlimmer, als sie es war, als der Generalstab seinen a priori gefaßten Plan auszuführen begann. Es wäre kindisch, das nicht sehen zu wollen.« Zu diesem Zeitpunkt war der fatale Irrtum des Plans vielen seiner ehemaligen Verteidiger klar geworden, so auch Laschewitsch, der von der Ostfront an die Südfront überstellt worden war. Drei Wochen früher, am 6. September, hatte ich von der Front aus dem Oberkommandierenden und dem Zentralkomitee telegrafiert, daß sich »der kritische Schlachtenpunkt an der Südfront in die Richtung Kursk-Woronesch verlagert hat, wo keine Reserven vorhanden sind.« Ich hatte gleicherweise die Aufmerksamkeit auf folgende Probleme gelenkt:

»Die Bestrebungen, Mamontow zu liquidieren, haben bisher kein praktisches Resultat gezeitigt. Die motorisierten Maschinengewehrabteilungen sind nicht aufgestellt worden, weil keine Maschinengewehre und nicht die kleinste Anzahl von Automobilen eingetroffen sind. Mamontow sucht offensichtlich seine Truppen an der Kursker Front aufzustellen. Unsere schwachen und zerstreuten Infanterie-Einheiten stören ihn kaum. Laschewitschs Kommandeur ist durch das Fehlen von Verbindungen paralysiert. Die Gefahr eines Durchbruchs im Abschnitt Kursk-Woronesch wird sichtbar. Laschewitschs nächste Aufgabe wäre, den Feind zu verfolgen, um zu versuchen, die Lücke zu stopfen.«

Darüber hinaus schlug ich vor, daß die Armeen einige Umstellungen vornehmen sollten, die auf ein Fallenlassen des fehlgeschlagenen Plans hinausliefen. Serebrjakow und Laschewitsch unterzeichneten mit mir das Telegramm. Doch der neue Oberkommandierende hielt ebenso hartnäckig an seinem Irrtum fest wie sein Vorgänger, und das Politbüro gewährte ihm weiterhin entschiedene Unterstützung. Am selben Tage, dem 6. September, empfing ich in Orel folgende Antwort: »Das Politische Büro des Zentralkomitees, das das Telegramm von Trotzky, Serebrjakow und Laschewitsch geprüft hat, hat die Antwort des Oberkommandierenden bestätigt und drückt seine Verwunderung darüber aus, daß versucht wird, den angenommenen strategischen Plan wieder in Frage zu stellen. – Lenin.«

Der Verlauf der Kriegshandlungen während der beiden verflossenen Monate hatte den ursprünglichen Plan veralten lassen; außerdem waren in diesen zwei Monaten andauernder fruchtloser Schlachten viele Straßen vollständig zerstört worden, und die Zusammenfassung der Reserven war unvergleichlich schwieriger als im Juni oder Juli. Eine Umgruppierung der Kräfte war also um so notwendiger. Ich regte an, das berittene Korps Budjennys im Eiltempo nach Nordosten zu senden und mehrere andere Einheiten in diese Richtung zu überführen. (Aber das Politbüro, selbstverständlich mit Einschluß Stalins, fuhr damals fort, diese und andere Vorschläge zurückzuweisen, und bestätigte systematisch) die Anweisungen des Oberkommandierenden, (der weiterhin wiederholte, daß) »der grundlegende Plan eines Vormarsches nach Süden unverändert bestehen bleibt; mit anderen Worten, der Hauptangriff muß von der Sondergruppe Schorin ausgelöst werden, deren Aufgabe darin besteht, den Feind im Don- und im Kubangebiet zu vernichten«. Indes hatte sich die Offensive völlig festgefahren. Die Situation im Kubangebiet, wohin die besten Truppen geschickt worden waren, wurde äußerst ernst, während Denikin nach Norden vorstieß.

»Um den Operationsplan einzuschätzen«, schrieb ich Ende September, »ist es nicht ohne Nutzen, die Resultate zu betrachten. Die Südfront hat mehr Kräfte erhalten als jemals irgendeine andere Front; zu Beginn der Offensive verfügte sie über nicht weniger als hundertachtzigtausend Bajonette und Säbel und eine entsprechende Anzahl von Kanonen und Maschinengewehren. Nach anderthalb Monaten Kampf stecken wir in der Osthälfte beunruhigend fest und sehen in der Westhälfte einen schwierigen Rückzug, den Verlust von Einheiten, die Zerstörung der Organisation ... Der Grund für die Niederlage ist ausschließlich im Operationsplan zu suchen. Einheiten von mittlerem Wert sind in Ortschaften geleitet worden, die ausschließlich von Kosaken bewohnt sind, die uns nicht bedrohten, die aber ihre Dörfer und Heimstätten verteidigten. Die Atmosphäre eines nationalen Krieges des Dongebiets übte einen demoralisierenden Einfluß auf unsere Einheiten aus. Unter diesen Umständen erhielt der geschickt manövrierende Denikin durch seine Tanks ein enormes Übergewicht.«

Bald war nicht länger die Rede vom Plan, sondern von seinen vernichtenden materiellen und psychologischen Folgen. Der Oberkommandierende, der hier der Maxime Napoleons folgte, hatte anscheinend gehofft, daß er, indem er auf seinem Irrtum beharrte, aus diesem doch noch alle irgendmöglichen Vorteile herausholen und schließlich den Sieg davontragen könnte. Das Politbüro, obschon es das Vertrauen verlor, hielt dennoch an der eigenen Entscheidung fest. Am 21. September gaben unsere Truppen Kursk auf. Am 13. Oktober nahm Denikin Orel ein, das ihm die Straße nach Tula öffnete, wo die bedeutendsten Fabriken konzentriert waren und jenseits dessen Moskau lag. Ich stellte das Politbüro vor die Alternative: entweder die Strategie ändern oder Tula räumen, die dortige Kriegsindustrie zerstören und den Widerstand gegen die direkte Bedrohung Moskaus organisieren. Nunmehr gab der Oberkommandierende, der schon selbst seinen Plan teilweise hatte fallen lassen, seinen Starrsinn auf, und das Politbüro unterstützte ihn nicht länger. Mitte Oktober war die Umgruppierung unserer Kräfte im Hinblick auf die Offensive vollzogen. Eine Heeresgruppe wurde im Nordosten von Orel für die Aktion gegen die Bahnstrecke Kursk-Orel zusammengezogen. Eine andere Gruppe, an deren Spitze das Reiterkorps Budjennys stand, wurde im Osten von Woronesch aufgestellt. Das entsprach durchaus dem Plan, für den ich vergeblich eingetreten war. (Die neuesten Darstellungen dieser Periode durch die stalinistische Geschichtsschreibung sind lehrreich. In einer heißt es:)

Im September und Anfang Oktober hatte Denikin beträchtliche Erfolge an der Südfront. Am 13. Oktober nahm er Orel ein. Um die äußerst schwierige und bedrohliche Lage zu verbessern, die sich aus den weittragenden Niederlagen an der Südfront ergeben hatte, sandte das Zentralkomitee der Partei den Genossen Stalin zum Kriegskomitee dieser Front. Der Genosse Stalin arbeitete einen neuen strategischen Plan für den Kampf gegen Denikin aus, der von Lenin und dem Zentralkomitee der Partei gutgeheißen wurde. Die Durchführung dieses Plans bewirkte die vollständige Niederlage und den Zusammenbruch Denikins.

(Stalins eigene Version über den Schöpfer jenes Plans, der uns den Sieg gebracht hat und den Verantwortlichen für den Plan, der uns so teuer zu stehen gekommen ist, ist je nach der Epoche verschieden. 1923 schilderte Stalin die Ereignisse an der Südfront, angeblich um einige politische Grundsätze klarzustellen, in Wirklichkeit, um seine eigenen politischen Ziele zu fördern:)

Eine Analogie zwischen diesen Grundsätzen der politischen Strategie und den Grundsätzen der militärischen Strategie kann leicht gebildet werden; nehmen wir zum Beispiel ... den Kampf gegen Denikin. Jeder erinnert sich an das Ende des Jahres 1919, als sich Denikin Tula näherte. Zu dieser Zeit fanden unter den Militärs interessante Diskussionen über die Frage statt, von wo aus der entscheidende Schlag gegen die Armeen Denikins geführt werden sollte. Gewisse militärische Führer ... schlugen die Linie Zaritzyn-Noworossijsk vor, andere ... die Linie Woronesch-Rostow. Der erste Vorschlag war nicht günstig, weil er beinhaltete, daß unser Vormarsch mitten durch der Sowjetregierung feindliche Gebiete führte, was schwere Opfer kosten mußte; er war auch deshalb gefährlich, weil er den Armeen Denikins über Tula und Serpuchow den Weg nach Moskau eröffnete. Der zweite Plan ... war der einzig richtige, weil er den Marsch unserer Hauptgruppen durch Gebiete vorsah, die mit der Regierung sympathisierten und infolgedessen keine außergewöhnlichen Opfer verlangte; außerdem desorganisierte er die Tätigkeit der Hauptgruppen Denikins, die auf Moskau marschierten. Die meisten militärischen Führer sprachen sich für den zweiten Plan aus. So wurde das Schicksal Denikins besiegelt.

Es mochte scheinen, als bediene sich Stalin dieser Darstellung nur als einer zufälligen Illustration für gewisse Konzeptionen auf dem Gebiete der politischen Taktik. In Wirklichkeit war diese Illustration durchaus nicht zufällig gewählt. Wir befanden uns im Jahre 1923; Stalin sah einen heftigen Angriff von Lenin her kommen; deswegen versuchte er systematisch, Lenins Autorität zu untergraben. In den leitenden Kreisen der Partei wußte man sehr wohl, daß hinter dem irrtümlichen und kostspieligen Plan nicht nur »gewisse militärische Führer« gestanden hatten, sondern die Mehrheit des Politbüros mit Lenin an der Spitze. Er zog es jedoch vor, von einer Meinungsverschiedenheit unter den »Militärs« zu reden, ohne den Kampf im Innern des Politbüros zu erwähnen. Er wußte, daß sich die leitenden Parteiarbeiter sehr gut daran erinnerten, daß der zweite Plan der meinige gewesen war, für den ich seit Juli eingetreten war und für den er erst Ende Oktober oder Anfang November eintrat, nachdem der Oberkommandierende selbst auf sein eigenes Projekt praktisch vollständig verzichtet hatte. Am 19. November 1924 aber, zehn Monate nach dem Tode Lenins, ging Stalin sehr viel weiter. Er machte damals den ersten Versuch, die Kämpfe an der Südfront in einer gegen mich gerichteten, absichtlich verlogenen Weise darzustellen:

Es war im Herbste 1919. Die Offensive gegen Denikin war gescheitert .. . Denikin nahm Kursk ein. Denikin ging gegen Orel vor. Der Genosse Trotzky wurde von der Südfront geholt, um an einer Sitzung des Zentralkomitees teilzunehmen. Das Zentralkomitee hielt die Lage für bedrohlich und beschloß, neue militärische Kräfte an die Südfront zu bringen und den Genossen Trotzky abzuberufen. Die neuen Kräfte verlangen die ›Nichteinmischung‹ des Genossen Trotzky in die Angelegenheiten der Südfront. Der Genosse Trotzky ist nicht mehr direkt an den Angelegenheiten der Südfront beteiligt. Die Operationen an dieser Front werden fortgesetzt, bis zur Einnahme von Rostow am Don und von Odessa, die ohne den Genossen Trotzky stattfindet. Man versuche doch, diese Tatsachen zu leugnen!

Es ist richtig, daß ich die Südfront am 10. Oktober verlassen hatte, um nach Petrograd zu gehen. Unser Gegenangriff an der Südfront sollte mit diesem Datum beginnen. Alles war vorbereitet; die Zusammenfassung unserer Einheiten für den Angriff war fast vollständig durchgeführt, und meine Gegenwart war weit mehr nötig in Petrograd, das in diesem Augenblick in der großen Gefahr stand, von Judenitsch eingenommen zu werden. Wenn ich auf die drei Jahre Bürgerkrieg zurückschaue und mir meine Aufzeichnungen und meine Korrespondenz über meine Reisen an die verschiedenen Fronten ansehe, muß ich feststellen, daß ich fast nie Gelegenheit hatte, eine siegreiche Armee zu begleiten, an einem Angriff teilzunehmen, die Siege einer Armee mit ihr zu teilen. Meine Reisen waren sicherlich alles andere als Spazierfahrten. Ich ging nur in die bedrohten Abschnitte, in denen der Feind unsere Front eingedrückt hatte. Meine Aufgabe war, die Regimenter aufzuhalten, die flohen, und sie an die Front zum Angriff zurückzuführen. Ich zog mich mit unseren Truppen zurück, ging aber niemals mit ihnen vor. Sobald die zurückflutenden Divisionen wieder Vertrauen gewonnen und der Kommandeur das Signal zum Vormarsch gegeben hatte, sagte ich der Armee Lebewohl und ging an einen anderen in Schwierigkeiten geratenen Abschnitt oder kehrte für einige Tage nach Moskau zurück, um die Probleme zu behandeln, die sich inzwischen angehäuft hatten. So hatte ich während der drei Jahre nicht ein einziges Mal Gelegenheit, nach dem Siege die glückstrahlenden Gesichter der Soldaten zu sehen oder mit ihnen in eroberte Städte einzumarschieren. Während der ganzen Periode unserer siegreichen Offensive besuchte ich die Südfront nicht ein einziges Mal. Stalins Fälschung besteht darin, daß er einer unleugbaren Tatsache eine völlig falsche Bedeutung unterlegt.

(Hier wird aber noch nicht suggeriert, daß Trotzky der Urheber des Plans ist, dem das Mißlingen der Juli-September-Offensive gegen Denikin geschuldet ist.) Noch läuft alles nur auf eine nicht näher spezifizierte Anspielung auf neue militärische Ratgeber hinaus, die (von wem?) die »Nichteinmischung« Trotzkys gefordert hätten. In Wirklichkeit waren die 13 Dekrete, die das Zentralkomitee am 15. Oktober erließ, von mir schriftlich vorgeschlagen und von allen Mitgliedern einstimmig angenommen worden, das heißt, auch von Stalin, Lenin, Kamenew und Krestinsky; diese Dekrete betrafen die Kommission, die, in Übereinstimmung mit meinen Vorschlägen, beauftragt war, neue Parteiarbeiter an die Südfront zu beordern, um die alten abzulösen, die durch die ständigen Niederlagen ermüdet und entmutigt wären. Stalin gehörte nicht zu denen, die an die Front gesandt wurden. Wer von ihnen meine »Nichteinmischung« verlangt hätte und von wem, das sagt Stalin nicht. (Woroschilow erklärte 1929:)

Stalin formulierte vor dem Zentralkomitee drei Hauptbedingungen: 1. Trotzky darf sich in die Angelegenheiten der Südfront nicht einmischen und darf die Demarkationslinie nicht überschreiten; 2. eine ganze Reihe von Parteiarbeitern, die Stalin für unfähig hält, die Kampfkraft der Truppen wiederherzustellen, müssen sofort von der Südfront abberufen werden; und 3. an diese Front werden sofort neue, von Stalin ausgesuchte Parteiarbeiter geschickt, die imstande sind, diese Aufgabe zu erfüllen. Diese Bedingungen wurden vollständig angenommen.

Wo? Wie? Wann? Von wem? Weder Stalin noch sein Satellit antworten auf diese Fragen. Indem er jedoch die Revision des falschen Plans auf Stalins Habenseite buchte, wagte Woroschilow 1929 noch nicht zu behaupten, daß der falsche Plan mein Plan gewesen wäre. Indem er über diesen Punkt nichts sagte, gab er stillschweigend zu, daß ich ein Gegner dieses Plans gewesen war. In der neuesten Geschichtsschreibung aber wird diese Lücke ausgefüllt. (Jetzt wird kraft der Autorität Sinaida Ordschonikidses verkündet:)

Stalin ... wies kategorisch den alten Plan zur Vernichtung Denikins zurück, den das von Trotzky geleitete Hauptquartier aufgestellt hatte ... »Dieses unsinnige Projekt eines Marsches durch eine feindliche Gegend ohne Straßen, droht uns den vollständigen Untergang zu bringen«, schrieb er in einer Note an Lenin ... Das Leben selbst hatte diesen Plan verworfen, und darum stellte Stalin einen Plan für den Vormarsch der Roten durch das proletarische Charkow und das Donezbecken nach Rostow auf ... Die Strategie des großen Stalin sicherte der Revolution den Sieg.

Stalin wiederholte (in seiner »Note«) nur Wort für Wort die Argumente gegen den Juli-September-Plan, die ich seinerzeit sowohl schriftlich wie mündlich auseinandergelegt hatte und die von der Mehrheit des Politbüros zurückgewiesen worden waren. Da alle Mitglieder des Politbüros über diese Dinge auf dem laufenden waren, konnte es Stalin damals nicht in den Sinn kommen, mir die Verantwortung für den alten Plan zuzuschieben. Im Gegenteil, er tadelte den Oberkommandierenden und den diesem attachierten »jungen Kampfstrategen« Gussew, auf den er im Juli beim Kommandowechsel gesetzt hatte.

(Am 4. Dezember 1919 berichtete Iwan Smirnow von der Ostfront, daß) »Koltschak seine Armee verloren hat ... Es wird keine Kämpfe mehr geben ... Das Tempo der Verfolgung ist dermaßen schnell, daß Barnaul und Nowonikolajewsk am 20. Dezember in unseren Händen sein werden«. (Judenitsch war im Nordosten vollständig geschlagen worden. Denikin floh nach Süden. Seine Versuche, die Bauernschaft durch zweifelhafte »Agrarreformen« zu gewinnen, waren fehlgeschlagen, die Großgrundbesitzer konnten ihn infolge der Niederlage, die ihm die Rote Armee beigebracht hatte, nicht mehr unterstützen – Denikin verlor das Vertrauen der Weißen. Am 26. März 1920 gab er seinen Oberkommandierendenposten zugunsten Wrangels auf, dem es gelungen war, die zersprengten weißgardistischen Gruppen in der Krim wieder zusammenzufassen.)

(Die Weißen gingen immer wieder gegen die roten Kavallerie- und Infanterie-Einheiten an der Kaukasusfront vor, wo unsere Reihen nicht nur durch die Kampfverluste, sondern auch durch eine Typhusepidemie dezimiert worden waren. Erhoffte Verstärkungen und Verpflegung trafen wegen des jämmerlichen Zustands der Eisenbahnen nicht ein. Energische Maßnahmen waren notwendig. Lenin und Trotzky sandten Stalin, der damals im Kriegskomitee der Südwestfront war, folgendes Telegramm:)

 

Das Zentralkomitee hält es für notwendig, daß Sie sich sofort an den westlichen Flügel der Kaukasusfront begeben. Treffen Sie alle notwendigen Maßnahmen für die Überführung von beträchtlichen Verstärkungen und von Arbeitern von der Südwestfront.

3. Februar 1920.

Lenin, Trotzky.

(Wir haben den Text der Antwort Stalins nicht zur Hand. Offensichtlich machte er Einwendungen, die ihm folgende Erwiderung eintrug:)

 

Das Zentralkomitee besteht nicht auf Ihrer Reise, unter der Bedingung, daß Sie in den kommenden Wochen Ihre ganze Aufmerksamkeit und Ihre ganze Energie auf die den Bedürfnissen der Südwestfront vorangehende Hilfe richten, die der Kaukasusfront zukommen muß.

4. Februar 1920.

Lenin, Trotzky.

(Ein weiteres Telegramm Lenins vom 20. Februar:)

Die Situation im Kaukasus wird ständig ernster. Nach den Nachrichten von gestern zu urteilen, ist die Möglichkeit eines Verlustes von Rostow und Nowotscherkassk nicht ausgeschlossen, ebenfalls nicht ein Versuch des Feindes, seinen Erfolg nach Norden hin auszuwerten und das Dongebiet zu bedrohen. Ergreifen Sie die notwendigen Maßnahmen für die Überführung der 42. Division und der lettischen Division und für die Verstärkung ihrer Kampfkraft. Im Hinblick auf die allgemeine Lage rechne ich darauf, daß Sie Ihre ganze Energie aufwenden und eindrucksvolle Resultate erzielen. Lenin.

Stalins Antwort:

Lenin, Kreml, Moskau.

Abschrift für das Zentralkomitee der Partei.

Es ist mir nicht klar, warum gerade mir die Dinge übertragen werden, die die Kaukasusfront betreffen. Normalerweise liegt die Verantwortung für die Verstärkung der Kaukasusfront gänzlich beim Revolutionären Kriegskomitee, dessen Mitglieder sich meinen Informationen nach bei ausgezeichneter Gesundheit befinden, und nicht bei Stalin, der übrigens mit Arbeit überlastet ist.

20. Februar 1920.

Stalin.

 

(Lenins Antwort:)

Die Aufgabe, Verstärkungen von der Südwestfront nach der Kaukasusfront zu expedieren, ist Ihnen übertragen worden. Im allgemeinen sollte man versuchen, in jeder möglichen Art zu helfen, und nicht über Zuständigkeitsfragen Haarspalterei treiben.

20. Februar 1920.

Lenin.

 

(Die polnische Republik war der Sowjetregierung von Anfang an feindlich gesinnt. Nachdem sie sich 1919 – trotz Völkerbund – Wilnas bemächtigt hatten, fielen die Polen im Herbst in Weißrußland ein, besetzten Minsk und große Teile Wolhyniens und Podoliens. Angesichts der Erfolge Denikins blieben sie untätig, da sie von den Siegen der weißen Armeen unangenehme Folgen für ihre territorialen Absichten befürchteten. Sobald aber die Rote Armee ihre entscheidenden Schläge gegen Denikin zu führen begann, nahm die polnische Armee ihren Vormarsch wieder auf. Auf die Truppen der lettischen Republik gestützt, besetzte die polnische Armee im Januar 1920 Dwinsk, zwang die Rote Armee zur Aufgabe von Lettgallen, nahm im März Motzir ein und begann im April unter dem persönlichen Kommando Pilsudskis gemeinsam mit den Streitkräften der vormaligen Petljura-Regierung, eine starke Offensive gegen die Ukraine. Der Krieg war der Roten Armee aufgezwungen worden; die Sowjetregierung wollte nun nicht nur den Angriff zurückschlagen, sondern die Revolution nach Polen vorantragen.)

Am 30. April schrieb ich wegen dieser polnischen Offensive an das Zentralkomitee der Partei: »Gerade weil es sich um einen entscheidenden Kampf handelt, wird er äußerst erbittert sein.« Daher die Notwendigkeit, »den Krieg mit Polen nicht nur als eine Aufgabe der Westfront zu betrachten, sondern als die Hauptaufgabe für das ganze Arbeiter- und Bauernrußland«. Am 2. Mai erließ ich durch die Zeitungen eine allgemeine Warnung vor übertrieben optimistischen Hoffnungen auf eine Revolution in Polen: »Daß der Krieg mit einer Arbeiterrevolution in Polen enden wird, daran ist nicht zu zweifeln, andererseits aber ist kein Grund zu der Annahme vorhanden, daß der Krieg mit einer solchen Revolution beginnen wird ... Es wäre äußerst leichtsinnig, zu glauben ... daß uns der Sieg einfach in den Schoß fallen wird.« Am 5. Mai sagte ich in meinem Bericht auf einer gemeinsamen Sitzung aller Sowjetinstitutionen: »Es wäre ein schwerer Irrtum zu glauben, daß die Geschichte, um uns unsere Aufgabe zu erleichtern, mit der polnischen Arbeiterrevolution beginnen und uns von der Notwendigkeit befreien wird, einen bewaffneten Kampf zu führen.« Und ich schloß: »Genossen, ich möchte vor allem, daß Ihr aus dieser Versammlung mit der Überzeugung heimgeht, daß der Kampf, der vor uns steht, hart und heftig sein wird.« Alle meine öffentlichen Erklärungen und militärischen Instruktionen in dieser Zeit waren von dieser Idee durchdrungen. »Heute ist die Westfront die wichtigste Front der Republik«, heißt es in einer von mir in Smolensk am 9. Mai gezeichneten Proklamation. »Die Nachschuborganisation muß nicht für einen leichten und kurzen Feldzug, sondern für einen langen und erbitterten Kampf aufgebaut werden.« Ich war gegen den Marsch auf Warschau, weil er infolge der Schwäche unserer Streitkräfte und unserer Nachschubmöglichkeiten nur unter der Bedingung mit Erfolg durchgeführt werden konnte, daß in Polen selbst unmittelbar eine Erhebung ausbrach, und dessen waren wir absolut nicht sicher. Ich habe das Wesen dieses Konflikts in meiner Selbstbiographie in allgemeinsten Wendungen dargestellt.

Der eigentliche Urheber des Feldzuges war Lenin. Er wurde gegen mich von Sinowjew, Stalin und sogar dem vorsichtigen Kamenew unterstützt. Rykow war eins der Mitglieder des Zentralkomitees, die meinen Standpunkt teilten, aber er war noch nicht im Politbüro. Radek war ebenfalls gegen das polnische Abenteuer. Alle Geheimdokumente aus dieser Zeit stehen den gegenwärtigen Beherrschern des Kreml zur Verfügung, und wenn es in diesen Dokumenten eine Zeile gäbe, die die Versionen, die heute fabriziert werden, bestätigen würde, dann wären sie seit langer Zeit veröffentlicht worden. Eben daß diese Versionen auf keinen Dokumenten fußen und daß sie sich untereinander radikal widersprechen, zeigt, daß es sich auch hier wieder nur um thermidorianische Mythologie handelt.

Einer der Gründe, weswegen die Katastrophe bei Warschau so unerhörte Ausmaße annahm, war das Verhalten des Kommandostabes der Westgruppe der Südarmeen, die gegen Lemberg vorging. Die politische Hauptfigur dieser Gruppe war Stalin. Er wollte um jeden Preis in Lemberg zur selben Zeit einmarschieren, wie Smilga und Tuchatschewsky in Warschau. Der schnelle Vormarsch unserer Armeen an die Weichsel hatte die polnische Regierung gezwungen, alle ihre Kräfte zusammenzureißen und mit Hilfe der französischen Militärmission bedeutende Reserven aus den Gebieten Warschau und Lublin heranzuführen. In diesem entscheidenden Augenblick wich die Kampflinie an der Südwestfront im rechten Winkel von der Kampflinie an der Hauptfront, der Westfront nämlich, ab: Stalin führte seinen eigenen Krieg. Als die Gefahr, die Tuchatschewskys Armee bedrohte, offenbar wurde und der Oberkommandierende der Südwestgruppe den Befehl erteilte, sich ohne Zögern auf Samostije-Tomaschew hin zu bewegen, um die polnischen Truppen bei Warschau von der Seite her anzugreifen, ging der Südwestkommandeur – von Stalin ermutigt – weiter gen Westen vor: war es nicht wichtiger, sich selbst der Stadt Lemberg zu bemächtigen, als »anderen« zu helfen, Warschau einzunehmen? Drei oder vier Tage hindurch konnte unser Generalstab nicht erreichen, daß sein Befehl ausgeführt wurde. Erst nach von Drohungen begleiteten wiederholten Aufforderungen änderte der Südwestkommandeur die Marschrichtung seiner Truppen – da hatte aber die Verzögerung von mehreren Tagen schon ihre fatale Wirkung ausgelöst. Am 16. August unternahmen die Polen eine Gegenoffensive und zwangen unsere Truppen zum Rückzug.

Auf einer – der geheimen Debatte über den polnischen Krieg gewidmeten – Sitzung des Zehnten Parteitages versuchte Stalin, seinen Kopf mit der verblüffenden, verlogenen und perfiden Erklärung aus der Schlinge zu ziehen, daß Smilga, der ein führendes Mitglied des Kriegskomitees der Westfront war, »das Zentralkomitee getäuscht« habe, indem er »versprach«, an einem bestimmten Datum Warschau einzunehmen und daß er sein »Versprechen« nicht gehalten habe. Die Operationen an der Südwestfront – das heißt, Stalins eigene Maßnahmen – wären von Smilgas »Versprechen« diktiert gewesen, auf den infolgedessen die Verantwortung für die Katastrophe zurückfalle. Der Parteitag hörte den finsteren Redner mit dem gelblich schimmernden Blick in feindseligem Schweigen an. Mit dieser Rede schadete Stalin niemand denn sich selbst. Nicht eine Stimme wurde für ihn abgegeben. Ich erhob sofort Protest gegen diese boshafte Unterstellung: Smilgas »Versprechen« hatte nie etwas anderes bedeutet als die Hoffnung, Warschau einzunehmen, aber diese Hoffnung konnte nicht das Element des Unvorhergesehenen eliminieren, das allen Kriegen innewohnt und konnte in keinem Falle irgendjemand das Recht verleihen, auf Grund aprioristischer Spekulationen vorzugehen, anstatt der wirklichen Entwicklung der Kampfhandlungen Rechnung zu tragen. Lenin, von diesem Meinungsstreit sehr unangenehm berührt, griff in die Diskussion ein: »Wir sollten niemand persönlich tadeln«, sagte er. Warum veröffentlicht Stalin nicht das stenographische Protokoll der Diskussion?

Im Jahre 1929 unternahm A. Jegorow, (Kommandeur der Südwestfront während des polnischen Feldzuges, in einer »Lwow [Lemberg]-Warschau« betitelten speziellen Abhandlung den ersten öffentlichen Versuch, sein Verhalten zu rechtfertigen; er sieht sich darin gezwungen, zuzugeben:)

 

... Gerade in dieser Hinsicht haben alle unsere Historiker die Kampagne an der Südwestfront kritisiert. Niemand, der diese Kampagne auf der Grundlage der vorhandenen Schriften untersucht hat, hat es für ein Geheimnis gehalten, daß die Erklärung für das Mißlingen der Operationen im Westen direkt mit den an der Südwestfront unternommenen Operationen verbunden ist. Die Anschuldigungen, die in diesem Sinne gegen den Frontkommandeur erhoben worden sind, laufen im wesentlichen hierauf hinaus: daß die Südwestfront völlig selbständig vorging, ohne die allgemeine Lage an der polnischen Gesamtfront oder die Unternehmungen der benachbarten Westfront in Betracht zu ziehen und daß sie mit der letzteren im entscheidenden Augenblick nicht in der Weise kooperierte, wie es notwendig gewesen wäre ... Das ist in großen Zügen die Version, die man in allen Werken, mit Einschluß der erst kürzlich erschienenen, findet, die mehr oder weniger der Frage der gemeinsamen Aktion an der Front von 1920 gewidmet sind ... Zum Beispiel befindet sich in der interessanten und gewissenhaften Arbeit von M. Mowschin ein direkter Hinweis auf die ›Nichtbeachtung der kategorischen Instruktionen des Oberkommandierenden, den Vormarsch der ersten berittenen Armee gegen Samostije-Tomaschew betreffend, durch die Südwestfront.‹ Auf der Basis dieser und ähnlicher Texte haben die Gradierten unserer Kriegsschule den polnischen Feldzug studiert und verbreiten solche Auffassungen in unserer Armee weiter. Kurzum, die Legende von der Versagerrolle der Südwestfront im Jahre 1920 erweckt anscheinend heute überhaupt keinen Zweifel und wird als eine Sache betrachtet, die die künftigen Generationen von Taktikern und Strategen studieren müssen.

 

Es ist keineswegs überraschend, daß Jegorow, der als Oberkommandierender der Südwestfront für Stalins willkürliche Strategie stark mitverantwortlich ist, versucht, das Gewicht seines Fehlers zu mindern, indem er eine für ihn weniger ungünstige Interpretation der Kriegsereignisse des Jahres 1920 liefert. Jedoch entsteht unwillkürlich ein Verdacht, weil Jegorow den Versuch der Selbstverteidigung erst neun Jahre nach den Ereignissen unternimmt, als es der »Legende von der Versagerrolle der Südwestfront« seinen eigenen Worten nach schon gelungen ist, ihre definitive Bestätigung zu finden und sogar in die Kriegsgeschichte einzugehen. Diese Verspätung erklärt sich aus der Tatsache, daß die Armee und das Land, die unter den Folgen des Fehlschlags im Polenkrieg sehr zu leiden hatten, über jede Verfälschung, besonders wenn sie von den für die Niederlage Verantwortlichen ausging, entrüstet gewesen wären. Er mußte sich still verhalten und abwarten.

Was mich selbst betrifft, so war ich von der Sorge um das Prestige der Regierung und von dem Wunsch geleitet, keinen Streit in die ohnehin schon reichlich demoralisierte Armee hineinzutragen und erinnerte mit keinem Wort an den heftigen Konflikt, der der Kampagne vorausgegangen war. Jegorow mußte für seinen Vorstoß die Errichtung des totalitären Regimes abwarten. Der vorsichtige Jegorow, von dem bekannt ist, daß es ihm an Selbständigkeit mangelt, hat zweifellos auf direkten Befehl Stalins hin geschrieben, obwohl Stalins Name in seinem Buche, so unglaublich das scheinen mag, nicht ein einziges Mal erwähnt wird. Es sei daran erinnert, daß das Jahr 1929 die erste Periode der systematischen Revision der Vergangenheit eröffnet.

Wenn aber Jegorow auch indirekt versucht, Stalins und seine eigene Schuld zu verkleinern, so versucht er doch nicht, andere zu tadeln. Woroschilow tat es in dem von ihm gezeichneten und »Stalin und die Rote Armee« überschriebenen apologetischen Artikel, der auch 1929 veröffentlicht wurde, ebenfalls nicht. Er drückt sich unbestimmt aus: »Nur die Niederlage unserer Truppen bei Warschau unterbrach den Vormarsch der Reiterarmee, die sich anschickte, Lemberg anzugreifen und nur noch zehn Kilometer von der Stadt entfernt war.« Doch konnte es bei dieser einfachen Selbstrechtfertigung nicht bleiben. In solchen Dingen bleibt Stalin nicht auf halbem Wege stehen. Schließlich kam die Zeit, in der die Verantwortung für die Niederlage denen aufgebürdet werden konnte, die wegen des Marsches auf Lemberg eingegriffen hatten. (1935 schrieb der rote Professor S. Rabinowitsch in seiner »Geschichte des Bürgerkriegs«:)

Die Erste Armee, die in den Kampf um Lemberg eingriff, konnte der Westfront nicht direkt helfen, ohne Lemberg einzunehmen. Trotzdem verlangte Trotzky kategorisch, daß sich die Erste Reiterarmee von Lemberg zurückziehen und bei Lublin Aufstellung nehmen sollte, um die polnischen Armeen, die gegen die Flanke unserer Truppen an der Westfront vorgingen, vom Rücken her anzugreifen. ... Die Folge dieser völlig verkehrten Direktive Trotzkys war, daß die Erste Reiterarmee darauf verzichten mußte, Lemberg einzunehmen, ohne andererseits imstande zu sein, den Armeen an der Westfront zu Hilfe zu kommen.

Es ist völlig unverständlich, wieso die Einnahme von Lemberg, das 300 Kilometer vom Hauptkampfschauplatz entfernt lag, ermöglichen konnte, »vom Rücken her« die polnischen Stoßtruppen anzugreifen, die in der Zwischenzeit der Roten Armee schon bis hundert Kilometer östlich von Warschau gefolgt waren. Um zu versuchen, den Polen »im Rücken« einen Schlag zu versetzen, wäre vor allem nötig gewesen, sie zu verfolgen, und dazu mußte an erster Stelle Lemberg aufgegeben werden. Wozu mußte Lemberg besetzt werden? Die Einnahme dieser Stadt, obwohl sie nicht ohne militärische Bedeutung war, hätte eine revolutionäre Bedeutung nur durch die Auslösung eines Aufstandes der Galizier gegen die polnische Regierung gewinnen können. Aber das erforderte Zeit. Der Rhythmus der militärischen stimmte mit dem der revolutionären Aufgaben nicht überein. Von dem Augenblick an, wo die Gefahr eines entscheidenden Gegenangriffs bei Warschau auftauchte, wurde es offenbar, daß die Weiterführung des Vormarsches auf Lemberg nicht nur gegenstandslos, sondern geradezu verbrecherisch war. Aber da brach die Rivalität zwischen den beiden Fronten aus. Wie bekannt, hat Stalin, nach Woroschilows eigenen Erklärungen, niemals gezögert, dem Reglement und den Befehlen zuwider zu handeln.

»Unsere Lage schien völlig hoffnungslos«, schrieb Pilsudski. »Den einzigen hellen Streifen auf dem dunklen Horizont sah ich in dem Fehlschlag, den Budjenny beim Angriff auf meine rückwärtige Flanke erlitten hatte ... in der Schwäche, die die Zwölfte Armee zeigte«, das heißt die Armee, die sich – unter dem Befehl des Kommissars Stalin – geweigert hatte, der Armee Tuchatschewsky zu Hilfe zu kommen und sich von ihr entfernt hatte. (Jahre später rief der »Rote Stern« – in der Absicht, Stalins Führung zu rechtfertigen – empört aus:) »Der Verräter Trotzky deckte seine widerlichen defaitistischen Manöver auf, indem er absichtlich und bewußt die Reiterarmee nach Norden führte, angeblich, um der Westfront zu helfen.« Unglücklicherweise, könnte ich hinzufügen, setzte er diese Umstellung erst durch, als es zu spät war. Wenn Stalin und Woroschilow und der Analphabet Budjenny nicht in Galizien »ihren eigenen Krieg« geführt hätten und wenn die Rote Kavallerie rechtzeitig in Lublin gewesen wäre, hätte die Rote Armee nicht die Niederlage erlitten, die uns zwang, den Frieden von Riga zu unterzeichnen, der, indem er uns von Deutschland abschnitt, auf die Entwicklung in beiden Ländern einen entscheidenden Einfluß ausübte. Nach den Hoffnungen, die der schnelle Vormarsch auf Warschau geweckt hatte, bewirkte die Niederlage in der Partei eine erdbebenartige Erschütterung und warf ihr Gleichgewicht über den Haufen.

(Der Parteihistoriker N. Popow schrieb am 23. Februar 1930 in der »Prawda«, nachdem er zugegeben hatte, daß der Vormarsch auf Warschau ein Fehler des Politbüros gewesen war:) »Trotzky ... war gegen diesen Vormarsch, in der Art eines kleinbürgerlichen Revolutionärs, der es als unzulässig betrachtet, die Revolution von außen her nach Polen hineinzutragen. Aus denselben Gründen war Trotzky im Februar 1921 dagegen, daß die Rote Armee den Aufständischen in Georgien half. Die kautskystischen, antibolschewistischen Ausführungen Trotzkys wurden im Juli 1920 im Falle Polen und im Februar 1921 im Falle der menschewistischen Regierung von Georgien vom Zentralkomitee mit Entrüstung zurückgewiesen.« Fünf Jahre später schrieb Rabinowitsch in seiner »Geschichte des Bürgerkriegs« die Fehler Trotzkys im Polenkrieg der grundlegenden Tatsache zu, daß »unsererseits der Krieg die Revolution in Polen beschleunigen und stimulieren sollte, daß die Revolution auf der Spitze der Bajonette der Roten Armee nach Europa hineingetragen werden sollte... weil sonst der Sieg des Sozialismus in Rußland unmöglich sei. Deshalb erklärte Trotzky, im Gegensatz zu den Argumenten Lenins und Stalins, daß die polnische Front die Front des Lebens oder des Todes für die Sowjetrepublik sei«. So wurde die Anklage nun also umgekehrt: noch 1930 war anerkannt worden, daß ich gegen den Marsch auf Warschau war, und das Verbrechen, mit dem ich belastet wurde, bestand darin, daß ich nicht geneigt war, den Sozialismus auf der Spitze der Bajonette einzuführen. 1935 aber wurde proklamiert, daß ich für den Marsch auf Warschau gewesen war, von meiner Absicht geleitet, Polen den Sozialismus auf den Bajonetten zu bringen.

So löste Stalin Stufe um Stufe das Problem auf seine eigene Weise. Er unterschob mir die Verantwortung für die Warschauer Kampagne. Dabei war es eine Tatsache, daß ich gegen diese Kampagne opponiert hatte. Die Verantwortung für die Niederlage der Roten Armee, die vom Nichtvorhandensein einer Erhebung im Lande herrührte und durch seine eigene selbständige Strategie vertieft wurde, schob er mir ebenfalls zu. Die Schuld Stück um Stück auf den Widersacher zu schieben, ist die grundlegende Methode Stalins im politischen Kampf; sie sollte ihre höchste Vollendung in den »Moskauer Prozessen« erlangen. Nebenbei sei gesagt, daß Stalin zum Polenkrieg einen konstruktiven Beitrag, der der Erwähnung wert wäre, nicht leistete. Die Briefe und Telegramme aus der entsprechenden Zeit beweisen, mit wem ich Gelegenheit hatte, wegen der Festlegung der Tagespolitik im Zusammenhang mit dem polnischen Krieg zu korrespondieren: mit Lenin, Tschitscherin, Karachan, Krestinsky, Kamenew, Radek. Von diesen sechs Leuten ist es nur Lenin gelungen, rechtzeitig zu sterben. Tschitscherin starb, in Ungnade gefallen und vollständig isoliert; Radek sitzt im Gefängnis; Karachan, Krestinsky und Kamenew sind hingerichtet worden.

 

Das Ende des Polenfeldzuges erlaubte uns, unsere Kräfte gegen Wrangel zu konzentrieren, der im Frühjahr auf der Halbinsel Krim auftauchte, das Donbecken bedrohte und so die Kohlenversorgung der Republik gefährdete. In mehreren entscheidenden Kämpfen bei Nikopol und Stachowka wurden Wrangels Truppen aus ihren Stellungen geworfen; die Rote Armee marschierte weiter vor und zerschlug auf dem Höhepunkt der Kampagne die Befestigungswerke von Perekop. Die Krim wurde wieder sowjetisch. (Jegorow schrieb am 14. November 1935 anläßlich des fünfzehnten Jahrestags der Niederlage Wrangels in der »Prawda«) – wie nicht anders zu erwarten:

Trotzky blieb bei seiner gefährlichen Auffassung, daß die Wrangelfront nichts weiter als ein isolierter Sektor von geringer Bedeutung sei. Der Genosse Stalin war gezwungen, sich aufs entschiedenste gegen diese äußerst gefährliche Ansicht zu wenden. Das Zentralkomitee, mit Lenin an der Spitze, unterstützte Stalin.

Der Hinweis möge genügen, daß S. Gussew, damals einer der Agenten Stalins in der Roten Armee, es in einem 1925 veröffentlichten, »Wrangels Untergang« betitelten Artikel nicht für notwendig hielt, Stalins Namen auch nur ein einziges Mal zu erwähnen.

Während der ganzen Dauer des Bürgerkriegs blieb Stalin eine Figur dritter Ordnung, nicht nur in der Armee, sondern auch auf politischem Gebiet. Er war Präsident auf den Kongressen des Kollegiums des Nationalitäten-Kommissariats und der Kongresse einiger Völkerschaften. Er führte die Verhandlungen mit Finnland, mit der Ukraine, mit den Baschkiren, das heißt, er führte wesentliche, aber doch nur zweitrangige Missionen aus. Die grundlegenden politischen Probleme, die auf den Kongressen der Partei, der Sowjets, der Dritten Internationale diskutiert wurden, blieben ihm fremd. Auf der im Dezember 1921 abgehaltenen Elften Konferenz der Russischen Kommunistischen Partei schlug Jaroslawsky im Namen des Organisationsbüros folgende Namen für das Büro vor: Lenin, Sinowjew, Trotzky, Kamenew, Petrowsky, Ordschonikidse, Woroschilow, Jaroslawsky, Sulimow, Komarow, Rudsutak, I. N. Smirnow und Ruchimowitsch. Die Liste ist aufschlußreich ihrer Zusammenstellung und der Reihenfolge der Namen wegen. Außer den vier ersten waren alle – lauter alte Bolschewiki – leitende Parteiarbeiter aus den verschiedenen Regionen des Landes. Kein Platz für Stalin in dieser Liste, obwohl der Kalender schon das Ende des Jahres 1921 anzeigt! Der Bürgerkrieg gehörte schon der Vergangenheit an. Er hatte Stalin nicht zum Führer gemacht.


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