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7. Kapitel.
Bei der Großmama

Seit drei Tagen weilte Bärbel in Dresden bei der Großmama und Tante Agnes. Tante Agnes war die jüngere Schwester Frau Wagners und lebte mit Frau Lindberg zusammen. Man hatte in einem großen Mietshause eine Vierzimmerwohnung inne, ein älteres Mädchen besorgte den Haushalt.

Natürlich war hier dem Kinde alles neu. Was gab es nicht zu sehen! Die Straßen mit den vielen Menschen, die hohen Häuser, die elektrischen Bahnen, die Schaufenster mit den vielen Auslagen; alles das war für Goldköpfchen eine neue Welt.

Tante Agnes erklärte bereits am zweiten Tage, daß sie von den Fragen Bärbels vollkommen erschlagen sei. Es war ihr unmöglich, für alles eine Antwort zu finden, denn Bärbel ließ sich nicht so rasch mit allgemeinen Redensarten abspeisen.

Tante Agnes fürchtete sich geradezu, dem wißbegierigen kleinen Mädchen etwas Neues zu zeigen, und doch hatte man für heute nachmittag den Besuch des Zoologischen Gartens vorgesehen.

»Ich glaube, Mama, heute abend sind wir beide nur noch halbe Menschen,« sagte sie seufzend zu Frau Lindberg.

»Oooch!« Bärbel stand kerzengerade vor der Tante. »Warum bist denn du nur ein halber Mensch heute abend?«

»Weil du so viel fragst, Bärbel.«

»Wenn ich nu immer noch mehr frage, Tante, – was bist du denn dann?«

»Du mußt nicht gar so neugierig sein, Bärbel.«

»Welche Hälfte bist du dann heute abend?«

»Nur noch die untere.«

»Ooch – hast du heute abend keinen Kopf mehr?«

»Wenn du noch lange fragst, – nein.«

»Tante Agnes,« jubelte das Kind, »jetzt frage ich mal so lange, bis dein Kopf weg ist.«

»So – soll die Tante ohne Kopf herumlaufen?«

»Ich möcht' doch so gern sehen, wenn du keinen Kopf hast.«

»Laß mich jetzt in Ruhe, Goldköpfchen, oder ich gehe nicht mit in den Zoologischen Garten.«

Die Großmutter nahm Bärbel jetzt an der Hand.

»Du kannst mit mir ins große Zimmer hinüberkommen, Kind, ich will die Gläser in den Schrank stellen. Wir wollen Tante Agnes allein lassen.«

Bärbel verzog das Gesicht. »Wenn sie nun aber keinen Kopf mehr hat, dann seh' ich das nicht!«

»Komm nur, Tante Agnes behält den Kopf.«

Während Frau Lindberg im großen Zimmer die Gläser einräumte, betrachtete Bärbel wieder voller Interesse die Möbel und die Bilder an den Wänden.

»Wer ist der Onkel da oben?«

Bärbel wies auf das große Bild, das die Vertreibung aus dem Paradiese darstellte. Geduldig gab die Großmama die Erklärung. Und da Bärbel schon von Adam und Eva gehört hatte, nickte das Kind verständnisvoll mit dem Köpfchen.

»Der Adam hat einen bösen Vati gehabt, – wegen so einem kleinen Apfel muß er aus dem Hause 'raus.«

»Da siehst du, man soll nicht naschen!«

»Großmama, – warum hat er sich denn aber gleich photographieren lassen? Hat er sich nicht geschämt?«

»Freilich hat er sich geschämt.«

»Warum hat er sich denn dann photographieren lassen?«

»Das ist keine Photographie, Goldköpfchen, das Bild haben die Leute erst viel später gemalt.«

Um weitere Fragen abzuschneiden, fing Frau Lindberg vom Zoologischen Garten an zu erzählen, denn sie fürchtete, daß sie mit Adam und Eva nicht weiterkam. Sie sprach von Löwen, Affen und allen jenen anderen Tieren, die das Kind bisher nur von Bildern her kannte.

Voller Ungeduld wartete die Kleine auf den Nachmittag; immer wieder fragte das Kind, ob es nicht bald Zeit sei.

»Du mußt unterwegs aber recht artig sein, Goldköpfchen, und nicht immerfort plaudern. Wir fahren mit der Eisenbahn, und da sitzen noch viele andere Menschen mit uns im Abteil. Die haben es gar nicht gern, wenn ein kleines Mädchen immerfort plappert. – Ich glaube, du kannst überhaupt nicht schweigen, Bärbel.«

»Oooch, Großmama, ich kann sehr toll schweigen.«

»Dann tu es doch mal!«

Bärbel setzte sich, während Frau Lindberg im Zimmer Staub wischte, brav auf einen Sessel; aber schon nach einer Minute erklang wieder die Kinderstimme:

»Großmama?«

»Was willst du mein Kind?«

»Hörst du mich schweigen?«

»Ich freue mich, daß du auch einmal still sein kannst. Das war sehr nett von dir. Nun werden heute nachmittag die Tiere im Zoologischen Garten sehr artig sein; und die Affen darfst du auch füttern.«

Zum Mittagessen gab es wieder Bärbels Lieblingsgericht, und immer aufs neue verlangte das Kind nach einer Portion.

»Jetzt ist es genug, Bärbel, wenn du so viel ißt, wird das Bäuchlein immer dicker, und wenn es dann so dick ist,« die Großmutter machte eine entsprechende Handbewegung, »dann platzt der Bauch.«

»Der Bauch ist noch ganz dünn, Großmama.«

»Der wird aber mit einemmal dick und platzt.«

»Platzt er, wenn ich noch 'n ganz kleines Stückchen reinstecke?«

»Ja.«

»Ooch – Großmama, das möcht' ich aber gern mal sehen!«

»Das ist aber nicht hübsch, Bärbel, wenn er platzt. Außerdem wirst du krank, mußt ins Bett, und wir können nicht in den Zoologischen Garten gehen.«

Dieser letzte Hinweis genügte, um Goldköpfchen vom Weiteressen abzuhalten.

Endlich war es so weit. Man ging zur Stadtbahn und bestieg den Zug. Das Abteil war ziemlich besetzt, und Agnes war daher gezwungen, Bärbel auf den Schoß zu nehmen. Aber Bärbel wollte zum Fenster hinausschauen und steckte den Kopf durch die heruntergelassene Scheibe.

»Laß das sein, Bärbel, der Hut wird dir fortfliegen.«

Bärbel folgte der Tante natürlich nicht, und so machte sich Tante Agnes den Scherz, dem Kinde rasch die Mütze vom Kopfe zu nehmen. Sie versteckte sie hinter dem Rücken.

»Siehst du – nun ist die Mütze fort, das kommt davon, weil du nicht folgst.«

Bärbel schaute sich um und machte ein betrübtes Gesicht.

»Wenn du mir jetzt versprichst, artig und folgsam zu sein, werde ich einmal pfeifen, vielleicht kommt dann die Mütze wieder.«

»Pfeif doch mal!«

Tante Agnes tat es, zog die Mütze rasch hinter dem Rücken hervor und reichte sie dem beglückten Kinde.

Für wenige Augenblicke ließ man Bärbel außer acht. Frau Lindberg und ihre Tochter flüsterten zusammen; aber da wurden sie schon wieder von Bärbel gestört.

Mit strahlenden Augen blickte das Kind die Tante an.

»Pfeif doch noch mal, Tante!«

»Warum denn?«

»Ich hab' die Mütze fliegen lassen.«

»Aber, Bärbel!«

»Pfeif nur!«

Die Mütze war fort, und so war man gezwungen, ohne Kopfbedeckung Bärbel mitzunehmen. Tante Agnes zog natürlich sogleich das Fenster empor, aus Angst, Goldköpfchen könnte noch das Jäckchen und das kleine Handtäschchen fliegen lassen.

Das Kind hatte aber schon wieder neue Interessen. Auf einer Zwischenstation war eine Dame eingestiegen, ein Herr war aufgestanden und hatte ihr seinen Platz angeboten.

»Was spielen die beiden, Großmama?«

»Wenn man artig ist, dann steht man auf und macht älteren Leuten Platz; und wenn man ein Herr ist, macht man der Dame Platz.«

Im nächsten Augenblick sprang Bärbel vom Schoße der Tante.

»Wenn ich nun steh', macht man mir dann auch Platz?«

»Du bist noch ein kleines Mädchen, Bärbel, und kleine Mädchen brauchen nicht zu sitzen, wenn große Leute im Abteil sind. Im Gegenteil, kleine Mädchen müssen den großen Leuten immer Platz machen.«

Da krabbelte die Kleine wieder auf den Schoß der Tante und betrachtete interessiert den jungen Herrn, der so artig aufgestanden war.

Aber lange blieb das Kind nicht sitzen. Mit einem Sprung war es wieder herunter, machte dem jungen Herrn einen artigen Knicks und sagte, indem es auf Tante Agnes wies:

»Bitte, Mann, setze dich!«

»Wohin denn, kleines Mädchen, es ist ja kein Platz frei.«

Bärbel tippte der Tante auf die Oberschenkel. »Da – wo Bärbel gesessen hat!«

Tante Agnes wurde glühend rot, die Insassen des Abteils lachten leise.

»Bleib nur ruhig sitzen, kleine Bärbel, ich steige gleich aus.«

»Willst du nicht zu den Tieren gehen?«

»Nein.«

»Großmama, kann der Mann nicht mitkommen?«

»Das ist ein Herr, Bärbel.«

Bärbel wies auf einen Arbeitsmann. »Ist das dort auch ein Herr?«

»Ja.«

»Und ist das dort eine Frau oder eine Dame?«

»Du sollst nicht so viel fragen, Kind, sonst kehren wir um und fahren nicht in den Zoologischen Garten.«

Wieder hielt der Zug, wieder stiegen zwei Damen ein, die von Bärbel genau betrachtet wurden. Die eine strich dem Kind zärtlich über das goldene Haar.

Bärbel sah an ihr empor, schaute der Reihe nach die anderen Insassen an, ließ wieder den Blick lange auf der Eingestiegenen haften und sagte laut und vernehmlich:

»Du bist keine schöne Dame!«

Die Stirn der Bezeichneten furchte sich; und während Tante Agnes das Kind rasch wieder auf ihren Schoß nahm, erklärte Bärbel treuherzig:

»Nein, du bist keine schöne Dame.«

Frau Lindberg ersehnte das Ende der Fahrt. Mit diesem vorlauten Kinde konnte noch allerlei Unangenehmes passieren. Sie wollte mit der Beleidigten ein Gespräch anknüpfen; aber die Fremde erklärte schnippisch, es sei ein Skandal, wie schlecht in der heutigen Zeit die Kinder erzogen würden. Auf weitere Fragen Frau Lindbergs gab sie keine Antwort mehr.

Endlich war der Zoologische Garten erreicht, und nun riß Bärbel die Augen weit auf. Besonders die Giraffe flößte ihr die größte Ehrfurcht ein.

»Großmama – das ist 'ne feine Rutschbahn!«

Es ging weiter zu den Affen, von denen sich Bärbel kaum trennen konnte.

Auch das Kamel interessierte das Kind stark, das eben von einer Dame gefüttert wurde. Frau Lindberg hatte Mühe, das Kind fortzubekommen.

»Ich will dir doch auch noch die Löwen zeigen, Goldköpfchen.«

Als man vor den Käfig der mächtigen Katzen trat, erhob sich der Löwe und ging in den Hintergrund zurück. Bärbel winkte ihm.

»Komm, Löwe, fürcht' dich nicht, ich tu' dir nichts!«

Aber der Löwe kam nicht wieder vor; und Bärbel war der festen Überzeugung, daß das Tier vor ihr Angst habe.

Die Vögel interessierten das Kind weniger, es wollte wieder zurück zu den Affen und zum Kamel. Da Bärbels Wangen glühten und das Kind von all dem Neuen so erregt war, beschloß man, nur einen Teil des Gartens zu besichtigen, um dem Kinde nicht noch mehr neue Eindrücke zu verschaffen.

Auf dem Rückwege stellte Goldköpfchen Hunderte von Fragen. Unermüdlich gab Frau Lindberg Antwort.

Da wollte die Kleine wissen, ob auch die Kamele in den Himmel kämen, und ob der Zieraffe den langen Hals unter den Beinen durchstecken könne. Warum das Zebra gestreift wäre, ob es der Wärter mit Papier beklebt oder so angestrichen habe.

Was das Kamel in den großen Hökern habe, und dergleichen mehr.

Zu einem peinlichen Auftritt kam es auf der Heimfahrt. Man hatte diesmal die elektrische Bahn benutzt, und als man eben im Wagen Platz genommen hatte, rief Bärbel jubelnd:

»Großmama – dort sitzt noch ein Affe!« Das Kind wies auf einen Herrn, dessen Gesicht allerdings einige Ähnlichkeiten mit einem Affen hatte. Ehe es Frau Lindberg verhindern konnte, stand Bärbel vor dem lesenden Herrn, der jetzt aufblickte, und sagte:

»Warum bist du denn nicht im Käfig?«

Frau Lindberg holte die Kleine sofort zurück und verwies ihr energisch jedes weitere Wort.

Aber leise flüsterte Bärbel doch:

»Hast du nicht noch ein Stückchen Zucker für den lieben Affen?«

Man stieg schließlich an der nächsten Haltestelle aus, nahm ein Auto und fuhr heim.

Heute war es sehr schwer, Bärbel zur Ruhe zu bringen. Die Großmama mußte erst ernstlich böse werden, ehe sich das Kind dazu bereit fand, die Augen zu schließen. –

Noch mehrere Tage lang sprach Goldköpfchen von nichts anderem als von den Tieren im Zoologischen Garten. Toni, das Mädchen für alles, hörte sich geduldig die Berichte an, die das Kind gab. Und Bärbel konnte nicht aufhören zu erzählen, von all dem Neuen und Schönen, was es gesehen hatte.

Während das Kind in der Küche die gute Toni belästigte, beratschlagten Mutter und Tochter im Wohnzimmer, was man heute mittag wohl mit der Kleinen anfinge, denn man hatte zu Tisch einen Herrn zu Besuch, der seit längerer Zeit Heiratsabsichten auf Agnes kundgab. Selbstverständlich hatte man vor Bärbel alles streng geheimgehalten, denn das kleine Plappermäulchen konnte Mutter und Tochter in die größte Verlegenheit bringen.

»Wir werden Bärbel ruhig mitessen lassen,« meinte Agnes, »Herr Dr. Wendt liebt Kinder und wird schon mit ihr fertig werden.«

»Vielleicht ginge es, daß Bärbel bei Toni in der Küche ißt?«

»Dann wird die Kleine um so neugieriger und kommt hereingelaufen. Lassen wir lieber alles beim alten, Mama.«

Am heutigen Vormittag gab es in der Küche allerlei zu tun, so war sich das Kind selbst überlassen. Man hatte Goldköpfchen ein Töpfchen gegeben, in dem es gleichfalls ein Gericht bereiten sollte.

Gegen Mittag klingelte es.

Bärbel, der es ganz besondere Freude machte, die Tür zu öffnen, eilte hinaus, noch ehe sich Toni die andere Schürze umgebunden hatte, und öffnete.

Draußen stand ein Herr, der den Hut in der Hand hielt und erstaunt das kleine Mädchen anschaute.

Bärbel sah nur den Hut und erinnerte sich daran, daß gestern Toni einen Mann an der Hintertür fortgeschickt hatte. So benutzte sie jetzt dieselben Worte und sagte kurz:

»Hier wird nicht gebettelt!«

Bums, war die Tür wieder zu, gerade in dem Augenblick als Toni erschien.

»Wer ist denn draußen, Bärbel?«

»Einer, der gebettelt hat.«

»Na, dann ist's gut.« Toni ging in die Küche zurück, da klingelte es zum zweitenmal.

Und nun klärte sich der Irrtum auf. Es war Dr. Wendt, der erwartete Tischgast, der sich über das Betragen des kleinen Mädchens vor Lachen schüttelte.

Kurz vor dem Essen erschien Bärbel, die sich den Onkel Doktor prüfend anschaute.

»Bist du auch so ein Onkel Doktor, wie er zur Mutti kommt?«

»Was kommt denn zu deiner Mutti für ein Onkel?«

»Zu meiner Mutti und zu das Zwilling.«

»Nein, solch ein Doktor bin ich nicht. Ich komme auch nicht zu deiner Mutti, sondern zu deiner Großmutti und zu deiner Tante.«

»Was willst du denn bei deiner Großmama?«

»Sie hat mich zum Mittagessen eingeladen.«

Bärbels Augen glitten an der etwas korpulenten Erscheinung herab. Besonders der rundliche Bauch interessierte das Kind.

»Willst du bei uns essen?«

»O nein, Bärbel, wenn deine Eltern Besuch bekommen, erzählen sie sich mit ihm, und deswegen komme ich auch her.«

»Essen willst du nicht?«

»Das auch.«

»Kommst du auch zu Tante Agnes?«

»Freilich.«

»Hat Tante Agnes auch einen Zwilling?«

»Frage nicht so viel, Bärbel,« warf das junge Mädchen dazwischen.

»Bringst du Tante Agnes einen Zwilling? Der Onkel Doktor hat der Mutti auch einen Zwilling gebracht.«

»Jetzt geh einmal hinaus in die Küche und sage der Toni, daß sie die Suppe bringen kann.«

Bärbel verschwand. Schließlich saß man gemütlich beim Essen, wobei Bärbel den neuen Onkel nicht aus den Augen ließ. Als man aber endlich vom Tisch aufstehen wollte, rief das Kind leidenschaftlich:

»Bitte, liebe Großmama, laß den Onkel noch ein bißchen sitzen.«

»Warum denn?«

»Er hat so viel Fleisch geeßt und zweimal Speise. – Jetzt wird gleich der Bauch platzen!«

»Bärbel!«

»Ooch – ich hab's gesehen, Großmama, der Bauch ist immer dicker geworden, und du hast gesagt, dann platzt er.«

Wieder befand sich Frau Lindberg in größter Verlegenheit und gab rasch die Erklärung zu dieser Äußerung.

»Bärbel möcht' doch halt so gern sehen, wenn du platzt!«

»Wenn du noch weiter so redest, Bärbel,« flüsterte Tante Agnes dem Kinde zu, »platze ich vor Ärger.«

Jauchzend schlug die Kleine die Hände zusammen. »Ach, Tante Agnes, du bist so lieb, – nun platze!«

»Geh jetzt hinaus in die Küche und sage Toni, daß sie abräumen kann.«

Dann forderte Frau Lindberg den Gast auf, hinüber ins Wohnzimmer zu kommen, denn die Situation begann wieder recht peinlich zu werden.

In der Küche aber richtete Toni ein noch viel größeres Unheil an. Sie riet Bärbel, recht artig zu sein, denn der Onkel Doktor, der heute zu Besuch gekommen sei, wäre hier, um Tante Agnes später zu heiraten.

Bärbel wollte natürlich noch weitere Erklärungen haben, und Toni wußte sich nicht anders zu helfen, als Bärbels Vater und Mutter anzuführen, die ja auch verheiratet seien.

»Und wo ist der Joachim?«

»Kinder kommen erst, wenn die Tante Agnes ein Weilchen verheiratet ist.«

»Warum kommen Kinder nicht gleich?«

»Die müssen erst geboren werden.«

»Wo werden die Kinder geboren?«

»Das weiß ich selbst nicht, Bärbel, das geht dich auch nichts an.«

Aber das Kind war mit dieser Antwort durchaus nicht zufrieden. Als es zurück ins Zimmer kam und den Onkel Doktor neben Agnes sitzen sah, der verstohlen nach der Hand des jungen Mädchens faßte, stellte sich die Kleine vor ihn hin und fragte:

»Onkel Doktor, – wenn du Tante Agnes heiratest, kaufst du dir dann auch einen Zwilling?«

Agnes glaubte, in die Erde sinken zu müssen. Zwischen ihr und Doktor Wendt war noch keine Aussprache erfolgt; und nun kam dieses vorlaute Kind dazwischen und zerstörte die feinen Fäden, die sich zwischen beiden gesponnen hatten.

Frau Lindberg nahm Bärbel an der Hand. Auch sie war innerlich sehr zornig, und kurzerhand sperrte sie die Kleine in die Toilette.

Dann aber geschah schon wieder etwas, was sich die Kleine nicht erklären konnte. Mit hochrotem Gesicht kam Tante Agnes, nahm Bärbel auf den Arm, trug sie hinüber ins Wohnzimmer und küßte sie vor der Großmama und dem fremden Doktor stürmisch.

»Du kleine Glücksbringerin, du sollst doch dabei sein, wenn wir unsere Verlobung feiern.«

Mit mißtrauischen Blicken schaute Bärbel den Onkel Doktor an. Als der nun auch das Kind emporhob, wehrte sich die Kleine verzweifelt.

»Laß mich los!«

»Hast du mich denn nicht lieb, Bärbel?«

»Nein!«

»Warum denn nicht?«

Scheu blickte das Kind zur Großmutter hinüber. »Wenn ich dich was frage, sperrt mich die Großmama ein. Bärbel ist dir nur gut, wenn du den Bauch platzen läßt.«

»Das nächste Mal, Bärbel.«

»Wenn ist das nächste Mal?«

»Wenn ich wiederkomme.«

»Ooch – kommst du bald wieder? Platzt dein Bauch mit 'nem dollen Krach?«

»Ja, ja.«

»Was hast du denn in dem Bauch?«

»Luft.«

»Ooch – –«

»Jetzt laß den armen Onkel endlich in Ruhe, Kind, der Onkel gehört der Tante Agnes und nicht dir.«

»Tante Agnes, hast du dir den Onkel gekauft?«

»Ja.«

»Kostet er einen Taler?«

»Dieses Kind ist fürchterlich,« flüsterte Frau Lindberg ihrem zukünftigen Schwiegersohne zu, »Sie dürfen der Kleinen die vielen Fragen nicht übelnehmen.«

»O, lassen Sie die Kleine ruhig fragen, gnädige Frau, sie ist reizend.«

»Großmama – der Mann sagt auch Frau und nicht Dame!«

»Sei still, Bärbel!«

Dr. Wendt hob das Kind auf den Schoß. »Nun erzähle mir mal ein wenig von daheim. Wieviel Geschwister hast du denn?«

Das Kind überlegte wenige Augenblicke, dann sagte es bestimmt: »Erst haben wir den Joachim bekommen, dann haben wir mich bekommen, und dann ist noch das Zwilling gekommen. Aber das Zwilling geben wir euch.«

»Das Zwilling behalte nur selbst, Bärbel.«

»Ich gebe es dir gern, das Zwilling schreit immerzu, und es ist so verschrumpelt.«

»Jetzt setze dich hübsch ruhig in deine Ecke, Bärbel, nimm dir die Puppe vor; und wenn du brav bist, bekommst du nachher Keks.«

Schon nach kurzer Zeit kam die Frage: »Darf ich nun Keks haben, Großmama?«

»Jawohl, geh an die Schale und nimm dir drei Hände voll heraus.«

Bärbel ging; aber bald ertönte ein leises Schluchzen.

»Was hast du denn schon wieder, Bärbel?«

»Du hast doch gesagt – – ich soll mir drei Hände nehmen, und ich hab' nur zwei Hände!«

»Bist ein kleines Schäfchen, Bärbel. – Hier hast du noch eine dritte Hand voll, und nun geh ab!«

Beladen mit ihren Schätzen eilte das Kind hinaus in die Küche, um dort den Keks bei Toni zu verspeisen, die viel netter war als der dicke Onkel Doktor, den sich Tante Agnes gekauft hatte.

Es war für Bärbel ein langweiliger Tag. Ging sie zur Großmama, so hieß es bald wieder, sie möge sich mit Toni etwas erzählen; und auch Tante Agnes hatte heute gar kein Interesse für das Kind. Bärbel stellte fest, daß Tante Agnes nur mit dem dicken Doktor sprach, und war darüber beleidigt.

»Hast du den Mann lieber als das Bärbel?«

»Ich habe dich auch sehr lieb, Bärbel?«

»Dann schick' den Onkel weg!«

Die Folge davon war, daß man Bärbel Spielzeug in die Hände drückte und damit in die Küche hinausschickte, in der sich eben Toni mit dem Briefträger unterhielt.

Interessiert schaute Goldköpfchen auf den Mann, der eine so vollgestopfte Tasche umgehängt hatte. Sie wollte auch einen Brief haben.

»Das geht nicht, Kleine, die Briefe muß ich in die Häuser tragen; wenn ich einen nicht abgeben würde, würden die Leute sehr traurig sein.«

»Klingelst du bei allen Leuten?«

»Jawohl.«

»Darfst du das?«

»Ja, wenn ich einen Brief für sie habe, darf ich das.«

»Und gibst du allen Leuten einen Brief?«

»Ja.«

Als der Briefträger gegangen war, wollte Bärbel auch Briefträger spielen. Toni hing ihr eine Markttasche an den Arm, steckte ein Stück Zeitungspapier hinein und meinte, Bärbel solle ihr nun den Brief bringen.

Goldköpfchen verneinte. Das Zeitungsblatt war kein Brief, Bärbel wollte einen richtigen Brief haben.

»Ich habe keine, aber ich freue mich auch, wenn du mir das Zeitungsblatt bringst. Der Briefträger trägt auch Zeitungen aus.«

Das Kind legte die Stirn in nachdenkliche Falten, dann stürmte es davon. Heute früh hatte es gesehen, daß Tante Agnes in einem Kasten eine Menge Briefe verwahrte. Der Kasten war bei Tante Agnes im Zimmer, und Bärbel wollte nun rasch diese Briefe holen, um auch Briefträger zu spielen.

Der schöne, polierte Kasten stand auf der Kommode, ein kleiner Schlüssel steckte im Schloß. Bärbels Herz hüpfte vor Freude, als sie die vielen Briefe in ihre Markttasche schüttete. Nun konnte sie auch Briefträger spielen, durfte an allen Türen im Hause klingeln und die Briefe abgeben.

Begeistert lief Bärbel hinaus in die Küche zu Toni, die eben den Mülleimer in der Hand hatte und im Begriff war, ihn hinunter in den Hof zu tragen.

»Ich komme mit!«

»Nein, Kind, bleib hier,« und schon eilte Toni mit dem Eimer die Treppe hinunter.

Bärbel benützte diese günstige Gelegenheit, um durch die nur angelehnte Tür zu entwischen. Das Kind stieg zunächst empor und klingelte an den beiden gegenüberliegenden Türen.

Man öffnete.

»Der Briefträger bringt dir einen Brief.« Mit ernsthafter Miene reichte Bärbel den aufgeschnittenen Brief hin und stieg, sich seiner Würde vollkommen bewußt, eine Treppe höher hinauf. Auch hier klingelte Goldköpfchen, um den verdutzt Lächelnden die Briefe auszuhändigen.

Bärbel hatte damit aber noch nicht genug. Es machte so großen Spaß, überall zu klingeln.

Toni, die auf dem Hofe mit einem anderen Mädchen sprach, bemerkte es nicht, daß das Kind das Haus verließ, das Nachbargrundstück betrat und hier ebenfalls die Rolle des Briefträgers spielte.

Unten im Laden wurde Goldköpfchen schließlich angehalten. »Diese Briefe hast du wohl deiner Großmutter fortgenommen?«

»Bärbel ist Briefträger,« erklärte das Kind stolz. »Bärbel hat noch viele Briefe.«

Der Geschäftsinhaber, der den Briefbogen herausgezogen hatte, die erste Seite des Schreibens flüchtig las, hielt das Kind zurück.

»Geh nur rasch mit den Briefen wieder heim, kleines Mädchen, oder – gib mir alle Briefe her.«

Energisch schüttelte Bärbel den Kopf. »Die anderen Leute wollen auch Briefe haben, sonst weinen sie.«

»Ich kauf' dir die Briefe ab, ich gebe dir dafür eine Tafel Schokolade, und du gibst mir die Briefe.«

Auf diesen Handel ging Goldköpfchen schließlich ein. Es übergab dem Kaufmann alle Briefe, nahm die Schokolade in Empfang und kehrte dann stolz nach Hause zurück. Freudestrahlend berichtete es Toni, daß es überall Briefe abgegeben habe.

»Woher hast du denn Briefe gehabt?«

»Aus dem schönen Kasten.«

»Um Himmels willen, zeige mir rasch, woher hast du die Briefe genommen?«

Lächelnd führte Goldköpfchen Toni ins Zimmer der Tante und wies auf den leeren Kasten.

»Und die Briefe hast du im Hause ausgetragen?«

»Ja, alle haben einen Brief bekommen. – Jetzt gib mir noch mehr!«

Toni schlug die Hände über dem Kopfe zusammen. »Das Fräulein läßt doch sonst nie den Schlüssel stecken! – Ach, du liebe Güte, – was wird daraus werden!«

Da klingelte es auch schon, der Kaufmann schickte sauber eingewickelt die Briefe herauf. Toni stellte mit dem Kinde ein Verhör an, aus dem hervorging, daß das nur ein Teil der Liebesbriefe war, die Tante Agnes im letzten Jahre von Dr. Wendt erhalten hatte.

Toni wußte sich keinen anderen Rat, als Frau Lindberg herauszurufen und ihr das Vorgefallene zu erzählen.

Die Großmama war ernstlich böse.

»Darfst du etwas fortnehmen, Bärbel? Du darfst weder die Sachen der Großmama noch die von Tante Agnes anrühren. Du bist ein recht unartiges Mädchen, Bärbel!«

Schließlich bekam das Kind noch einige Schläge auf die Hände, und zürnend entfernte sich die Großmama.

Tante Agnes war entrüstet. Natürlich würde man nun im ganzen Hause diese Briefe aufmerksam lesen, ihr süßes Geheimnis würde überall bekannt werden. Das junge Mädchen weinte darüber bitterlich; und es war gut, daß der anwesende Verlobte ihr Trost zusprechen konnte.

»In wenigen Tagen wird unsere Verlobung doch bekannt, liebe Agnes; wir haben uns nichts Unrechtes geschrieben, gräme dich also nicht weiter. Liebesbriefe hat man von jeher geschrieben! Bestraft auch die Kleine nicht weiter; hat sich gelangweilt und wollte Unterhaltung haben.«

Durch Toni wurden die Briefe zurückerbeten. Bärbel war recht kleinlaut geworden, zumal sie während des Abendessens weder von der Großmama noch von der Tante beachtet wurde. Nur Dr. Wendt richtete hin und wieder ein freundliches Wort an die Kleine. Bärbel fühlte sich aber innerlich so unglücklich, daß sie kaum Antwort gab und am liebsten immerfort geweint hätte.

Als das Kind am Abend von Frau Lindberg zu Bett gebracht wurde, gab es noch einmal ernsthafte Ermahnungen.

»Dein Schutzengel wird sehr betrübt sein, Goldköpfchen.«

»Kommt er heute bestimmt?«

»Er kommt immer in der Nacht.«

»Wenn er immer in der Nacht da ist und wacht, dann schläft er wohl am Tage, Großmama? Ja, er schläft bestimmt. – Siehst du, Großmama, wenn er nicht geschlafen hätte, hätte er heute auf Bärbel aufgepaßt.«

»Der Schutzengel ist immer bei dir.«

»Auch wenn ich geklingelt hab'?«

»Auch dann!«

»Warum hat er denn dann nicht gesagt, ich soll nicht klingeln?«

»Er hat eben gedacht, daß du es von allein unterlassen wirst.«

»Ich glaube, Großmama, dem Schutzengel hat es auch dollen Spaß gemacht, daß wir überall geklingelt haben.«

»Wenn du auf dein Herzchen gehört hättest, hättest du fühlen müssen, daß du unrecht getan hast.«

»Großmama, Bärbel hat am Herzen gar nichts gefühlt.«

Frau Lindberg seufzte. »Jetzt schlaf, Bärbel, und bitte nochmals den lieben Gott, daß er dir wieder gut sein möge.«

»Weil ich unartig war, schickt er mir nun wohl nur einen ganz kleinen Schutzengel?«

»Du hast immer denselben großen Schutzengel.«

»Wer hat denn dann die kleinen, nackten Engel?«

»Die werden auch groß.«

»Wenn sie größer werden, bekommen sie dann die weißen Kleider?«

»Ja.«

»Großmama, – das Zwilling ist doch auch ganz klein und ist auch schon in ein Kleid eingewickelt.«

»Bei kleinen Engeln ist das anders.«

»Schämen sich die kleinen Engel nicht, wenn sie nackend sind.«

»Das haben die Engel nicht nötig.«

»Warum denn nicht?«

»Frage nicht so viel, Bärbel. – Wenn du ein Engel sein wirst – –«

»Kann ich dann auch nackend 'rumlaufen?«

»Ja.« Frau Lindberg hatte keine Lust mehr, ausführliche Antworten zu geben; so fertigte sie das Kind kurz ab.

»Morgen spiel' ich Engel, Großmama.«

»Schlaf endlich!«

»Ich glaube, Großmama, mein Schutzengel hat doll gelacht, als wir überall klingelten.«

»Gute Nacht!« Nur durch die Flucht aus dem Zimmer konnte sich die gequälte Großmutter weiteren Fragen des Kindes entziehen.

Am anderen Morgen hatte Frau Lindberg die Unterredung längst vergessen, wurde aber durch Bärbel jäh wieder daran erinnert.

Die Großmama saß mit Agnes am Frühstückstisch, da erschien die Kleine ohne Nachtröckchen.

»Ooch, Großmama, jetzt bin ich 'nen kleiner Engel!«

»Bärbel!«

Sie nahm das Kind, führte es zurück ins Schlafzimmer.

»Du bleibst noch im Bett,« herrschte Tante Agnes die Kleine an, »und wenn du heute nicht sehr artig bist, bekommst du von mir Haue. Schreib dir das gefälligst hinter die Ohren!«

Mit großen Augen schaute Bärbel die Scheltende an. Dann verzog das Kind den Mund.

»Wenn ich noch gar nicht schreiben kann!«

»Dann merke es dir!«

»Wenn nun der Kopf von Bärbel aber nur so klein ist, daß es sich das alles nicht merken kann?«

»Ich sage dir nur das eine, Bärbel, wenn du heute wieder so unartig bist wie gestern, schicken wir dich heim zur Mutti.«

»Ooch, schick' mich doch zur Mutti!«

»So – willst du von uns fort?«

»Du kannst ja mitkommen zur Mutti, und die Großmama auch.«

»Jetzt wird noch geschlafen, ich komme dich nachher wecken.« Energisch deckte Tante Agnes das Kind zu, legte ihm die Hand auf die Augen und sagte nochmals: »Augen zu, und geschlafen!«

Das war natürlich nicht ganz leicht. Bärbel hielt die Augen für ein Weilchen geschlossen: da das Kind aber ausgeschlafen hatte, zwinkerte es sehr bald wieder, warf sich in seinem Bettchen umher und vergnügte sich schließlich damit, Purzelbäume zu schießen.

Es kletterte auf das Gitter, plötzlich verlor es das Gleichgewicht und lag mit hörbarem Krach auf der Erde. Bärbel fing jämmerlich an zu weinen; erschreckt eilte die Großmutter herbei.

»Hast du dir weh getan?«

Bärbel wies auf das Knie, das leicht blutete.

Die Großmutter legte das Kind ins Bett zurück und sagte: »Nun, das ist alles nicht so schlimm, ich werde einen kalten Umschlag machen, der tut dem Knie gut.«

»Gib mir lieber ein Stück Schokolade!«

»Davon wird doch das Knie nicht besser, das wäre nur für den kleinen Bauch!«

»Der kleine Bauch ist doch auch mit 'runtergefallen und hat sich erschreckt.«

Bärbel bekam die Schokolade und den erneuten Befehl, ruhig liegenzubleiben.

Aber schon nach einer Viertelstunde begehrte das Kind dringend; aufzustehen; und so erfüllte man ihm seinen Wunsch.

Halb angezogen war Bärbel, da betrat Toni das Schlafzimmer mit der Nachricht, daß der Schornsteinfeger gekommen sei.

»Siehst du,« sagte die Großmama unvorsichtig, »nun kommt schon der schwarze Mann, der dich abholen will.«

Furchtlos lächelte Bärbel die Großmutter an. »Kann er mich mitnehmen, Großmama?«

»Dann steckt er dich in den Schornstein.«

»Und dann schimpfst du nicht, wenn ich ganz dreckig 'rauskomme?«

»Kleine Mädchen gehören nicht in den Schornstein, das ist doch nur eine Strafe.«

»Hat der Schornsteinfeger auch eine Mutti?«

»Ja.«

»Schimpft die Mutti nie, wenn er immer so schmutzig nach Hause kommt?«

»Nein.«

»Ooch – –«

»Das ist doch sein Beruf!«

»Großmama, Bärbel möchte auch einen Schornsteinfeger als Beruf haben; das muß schön sein, dann braucht man sich gar nicht mehr zu waschen.«

»Der Schornsteinfeger wäscht sich an jedem Abend.«

»Nein, Großmama, der wascht sich nicht!«

»Das verstehst du nicht, Bärbel. – Jetzt laß dich fertig anziehen und denke dabei immer an den Schutzengel, der sonst böse wird.«

»Hat der Schornsteinfeger auch einen Schutzengel? Kriecht der in dem weißen Kleid hinter dem Manne im Schornstein her?«

»Ja.«

»Ooch – Großmama, muß der aber schmutzig sein! Ich möcht' auch mal in den Schornstein kriechen, damit mein Schutzengel auch schwarz wird! – – Liebe, liebe Großmama, laß mich auch mal in den Schornstein!«

»Sprich nicht so albernes Zeug, Kind!«

»Wenn aber die Kugel von dem Schornsteinfeger dem Engel auf den Kopf fällt?«

Frau Lindberg ließ einen verzweifelten Seufzer hören.

»Die Großmama hat sich geirrt; der Schutzengel des Schornsteinfegers steht neben dem Schornstein und paßt dort auf, damit ihm nichts passiert.«

»Guckt er dann oben ins Schornsteinloch, wenn der Mann im Schornstein ist?«

»Ja.«

»Aber wenn nun Rauch aus dem Schornstein kommt?«

»Das schadet dem Schutzengel nichts.«

»Großmama, Bärbel möcht' mal aufs Dach gucken, ob es den Schutzengel sieht?«

»Ich habe dir doch schon hundertmal gesagt, daß die Engel unsichtbar sind.«

»Drum dürfen die Kleinen wohl auch nackend 'rumlaufen?«

»So, nun bist du fertig angezogen und bekommst Frühstück!«

»Ob manchmal der Schutzengel nicht vor Neid zerplatzt, wenn Bärbel früh ein Stückchen Kuchen bekommt, und er kriegt nichts? Dann muß er immer nur zusehen und kann nicht mitessen!«

»Geh jetzt zu Tante Agnes, die macht dir das Frühstück.«

Als Toni am Vormittag einholen ging, durfte Bärbel mitgehen. Das war für die Kleine stets eine rechte Freude, denn dabei gab es allerlei zu sehen.

Heute hatte Goldköpfchen besonderes Glück, denn ein Sprengwagen kam des Weges. Noch niemals hatte Bärbel einen solchen Wagen gesehen, sie schrie vor Freude hellauf, als sie bemerkte, wie das Wasser herausspritzte.

»Guck' doch mal, Toni, der hat hinten lauter Löcher, der verliert alles Wasser; und wenn er nach Hause kommt, ist in dem großen Topf gar nichts mehr drin.«

Bärbel lief begeistert neben dem Wagen her und rief schließlich den Kutscher an.

»Du – Mann, – fahr doch mal ganz fix, sonst hast du nichts mehr in der Tonne drin.«

Toni hatte Mühe, das Kind von dem Wagen fortzubekommen.

»Ach, laß mich doch noch 'n bißchen,« bettelte Bärbel, »es spritzt so schön!«

»Dann warte hier draußen, ich gehe nur in diesen Laden und bin gleich wieder bei dir. Lauf aber ja nicht davon!«

Bärbel hatte nur Augen für den davonfahrenden Sprengwagen. Toni verschwand im Laden, der zu dieser Stunde stark besucht war.

Plötzlich stellte der Wagen das Sprengen ein. Bärbel, von Neugier getrieben, lief ihm nach, um zu sehen, warum es jetzt nicht mehr spritzte.

In diesem Augenblick bog um die Straßenecke ein Reklamewagen, der mit bunten Bildern und einer großen Figur geschmückt war. Das hatte Goldköpfchen bisher noch niemals gesehen. Es starrte das Männchen auf dem Wagen, das eine Bürste in der Rechten hielt, an, setzte sich schließlich in Laufschritt und eilte mit mehreren anderen Kindern hinter dem Gefährt her.

Da war das Wasser! Freudestrahlend blieb Bärbel an der Brücke stehen und schaute hinab in den Strom. Über eine der Brücken war es schon vor einigen Tagen mit der Großmama gefahren. Die Großmama hatte gesagt, daß das Wasser später, wenn es sehr weit geflossen sei, in einen großen See käme.

Da gab es schon wieder eine neue Überraschung. Ein kleiner Dampfer kam gefahren, der zwei riesige Kähne hinter sich herzog.

Nun schoß an diesem Dampfer ein kleines Boot vorbei, in dem mehrere Männer saßen, die mit langen Stangen ins Wasser schlugen.

Aufgeregt lief Bärbel am Brückengeländer hin und her. Erst, als das Boot ihren Blicken entschwunden war, fiel dem Kinde ein, daß es nicht hätte fortlaufen dürfen.

Schleunigst machte es sich auf den Rückweg, doch wußte es nicht, welche Straße die rechte war. Überall die hohen Häuser, überall Läden. – Wo war Toni geblieben?

Es wurde dem Kinde unbehaglich. So viele fremde Menschen eilten an ihm vorüber, die sich gar nicht um Bärbel kümmerten.

Bärbel schaute ratlos nach rechts und links; schließlich stellte es sich mitten auf die Straße, begann zu weinen, erschrak aber grenzenlos, als ein Wagen dicht neben ihm tutete; im nächsten Augenblick war es von einem Herrn zur Seite gerissen und stand zitternd neben dem Fremden auf dem Bürgersteig.

»Aber Kleine, der Wagen hätte dich überfahren können.«

Aufs neue strömten Bärbels Tränen. »Ich will zur Großmama!«

»Wo wohnt denn deine Großmama?«

Wieder schaute sich das Kind suchend um. »In so einem Hause.«

»Wie heißt denn die Straße?«

»Dresden.«

»Dresdner Straße?«

»Ich weiß nicht.«

»Wie heißt denn deine Großmama?«

»Großmama heißt sie.«

»Bist du hier oder dort entlang gekommen?«

»Ich weiß nicht,« schluchzte die Kleine.

»Dann komm mit, ich werde dich einem Schutzmann übergeben, der wird dir helfen.«

An einer der Straßenecken stand ein Beamter, der ebenfalls die Kleine ausfragte. Aber aus Bärbel war nicht viel herauszubekommen.

»Eine Großmama ist da und Tante Agnes. Und mit der Toni bin ich einkaufen gegangen.«

»Hast du auch einen Großpapa?« fragte der Beamte. »Weißt du, was der Großpapa tut?«

»Ich hab' nur eine Großmama, an der kein Großpapa dran ist. Aber ich hab' noch eine Großmama, und die hat einen Großpapa.«

Der Beamte ging mit der Kleinen in eine der Straßen hinein und sagte dem Kinde, es solle sich genau die Häuser ansehen, ob in einem nicht die Großmama wohne.

Aber Bärbel konnte nicht die geringsten Anhaltspunkte geben. So blieb dem Beamten nichts anderes übrig, als das weinende Kind auf die nächste Wache zu bringen.

»Du brauchst dich nicht zu ängstigen, kleines Mädchen, die Großmama kommt nachher und holt dich ab.«

So gut es ging, fragte man Bärbel aus. Man wollte wissen, ob das Kind über eine Brücke gegangen sei, auf welche Weise es sich entfernt habe; und Bärbel faßte schließlich Zutrauen zu den freundlichen Beamten, sprach von dem Wagen mit den bunten Bildern und von dem spritzenden Faß; aber alles das genügte nicht, um die Adresse Frau Lindbergs ausfindig zu machen.

Toni hatte sich suchend umgeschaut, aber von Bärbel war nichts zu sehen. Sie rief, aber keine Antwort erfolgte.

Aufgeregt fragte sie in den Nachbarläden, kehrte schließlich heim, um dort zu erfahren, daß Bärbel nicht zurückgekommen wäre.

Nun begann das Suchen von neuem. Nicht nur Agnes und Toni, auch Frau Lindberg machte sich sogleich auf den Weg, alle voller Angst, daß der Kleinen etwas zugestoßen sein könne.

»Ich gehe sogleich aufs Polizeirevier und melde es,« rief Frau Lindberg ihrer Tochter erregt zu.

Aber kaum hatte die unglückliche Frau ihr Anliegen vorgebracht, als ihr der Beamte lächelnd erklärte, daß der kleine Ausreißer bereits in Sicherheit wäre.

»Wenn die Kleine Bärbel heißt, ist es die rechte.«

Es war Frau Lindberg unmöglich, Goldköpfchen auszuschelten. Sie war so glücklich, Bärbel wieder gesund und wohlbehalten in die Arme schließen zu können, und vergaß darüber alle Vorwürfe, die sie dem Kinde machen wollte.

Erst, als sich die größte Erregung gelegt hatte, gab es liebevolle Ermahnungen.

Bärbel versprach, nicht mehr fortzulaufen.

»Weißt du, Großmama, Bärbel wird dem lieben Gott sagen, daß er ihm 'nen anderen Schutzengel gibt. Bärbels Schutzengel rennt immer mit Bärbel mit, wenn es was Dummes machen tut!«

»Du kannst mit deinem Schutzengel sehr zufrieden sein, mein Kind,« erwiderte die Großmutter ernst, »dein Schutzengel hat dich heute wieder treu behütet, so daß du nicht zu Schaden gekommen bist.«

Am Abend faltete die Großmutter dem kleinen Mädchen die Hände. »So, Bärbel, nun sprechen wir ein Gebet zu deinem Schutzengel. »Lieber Schutzengel, bleib mit deinem Schutz bei mir!« – Sprich das nach, Bärbel.«

Andächtig schaute Goldköpfchen zu dem Bild mit den Engeln empor. »Lieber Schutzengel,« flüsterten die Kinderlippen, »bleib mit deinem Schutzmann bei mir!«


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