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2. Kapitel
Die Dame von Welt

Wie an jedem Nachmittag, saß Goldköpfchen auch heute wieder am Fenster vor dem Nähtisch. Von Zeit zu Zeit blickte sie nach den im Garten spielenden Knaben. Erna, die Jüngste, weilte wieder unten beim Onkel Forstrat, der die Kleine über alle Maßen liebte, sich aber auch dauernd mit ihr neckte.

Hermann und Jürgen waren eifrig bei der Arbeit. Sie hatten sich vom Kaufmann ein großes Pappschild geben lassen, das den Kopf eines Mannes zeigte. Dieses Plakat war in einen Sandhaufen gesteckt; die Knaben bemühten sich, mit Hilfe einer Gießkanne aus dem Sand einen haltbaren Brei zu machen, denn der Männerkopf sollte ein Untergestell erhalten.

Jürgen bemerkte die Mutter am Fenster.

»Mutti, der Vati ist gleich fertig! Fein, nicht wahr?«

Goldköpfchen fand nun freilich, daß der Mann, der ein Schuhputzmittel anpries, mit ihrem Harald gar keine Ähnlichkeit habe. Sie wollte jedoch den Kindern die Freude nicht verderben und nickte. Ein Weilchen vertiefte sie sich wieder in die schwierige Arbeit des Flickens, doch plötzlich horchte sie auf. Sie hörte sich selbst unten im Garten.

»Häschen, liebes Häschen, wir wollen heute nachmittag ausgehen. Häschen, dein Goldköpfchen braucht ein neues grünes Seidenkleid mit blauen Spitzen. Und dann wollte ich dir noch sagen, Häschen, ziehe doch mal dem Jürgen die Hosen stramm, er ist so unartig.«

»Ich bin doch nicht unartig«, klang es zurück.

»Hast du gehört, Häschen, was er für ein ruppiges Scheusal ist. Ach, Häschen, dein Goldköpfchen hat Sorgen. Und nun, Häschen, gib mir noch einen Kuß.«

Frau Bärbel warf die Arbeit auf den Tisch, beugte sich aus dem Fenster und rief energisch: »Hermann, was soll das?«

Hermann, der soeben den Sandhaufen erklommen hatte, um dem Pappkopf einen Kuß zu geben, schrumpfte in sich zusammen.

»Hast du mich gerufen, Mutti?«

»Was macht ihr denn dort unten?«

»Oh, Mutti«, rief Jürgen, »er spielt Goldköpfchen, und das hier ist der Vati. Mutti, paß mal auf. Nu mach' weiter, Hermann.«

Aber Hermann sah in die strafenden Augen der Mutter und begann im Sande zu wühlen.

»Mutti, er kann es fein, nicht wahr? Er hat genau so 'ne Piepstimme wie du. Hahaha, Mutti, ist das fein!«

»Ihr laßt jetzt das alberne Spielen sein, Kinder! Das ist ja gar nicht der Vati.«

»Nee, das ist nicht der Vati«, lachte Jürgen, »das ist der Onkel Forstrat mit dem Glatzkopp!«

»Du sollst so etwas nicht sagen, Jürgen.«

»Weißt du, Mutti, heute dürfen wir wieder mal gar nichts.«

»Ihr sollt artig spielen, dann habe ich nichts dagegen.«

Jürgen hatte den Sandberg erklommen, versetzte dem Pappschild einige kräftige Stöße. »Oller Dussel, wenn wir doch nicht spielen dürfen.«

Frau Bärbel seufzte. Wo hatte der Junge nur wieder diesen Ausdruck her? Sie erinnerte sich deutlich, daß sie diese Worte in ihrer Kindheit oftmals gebraucht hatte. Sie hatte deswegen manchen Verweis von der Mutter erhalten.

»Baut mal eine schöne Sandburg. Macht euch dabei aber nicht zu naß.«

Dann wollte sich Frau Bärbel wieder an die Arbeit begeben, als sie unten das eigensinnige Aufkreischen ihrer Jüngsten hörte.

»Bin keine Pottifa!«

Erna kam aus der Wohnung des Forstrates gelaufen, stellte sich noch einmal vor die Fenster hin, stampfte mit dem Füßchen auf und rief vor Zorn krähend:

»Bin keine Pottifa!«

»Ja, ja«, klang es gemütlich aus dem Zimmer heraus. »Bist doch eine.«

»Ich bin doch keine Pottifa!«

Tränen des Zornes traten dem Kinde in die Augen. Die beiden Knaben sahen es, klatschten vergnügt in die Hände, umtanzten die kleine Schwester und jubelten:

»Pottifa! Pottifa! Pottifa!«

Dann fragte Jürgen den älteren Bruder: »Du, was ist denn das?«

Hermann zuckte mit den Schultern. »Sie ist eben eine Pottifa.«

»Bin keine Pottifa!« brüllte jetzt die kleine Erna los. »Ich will kein Pottifa sein!«

Wieder riß Bärbel das Fenster auf. »Erna, was fällt dir ein!«

»Mutti, bin ich ein Pottifa?«

»Ja, Mutti, sie ist ein Pottifa!«

Inzwischen war der Forstrat in den Garten gekommen. Er lachte über das ganze Gesicht.

»Da habe ich ja was Schönes angerichtet, liebe, gnädige Frau.« Und nun geschah etwas, was Bärbel das Blut siedend heiß ins Gesicht trieb. Erna lief mit geballten Fäusten auf den Forstrat zu, hämmerte auf ihn ein und rief erregt:

»Bin keine Pottifa!«

»Erna! Erna!«

Der Forstrat verbiß sich erneut das Lachen, hob den kleinen Eigensinn hoch, hielt ihm die Ärmchen fest und sagte begütigend: »Jetzt bist du freilich keine Pottifa, jetzt bist du ein unartiges Mädchen. Darfst du den Onkel Forstrat schlagen?«

»Hahaha, sie ist eine Pottifa«, kreischte Jürgen.

Da machte sich die kleine Erna aus den Armen des Forstrates frei, lief auf den Bruder zu; und schon im nächsten Augenblick lagen beide Kinder sich balgend auf der Erde. Hermann hatte die Hände in die Hosentaschen gesteckt und schaute schmunzelnd zu. Wenn Erna erlahmen wollte, rief er:

»Er hat gesagt, du bist 'ne Pottifa, hau ihn feste!«

Da stand die Mutter im Garten. Sie trennte die beiden Geschwister, die sich noch immer auf der Erde wälzten. Jürgen atmete schwer, die kleine, hitzige Schwester hatte ihm zu schaffen gemacht.

»Ich habe wenigstens die Bommel von ihrem Kragen.« Er schwenkte die rote Quaste in der Luft. »Und du bist doch eine Pottifa!«

»Mutti«, schluchzte Erna, deren Gesicht über und über schmutzig war, »bin ich eine Pottifa?«

»Nein, aber ungezogene Rangen seid ihr alle drei. Für heute ist es aus mit dem Spielen. Ihr geht sogleich hinauf. Du, Erna, bittest zuerst den Onkel Forstrat um Entschuldigung.«

Zunächst stand die Kleine unbeweglich da und schoß Blitze aus ihren Kinderaugen zu dem alten Herrn hinüber.

»Nun, soll ich es zweimal sagen?«

»Onkel, ich bitte dir um Entschuldigung.«

Der Forstrat nahm die Kleine hoch, streichelte ihr zärtlich die Wange. »So ist es artig, und nun bist du auch keine Pottifa mehr, jetzt bist du wieder meine liebe kleine Freundin.«

Aber Erna hatte heute nichts mehr mit dem Forstrat im Sinn. Sie eilte gar bald von ihm fort und ging den Brüdern nach. Bärbel hörte nur noch die erregte Kinderstimme: »Na, warte nur, dir verhau' ich gleich, oller Lümmel!«

Der Forstrat trat an Frau Bärbel heran.

»An diesem Auftritt war ich leider schuld, liebe Frau Goldköpfchen, ich habe wirklich nicht geahnt, daß ich solch eine Tragödie damit heraufbeschwöre.«

»Was ist eigentlich gewesen, Herr Forstrat? Ich hörte Erna schreien. Was will sie?«

Der Forstrat lachte. »Die Kleine spielt so gern mit mir Kratzbürste. Wenn ich mich nun unglücklicherweise gerade rasiert habe, zankt sie mich aus. Ich soll immer kratzen. Dann will sie mir einen Kuß geben. So auch heute. Ich sagte ihr, daß ich heute leider nicht kratze. Sie hat mich aber immer wieder umschmeichelt, ich solle es doch so einrichten, daß ich kratze. Die Kleine kann gar so niedlich betteln. Ein kleines, süßes Küßchen, nur so ein ganz kleines. Da sagte ich ihr, ›du bist wie die Madame Potiphar‹. Erst haben wir noch ein Weilchen zusammen geschäkert, dann wurde es mir zu viel, und ich sagte: ›Nun geh' fort, Potiphar.‹ Ein Wort gab das andere, und schließlich erklärte mir die Kleine, sie sei keine Pottifa; und als ich das behauptete, wurde die kleine Krabbe wild. Das ist alles.«

»Ach, Herr Forstrat, was haben Sie mit meinen Kindern auszustehen!«

»Lassen Sie mir doch diese Freude, Frau Goldköpfchen. Solch ein alter Mann wie ich, der noch nicht gebrechlich ist, wird wieder jung, wenn ihn die Jugend umtollt. Ich möchte die drei Kinder und ihre kleinen Unarten nicht missen.«

»Sie sind furchtbar gut und nachsichtig, Herr Forstrat.«

»Mutti! Mutti! Der Großvater kommt!« Hermann stürmte in den Garten.

»Mutti, der Großvater kommt!« Es war die Stimme Jürgens.

»Gleich kommt der Großvater!« Erna brachte als dritte die Botschaft.

»Der Großvater? Woher wißt ihr das?«

»Ein Telegramm ist gekommen. Damals ist der Großvater auch hinter dem Telegramm hergekommen.«

Unten im Flur stieß Goldköpfchen mit dem Telegraphenboten zusammen, der ihr sagte, daß er oben dem Mädchen ein Telegramm abgegeben habe.

»Hurra, der Großvater kommt!« schrie Hermann.

»Und das Schaukelpferd bringt er mir mit!«

»Und mir 'ne große Puppe mit Klapperaugen. Mutti, wann kommt der Großvater?«

Währenddessen hatte Goldköpfchen das Telegramm geöffnet, das ihr das Mädchen brachte.

»Mutti, wir gehen alle zur Bahn, nicht wahr?«

Hermann sah der Mutter aufmerksam ins Gesicht. Sie schien sich gar nicht zu freuen, daß der Großvater kam. Sie blickte noch immer auf das geöffnete Blatt.

Den Kindern dauerte es zu lange. Sie eilten davon. Es konnte gar nicht mehr lange dauern, dann kam der Großvater. Im vorigen Jahre war es genau so gewesen. Was er wohl mitbringen würde?

Währenddessen war Frau Bärbel mit dem Telegramm hinauf ins Wohnzimmer gegangen. Der Besuch, der sich ankündigte, den man nicht mehr absagen konnte, sagte ihr gar nicht zu. Nochmals las sie: »Große Überraschung für dich. Hoffentlich freudige. Komme heute abend besuchsweise zu der alten Freundin. Bitte um Aufnahme für drei Wochen. Hella Brodowin.«

Hella Brodowin! Das war die um zwei Jahre ältere Schulkameradin gewesen, die man nicht leiden konnte, weil sie stets ein unehrlicher, unaufrichtiger Charakter gewesen war. Niemals hatten sich freundschaftliche Bande um Bärbel und Hella geschlungen. Auch aus der Backfischzeit hatte Bärbel nur ein unangenehmes Erinnern an Hella. Damals war der Klub »Blau-Blümelein« gegründet worden, der Klub, in dem Hella den jungen Mädchen geraten hatte, man müsse sich auflehnen gegen die Autorität der Eltern. Es war zu stürmischen Auftritten gekommen, bis Goldköpfchen eines Tages den Mut gefunden hatte, aus dem Klub auszutreten, in dem man sich gelobt hatte, zu allem zu schweigen, niemals eine Schulkameradin bloßzustellen, sie stets zu schützen. Hella Brodowin hatte diesen Schwur zu allerlei unschönen Dingen ausgenützt. Bärbel hatte durch sie gar manche Unannehmlichkeit gehabt.

Und später. Man hatte beim Verlassen der Schule verabredet, daß man sich nach zehn Jahren wieder treffen wollte. Wie hübsch war dieses Zusammenkommen doch damals gewesen. Man hatte viele liebe Erinnerungen aufgefrischt. Da war Hella Brodowin gekommen, übermäßig elegant gekleidet, und hatte den Frieden durch ihr lautes und auffallendes Benehmen gestört. Sie war zur Bühne gegangen, erzählte von rauschenden Erfolgen. Man hatte niemals etwas von ihr gehört. Nun plötzlich dieses Telegramm. Wie kam Hella dazu, Bärbel aufzusuchen, sich für drei Wochen als Besuch anzumelden? Man hatte keinen Briefwechsel unterhalten, man war sich fremd geworden. Und nun diese plötzliche Anmeldung?

Bärbel war ratlos. Konnte sie Hella die Aufnahme abschlagen? Konnte sie, wenn Hella kam, sagen, daß es unmöglich sei, sie zu beherbergen? Und gleich drei Wochen wollte die ehemalige Mitschülerin bleiben. Ja, wenn ihr Hella lieb gewesen wäre, würde dieser Besuch gewiß erfreulich sein; aber diese aufgeblasene, eingebildete Schauspielerin paßte so gar nicht zu der häuslichen Bärbel.

Goldköpfchen telephonierte nach der Fabrik und ließ Harald an den Apparat rufen.

»Es wird uns zunächst nichts übrigbleiben, als deine Bekannte aufzunehmen. Du kannst ihr aber gleich beim Kommen sagen, daß wir für drei Wochen nicht vorbereitet seien, zumal wir in den bevorstehenden Ferien mit den Kindern verreisen wollen.«

»Na ja«, meinte Bärbel. »Vielleicht gefällt es ihr bei uns gar nicht. Wenn sie nur erst wieder fort wäre!«

Dann rief sie nach dem Mädchen, weil das Fremdenzimmer hergerichtet werden mußte.

»Ich weiß schon, gnädige Frau, Herr Wagner kommt.«

»Nein, Anna, es kommt eine bekannte Dame von mir, Fräulein Brodowin.«

»Aber Hermann ist doch schon zum Bahnhof gegangen, um Herrn Wagner abzuholen.«

Bärbel seufzte auf. Es gelang ihr noch, Jürgen und Erna abzufassen, die ebenfalls dem Großvater entgegengehen wollten.

Wie ungelegen kam dieser Besuch gerade jetzt! Frau Leuschner war nach Pommern zu ihrer verheirateten Tochter gefahren. Bärbel hatte ihr gern einen Urlaub von drei Wochen gegeben. Nun kam Hella Brodowin. Die Kinder würden natürlich die neue Tante nicht in Ruhe lassen. Bärbel hatte ein unbehagliches Gefühl, wenn sie daran dachte, daß ihre drei lebhaften Rangen gar oft mit Hella zusammen sein würden. Ob sie bei ihr viel Gutes lernten? Aber sie konnte Frau Leuschner unmöglich zurückrufen, diese hatte in Pommern ja Großmutterpflichten zu erfüllen, auch tat der ältlichen Frau die Ruhe recht gut.

Ohne Schwierigkeiten konnte Bärbel ausrechnen, wann der Zug in Dresden einlief. Von dort gab es dauernd Verbindungen mit Heidenau. Ein Fuhrwerk war immer am Bahnhof, das brachte Hella mit ihren wahrscheinlich zahlreichen Gepäckstücken nach der Villa. Bärbel schwankte lange, ob sie zum Bahnhof gehen sollte. Da sie aber nicht wissen konnte, ob sich Hella noch in Dresden aufhielt, zog sie es vor, den Besuch daheim zu erwarten.

Als Harald aus der Fabrik kam, war Hella Brodowin noch nicht eingetroffen. Dagegen kam Hermann mit finsterem Gesicht ins Zimmer.

»So viele Züge habe ich abgewartet. Warum kommt er denn nicht?«

Der Knabe war sehr enttäuscht, als man ihm sagte, daß man eine Dame erwarte. Sein Gesicht hellte sich aber auf, als er erfuhr, daß Hella Brodowin eine Schauspielerin sei.

»Au fein, mit der spiele ich Theater!«

Das war seine ganze Leidenschaft. Schon in der Schule gab er Sondervorstellungen, machte sich seine Stücke selbst, spielte Herren- und Damenrollen hintereinander und begeisterte damit seine Mitschüler. Hella Brodowin war für Hermann mit einem Schlage eine interessante Persönlichkeit geworden, die er sehnlichst erwartete.

Am späten Abend fuhr Hella Brodowin vor. Die Kinder lagen schon in tiefem Schlummer. In ihrer lauten Weise begrüßte sie die Hausfrau.

»Warst du nicht mächtig erstaunt über mein Telegramm? Wenn ich nicht fest davon überzeugt wäre, daß du dich über mein Kommen freust, mein Herzchen, wäre ich nicht gekommen. Aber ich habe nach meiner anstrengenden Tätigkeit ein großes Bedürfnis nach Ruhe. Oh, was hast du für einen reizenden Gatten! Bin ich Ihnen auch wirklich willkommen, Herr Wendelin?«

»Wir waren auf Ihren Besuch allerdings nicht vorbereitet, mein gnädiges Fräulein. Die großen Ferien stehen vor der Tür, unsere Erholungsreise ist ausgearbeitet und soll nicht aufgeschoben werden. Aber bis dahin haben wir ja noch volle acht Tage Zeit.«

»Oh, Herr Wendelin, das tut mir leid. Natürlich sollen Sie meinetwegen Ihre Dispositionen nicht ändern. Ich habe mich nur danach gesehnt, wieder einmal mit Bärbel zusammen zu sein. Wir können später sehen, wie wir es einrichten. Zunächst bin ich hier und freue mich herzlich, in Ihnen einen so liebenswürdigen Gastgeber gefunden zu haben.«

Man saß beim Abendessen. Hella plauderte vergnügt und viel.

»Ach, wenn ich an unsere Schulzeit, an die herrliche Backfischzeit zurückdenke. Haben Sie Ihre kleine, süße Frau damals schon gekannt, Herr Wendelin?«

»Jawohl, gnädiges Fräulein, ich kannte mein Bärbel schon als kleines Mädchen.«

Hella Brodowin drohte Bärbel mit dem Finger, an dem vier unechte Ringe blitzten.

»Du hast mir niemals etwas davon gesagt, du kleine Heimliche. Aber so warst du immer. Ach, Herr Wendelin, wenn Sie wüßten, was wir für tolle Streiche ausgefressen haben! Bärbel war dabei wohl immer die Schlimmste. Weißt du noch, Schätzchen, wie wir den Klub ›Blau-Blümelein‹ gründeten? Du hast den Beitrag nicht zahlen wollen. Ich glaube, du hast das Geld vernascht, das du bekommen hast. Und dann hast du uns allerlei vorgeschwindelt.«

»Ich glaube, du irrst dich, Hella«, erwiderte Bärbel darauf.

»Und deine vielen Liebeleien mit den Schülern vom Kant-Gymnasium. Ach ja, hinter Bärbel Wagner waren alle her. Über dich hat man so manchen Klatsch erzählt.«

»Und wie geht es Ihnen in Ihrem Beruf, mein gnädiges Fräulein?« versuchte Harald, sie abzulenken.

»Ganz vortrefflich. Zum Herbst wird ein großer Film mit mir gedreht.«

»Sie sind beim Film? Ich glaubte Sie beim Theater.«

»Beides, mein Freund. Ich habe so viele Anträge, aber man kann doch nicht alles annehmen. Ich war auch jetzt wieder von der bedeutendsten Filmfirma eingeladen, nach Island zu reisen. Ich habe es jedoch abgelehnt. Ich kenne Island wie meine Westentasche, und ich –«

»Na, na«, meinte Bärbel trocken.

»In meinem Beruf kommt man viel in der Welt herum. Das verstehst du natürlich nicht, liebes Bärbel. Du bist eine Hausfrau, die am Kochherd steht, ich bin eine Dame der Welt und gehöre in die Öffentlichkeit.«

»Ich wünsche dir, Hella, daß du dich in deinem Beruf so glücklich und zufrieden fühlst, wie ich es tue. Ich habe mein Heim, meine Kinder, ich möchte nichts anderes sein.«

»Nun ja, mein Schäfchen. Ich freue mich, daß du so zufrieden bist. Als wir das letztemal zusammen waren, hattest du doch so manche Klage zu führen. Ja, ja, mein lieber Herr Wendelin, ich glaube, Sie machen unserem lieben Bärbel mitunter viel zu schaffen.«

»Ich wüßte nicht, Hella, daß ich bei unserem damaligen Zusammensein irgendeinen Grund zum Klagen gehabt hätte. Du wirst es verwechseln.«

»Schon gut, mein Herzblatt. Also hier lebt ihr? Ist es nicht sehr einsam?«

Bärbel atmete auf, als Hella endlich erklärte, sie wolle sich nun zurückziehen.

»Habt ihr auch genügend Bedienung? Ist jemand da, der mir beim Auspacken hilft?«

»Nein, Hella.«

Obwohl Anna ganz gut hätte helfen können, lehnte es Bärbel ab. Die Art und Weise ihres Besuches verärgerte sie.

»Nun, dann muß ich es allein besorgen. Ich wollte euch nicht zumuten, auch noch meine Zofe zu beherbergen. Wenn man sein Leben lang an Bedienung gewöhnt ist, wird man ein wenig träge.«

Hella war gegangen. Goldköpfchen wartete, bis die Tür des Fremdenzimmers ins Schloß gefallen war. Dann schaute sie zu Harald hin.

»Schade, daß die Schule erst in acht Tagen schließt!«

»Nun, diese acht Tage werden auch vergehen. Vielleicht fährt die junge Dame schon eher wieder ab. Ich glaube, es wird ihr bei uns nicht gefallen.«

Es schien aber doch, als sage der Aufenthalt im Wendelinschen Hause dem Gaste zu. Schon zwei Tage später hatte Hella mit den drei Kindern herzliche Freundschaft geschlossen. Immer wieder erfand Bärbel eine Ausrede, um die drei aus der Nähe der Schauspielerin zu entfernen, doch unglücklicherweise war die junge Frau durch andere Besuche und Verpflichtungen stark in Anspruch genommen, so daß die Kinder ziemlich ohne Aufsicht waren.

Besonders Hermann war der auserkorene Liebling Hellas.

»Mein Junge«, sagte sie, »du hast fabelhaftes Talent. Weißt du auch, daß Kinder, die so gut begabt sind wie du, Tausende verdienen können? Da ist zum Beispiel ein kleiner Knabe, der Jacky Coogan, der im Film die verschiedensten Hauptrollen spielt. Er bekommt zehntausend Mark für ein Auftreten. Wenn ich dich empfehlen würde, Hermann, du könntest in einem Jahre Millionär sein.«

Mit weit geöffneten Augen lauschte der Knabe den Worten. Alles, was ihm Hella Brodowin erzählte, interessierte ihn aufs höchste. Für ihn war diese Schauspielerin etwas ganz besonders Feines und Vornehmes. Die blitzenden Ringe an den Fingern, die vielen Ketten um den Hals, die klirrenden goldenen Armbänder, alles das hatte er in solcher Fülle bei seiner Mutti niemals gesehen. Außerdem hatte Hella einen Schlafrock aus rosa Seide, mit aufgenähten bunten Blumen, und dazu rosa seidene Pantoffeln. Einfach fabelhaft! Das Interessanteste aber waren ihr Waschtisch und das kleine Tischchen daneben. Allerlei schöne Fläschchen und Büchschen standen darauf. Selbstverständlich hatte Hermann schon danach gefragt, was das alles wäre. Auch Jürgen betrachtete interessiert die vielen Fläschchen mit den kleinen Pinseln.

»Was ist denn das, Tante Hella?«

»Das braucht eine Dame von Welt.«

»Bist du eine Dame von Welt?« fragte Jürgen.

»Natürlich, mein Kind.«

»Was ist denn das?« fragte die kleine Erna.

»Oh, ihr süße Schafherde, eine Dame von Welt ist eine Dame, die von allen Leuten verehrt und gefeiert wird. Sie muß natürlich anders auftreten als zum Beispiel eure Mama. Das ist nur eine Hausfrau, aber ich bin eine Dame von Welt.«

Sechs Kinderaugen blickten bewundernd zu ihr auf. Jürgen tippte auf ein Büchschen, das ihm besonders gut gefiel.

»Das hier und all das andere, braucht das immer eine Dame von der anderen Welt?«

»Jawohl, kleines Dummköpfchen.«

»Was machst du denn damit?«

»Damit macht man sich schön und interessant.«

»Du bist doch immer schön«, sagte Hermann bewundernd. »Du brauchst dich nicht noch schöner zu machen.«

»Wann machst du dich denn immer schön?« fragte Jürgen.

»Früh und abends.«

»Kann ich das nicht auch mal sehen?«

»Nein, nein, du süßes Schaf, das ist nichts für kleine Kinder.« –

Mit diesem Ausspruch hatte Hella Brodowin die Neugier der Kinder erweckt. Sie saßen flüsternd zusammen, überlegten hin und her, wie sie es wohl anstellen könnten, um zu sehen, wenn sich eine Dame von der Welt schön und interessant machte.

»Möchtest du auch eine Dame von der Welt sein?« fragte Jürgen die kleine Schwester.

»Ja!« nickte diese.

»Ob die Mutti auch eine Dame von der anderen Welt sein möchte?«

»Nein«, meinte Hermann. »Die Tante hat doch gesagt, unsere Mutti ist nur eine Hausfrau. Die Mutti hat auch nicht so schöne goldene und silberne Sachen. Die Tante muß furchtbar reich sein. Wenn du groß bist, Erna, mußt du auch so 'nen schönen Schlafrock haben wie sie.«

Dann überlegten die drei erneut, wie man die Verschönerung der Dame von der Welt sehen könnte.

»Abends haben wir keine Zeit«, stellte Hermann fest. »Da sind wir schon zu Bett. Aber früh, da schläft sie lange. Da müssen wir mal zu ihr. Oder am Sonntag.«

»O ja, am Sonntag, das ist übermorgen!« –

An diesem Nachmittag fuhr Bärbel mit Hella nach Dresden. Kaum hatten die beiden Damen das Haus verlassen, als die drei Kinder in Hellas Zimmer huschten.

»Ich bin so neugierig«, sagte Hermann, fiebernd vor Aufregung. »Ich möchte gar zu gerne wissen, was sie noch alles hat.«

Dann ging das Staunen an. Im obersten Kommodenkasten lagen allerlei interessante Sachen. Handtaschen, die mit Gold und Silber bestickt waren, Strümpfe, mit einer Blume bemalt, und blaue, grüne, rosa Wäschestücke.

»Sie ist wirklich eine Dame von der anderen Welt«, stellte Hermann fest. »Ich muß sie auch schon bewundern. Die Mutti hat das alles nicht.«

Jürgen hatte indessen einige Büchschen geöffnet.

»Sieh mal das Rote hier, Hermann.« Er tippte mit dem Fingerchen darauf und roch daran.

»Oh«, rief Hermann voller Begeisterung, »das kenne ich. Damit beschmiert sich die Mutti die Fingernägel, und dann wischt sie darauf herum.«

»Wollen wir mal probieren?«

Die Nagelpolitur wurde aufgestrichen. Aber auch die Schminke, die die Kinder nicht kannten, gab ein vortreffliches Tuschmittel ab.

»Hei, jetzt können wir Indianer spielen«, frohlockte Hermann.

Was alle die anderen Wässerchen zu bedeuten hatten, wußte niemand. Nachdem sich Hermann und Jürgen mit schwarzen, roten und graublauen Flecken bemalt hatten, verließen sie jubelnd das Zimmer, um sich dem Onkel Forstrat zu zeigen.

Dieser schlug die Hände über dem Kopf zusammen. »Was habt ihr denn gemacht, Kinder?«

»Nur angemalt.«

»Ist das Farbe aus dem Malkasten?«

»O nein, Onkel Forstrat«, sagte Hermann. »Die haben wir von Tante Hella. Komm mal mit, was die für schöne Sachen hat. Ein rosa Hemd und ein hellblaues und Strümpfe mit 'ner Blume drauf. Komm doch mal mit!«

»Aber, Jungens, ich kann doch nicht ins Zimmer einer fremden Dame gehen.«

»Das ist eine Dame von einer anderen Welt!« rief Jürgen. »Da kannst du 'reingehen.«

»Und ich, Onkel Forstrat, ich werde ein großer Filmschauspieler und bekomme 'ne Million. Dann kaufe ich dir 'ne neue Zahnbürste, Onkel Forstrat. Aus deiner fallen schon die Haare 'raus.«

»Was machst du?«

»Gestern habe ich ollen Dreck gegessen, da stand gerade deine Stube auf. Da bin ich 'reingegangen und habe mir die Zähne mit 'ner Bürste geputzt. Weißt du, plötzlich habe ich dann den Mund voller Haare gehabt.«

»Was hast du gemacht?«

»Nun, ich habe eben Grünes gekaut, da war noch Erde dran. Das roch abscheulich. Dann habe ich mir schnell die Zähne mit deiner Bürste geputzt.«

»Ihr seid ja ein fürchterliches Volk!«

»Jawohl, Onkel Forstrat, ich werde ein großer Filmschauspieler und bekomme 'ne Million. Tante Hella spielt dann mit mir. Sie macht die Dame von der anderen Welt, und ich bin ein verlassener Knabe. Gestern haben wir auch zusammen gespielt. Sie sagt, ich sei das größte Talent in ganz Europa.«

»Mein Junge, laß dir nur keine Rosinen in den Kopf setzen.«

»Wenn ich dann 'ne Million habe, braucht die Mutti nicht mehr Strümpfe zu stopfen, dann kaufen wir immer gleich neue. Auch solche mit Blumen, Onkel Forstrat.«

»Jetzt wischt euch zuerst mal die Schminke von den Gesichtern, Jungens, ihr seht schauderhaft aus. Wenn Fräulein Brodowin heimkommt, wird sie euch tüchtig auszanken.«

»Ach, wo denkst du hin, Onkel Forstrat!«

»Habt ihr auch alles wieder hübsch in Ordnung gebracht?«

Es erfolgte keine Antwort. Die beiden Knaben blickten sich ein Weilchen wortlos an.

»Hast du auch alles in Ordnung gebracht, Jürgen?« forschte Hermann.

»Weiß nicht.«

»Dann würde ich euch doch raten, meine lieben Jungens, geht wieder hinauf und macht Ordnung, bevor die Tante heimkommt.«

Das leuchtete den Knaben ein. Hermann wischte sich schnell einmal mit dem Blusenärmel über das Gesicht und stellte erst in Hellas Zimmer fest, daß die Farbe nicht gewichen war.

Unordentlich lag hier alles durcheinander. Fläschchen und Büchschen waren geöffnet, ein Fläschchen sogar umgeworfen. Die beiden begannen sogleich aufzuräumen. In dem Kommodenkasten hatte man alles durcheinandergeworfen. Es war unmöglich, die Sachen wieder ordentlich zusammenzulegen.

»Was ist denn das?« Jürgen zog eine Maske aus Gaze hervor, die ringsherum Blechstreifen aufwies. Die beiden Knaben betrachteten dieses rätselhafte Ding, eine Erklärung konnten sie dafür nicht finden. Wie sollten sie auch etwas davon wissen, daß Hella des Nachts eine Gesichtsmaske trug, um die Bildung von Runzeln zu verhüten.

»Der Dreck geht ja nicht 'runter«, stellte Hermann fest, nachdem er vor dem Spiegel nochmals sein Gesicht mit dem Blusenärmel kräftig bearbeitet hatte. Er holte das eine Handtuch, hatte aber auch damit wenig Erfolg.

»Da werden wir uns wohl leider waschen müssen.«

Wasser und Seife nützten wohl ein wenig, doch die verräterische Röte war noch immer auf Stirn und Wangen deutlich zu sehen.

»Ich glaube«, sagte Hermann ein wenig kleinlaut, »wenn sie es merkt, bekommen wir Haue.«

»Vielleicht kommt die Mutti so spät heim, daß wir schon im Bett liegen.«

»Aber wenn der Vati kommt, der haut auch.«

»Wollen lieber mal zur Anna gehen.«

Anna sah sofort die schlecht gereinigten Gesichter. »Was habt ihr denn schon wieder angestellt?«

»Anna, weißt du, was 'ne Dame von der Welt ist?«

»Das geht mich nichts an. Was habt ihr denn gemacht?«

»Möchtest du nicht mal 'rüberkommen und im Zimmer von Tante Hella rasch Ordnung schaffen? Hast du auch grüne Hemden, Anna?«

»Nein.«

»Dann bist du auch keine Dame von der anderen Welt.«

»Seid ihr in Fräulein Brodowins Zimmer gewesen?«

»Ja.«

»Habt ihr dort gekramt?«

»Aber feste!«

»Ihr Rangen, dürft ihr das? Na, laßt nur den Vater heimkommen, der wird euch schon lehren, anderer Leute Sachen zu durchsuchen.«

Beunruhigt ging Anna hinüber ins Fremdenzimmer. Hermann folgte ihr. Er zog den einen Kommodenkasten auf.

»Bring doch mal den Kram wieder in Ordnung.«

Den drei Kindern war es nicht ganz wohl ums Herz, als die Stunde herankam, in der ihr Vater erwartet wurde.

»Anna«, sagte Hermann kleinlaut, »kannst du mir nicht mal den blauen Anzug geben, den ich im Winter anhabe?«

»Wozu brauchst du denn den dicken Anzug?«

»Ach, Anna, du bist doch immer so gut und immer so lieb, du magst mich doch leiden?«

»Wozu willst du denn den dicken Anzug?«

»Das sage ich dir später. Gib ihn mir nur für ein Weilchen her.«

»Aber du gehst nicht aus dem Hause damit!«

»Nein.«

Nach einer Weile kam Jürgen, Anna sollte ihm den dicken Wintermantel geben.

»Was habt ihr denn schon wieder für eine Maskerade vor?«

»Einen feinen Spaß«, sagte Jürgen.

Die gutmütige Anna holte auch den Wintermantel hervor, und hocherfreut stürmte Jürgen davon. Dann hörte sie eine ganze Weile nichts von den Kindern.

Inzwischen traf der Vater ein.

»Nanu«, sagte er zu Anna, die ihm das Essen brachte, »ist die ganze Familie ausgeflogen?«

»Nein, Herr Wendelin, die Kinder sind im Kinderzimmer.«

Er zog die Stirn in Falten. Wenn niemand zur Begrüßung erschien, war etwas in Unordnung.

»Was ist denn wieder vorgefallen, Anna?«

Aber Anna zog es vor, möglichst rasch aus dem Zimmer zu kommen.

Der Oberingenieur stand auf und ging hinüber ins Kinderzimmer. Dort saßen artig auf der Bank nebeneinander die drei Geschwister. Sie lächelten den Vater gar freundlich an.

»Na, bist du wieder da, gutes, liebes Väterchen?« sagte Hermann.

»Warum sagt mir denn heute keiner guten Tag?«

»Wir – wollten dich nicht stören.«

»So kommt doch mal her zu mir.«

Alle drei blieben wie festgenagelt auf der Bank sitzen.

»Herkommen, Kinder!«

Sie erhoben sich langsam. Wendelin schaute seine drei Sprößlinge erstaunt an. Was war denn hier vorgefallen? Alle drei schienen mehrere Kleidungsstücke übereinandergezogen zu haben. Besonders Hermann war dick ausstaffiert.

»Wie seht ihr denn aus?« Der Oberingenieur faßte seinen Ältesten an und stellte fest, daß Hermann ungefähr vier Hosen angezogen haben mußte. Und Jürgen sah ebenso gefährlich aus. Er hatte über den Wintermantel den Matrosenanzug gestreift und dabei den einen Ärmel ausgerissen. Erna hatte sich einige Tücher umgebunden. Sie konnte kaum laufen.

Hermann legte beide Hände auf den Hosenboden und schaute den Vater treuherzig an.

»Wollt ihr mir nicht sagen, was das heißen soll? Friert ihr denn so sehr, jetzt, im Monat Juni?«

»Wir meinten, es könnte ein Gewitter kommen, und dann könnte es einschlagen. Vati, wenn du eine Frau kennenlernst, eine wunderschöne Frau, und eine Dame von der anderen Welt, würdest du dann auch in ihr Zimmer gehen und nachsehen, was sie hat?«

»Aha!«

»Weißt du, Vati, das ist nämlich furchtbar interessant.«

»Kurz heraus, ihr seid wieder einmal neugierig gewesen und waret in Fräulein Brodowins Zimmer?«

Hermann klatschte in die Hände. »Jeden Tag sage ich es in der Schule, daß ich einen furchtbar klugen Vati habe. Was du auch alles weißt!«

»Oh, dein Vati weiß noch mehr, Hermann, nämlich daß ihr dort drüben wahrscheinlich Dummheiten angestellt habt, daß es euch nachher zum Bewußtsein kam, ihr verdientet deswegen Strafe, und daß ihr euch alle drei den Hosenboden vorsorglich gepolstert habt, damit Vatis Hand nicht gar zu fühlbar wird.«

»Was du auch alles weißt! Es stimmt, Vati!«

»Nun erzähle mir, was ihr im Zimmer von Fräulein Brodowin angestellt habt.«

»Weißt du, Vati, sie ist 'ne Dame von der anderen Welt. Da muß man sich doch interessieren. Du hast doch auch gesagt, du möchtest gern wissen, was oben auf dem Stern los ist, dem Mars. Das ist doch auch 'ne andere Welt. Wir waren auf Forschungsreise, Vati, wie der Mann, von dem du uns neulich erzählt hast, der auf einen ganz hohen Berg gekraxelt ist und doch nicht bis an die Spitze kam. Das ist doch nicht schlimm, Vati.«

»Fang mir nicht wieder mit deinen langen Erzählungen an. Ich will ohne Umschweife wissen, was ihr im Zimmer von Fräulein Brodowin angestellt habt.«

»Glaubst du, Vati, daß der Mann noch mal auf den Berg 'raufkommt?«

»Hast du meine Frage gehört, Hermann?«

»Na, also, wir wollten auch was erforschen. Sie hat so viele Töpfchen, oh, und so feine Sachen! Vati, wenn ich mal groß bin, dann schenke ich der Mutti ein Hemd aus ganz dünnem rosa Stoff. Das hat sie, Vati, soll ich dir das feine Hemd mal holen?«

»Wie kommt ihr dazu, in den Sachen anderer Leute herumzukramen?«

»Und dann, Vati, dann hat sie –« Hermann legte zwei Finger an den Mund und küßte sie. »Oh, Vati, dann hat sie auch noch ein grünes Hemd, weißt du, so hellgrün, wie es die Fee hatte in der Theatervorstellung. Au, Vati, sie hat überhaupt feine Sachen! Sie muß furchtbar reich sein. Und dann, Vati, kannst mir's glauben, Strümpfe, da drauf ist 'ne Blume. Hast du auch Strümpfe mit 'ner Blume?«

»Darf man sich Sachen ansehen und durchsuchen, die einem nicht gehören?«

»Nein, Vati, das darf man nicht. Aber wir wollten doch nur mal nachgucken.«

»Ich werde mich nachher bei Fräulein Brodowin erkundigen. Habt ihr Schaden angerichtet, dann sollt ihr alle drei eure verdiente Strafe bekommen. Wenn deine kleine Schwester noch nicht weiß, daß das Herumsuchen in fremden Sachen verboten ist, mußt du als Ältester doch genügend Verstand haben, um zu wissen, was Recht und Unrecht ist.«

»Und der Jürgen müßte den Verstand auch haben«, erwiderte Hermann heftig. »Immer soll ich alleine den Verstand haben.«

Vati erhob den Zeigefinger.

»Na ja«, sagte Hermann, »ist ja schon gut.«

»Nun zieht euch vernünftig an. Mutti wird bald zurückkommen. Sie soll nicht gleich wieder Ärger haben.«

Die drei Kinder schälten sich aus ihren zahlreichen Umhüllungen aus.

»Ich behalte aber doch lieber die Winterhose an«, meinte Hermann. »Die andere ist zu dünn. Ich denke, Tante Hella wird nichts sagen, sie wird lachen. Sie ist ja eine Dame von der anderen Welt.«

Eine halbe Stunde später kamen Bärbel und Hella heim. Mit sorgenvollen Gesichtern blickten die drei Kinder den Besuch an.

»Kann ich dich in dein Zimmer begleiten, Tante Hella?« fragte Hermann.

»Selbstverständlich, mein Liebling. Darfst mir beim Umkleiden helfen.«

»Sehr gern!«

Im Zimmer angekommen, bemerkte Fräulein Brodowin sogleich die Unordnung.

»Wer war denn über meiner Kosmetik?«

Hermann horchte hoch auf. Die Flaschen mußten diese Kosmetik sein, denn Tante Hella stand mit erzürntem Gesichtsausdruck da.

»Mein Creme Royalon und hier – das Eau Superieur, wer war in meinem Zimmer?«

»Sei mal nicht böse, Tante Hella. Wir haben nur mal ein bißchen nachgesehen, weil du doch immer so schön bist. Du gefällst uns doch so sehr. Alles riecht immer so fein. Du bist ganz anders als die Mutti. Bist du böse?«

»Ihr habt in meinem Zimmer nichts zu suchen!«

»Nu sei mal nicht böse, liebe Tante Hella, sonst haut uns der Vati.«

»Das habt ihr verdient.«

»Wir wollten doch nur mal sehen, wie das alles aus der anderen Welt ist.«

»Du Dummkopf!«

»Ich bin kein Dummkopf, Tante Hella.«

Sie schwieg einen Augenblick. Schon seit einigen Tagen trug sie sich mit der Idee, den schauspielerisch hochbegabten Hermann einer ihr bekannten Filmfirma zu empfehlen. Sie wußte, man suchte nach jugendlichen Talenten. Hier schien solch ein Talent zu sein. Selbstverständlich würden diese spießbürgerlichen Wendelins niemals erlauben, daß Hermann schon als Knabe zu Filmaufnahmen benutzt wurde. Sie mußte die Sache ganz heimlich einleiten. Dazu brauchte sie aber das volle Vertrauen des Kindes. Wenn sie Hermann zürnte, würde er für ihre Pläne, die ihr selbst eine gute Vermittlungsprovision einbringen sollten, niemals zu haben sein. Sie mußte sich daher den Knaben zum Freunde machen.

»Wir wollen also Frieden schließen, Hermann. Schaden habt ihr mir natürlich recht beträchtlich gemacht, ich hoffe aber, daß du mir in Zukunft auch einmal eine Freude machst. Dann soll alles vergeben und vergessen sein.«

»Dem Vati sagst du nichts?«

»Nein, mein Liebling.«

»Na, dann ist's gut. Dann kann ich die olle heiße Hose ja wieder ausziehen, ich schwitze schon fürchterlich.« Fort war er.


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