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Vor der Reise

Es war Goldköpfchen nicht leicht geworden, den dringenden Wunsch ihres Gatten zu erfüllen. Aber Doktor Kirschner hielt es für unbedingt notwendig, daß Marlene und Adele einige Wochen zur Erholung in einen Gebirgsort kamen, weil sich die beiden Kinder noch immer nicht von der überstandenen schweren Krankheit erholen konnten. Sie sahen blaß und elend aus, auch die sorgfältigste Pflege fruchtete nichts. So blieb nur eine Erholungsreise ins Gebirge übrig.

Anfangs wehrte sich Goldköpfchen energisch. Es erschien ihr undenkbar, sechs Kinder allein zurückzulassen, um mit Marlene und Adele davonzufahren. Zwar wußte sie, daß sie sich auf ihre erprobte Kinderfrau und auf das seit fast zwei Jahren im Hause weilende Kinderfräulein verlassen konnte. Auch Ida, das Hausmädchen, war durchaus zuverlässig. Sie brauchte daher nicht zu fürchten, daß den Kindern die nötige Ordnung und Aufsicht fehlte, doch alle würden die geliebte Mutter entbehren. So machte Goldköpfchen eine Ausrede nach der anderen, obwohl sie selbst erkannte, daß den beiden Kleinen diese Reise von Nutzen sein würde.

»So muß ich als Arzt ein ernstes Wort reden, meine liebe Bärbel! Vor allem brauchst du einmal Ausspannung. Zwei Kinder werden dir nicht soviel Mühe machen wie acht. Du fährst also Mitte August, wenn die Schule wieder begonnen hat, ab. Ich weiß meine fünf Kinder in den Vormittagsstunden in der Schule gut aufgehoben, und für Klein-Ulla sorgt unsere treue Frau Leuschner wie eine Mutter. Es wird gereist, liebe Bärbel, keine Ausrede nützt mehr.«

Sogar Hermann, Goldköpfchens ältester Sohn, redete der Mutter zu. Der zwölfjährige Knabe war seit dem Tode seines Vaters ein ernster, stiller Knabe geworden, der kein größeres Glück kannte, als der geliebten Mutter Freuden zu bereiten. Ein warnender Blick Goldköpfchens genügte, um Hermann von jeder Unart, von jedem häßlichen Streich zurückzuhalten.

»Fahre doch, Mutti! In den Bergen ist es schön, man erholt sich dort gut. Unser Vater verordnet den Leidenden häufig Bergluft. Du mußt wieder frisch und gesund werden. – Habe keine Sorgen um deine Kinder, ich gebe gut acht und werde ihnen mit mütterlicher Liebe zur Seite stehen!«

»Mutti, fahre mal in die hohen Berge«, sagte Erna. »Wir halten schon Ordnung, der Hermann und ich. Ich passe in der Küche auf, wenn gekocht wird. Ich lasse jeden Tag Eierkuchen mit Himbeersaft kochen, damit alle deine Kinder kugelrund werden. Ich werde auch den Kleinen sagen, wie sie sich zu betragen haben.«

»Welchen Kleinen?« fragte Hermann.

»Nu, – dem Jürgen, dem Stefan und dem Fritz. – Mutti, – wenn sie Dummheiten machen, werde ich sie bestrafen.«

»Na, Erna, werden sich das die Brüder gefallen lassen?«

Erna nickte ernsthaft. »Sie werden doch einer Dame nichts tun! Ich werde ihnen sagen, daß jeder Mann eine Frau zu achten hat, weil ich auch einmal eine Mutter und eine Frau werde. – Du kannst ganz ruhig fortfahren. In Haus, Hof und Garten wird Ordnung sein, dafür sorge ich.«

Goldköpfchen streichelte die Sechsjährige liebevoll. Erna war so ganz ihr Ebenbild. Jeder, der Goldköpfchens Kinderbilder sah, meinte, das müsse Klein-Erna sein. Sie hatte genau dieselben blonden Haare, dieselben blauen Augen und das schmale, liebe Gesicht, wie einst die Mutter. Viele Bekannte nannten Erna daher Klein-Goldköpfchen, und Erna hörte diesen Namen sehr gern.

»Fein ist das! Alle Leute sagen, meine Mutti, das Goldköpfchen, war immer ein sehr liebes Kind. Und wenn die Großeltern aus Dillstadt kommen, erzählen sie, was meine Mutti für ein liebes Goldköpfchen war. Nun bin ich auch ein Goldköpfchen, bin Klein-Goldköpfchen! – Mutti, bin ich nun auch ein liebes Goldköpfchen?«

»Freilich, wenn du artig bist, bist du sogar ein sehr liebes Goldköpfchen.«

Erna schlug mit der kleinen Faust auf den Tisch. »Na, dann ist's gut, dann werde ich für Ruhe sorgen! Der Großvater sagte immer zu mir, du hast in Dillstadt die Jungens gut in Ordnung gehalten. – Mutti, fahre mal mit den beiden Fipsen los! Wir bekommen dann immerfort Eierkuchen.«

»Wirst du denn keine Sehnsucht nach der Mutti haben?«

»Ja, – aber ich esse Eierkuchen und bekomme etwas mehr Himbeersaft.«

Da mußte Goldköpfchen herzlich lachen. Trotzdem wollte ihr die Reise nicht in den Sinn, aber Doktor Kirschner ließ nicht nach.

»Wir wollen in die hohen Berge«, sagte Marlene, »wir sind kranke Leute. In den hohen Bergen gibt es Ziegen mit großen Hörnern, und wir können im Sommer mit Schneebällen schmeißen, weil alle Berge voller Schnee liegen. Der alte Rettich, – ach nee, Mutti, ich bin schon wieder artig, Fräulein Rettich hat gesagt, in Pinzau gibt es viele kleine Pferdchen, die noch nicht richtig stehen können. Nun will ich zu den kleinen Pferdchen nach Pinzau.«

»In den Pinzgau fährst du, du Riesenroß«, schrie Stefan. »Pinzgau ist ein Stück Land mitten in den Bergen. Dort sind die Berge so hoch, daß du nicht hinauf kannst. Zehnmal so hoch wie unser Haus!«

»Oller Quatschkopp«, sagte Marlene, »so hohe Berge gibt es ja gar nicht!«

»Mutti, die Berge sind doch noch viel höher?«

»Freilich, Stefan.«

»Ätsch«, rief Stefan, »ich weiß alles. Wenn du auf den Bergen den Schnee sehen willst, mußt du durch so ein Ding gucken, das wie eine verklebte Brille aussieht. – So wie 'ne große Autobrille. Dann siehst du erst die Berge und den Schnee.«

»Ich seh' die Berge auch anders«, beharrte Marlene. »Mutti, fahre doch bald mit uns in die hohen Berge und nach Pinzau. Ich möchte zu den kleinen Pferdchen, die noch nicht richtig stehen können.«

»Ja, ja, Mutti, fahre nur bald los mit den beiden Fipsen«, rief Jürgen, »die Kinder machen uns nervös. Immer dieses blöde Gequatsche! Wenn du nicht mal weißt, dumme Marlene, daß du in den Pinzgau fährst, wirst du nicht mitgenommen.«

»Gelacht, dummer Junge, – ich bin ein kranker Fips, der sich nicht erholen kann. Mein Herz geht – – Mutti, wie geht mein Herz?«

»Seid friedlich, Kinder! Wie die Berge sind, wirst du sehen, wenn du hinkommst. Auch viele kleine Pferdchen sind dort, denn im Pinzgau treiben die Bewohner Pferdezucht. Auf den Wiesen laufen viele Pferde umher mit ihren kleinen Pferdchen.«

»Können sie noch nicht richtig hopsen, Mutti?«

»Wenn sie noch ganz jung sind, machen sie drollige Sprünge und stehen breitbeinig neben ihrer Mutter.«

Hermann und Jürgen wollten sofort wissen, wie die Pferdchen stehen. Sie stellten sich auf Hände und Füße, spreizten sie und führten im Zimmer tolle Sprünge aus.

»Ja, ja«, sagte Goldköpfchen, »so ist es richtig. Aber nun ist es genug!«

Als Marlene später im Kinderzimmer war, holte sie Jürgens Pferdestall hervor, um dem kleinen Fips, Adele, zu zeigen, wie die Pferde »in Pinzau« auf der Wiese ständen. Sie packte die dünnen Holzbeine mit beiden Händchen an, und schon nach wenigen Augenblicken waren mehreren Pferden die Beine abgebrochen.

»Jetzt haut er mich«, sagte Marlene kläglich, »und ich wollte dir doch nur zeigen, wie die Pferdchen in Pinzau hopsen.« Dann warf sie Pferde und abgebrochene Beine in den Pferdestall, hing ein Tuch darüber und wartete ängstlich auf das Strafgericht, das wahrscheinlich noch vor der Abreise kommen würde.

Das Kinderfräulein, das im Zimmer aufräumte, nahm das Tuch wieder fort, sah die zerbrochenen Pferde und holte den Leimtopf, um den Schaden zu beseitigen. Noch bei der Arbeit kamen Stefan und Jürgen ins Zimmer. Auf Jürgens Stirn erschien eine tiefe Falte.

»Was machst du denn da, Fräulein Rettich?«

»Ich leime den Pferden die Beine an.«

»Was fällt dir denn ein, mit meinen Pferden zu spielen und ihnen die Beine abzubrechen! So ein oller Rettich hat mit meinen Sachen nicht zu spielen.«

»Was fällt dir denn ein, Jürgen? Was ist das für ein Ton, den du anschlägst?«

»Wenn du doch meine lieben Pferde hinschmeißt, – wenn die armen Viecher dabei kaputt gehen – verdienst du was auf die Hinterbrust.« Ungestüm riß Jürgen die geleimten Pferde fort, so daß die Beine wieder abgingen.

»Alles kaputt, – alles hast du zerschmissen, oller Rettich!«

»Hast du das nicht selbst getan, Jürgen?«

Jürgen stemmte beide Arme in die Hüften. »Nu ist mir das aber zu bunt«, rief er erregt. »Wenn du meine Pferde kaputt machst, oller Rettich, hast du das ehrlich zu sagen, aber – aber – –«

»Jürgen – –«

»Hier haste die kaputten Pferde«, schrie der Knabe und warf das Spielzeug nach dem Kinderfräulein. »So, und jetzt kaufe mir neue Pferde! Den kaputten Dreck kannste dir behalten!«

Goldköpfchen, die im Nebenzimmer aus den Schränken Kleider holte, die eingepackt werden mußten, hörte voller Entsetzen die unartigen Worte ihres zweiten Sohnes. War das ihr sonst so artiger Junge?

»Betrage dich anständig, Jürgen«, rief Fräulein Rettich erregt.

»Du hast mir gar nichts zu sagen, du – – du – –«

Nun war es genug. Goldköpfchen stieß die Tür auf und Jürgen biß sich erschrocken auf die Lippen. Er wußte genau, daß er wieder einmal zu heftig geworden war und den sonst so lieben Rettich geärgert hatte.

»Mutti, sie hat mit meinen Pferdchen gespielt und alle zerbrochen!«

»Wer hat gespielt?« fragte Goldköpfchen ruhig.

»Der olle – – die da! Fräulein Rettich!«

»Ich fand die zerbrochenen Pferde im Stall liegen und glaubte dir eine Freude zu machen, wenn ich ihnen die Beine wieder anleimte.«

»Nun, Jürgen? – – Wer hat die Pferde zerbrochen?«

»Sie waren doch alle kaputt, und als ich kam, hat sie – hat das Fräulein Rettich geleimt.«

»Ich möchte wissen, wer die Pferde zerbrochen hat, Jürgen?«

Der Knabe nagte an der Unterlippe.

»So werde ich erst einmal fragen, und dann wirst du wissen, mein lieber Jürgen, was ein anständiger Junge zu tun hat.«

»Ich werde fragen«, rief Jürgen, denn er war froh, aus dem Zimmer zu kommen, weil er sich vor der Mutti und Fräulein Rettich schämte.

Zu Hermann brauchte er nicht erst zu gehen, der zerbrach keine Spielsachen. Aber Fritz kam in Betracht.

Fritz, Marlene, Adele und Ulla waren gerade bei Frau Leuschner. Marlene ging, als Fritz eintrat, sofort hinter den Vorhang.

»Wer hat meine Pferde zerbrochen?«

Fritz beteuerte seine Unschuld.

»Jetzt weiß ich's«, rief Jürgen und schlug auf die Gardine los, hinter der sich etwas bewegte. »Was kümmern dich meine Pferde?«

»Ich wollte doch nur sehen, ob deine Pferdchen auch so hopsen können, wie die in Pinzau!«

Frau Leuschner hatte Mühe, zwischen den beiden erregten Kindern Ordnung zu stiften.

»Jetzt kommst du mit«, rief Jürgen, »da habe ich nach dem Rettich geschmissen und müßte eigentlich nach dir schmeißen. – Jetzt muß ich mich entschuldigen, und du bist doch schuld an allem! Komm mit oder – es geschieht was!«

»Ja, geh nur mit, Marlene«, sagte Frau Leuschner. »Da du die Pferde zerbrochen hast, kannst du auch deine Strafe haben.«

»Ich wollt' doch nur sehen – –«

»Kommste mit – oder – –« Jürgens Gesicht glühte.

Da trippelte Marlene hinter dem Bruder her, hinüber ins Kinderzimmer. »Mutti, ich wollte doch nur sehen, ob die Pferde in Pinzau –«

»Sie hat sie kaputt gemacht«, ereiferte sich Jürgen.

Marlene kam mit einer Ermahnung davon, Jürgen hingegen wurde lange von Goldköpfchen angesehen. Schließlich sagte sie: »So, Stefan und Marlene, wir gehen nun hinaus, ihr sollt mir beim Einpacken helfen.«

Jürgen war mit Fräulein Rettich allein im Zimmer. Das gutherzige Kinderfräulein hatte bereits den Pinsel in der Hand und begann wieder mit dem Leimen.

Jürgen machte erst mehrmals den Mund auf und zu, daß seine Zähne laut aufeinanderschlugen. Das tat er immer, wenn ihm die Worte, die er sagen wollte, sauer wurden. Er behauptete, sie rutschten dann leichter über die Lippen. Fräulein Rettich ließ ihn ruhig klappern. Es schien, als beachte sie den Knaben gar nicht. – Endlich näherte sich Jürgen dem Kinderfräulein und drehte energisch am Knopf seiner Jacke. Sehr bald hatte er ihn in der Hand.

»Sieh mal her, Fräulein Rettich«, sagte er freundlich, »nun ist so ein dummer Knopf schon wieder abgegangen. Es tut mir leid, daß du wieder nähen mußt. – Du hast ja ganz klebrige Finger, Fräulein Rettich, laß nur die ollen Pferde. Sie sind auch schön ohne Beine.«

Fräulein Rettich erwiderte nichts.

»Brauchst nicht mehr zu leimen, – laß nur!«

Wieder wartete Jürgen, daß eine Antwort käme. Es kam keine. Nochmals klapperten die Zähne.

»Es hat doch nicht weh getan, als ich nach dir schmiß? – Es sind doch nur kleine Pferde und kleine Beine gewesen. Der Stefan schmeißt oft nach mir, und das tut mir auch nicht weh.«

Als auch jetzt nichts gesagt wurde, streckte Jürgen mit einem Ruck die Hand vor. »Sei nicht mehr böse, lieber Rettich! Ich habe ja nicht gewußt, wer die Pferde zerbrochen hat. – Ich habe dich wieder sehr lieb. – Und jetzt bist du wieder gut. – Ja?«

»Freilich, Jürgen, aber das nächstemal fragst du zuerst, wer dein Spielzeug zerbrochen hat. Außerdem wirft man niemals einem Erwachsenen etwas an den Kopf. – Und nun wollen wir gemeinsam die Beine anleimen, und dann ist alles vergessen.«

»Nee, die Marlene kriegt noch Schacht!«

»Wie wird ein zehnjähriger Knabe ein fünfjähriges Mädchen schlagen! – Marlene war lange Zeit krank und ist –«

»Ein Fips«, sagte er verächtlich. »Nun ja, einen Fips werde ich nicht verschachten.« Dann leimten beide in größtem Frieden die abgebrochenen Pferdebeine wieder an.

Goldköpfchen war bald von allen Kindern umringt. Beim Packen der Koffer zuzusehen, war für alle eine große Freude. Sie brachte es auch nicht übers Herz, die Kleinen hinauszuschicken, obwohl sie durch das beständige Fragen stark abgelenkt wurde. Außerdem brachten Marlene und Adele immerfort Spielsachen herbei, die die Mutti einpacken sollte. Wenn man nach »Pinzau« kam, mußte man auch etwas zum Spielen haben.

»Adele will auch das weiße und das rote Kleidchen mithaben. Adele will hübsch sein. – Mutti, sind in Pinzau viele hübsche Mädchen oder bin ich ganz allein dort?«

»Es gibt dort viele niedliche Mädelchen. Manche sind noch viel niedlicher als du.«

»O nein«, sagte die Kleine, »alle sagen, ich bin soooo hübsch!«

Wie merkwürdig, daß gerade die kleine Adele so eitel war. Keines der anderen Kinder besaß diese unschöne Eigenschaft. Freilich, Adele war ein bildhübsches Kind, das überall auffiel. Gingen Frau Leuschner oder Fräulein Rettich mit dem Kinde spazieren, wurden sie häufig angehalten; jeder sprach dann von dem lieblichen Geschöpfchen oder von dem bildschönen Kinde mit dem Engelsköpfchen. So hatte sich Adele den Namen »Lieblichkeit« gegeben und freute sich sichtlich über jedes Lob, das man ihr zollte.

»Du bist aber gar kein schönes Mädchen, Adele«, sagte Goldköpfchen, »wenn du immerfort sagst, daß du niedlich bist. Es kann eine böse Krankheit kommen, und du wirst garstig. Das geht vielen Kindern so, die viel von ihrer Niedlichkeit reden.«

»Ach, Mutti, – dein kleinster Fips ist eben niedlich!«

Hermann kam mit dem Schulatlas und bat die Mutter, sie möge ihm auf der Karte zeigen, wo der Pinzgau läge. Goldköpfchen unterbrach das Einpacken und neigte sich über die Landkarte.

»Schau her, Hermann, hier liegt der Pinzgau, im Lande Tirol.«

»Ach, in Tirol«, sagte Stefan, »das ist doch das Land, wo die Leute immerfort jodeln und das Echo rufen.«

»Wie meinst du das?« fragte Goldköpfchen.

»Ida singt doch ein Lied von Tirol, wo weit über die Berge hin das Echo schallt und wo sie dann unter deutschen Eichen begraben sein wollen.«

»Ach so«, sagte Goldköpfchen, »du meinst das hübsche Lied: ›Tirol, Tirol, du bist mein Heimatland.‹ Du wirst es auch einmal lernen. Aber die Tiroler haben keine Zeit, um nur zu jodeln. Ihre Bergbauern müssen schwer arbeiten. Ihr Land ist bergig, so haben sie unendliche Mühe, ihre Ernte einzubringen. Das Gras, das an den steilen Berghängen wächst, müssen sie mitunter mit der Sichel schneiden, können es nicht mähen, wie unsere Bauern. Sie müssen die steilen Berglehnen hinaufsteigen, um zu säen und zu ackern.«

»Sind im Pinzgau auch Berge, Mutti?«

»Ich kenne es noch nicht, Hermann, aber Berge sind auch dort. Sogar hohe Berge. Es soll eine schöne und gesunde Gegend sein; unsere beiden Fipse werden sich gut erholen.«

»Du auch«, sagte Hermann innig.

»Ja, mein lieber Junge, deine Mutti auch. Aber sie wird viel an euch denken. Hoffentlich seid ihr daheim recht artig und es kommen keine Klagen an mich. Frau Leuschner und Fräulein Rettich sollen mir Bericht erstatten.«

»Die verpetzen uns nicht«, sagte Jürgen, »da kannste Gift drauf nehmen!«

»Nee, die olle Leuschner verpetzt uns bestimmt nicht, die haut uns lieber selber 'nen Katzenkopf.«

»Nun, der Vater ist ja auch da«, sagte Goldköpfchen, »er wird ein strenges Regiment führen.«

Erna schmiegte sich an die Mutter und sagte im Flüstertone: »Nee, Mutti, den wickeln wir ein. Mit dem spielen wir Doktor, er ist der kranke Patient, von dem haben wir nichts zu fürchten.«

»Na, na«, sagte Stefan zweifelnd, »manchmal müssen wir uns schon fürchten.«

»Ich fürchte mich nicht«, sagte Erna, »ich weiß schon, wie man so 'nen Mann zu nehmen hat.«

»Der kriegt eine Ziehkarre«, rief Fritz, »dann raucht er den ganzen Tag, da hat er den Mund voll und kann nicht sprechen.«

»Aber, Kinder«, sagte Goldköpfchen entsetzt, »was sind das für Worte über euren lieben Vater?«

Wieder war es Erna, die beruhigend sagte: »Hab' nur keine Sorge, Mutti, ich habe genau aufgepaßt, wie du einen Mann behandelst. Ich bin ja auch ein Goldköpfchen! Wenn ich dann was will, ist er ganz still und schaut mich so an. – Guck mal her, Mutti!« Dabei legte Erna den Kopf auf die Seite, drehte die Augen ein wenig zum Himmel und sagte mit tiefer Stimme: »Was meinst du, mein liebes Bärbel?«

Goldköpfchen hielt es für richtig, das Gespräch abzulenken. »Also vom Pinzgau soll ich erzählen. Wir gehen in ein Gebirgsdorf. Dort gibt es keine großen Hotels wie in Dresden, dort gibt es auch kein Theater, kein Kino, aber jedes Haus hat eine große Holzveranda, auf der man sitzen kann. Überall blühen schöne Blumen, und die Vögel singen noch viel schöner als hier, weil sie überall Wald, Wiesen und Wasser haben. Dann kommen die Kühe mit Glocken um den Hals, die läuten wunderschön – –«

»Und dann kommen die kleinen Pferdchen, die so – die so – –« Marlene verstummte und blickte zu Jürgen hinüber, der die Hand zur Faust ballte.

»Und Ziegen weiden auf den Wiesen. Die Menschen aber sind gut und freundlich. An den Sonntagen tragen sie eine besondere Kleidung. Oh, ihr werdet viel Neues sehen!«

»Weiß schon«, sagte Jürgen, »jeden Tag kommen Maulesel und bringen den Schnee von den Bergen herunter. Dann machen die Leute im Tale eine Sprungschanze, damit sie auch im Sommer auf den Schneeschuhen umherlaufen können.«

»Nein, Jürgen, so ist es nicht!«

»Mutti«, Adele drängte sich vor, »kriegen wir in Pinzau auch immer Kaputt?«

»Die Marlene macht alles kaputt«, schrie Jürgen.

»Mutti, kriegen wir Kaputt?«

Goldköpfchen verstand die Sprache ihres Fipses. »Ja, es gibt viel Kompott! Im Pinzgau wächst viel Obst, ihr werdet reichlich Obst zu essen bekommen.«

»Auch Eierkuchen?« fragte Erna.

Da öffnete sich die Zimmertür, Doktor Kirschner trat ein. Seine Sprechstunde war beendet. Man hatte ihm gesagt, daß seine Frau mit sieben Kindern im Wohnzimmer wäre. Alle hülfen beim Einpacken. Da war es richtig, wenn er das geplagte Goldköpfchen von der lebhaften Schar befreite. Wie konnte sie alles überlegen, wenn Hunderte von Fragen um sie herumschwirrten?

Er war kaum eingetreten, als sich Erna an ihn wandte. »Vati, – die Mutti wird fortfahren, und wir Kinder sind dann allein, ohne eine Mutti. Aber wir haben einen Vati, und Vati spielt mit den Kindern ganz besonders schön, wenn die Mutti fort ist. – Vati, versprich uns, immer recht schön mit uns zu spielen, damit die Mutti ohne Sorgen nach dem Pinzgau fahren kann. Wir sollen ihr auch versprechen, artig zu sein. – Vati, gib mir deine Hand darauf.«

»Nun, wenn der Vati Zeit hat, wird er gern mit euch spielen.«

»Hast du jetzt Zeit?«

»Ja, jetzt hat der Vati Zeit!«

Doktor Kirschner hielt es für richtig, seine Frau ungestört einpacken zu lassen. »Wer also mit dem Vati spielen will, der kommt mit.«

Alle stürmten hinter ihm her, nur Hermann blieb zurück. Er bat die Mutter, hierbleiben zu dürfen, um ihr alles herbeizuholen.

Im Herrenzimmer sah sich Doktor Kirschner von seinen Kindern umringt. Er ließ sich zum Diwan führen, und Erna befahl:

»Nu lege dich hin. Du bist jetzt ein Patient, und gleich kommt der Doktor!«

Doktor Kirschner legte sich auf den Diwan. »Warte«, rief Erna, »ich hole nur die Brille.« Sie schoß davon, um eine blaue Brille zu holen, die sie stets auf die Nase setzte, wenn sie den Arzt spielte. Währenddessen zog Fritz das Taschentuch heraus, um es dem Vater um den Hals zu binden.

Doktor Kirschner wehrte entsetzt ab. »Das ist ein Schmutzlappen, mein Junge, aber kein Taschentuch.«

»Laß nur, Vati, es heilt auch mit Dreck!«

»Nein, mein Junge, schäme dich, mit so einem unsauberen Taschentuch herumzulaufen. Gleich laß dir ein sauberes geben! Was hast du denn damit gemacht?«

»Ich soll mir doch nicht immer die Finger schmutzig machen, da habe ich eben die Kohlen in der Küche mit dem Tüchel angefaßt.«

»Ich muß erst den Puls des Kranken fühlen«, sagte Jürgen, »er hat furchtbar viele Schläge. Ich werde die Uhr ziehen.« Er nahm einen Stein aus der Tasche und starrte, während er die Hand des Vaters hielt, auf den Stein. »Ja, lieber Herr, Sie sind sehr krank. Man müßte Sie eigentlich auch nach dem Pinzgau schicken. – Aber wir werden das schon bekommen.«

»Hier tut es auch weh«, sagte der Vater, zog ein schmerzliches Gesicht und zeigte auf den Magen.

»Ach, das kennen wir«, sagte Jürgen verächtlich, »wenn ich mich überfressen habe, tut es da weh. Nehmen Sie Kamillentee, ich werde Ihnen den Tee sofort verschreiben.«

»Wo tut es noch weh?« fragte Marlene.

»Da so viele Ärzte um mich sind«, sagte der Vater, »werde ich bis morgen wieder gesund sein.«

»Das werden Sie, nehmen Sie nur Lebertran!«

Erna kam mit der blauen Brille zurück. »Nun, lieber Alter, wo schmerzt es?«

»Am rechten Fuß«, sagte der Vater.

»Haben Sie den Fuß gleich mitgebracht, damit wir ihn untersuchen können?«

»Ach, den habe ich daheim gelassen!« Doktor Kirschner unterdrückte das Lachen.

»Dussel«, rief Jürgen und stieß Erna zur Seite. »Herr Kollege, Sie sind recht dumm, der Fuß ist doch angewachsen. Also im rechten Fuß? Bitte, zeigen Sie mir die Schmerzstelle!«

Der Vater hielt den linken Fuß hin. Jürgen begann daran herumzudrücken. »Ja, hier fühle ich eine Schwellung, – da werden wir schneiden müssen.«

»Ach, Herr Doktor«, sagte Kirschner, »ich habe mich geirrt und Sie auch. Ich habe Ihnen ja den falschen Fuß hingehalten. In Zukunft müssen Sie besser aufpassen, Herr Doktor. Sie hörten doch, daß mein rechter Fuß schmerzt. Sie scheinen also ebenso unerfahren zu sein wie Ihre Kollegin, die Sie soeben von meinem Krankenlager fortstießen.«

»Das haste gut gesagt, Vati«, lachte Erna strahlend, »ich weiß ja, du hast mich als Doktor am liebsten, und darum werde ich dich jetzt veroperieren.«

In diesem Augenblick begann unten ein Drehorgelmann zu spielen. Da liefen alle Kinder aus dem Zimmer, die Operation war vergessen, und Doktor Kirschner erhob sich lachend von seinem Schmerzenslager.


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