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3. Kapitel
Die Schlange im Paradiese

Durch Hermann hatte Hella Brodowin erfahren, daß am Freitag die Schule schließe, daß man aber erst am nächsten Mittwoch die Sommerreise antreten wolle, weil man zunächst die Ankunft der guten alten Kinderfrau abwarten wollte.

Es war beschlossen worden, daß Frau Leuschner mit nach der Försterei kommen sollte, die Harald Wendelin zum vierwöchigen Aufenthalt ausersehen hatte. Dem Oberingenieur lag vor allem daran, für sich und Bärbel einen ruhigen Ort zu finden, Waldluft sollte allen neue Frische geben. Deshalb hatte man sich für die schön gelegene Försterei Tannengrund in Thüringen entschieden. Frau Leuschner würde weiterhin auf die drei Kinder aufpassen, so daß Bärbel ein wenig entlastet wurde und sich selbst Ruhe gönnen konnte.

Herr Wendelin hielt es für notwendig, daß seine Frau einmal gründlich ausspannte. Die lebhaften Kinder machten seinem Goldköpfchen recht viel zu schaffen, außerdem versah die junge Frau ihren Haushalt in so gewissenhafter Weise, daß sich tatsächlich immer Arbeit für sie fand und Bärbel eine längere Erholung nötig hatte.

Man freute sich auf die Reise. Sogar die Kinder, denen man eine Beschreibung der Försterei gegeben hatte, jauchzten in Erwartung all der schönen Dinge, die man dort sehen werde. Forstrat Schmeling kannte die Gegend, hatte diese Försterei empfohlen, und nun wurde er alltäglich bestürmt, von Tannengrund zu erzählen. Hermann und Jürgen wollten wissen, wieviel große und kleine Schweinchen der Förster habe, ob die Ziegen ganz weiß wären oder auch schwarze Flecken hätten, wie sie hießen, und ob auch kleine Ziegen da wären, was die Tiere gern fressen und anderes mehr.

Jürgen wollte sich Bonbons für sie aufsparen. Als man erfuhr, daß sie gern Salz schleckten, hatte Anna in der Küche ihre liebe Not. Jeden Tag bettelte Hermann um ein paar Löffel Salz. Jürgen sammelte alle Knochen und Fleischabfälle für die beiden großen Hunde des Försters. Er tat alles in eine Kiste, die unter seinem Bett stand. Diese Kiste mußte natürlich mitgenommen werden.

Ziemlich unzweideutig hatte man Fräulein Brodowin zu verstehen gegeben, daß man ihre Abreise zum Ende der Woche erwarte, da die letzten Tage mit Vorbereitungen für die Sommerreise in Anspruch genommen werden sollten.

Aber Hella erklärte plötzlich, daß sie bei allen diesen Vorbereitungen helfen könne, daß es gut und richtig sei, wenn das arme Bärbel entlastet werde, und wenn sie sich mit den Kindern beschäftige, bis Frau Leuschner heimkehre.

Harald Wendelin empfand eine ausgesprochene Abneigung gegen Hella Brodowin. Er merke sehr wohl, daß sie jede Gelegenheit suchte, mit ihm zusammen zu sein. Sie hatte ihn schon zweimal von der Fabrik abgeholt, und immer wieder war von ihr das Gespräch auf Bärbel gebracht worden, immer wieder wußte Hella von Streichen zu erzählen, die Bärbel begangen haben sollte. Mitunter hatte Wendelin sogar scharfe Zurückweisungen ausgesprochen, wenn Fräulein Brodowin mehrmals Bärbels Verhalten in ein allzu schiefes Licht rückte.

So war er auch heute wieder voller Ärger, als Hella abermals vor dem Fabrikausgang wartete und ihn lächelnd in Empfang nahm.

»Unser süßes Bärbel hat daheim alle Hände voll zu tun. Sie riet mir, den kleinen Spaziergang zu machen und Ihnen entgegenzugehen. Es ist heute so herrliches Wetter. Wollen wir nicht einen kleinen Umweg machen?«

»Ich bedaure unendlich, gnädiges Fräulein. Aber Sie wissen, der Tag unserer Reise rückt immer näher, Bärbel hat noch gar viel zu erledigen, und jede Stunde ist daheim eingeteilt.«

»Armes Bärbel. Wenn sie nur nicht so entsetzlich unpraktisch wäre. Von jeder angefangenen Arbeit läuft sie weg.«

»Wohl nur dann, wenn sie von dem Besuch gerufen wird«, erwiderte er lächelnd.

»Herr Wendelin!« Hella drohte ihm scherzhaft mit dem Finger. »Sie sind nicht sehr galant. Sie machen es genau wie Bärbel. Ich erinnere mich noch ganz genau, daß sie ihrer lieben Großmutter, bei der sie damals in Dresden weilte, mit ihrer Grobheit viel zu schaffen machte. Sie hatte da einen sehr netten Verehrer. Die beiden waren sich eigentlich schon einig. Bärbel war etwas anspruchsvoll. Du liebe Zeit, die Kleine wollte beständig in Konditoreien laufen, das konnte der arme junge Mann nicht bezahlen.«

»Was bezwecken Sie eigentlich damit, gnädiges Fräulein, daß Sie mir beständig derartige Episoden auftischen, die durch die Länge der Zeit in Ihrem Erinnern ein ganz anderes Gesicht bekamen? Ich kenne meine Frau seit ihrer Kindheit, bin stets in kleineren oder größeren Zwischenräumen mit Bärbel zusammengekommen und weiß von allen netten und törichten Jungmädchenstreichen. Das sind mir wirklich liebe Erinnerungen.«

»Glauben Sie wirklich, Herr Wendelin, daß Bärbel Ihnen alles erzählte, was sie als junges Mädchen und später in ihrer Lehrzeit ausfraß?«

»Nun haben Sie das Bedürfnis, mir alles das zu erzählen?«

»Wo denken Sie hin, Herr Wendelin. Ich bin Bärbels beste Freundin; ich gebe gern zu, daß sie eine gute Hausfrau ist, o ja, alles läuft wie am Schnürchen, aber Sie haben doch auch offene Augen. Von Erziehung versteht Bärbel anscheinend gar nichts.«

»Der Vorwurf müßte mich zuerst treffen, gnädiges Fräulein. Ich bin der Vater.«

»Nicht doch, Herr Wendelin, Sie sind den Tag über beschäftigt. Kleine Kinder gehören zur Mutter. Es ist natürlich schwer, solche süße Rangen zu regieren, aber auf den Charakter muß man doch von früh an achten.«

»Haben Sie bereits Charaktereigenschaften an meinen drei Kindern entdeckt, die aus dem Rahmen des Üblichen unangenehm herausfallen?«

»Ich möchte Sie um alles in der Welt nicht kränken, Herr Wendelin, ich genieße hier Gastfreundschaft. – Oh, ich will lieber schweigen.«

»Ich bin der Überzeugung, daß ich die Charaktere meiner Kinder genau kenne. Ich habe manchen Beweis von deren Aufrichtigkeit, Wahrheitsliebe und Ehrlichkeit erhalten. Daß alle drei ungeheuer wilde Rangen sind, weiß ich. Sie schlagen manchmal über die Stränge, mitunter geht ihr Übermut zu weit –«

»Gerade wie bei Bärbel.«

»Nun ja«, sagte er mit einem glücklichen Lächeln. »Wenn meine drei alle so werden wie ihre Mutter, will ich meinem Schöpfer danken.«

Hella Brodowin warf den Kopf in den Nacken. An diesen Mann war nicht heranzukommen. Aber mit dem Forstrat hatte sie vielleicht mehr Glück. Sie hatte dem alten Herrn schon manches erzählen können. Es ärgerte sie, daß Forstrat Schmeling soviel von der jungen Frau Wendelin hielt. Oh, sie hatte ihm von Gerhard Wiese, dem einstigen Unterprimaner, allerlei erzählt, der Bärbel so frech angedichtet hatte, von dem langen Hans Herwig, von dem Lautenlehrer, von den Flegeleien, die sich Bärbel ihren Lehrern gegenüber hatte zuschulden kommen lassen, und von vielem anderen.

Der Forstrat hatte aufmerksam zugehört. Er schien diese Nachrichten gierig aufzusaugen. Und gestern hatte er ihr sogar gesagt: »Wird es Ihnen nicht schaden, wenn Sie so lange in solch einem Hause weilen?«

Mitunter kam es ihr freilich vor, als sei das alles Ironie, aber der Forstrat war stets ausgesucht höflich und liebenswürdig zu ihr, außerdem schien sie an ihm einen glühenden Verehrer gefunden zu haben. Gewiß imponierte sie dem alten Herrn durch Schönheit und Eleganz.

Forstrat Schmeling stand im Garten, als Hella Brodowin in Begleitung des Oberingenieurs heimkehrte. Sie lächelte ihn freundlich an, reichte ihm die Hand, die er küßte.

»Was Sie doch für ein Glück haben, Herr Wendelin! Immer werden Sie von schönen Damen abgeholt, ich hingegen muß allein umherlaufen.«

»Oh, Herr Forstrat, wenn Sie durchaus einen Spaziergang machen wollen, so bin ich gern bereit, mit Ihnen zu gehen. Sie sollen so interessant plaudern können.«

»Ich kann mir nichts Schöneres denken, als mit einer solchen Wolke von Duft in die frische Luft zu gehen.«

Wieder lächelte Hella.

»Und von Ihren Erfolgen zu hören, mein gnädiges Fräulein. Wir sitzen hier in solch einem stillen Erdenwinkel, ich bin jedoch überzeugt, daß man in anderen Gegenden beständig Ihren Namen hört. Ich glaube, Sie waren auch schon in zahlreichen Zeitschriften abgebildet.«

»Schon sehr oft, in den verschiedensten Rollen.«

»Davon müssen Sie mir erzählen. Das heißt, es wird wohl kaum noch Zeit dazu sein. Sie reisen doch am Montag?«

»Ich?«

»Nun ja – Mittwoch fahren Wendelins ab, man muß doch die Leutchen an den beiden letzten Tagen allein lassen.«

»Bärbel möchte gar gern, daß ich mitfahre.«

»So 'ne schwindelhafte Person! Mir sagt Frau Bärbel, sie ist so froh, daß sie endlich den Besuch los wird, und Ihnen sagt sie – nee, mein gnädiges Fräulein, ich bliebe keine Stunde länger in solch einem Hause.«

Hellas Gesicht hatte sich für Sekunden verfinstert.

»Ich wäre auch schon längst abgereist, aber ich habe erst noch eine Mission zu erledigen. Ich warte seit zwei Tagen auf eine Nachricht, die wahrscheinlich so einschneidend ist, daß sich alles bei Wendelins ändert.«

»Das muß ja eine fabelhafte Nachricht sein.«

»Ich möchte jetzt darüber noch nicht reden, Herr Forstrat. Dank meiner Beziehungen bin ich in der Lage, Bärbel eine ganz andere Stellung zu geben.«

»Dunnerlüchting!«

»Das bleibt vorläufig noch mein Geheimnis.«

»Wird wohl auch ein ewiges Geheimnis bleiben.«

»Wie meinten Sie?«

»Ich meinte, daß man so etwas Wichtiges streng geheimhalten muß. Sie sehen, unser lieber Herr Wendelin hat sich bereits gedrückt. Er ahnt wohl auch noch nichts von den bevorstehenden Veränderungen?«

»Nein, keiner.«

»Aber so 'ne kleine Andeutung würde ich Frau Bärbel doch machen, daß sie sich schon darauf vorbereitet. Und nun wollen Sie noch so lange hierbleiben, bis diese Nachricht kommt?«

»Jawohl.«

»Und wenn das Monate dauert?«

»O nein, Herr Forstrat, eine so wichtige Angelegenheit wird in fieberhafter Eile betrieben.«

Obwohl Forstrat Schmeling im allgemeinen den Äußerungen Hellas keine Bedeutung beimaß, gingen ihm doch am heutigen Abend die Worte der »schönen Dame« nicht aus dem Sinn. Diese übergeschnappte Person, über die er sich zu gern lustig machte, bildete sich ein, daß er Gefallen an ihr fand. Er wollte Wendelins gern helfen, diesen Besuch möglichst bald abzuschieben. Aber das gelang wahrscheinlich nicht vor Mittwoch.

Obwohl Hella sah, daß überall schon gepackt wurde, machte sie keine Anstalten, das Haus zu verlassen. Bärbel zeigte ganz offen, daß sie ihr von Tag zu Tag lästiger wurde. Sie scheute sich sogar nicht, am heutigen Abend ganz offen zu sagen:

»Hast du den Tag deiner Abreise festgelegt, Hella? Du weißt doch, wir wollen am Mittwoch mittag fort.«

»Ich warte nur noch eine Nachricht ab, Bärbel. Außerdem glaube ich nicht, daß ich dir im Wege bin.«

»Du siehst, wir können uns dir nicht widmen. Hier in Heidenau hast du auch wenig Abwechslung, noch dazu jetzt, im heißen Sommer.«

»Wie gesagt, ich erwarte erst noch eine Nachricht. Ich wiederhole dir, liebes Bärbel, daß ich gern bereit bin, dir bei den Reisevorbereitungen zu helfen. Ich bin jung und elastisch, noch völlig unverbraucht, während du doch schon die Mutterlasten fühlst und schwer daran zu tragen hast.«

»Ich finde nicht, daß ich schon alt und mürbe bin.«

»Aber immerhin verbrauchter als ich, liebes Bärbel.«

»Nun, den Jahren nach ist ja freilich nicht viel Unterschied. Du bist fünfunddreißig, ich dreiunddreißig.«

Hella warf einen schnellen Blick zu Wendelin hinüber, der sich in diese Unterhaltung nicht einmengte, sondern gemächlich ein Butterbrot strich.

»Aber, Bärbel, ich glaube, du irrst dich. Du lieber Himmel, wenn ich schon dreißig wäre, es wäre fürchterlich für meinen Beruf.«

Goldköpfchen zog die Stirn kraus. »Den anderen magst du vorreden, was du willst, Hella, ich kenne dich aus der Obertertia. Als wir den Klub ›Blau-Blümelein‹ gründeten, hast du selbst darauf gepocht, daß du, als die Älteste, den Vorsitz haben müßtest. Wenn du eben inzwischen jünger geworden bist, soll es mir recht sein.«

Wendelin warf seiner goldhaarigen Frau einen leisen, mahnenden Blick zu. Er sah, wie die beiden Buben die Ohren spitzten. Die Unterhaltung brauchte doch nicht vor den Kindern geführt zu werden. Es war ihm aber auch verständlich, daß seine Frau, die jeder Lüge abhold war, sich über die unwahren Behauptungen Hellas entrüstete. Er gab dem Gespräch daher eine andere Wendung, und auch Hella sorgte dafür, daß der Zwischenfall rasch vergessen wurde.

In der Kinderstube ging es am heutigen Abend sehr lebhaft zu.

»Fünfunddreißig Jahre, ach, ist die alt!« stellte Jürgen fest.

»Fünfunddreißig«, philosophierte Hermann. »Das ist freilich furchtbar alt. Noch älter als die Mutti. Aber sie sieht hübsch aus.«

»Nu, wenn sie auch aus der anderen Welt kommt!«

»Das macht die Kasmotik und der rosa Creme, sowie Salon, und das andere Zeug mit dem verrückten Namen. Das hat sie gesagt. Das alles muß 'ne Dame aus der anderen Welt haben.«

Jürgen legte sich im Bett zurecht, wandte sich auf die Seite und sagte: »Ich kann sie nicht leiden, sie ist verrückt!«

»Nein, verrückt ist sie nicht«, meinte Hermann, »sie ist schön. Erna muß auch mal 'ne Dame aus der anderen Welt werden.«

»Ja«, klang es verschlafen aus dem dritten Bettchen. »Erna will eine Dame aus der anderen Welt werden.«

»Sie hat ganz andere Striche über den Augen als die Mutti. Und immer so rosa ist sie, oh, und wie sie riecht.«

»Halte den Mund!«

»Ich möchte mal sehen, wenn sie das hübsche rosa Hemdchen anhat, wie sie dann aussieht.«

»Wenn du jetzt nicht stille bist, komme ich und verhaue dich!«

Hermann lag noch ein Weilchen mit offenen Augen im Bett. Das Bild der schönen Hella Brodowin stand vor seinen Augen. Sie hatte ihm heute abend zugeflüstert, daß sie ihm morgen ein Geheimnis anvertrauen wolle, etwas sehr Schönes. – Was mochte das wohl sein?

»Ob sie auch schwarze Füße haben?«

»Was willst du denn, Jürgen?«

»Die Zicklein, beim Förster.«

»Quatsch!« Hermann schwärmte in Gedanken weiter von Hella Brodowin. –

In fieberhafter Spannung wartete Hella auf den Brief der Filmgesellschaft. Wenn sie auch niemals eine größere Rolle bei dem Unternehmen zu spielen bekommen hatte, war sie doch mit dem Regisseur gut befreundet und wußte, daß man seit Monaten nach einem talentvollen Knaben suchte, der in einer der kommenden Filmaufnahmen eine größere Rolle spielen sollte. Geeignete Knaben waren natürlich vorhanden, aber niemals hatten die Eltern ihre Einwilligung gegeben, oder es hatte sich später herausgestellt, daß die Erwartungen, die man an den jungen Darsteller knüpfte, nicht erfüllt wurden.

Hermann Wendelin hatte schon so häufig Proben seines Talentes gegeben, daß es zweifellos feststand, er bringe alles das mit, was man für einen neuen jungen Künstler brauchte.

Sie wußte, daß sie mit Wendelins große Schwierigkeiten haben würde. Doch das machte nichts. Gerade weil sich Bärbel jetzt um so viel anderes zu kümmern hatte, gelang es ohne Schwierigkeiten, sich mit Hermann zu entfernen. Man würde den Zug nach Berlin benutzen, Reisegeld sollte die Firma schicken, denn Hellas Kasse war äußerst knapp. Sie hatte die Talente des Knaben ins hellste Licht gesetzt und erwartete mit Bestimmtheit, daß man sich diese gute Gelegenheit nicht entgehen lassen würde, ein junges Talent zu angeln.

Bedenklich war, daß der Tag der Abreise immer näher herankam. Wenn der erwartete Brief bis Mittwoch nicht eintraf, fielen alle ihre Pläne ins Wasser. Vergeblich hatte Hella versucht, Bärbel zu bewegen, die Reise bis Ende der Woche hinauszuschieben. Goldköpfchen hatte kurz erklärt, es stehe alles fest, zu ändern gäbe es nichts mehr.

Was tun? Irgendein Hindernis mußte eintreten, damit die Reise verschoben wurde. So kam der schlechte Charakter Hellas immer deutlicher zum Vorschein. Sie suchte sich ihr Opfer aus, das war die kleine Erna.

Kurz vor dem Essen rief sie das Kind zu sich und fütterte es mit der herrlichsten Schokolade und allerlei Konfekt. Als Erna schließlich nichts mehr mochte, redete ihr Hella noch mehr zu, versprach ihr ein goldenes Kettchen; und auf diese Weise stopfte die Kleine die Süßigkeiten noch weiter in sich hinein.

Die Folge war, daß Erna das Mittagessen nicht anrührte. Da ihr von Hella verboten worden war, von den erhaltenen Süßigkeiten etwas zu sagen, da Hella ihr sogar Schläge angedroht hatte, ahnte Bärbel nichts von den Gründen, die Erna zwangen, das Essen zu verweigern.

»Du wirst essen!«

Erna begann zu weinen. Sie nahm einige Löffel von der Suppe, hörte jedoch sehr bald wieder auf.

»Ich kann nicht essen!«

Durch Bärbels Strenge wurde Erna gezwungen, noch etwas zu sich zu nehmen, und die Folge war, daß die Kleine sich am Nachmittag nicht wohlfühlte. Hella brachte ihr etwas süßen, schweren Wein. Am Abend fieberte Erna. Hella bemühte sich auffallend um die Kranke, wachte argwöhnisch darüber, daß nichts bekannt wurde, wußte das kranke Mädchen trotzdem zu überreden, einige Stückchen Schokolade zu essen.

Da die brave Kinderfrau am Vormittag zurückgekehrt war, gelang es Hella nur schwer, mit der kleinen Erna allein zu sein. Doch die Kleine hatte sich den Magen schon so stark überladen, daß sie sich während der ganzen Nacht unruhig im Bettchen umherwarf.

Bärbel war ratlos. In zwei Tagen sollte die Sommerreise angetreten werden. Nun legte sich Erna zu Bett. Es war ausgeschlossen, daß man am Mittwoch fuhr, selbst wenn die Erkrankung schnell vorüberging.

Frau Leuschner hatte es durchgesetzt, daß sie des Nachts mit dem kranken Kinde zusammen schlief. Und in dieser Nacht, als Erna so jämmerlich zu weinen begann, vertraute sich das verängstigte Kind der alten, treuen Freundin an.

Frau Leuschner glaubte ihren Ohren nicht zu trauen. Das sah ja fast aus, als habe Fräulein Brodowin das Kind mit Absicht krank machen wollen. Frau Leuschner hatte den Besuch erst seit Stunden gesehen, doch gleich vom ersten Augenblick an empfand sie die größte Abneigung gegen solch eine geschminkte und aufgeputzte Person.

Da man wußte, woher die Krankheit kam, war es natürlich ein leichtes, passende Gegenmittel anzuwenden. Erna schlief auch schließlich ein, Frau Leuschner hingegen lag noch lange wach und beschloß, in aller Frühe den Herrschaften Mitteilung zu machen, was hier vorgefallen sei.

Harald Wendelin und Bärbel saßen allein zusammen beim Morgenkaffee, als die treue Kinderfrau ins Zimmer trat und Bericht erstattete.

»Das Fräulein hat der kleinen Erna streng verboten, etwas von den erhaltenen Näschereien zu sagen. Ich möchte ja nichts Schlimmes denken, gnädige Frau, aber wenn ein Fräulein ein Kind vor dem Mittagessen derart mit Süßigkeiten vollstopft, ist das entweder die größte Unvernunft oder Bosheit.«

Einige Augenblicke schwiegen alle. In Wendelin stieg sofort der Verdacht auf, daß Hella Brodowin mit voller Absicht die Erkrankung der kleinen Erna herbeigeführt habe. Und auch Bärbel dachte ein gleiches. Nur zu oft hatte Hella in letzter Zeit von einem Verschieben der Sommerreise gesprochen. Es lag in ihren Wünschen, daß Wendelins noch in Heidenau blieben.

»Ich danke Ihnen, Frau Leuschner«, sagte Bärbel. »Ich komme nachher hinüber, um nach Erna zu sehen.«

»Sie schläft, gnädige Frau, und das Köpfchen ist nicht mehr so heiß. Ich denke, morgen ist unser Kleinchen wieder gesund.«

Sie war gegangen. Bärbel schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Heute schmeiße ich sie hinaus!«

Trotz seines Ärgers mußte Harald über seine temperamentvolle Frau lachen. Immer wieder zeigte es sich, daß Bärbel nichts von ihrer ursprünglichen Frische und Lebhaftigkeit eingebüßt hatte, obwohl sie Mutter von drei Kindern war.

»Absicht war es! Sie will noch länger hierbleiben! – Nun aber raus mit ihr, und wenn sie nicht gutwillig geht, schicke ich Anna ins Zimmer, daß sie alles einpackt. Warum sagst du gar nichts, Harald?«

»Ist es nicht genug, wenn du deine Pläne faßt?«

»Am Ende vergiftet sie uns alle drei Kinder. Dieses Scheusal! Mit ihren abrasierten Augenbrauen – dieser Farbentopf! Sie soll nur ruhig zurück zu ihren Filmleuten gehen, ich habe sie niemals gemocht. – Warum kam sie überhaupt erst her?«

»Ich fürchte, sie hatte kein Engagement und wollte den Sommer über irgendwo billig leben.«

»Das gibt es nicht! Sie soll zu ihren Leuten gehen. Heute noch reist sie ab!«

»Willst du ihr das nicht etwas weniger temperamentvoll sagen, mein liebes Goldköpfchen?«

»Nein, Häschen, ich werde es ihr so sagen, wie es mir ums Herz ist.«

»O weh«, lachte der Gatte, »da wird sie manches zu hören bekommen. Vielleicht ist es besser, ich spreche mit ihr.«

»Nein, Harald, das ist Frauensache. Du bist ein sehr guter Mensch, Häschen, aber den Frauen gegenüber zu galant. Du wirst nicht so zu ihr reden wie ich. Dir macht sie schöne Augen, vielleicht weint sie auch ein bißchen, und dann gibst du nach.«

»Oho, Goldköpfchen, bin ich solch ein Schwächling?«

»Nein, ein Schwächling bist du nicht, Häschen, aber grob kannst du auch nicht sein. – Schweige nur still, Häschen, ich weiß das aus eigener Erfahrung. Oder soll ich dich daran erinnern, wie ich dich einmal furchtbar gekränkt habe? Weißt du es noch? Ich hatte mir eingebildet, du liefest einer anderen Frau nach. Da hast du auch nicht mit mir gescholten, und du hattest doch damals wirklich ein Recht dazu.«

»Mein liebes, kleines Goldköpfchen.«

»Den Farbentopf werfe ich ganz allein hinaus! – Nein, solch eine Gemeinheit! Wer weiß, was das für eine schlechte Schokolade war! Und dann habe ich die kleine Krabbe noch gezwungen, Linsensuppe zu essen, 'raus fliegt sie heute. Am liebsten ginge ich gleich jetzt hinüber und sagte ihr: ›Zieh dir nur sogleich das Reisekleid an. Um zehn Uhr fährt dein Zug.‹«

»Ich hoffe, daß meine kleine Frau die Grenzen des Anstandes nicht verletzen wird, auch wenn sie im Augenblick furchtbar ärgerlich ist.«

»Die Grenzen des Anstandes hat der Farbentopf längst verletzt. Auge um Auge, Zahn um Zahn, Häschen. – Na, hab' nur keine Sorge, ich will ihr schon gründlich meine Meinung blasen.«

Harald sah seine Frau lachend an.

»Warum lachst du, Häschen?«

»Weil ich gerade gestern den Hermann gehört habe. Er stand unten im Garten und rief ganz laut: ›Dem werde ich die Meinung blasen!‹ Ob er das wohl von dir hatte, Goldköpfchen?«

»Ach ja«, sagte sie seufzend, »man muß schrecklich acht auf sich geben, wenn man drei Kinder hat, die alles aufschnappen. Aber nun will ich hinüber zu Erna gehen. Du mußt ja doch gleich fortgehen.«

Wendelin nahm zärtlich den goldblonden Kopf seiner Frau zwischen beide Hände und küßte sie auf die Stirn.

»Morgen zum letzten Male, dann geht es in die Ferien. Weißt du, ich freue mich darauf, wie damals, als ich, ein junger Student, nach Dillstadt reisen durfte.«

»Und diesmal wird es in den Ferien noch viel schöner werden, Harald. Auch ich freue mich auf den grünen Wald und den ländlichen Frieden.«

Einige Minuten später fühlte Goldköpfchen vorsichtig den Kopf ihrer Jüngsten an. Sie nickte zufrieden.

»Ich denke, Frau Leuschner, daß wir die Reise um höchstens einen oder zwei Tage hinauszuschieben brauchen.«

Ehe Hella Brodowin beim Frühstück erschien, war Goldköpfchens Zorn ein wenig verraucht. Trotzdem erschien eine tiefe Falte auf der Stirn, als ihr Hella lächelnd die Hand zum Morgengruß reichte.

»Ich bitte dich, Hella, nachher deine Sachen einzupacken. Deine Abreise muß noch heute erfolgen.«

»Ganz unmöglich, Bärbel!«

»Durchaus nicht unmöglich, Hella. Lange genug haben wir dir davon gesprochen, daß wir am Mittwoch reisen wollen.«

»Erna ist doch erkrankt.«

»Jawohl, Erna ist erkrankt. Wer trägt die Schuld daran? Du allein, Hella. Ich denke, es ist in deinem Interesse am besten, wenn wir darüber nicht weiter sprechen.«

»Was heißt denn das, Bärbel?«

»Das heißt, daß ich es mir ganz energisch verbitte, daß du meine Kinder vor dem Mittagessen mit Schokolade fütterst. Meine Kinder bekommen an Süßigkeiten das, was sie brauchen. Du hast den Magen Ernas in ganz unvernünftiger Weise überladen.«

»Ich? – Wie kommst du dazu, das zu sagen?«

»Mach' erst keine Ausreden, Hella.«

»Bärbel, was ist das für ein Ton?«

»Es ist der Ton einer entrüsteten Mutter. Soll ich dir sagen, was ich vermute? Daß du die viele Schokolade Erna mit einer ganz besonderen Absicht zu essen gabst.«

»Das wird ja immer besser! Solch eine Behandlung bin ich allerdings nicht gewöhnt, Bärbel.«

»Ich bitte dich daher nochmals, den heutigen Mittagszug zu benutzen.«

»Ich soll abfahren, ohne mich von deinem Manne zu verabschieden? Solch eine Unhöflichkeit traust du mir doch wohl nicht zu.«

»Harald läßt dir eine gute Reise wünschen.«

»Soso, Häschen ist also damit einverstanden. – Ach, nicht möglich! Dabei versicherte er mir erst gestern, daß es für ihn die größte Freude sein würde, wenn ich mit nach Tannengrund käme.«

»Er denkt gar nicht daran, er will dort seine Ruhe haben.«

»Glaubst du, ich lüge dir etwas vor?« Hella schaute mit zusammengekniffenen Augen auf Bärbel. »Ich hätte geschwiegen, Bärbel, denn ich halte es nicht für korrekt, Unfrieden in der Ehe zu stiften. Wenn du mich aber der Lüge zeihst, will ich dir nur sagen, daß mich dein Häschen sehr gern hier sieht.«

»Mein Mann ist eben viel zu rücksichtsvoll, dir seine Meinung ins Gesicht zu sagen.«

»Liebes Bärbel, dein Mann ist ein hochkultivierter Mensch. Er sieht Frauen gern, die auf ihr Äußeres halten. Du müßtest etwas mehr Wert auf gutes Aussehen legen.«

»Meinst du vielleicht, ich sollte mir die Augenbrauen rasieren und mich anmalen? Ich glaube nicht, daß Harald einen geschminkten Mund küssen wird.«

»Ich will den Frieden deiner Seele nicht stören, aber er hat mir doch sein Herz ausgeschüttet. Die Männer sind nun einmal so, daß sie neben ihrer Frau auch noch etwas zum Bewundern haben wollen.«

Diese Worte machten auf Goldköpfchen gar keinen Eindruck. Sie kannte ihr Häschen viel zu gut. Sie wußte sich von ihm so innig geliebt, daß auch nicht die geringste Regung von Eifersucht in ihr aufsprang.

»Also noch einmal«, begann sie kurz, »der Zug von Dresden nach Berlin fährt um zwölf Uhr vier Minuten. Von Heidenau nach Dresden hast du immer Anschluß. Ich werde zur Zeit ein Auto bestellen, das dich zum Bahnhof bringt.«

Hella lachte spöttisch auf. »Wenn du mich durchaus auf diese taktvolle Weise hinauswirfst, werde ich natürlich nicht länger bleiben. Aber um zwölf Uhr kann ich unmöglich reisen. Ich werde heute abend, gegen sieben Uhr, nach Dresden fahren. Das andere braucht dich nicht mehr zu kümmern. Und ein Auto bestelle ich mir allein.«

Bärbel atmete erleichtert auf. Sie ahnte wohl, daß Hella noch bis zum Abend hierbleiben wollte, um nochmals mit Harald zu reden. Sie würde dort aber auch keinen Rückhalt finden. Heute abend war man diesen lästigen Besuch wieder los, dann wollte man am Donnerstag oder Freitag die Ferienreise antreten.

Kaum hatte Hella das Zimmer verlassen, als sie mit leiser Stimme nach Hermann rief. Wie glücklich der Zufall spielte! Am heutigen Morgen war der erwartete Brief der Filmgesellschaft eingegangen. Man schrieb ihr, man sei neugierig auf den Knaben, sie solle ihn in Berlin vorstellen. Möglichst bald. Reisegeld sei gleichzeitig per Postanweisung an sie abgegangen. Vielleicht könne es Fräulein Brodowin möglich machen, ihn am Mittwoch vormittag vorzustellen.

In Hellas Gesicht leuchtete es schadenfroh auf. Hermann hatte seit Freitag Ferien. So bestand nach dieser Richtung hin kein Hindernis. Geld war unterwegs, sie mußte nun nur noch eine passende Gelegenheit suchen, mit dem Knaben ganz heimlich das Haus zu verlassen.

So saß denn Hermann in Hellas Zimmer und hörte voller Erstaunen zu, was sie ihm erzählte.

»Du wirst ein reicher Junge werden, wirst in den schönsten Hotels wohnen und darfst immerfort Theater spielen.«

»Brauche ich dann nicht mehr in die Schule zu gehen?«

»Du bekommst einen besonderen Lehrer.«

»Muß ich bei dem noch mehr lernen?«

»Nein, Hermann, der Mann muß sich immer nach dir richten, denn du bist ein Künstler.«

»Und bekomme ich auch Strümpfe mit Blumen drauf?«

»Natürlich, du wirst bald in seidene, bald in Samtgewänder gekleidet werden, die Zeitungen bringen dein Bild. – Du darfst im Luftschiff fliegen. Die ganze Welt kennt dich bald. Oh, es wird herrlich werden!«

»Und heute soll ich mit dir fortfahren?«

»Jawohl, Die Eltern dürfen es aber nicht wissen.«

»Weißt du, Tante, dann bekomme ich aber mächtige Prügel, wenn ich wiederkomme. Wir müssen immer erst fragen, wenn wir fortgehen wollen.«

»Dein Vater wird glücklich sein, wenn er einen so berühmten Sohn hat. Du mußt aber zu jedermann schweigen. Versprichst du mir das?«

»Wir wollen doch auf die Försterei fahren.«

»Du kommst nach Berlin, dort ist es viel schöner. Denke doch einmal, wenn du auf der Leinwand bist. Du hast doch auch schon ein Kinotheater besucht? Es wird dir viel Freude machen.«

»Kommen der Vati und die Mutti auch mit nach Berlin?«

»Später, mein lieber Junge. Zuerst will man dich sehen.«

Dann erzählte Hella Brodowin ausführlich von dem Leben eines kleinen Filmkönigs, von den zahlreichen Freuden und Genüssen, von schönen Reisen. Der Ausdruck in dem Knabengesicht wurde immer gespannter.

»Bald spielst du einen Prinzen, bald einen armen Jungen, einen Musikanten, dann einen Zeitungsboy, jeden Tag etwas anderes. Jetzt soll ein großer Film gedreht werden, für dich, mein Junge.«

»Bekomme ich alle die schönen Kleider geliefert?«

»Alles, alles und noch viel mehr. Bald bist du ein Knabe mit blonden Locken, dann mit schwarzen Haaren. Du bekommst einen Scheitel, und auch dein Gesicht verändert man.«

»Au, Gesichter schneiden kann ich kräftig.«

»Das ist gar nicht nötig, Hermann. Es kommt ein Herr, der hat allerlei Farben, damit malt er dich an.«

»Ach, so wie du hier!«

»Nun, so ähnlich. Du mußt doch immer anders aussehen, wenn du eine neue Rolle spielst.«

»Aber das Zeug geht doch so schlecht ab.«

»Du mußt dich nur tüchtig mit Vaseline abreiben und dann mit warmem Wasser waschen.«

»Muß ich mich dann auch immerzu waschen, wenn ich beim Film bin?«

»Natürlich, sehr oft sogar, mein Junge.«

»An einem Tage mehrmals?«

»Selbstverständlich, mein Kind.«

»Weißt du, Tante Hella, dann will ich doch lieber auf die Försterei fahren. Die olle Wascherei kann ich gar nicht leiden. – Muß ich mir sogar die Ohren waschen, wenn ich beim Film bin?«

»Aber, Hermann, was bist du doch für ein dummer Junge! Reichtum und Glück stehen dir bevor. Also heute mittag fahren wir, und niemand darf es wissen. Meine Koffer werden vorher auf die Bahn gebracht. Du brauchst weiter nichts. Einen anderen Anzug bringst du mir ins Zimmer, den packe ich mit ein. Die Eltern dürfen nichts erfahren, hörst du?«

»Wenn ich mich aber immerzu waschen soll? – Aber der Mutti darf ich es doch sagen?«

»Nein, auch nicht der Mutti.«

»Na, wenn ich doch bis Berlin fahren soll.«

»Das ist ja eben unser Geheimnis.«

»Das muß ich mir erst noch überlegen.«

»Aber, Hermann, du wirst mir doch keinen Strich durch die Rechnung machen? Berlin ist wunderbar schön. Du machst deinen Eltern eine große Freude, wenn du berühmt wirst. Du kommst in eine ganz neue Welt.«

Hermann überlegte. Er hatte noch viele Einwendungen zu machen. Er war schließlich ganz wirr im Kopfe von Tante Hellas vielem Erzählen. Diese aber nützte seine Unentschlossenheit aus.

»Nun lauf rasch hinüber in dein Schlafzimmer und bringe mir deinen Sonntagsanzug und die guten Schuhe. Aber rasch, mein Junge.«

Hermann verließ nachdenklich das Zimmer. Im Kinderzimmer saß Jürgen und spielte. Anna war gerade mit dem Aufräumen beschäftigt.

»Sag mal, Anna, möchtest du eine Stellung haben, in der du dich immerzu waschen mußt?«

»Ich wasche mich an jedem Morgen ordentlich, das genügt.«

»Siehst du, das meine ich auch. Es genügt sogar, wenn man sich nur am Sonntag ordentlich wäscht und in der Woche nur den Staub wischt im Gesicht. Wenn ich nun eine Stelle bekomme, wo ich mich immerzu waschen muß.«

Als er den Sonntagsanzug aus dem Schrank nahm, wehrte Anna ab.

»Der wird heute nicht angezogen.«

»Angezogen wird er nicht, Anna, nur eingepackt.«

»So, dann nimm ihn.« Anna dachte daran, daß Frau Bärbel, die beim Einpacken war, den Knaben beauftragt hatte, den Anzug zu holen.

Als aber Hermann draußen auf dem Flur stand, den Anzug unter dem Arm, wurde ihm das Herz schwer. Er kam zurück ins Zimmer.

»Anna! Ist es in Berlin schöner oder auf der Försterei Tannengrund?«

»Natürlich ist es in der Försterei Tannengrund schöner. Besonders jetzt im Sommer.«

»Ach, du weißt das nicht. Ich will mal den Onkel Forstrat fragen.«

Er warf den Anzug mitten in die Stube und stürmte die Treppe hinab.

»Onkel Forstrat, würdest du lieber heute mittag nach Berlin fahren oder übermorgen nach Tannengrund?«

»Natürlich nach Tannengrund.«

»Würdest du gern ein ganz berühmter Mann sein, der in Samt und Seide angezogen wird, der nicht mehr in die Schule zu gehen braucht, sondern einen Lehrer bekommt, aber – du mußt dich an jedem Tage mehrmals waschen. Würdest du so eine Stelle annehmen?«

»Was ist denn das für eine schöne Stellung?«

»Ich darf um Himmels willen nichts sagen, Onkel Forstrat. Aber sie will mich doch mitnehmen.«

Der Forstrat witterte Unheil. Auch gestern wieder hatte Hella Brodowin davon gesprochen, daß sich bei Wendelins in Kürze etwas ereignen würde.

»Wer will dich mitnehmen? Erzähle mir doch etwas mehr von der Stellung.«

»Dem Vati und der Mutti darf ich auch nichts sagen; aber bei dir ist das was anderes. Sie packt schon die Sachen ein, und heute mittag soll es losgehen.«

Zehn Minuten später wußte der Forstrat alles. Dem Knaben gegenüber zeigte er keinerlei Empörung.

»Du wärest ja schön dumm«, sagte er ganz ruhig, »wenn du mit Fräulein Brodowin nach Berlin fahren wolltest. In Tannengrund warten die vielen kleinen Schweinchen auf dich, und ein großer Ziegenbock ist auch da – und so viele Ziegen und weiße Kaninchen. Der Förster nimmt dich auf seinem Wagen mit, dann darfst du kutschieren. – Was willst du denn in Berlin? Laß nur Tante Hella allein dorthin fahren. Denk doch mal«, der Oberförster neigte sich an das Ohr des Knaben, »dort brauchst du dich auch nicht an jedem Tage zu waschen.«

»Wirklich nicht, Onkel Forstrat?«

»Im Walde kommt es nicht so darauf an.«

»Ich fahre mit nach Tannengrund!«

»So ist es recht, mein Junge. Nun will ich mal hinaufgehen und dem Fräulein Brodowin selbst sagen, daß du nicht mitkommst.«

»Fein, au fein! Ich fahre nach Tannengrund und nicht nach Berlin!«

Mit diesem lauten Ruf stürmte Hermann die Treppe hinauf und lief der Mutter gerade in die Arme.

»Mutti, ich fahre lieber nicht nach Berlin, ich komme mit dir.«

Ehe Bärbel antworten konnte, sah sie den Forstrat kommen. Dieser winkte nur mit der Hand zum Zeichen, daß sie den Knaben nicht weiter fragen möge.

Vom Forstrat erfuhr sie dann alles. Erneut stieg die Empörung in ihr hoch.

»Ich danke Ihnen herzlich, Herr Forstrat. Aber lassen Sie nur, ich werde selbst zu Hella hineingehen.«

Sie stand vor der erstaunten Freundin.

»Es ist mir sehr recht, Hella, daß du schon am Mittag fahren willst. Es ist auch die allerhöchste Zeit, daß du unser Haus verläßt. Auf Hermann brauchst du nicht erst zu rechnen. Derartigen Unsinn kannst du an anderer Stelle erzählen. Meinst du, mir erschiene dein Beruf beneidenswert? Und auch meine Kinder will ich vor dieser Welt des Scheins bewahren. Suche dir, wen du willst, dafür; Hermann gebe ich nicht dazu her. Aber schäme dich, die Kindesseele vergiften zu wollen. Und nun will ich dich nicht länger beim Einpacken stören. Ich bedaure es, daß du den Weg zu mir fandest, ich hoffe, daß wir uns nicht so bald wiedersehen.«

Hella antwortete nichts darauf. Sie stand abgewandt von Bärbel und suchte im Schrank herum.

Gegen elf Uhr kam sie fertig angekleidet zu Bärbel, fragte, ob sie telephonieren dürfe. Sie brauche ein Auto.

Zehn Minuten später war der Wagen da. Mit spöttischem Lächeln trat Hella abschiednehmend zu Bärbel.

»Ich scheide aus eurem Paradiese, ich kann nicht sagen, daß der Aufenthalt paradiesisch schön war.«

»Laß es dir gut gehen, Hella.«

»Ich weiß mir meine Zukunft zu zimmern, jedenfalls habe ich nicht das Verlangen, vor dem Küchenherd in Heidenau zu verkümmern.«

Das Auto fuhr davon. Ein befreiender Seufzer kam von Bärbels Lippen. Dann ging sie zurück ins Haus, breitete beide Arme aus.

»Mein Heim, mein Paradies! Wieviel Glück birgt es in sich. Die Schlange ist 'raus, mein Haus ist wieder gesäubert!«


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