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Der Erste

Am dreizehnten August 1914 waren die Kaiserjäger von Bozen abgefahren, am neunzehnten kamen sie dort an, wo sie ankommen mußten. Der Laffroyerbauer, der Sperlbauer und der Noppbauer, alle drei Nachbarn und Familienväter im Deutschnofenerberg, standen in der zweiten Kompanie des ersten Bataillons. Als sie mitten in der Nacht aus dem Eisenbahnwagen stiegen, waren sie der Überzeugung: einen Büchsenschuß weit hinter der Landwelle, die, ein bißchen mondbeleuchtet, aus der Ebene kroch und anzeigte, daß auch hier Himmel und Erde die Welt ausmachten, steht der Feind, und spätestens um fünf Uhr in der Früh gehen wir drauf los! Das war aber ein Irrtum. Noch am zweiundzwanzigsten August nachmittags – nachdem es schon siebenundsechzig Kilometer feindwärts marschiert war, ohne nur eine einzige Mütze vor sich gesehen zu haben, marschierte das Regiment weiter feindwärts, und hatte noch immer keine Fühlung. Die Sonne stand da weiß und ganz schleierlos im wolkenfreien Himmel, die Füße traten siedheißen Sand, und der Schweiß rann den Leuten in brennenden Bächen von der Stirne. Kaum mehr einer ging da, der sang, und geredet wurde überhaupt nicht mehr. Die Augen, entzündet und müde vom Schlafbruch und vom ewigen Anschauen des Flachlandes, das wie ein langsam fortrollender Teppich ewig gleichen Musters: Strahlgelbgrün, Sandfahlnis und schüttere Kieferzeichnung sich ihnen unausgesetzt neu auftat, indem es sich ihnen unausgesetzt neu entzog, hatten Träume oder Bewußtlosigkeiten vor sich. Was jeder marschierende Mann noch fühlte, war nur das Ziehen im Rücken, das vom Tornister herkam, das Hämmern unter der linken Schulter, das vom ausgepumpten Herzen herkam, und die Glut in der Kehle: der Durst. Sie würden in Gottesnamen noch acht Tage lang so feindwärts weiter marschieren und den Feind nicht finden, und vielleicht war, so dachten nicht wenige, die ganze Sache überhaupt nur ein Aufsitzer ... da gellte ein Schrei in die Luft: »Kosaken!« ... und als die Aufgerührten wieder zu sich kamen und, ein Gesicht dem anderen zugereckt, fragen wollten: »Kosaken?« war das zauberhaft jäh hereingebrochene Gefecht schon zu Ende, standen sie atemlos, die rauchenden Büchsen wie böse Pfeile vor die Leiber gehalten, am Abhang eines leichten Hügels, und sahen unter nahen Schrapnellwolken eine erdgrüne Schwarmkompanie heulend der Aue zufliehen.

»Weiter, Mander!« schrie der Sperl, und sein Auge hatte etwas vom Raubtierauge und seine Stimme bebte von einer restlos entfesselten Gewalt, »unsere Artillerie hilft uns!« Und dies machte die ihn Umgebenden geradezu leuchten! Plötzlich sahen sie alles vor sich, was soeben noch gewesen war: Der Feind hatte hinter der zurückflitzenden Kosakenpatrouille einen unsichtbaren Schritt ihnen entgegengemacht, Kiefern, in ein kuppiges Gehölz vereint, waren aus dem tückischen Boden aufgestanden, der Hauptmann Spee raste auf seinem fuchsroten Gaul wie springendes Feuer im Sand kreisum. Befehle donnerten durch den Wirrwarr und keiner verstand sie, – und dann hatten sie geschossen und den Hügel gestürmt und den Hügel gestürmt und wieder geschossen, und immer noch einmal geschossen, und immer wilder geschossen, ein jeder von ihnen – und nun saß irgendwo, fein ausgerechnet, die Artillerie hinter ihnen und zerschoß, die noch nicht zerschossen waren!

»Vürwärts, Mander!« schrie der Sperl, bereits im Schilfgras drin, zum zweitenmal, und schon folgten sie ihm, »dös werd ja a ganz a saggrische Hetz!« Und wie mit einer einzigen Stimme jodelte der halb noch betäubte Haufe jetzt auf, daß die Erde dröhnte; es war also jetzt wirklich und endlich der Krieg, und der richtige Krieg da, und der Feind war da, und die Artillerie war auch da! ... »Vürwärts, Mander!« schrien sie in einem einzigen Schrei und rannten als ein Riesenrudel von flackrigen Pantern die letzte Hügelstufe hinab und in die Ebene gegen Osten hinein, – da erschien der Leutnant Bruder auf der Kuppe des Hügels oben, in ihrem Rücken, und sah sie; und riß die Hände zu einem Rohr an seinen Mund und brüllte in sie hinab: »Zurück! sag' ich! In drei Teufels Namen!«

»Jetzt, weil m'r sie hätten, müass'n m'r z'ruck!!« fluchte der Unterjäger Salbeiner aus Barbian, »i geah nit!«

Der Flarer Matthias aus Lana schaute ihn gemütlich an. Er kaute eine ausgerissene Pfefferminzstaude. »Laß d'r Zeit, Seppele, ob heut oder morgen, auf oan Tag kimmt's jetzt aa nimmer an!«

Aber der Salbeiner fluchte nur noch unflätiger weiter. Und es fluchten auch andere. Und erst gegen fünf Uhr war die Kompanie so ziemlich wieder in Ordnung. Ganz freilich nicht: denn der Laffroyer und der Sperl und der Nopp und ein persönlicher Anhang von ganzen fünf anderen Reggelberglern fehlten auch da noch.

»Der Sperl macht ganz gewiß eine Dummheit!« sagte in der eifrigen Feststellungsarbeit – es hatte eine ganze Garbe verwundeter Feinde gegeben – der Hauptmann Spee zum Leutnant Bruder. »Schick' einen suchen!« Das erste und zweite Bataillon sollten nämlich zurückmarschieren, war der Befehl gekommen; es scheine, daß zwei feindliche Regimenter von Norden her herabgedreht hätten.

Aber der Sucher fand nicht. Der Sperl, seine zwei Getreuesten und seine fünf Getreuen kamen, als die Sonne geradezu friedenslieblich das Land um die Hügel mit Abendlicht bestrahlte, mit achtundzwanzig Gefangenen stolz in ein Buschwerk herein, das am breiten Ufersaum eines stehenden Wassers sein schönes Urwaldgrün zeigte. »Feine Mander!« sagte er seit dem Augenblick der Gefangennahme, »lassen oan nöt amal oa dreckets Schüßl abgeben! Recken g'schwind ihre Arm auf!« Und er sagte es jetzt wieder. Es war eine ungeheure Befriedigung in ihm: »Die ersten Gefangenen, – i, d'r Sperlbauer, der auf der Gant sitzt!« Aber eben voll war die Freude nicht! »Nöt amal oan oanzign Toaten hab'n sie uns gönnt, und in dö Strauchdieb magst ordentlich zu fressen geben!« jammerte er grimmig dem Stolz nach. Und nach je zwei Schritten blickte er immer wieder auf den Zug zurück, der nun über eine kleine Sommerwiese schritt, die von hohen Sträuchern rings umgeben war, und dessen dumpfe Fremdheit der Nopp an der Spitze, die fünf Getreuen zur Seite, und der Laffroyer am Ende gemütlich tirolerisch belebten. Und während das eine seiner Augen den stummen Russen immer »Bagaschi!« zuschimpfte, hatte das andere ein Lichtlein von Mitleid und Einsehen. »Halt jetzt, Mander!« rief er, in plötzlichem Einfall stehen geblieben, und deutete auf das üppige Gras nieder, das schattig und kühl zum Rasten lockte; und zu versäumen war ja wohl nichts mehr! »Jetzt rasten m'r amal!« Hatte das aber kaum ausgesprochen, als er zu Stein erstarrte: der Laffroyer hinten schrie ein wildes Wort in die Luft, die Gefangenen erfaßte ein jähes Frohlocken, – und keine fünf Schritte weit dem Laffroyer gegenüber sank, von dem in die Brust geschossen, ein Kosak aus dem Sattel des niederbrechenden Schimmels herab.

»Hansele, ho, – was ist denn? Was hast denn?« konnte der Sperl noch rufen, denn das war doch ein Spuk! Aber im nächsten Augenblick rannte und raste schon alles, schrie schon alles, schoß schon alles; fünf Reiter galoppierten im tollen Geknatter gen Osten hin, jetzt tauchte ein Pferdeleib noch zwischen den Stauden auf, jetzt noch eine Reitermütze über den höchsten Wipfelchen. »Nach! Nach! Nach!« brüllte der Sperl in Pulverdampf und Siedehitze und sprang; »aber laßt's meine G'fangenen nöt laafn!« begehrte er dabei. »Meine G'fangenen laßt's m'r nöt aus!« Und als ob sie von gierigen Mächten den Fechtern entrissen würde, ward die idyllische Wiese unter dem Fieber der Töne und Leidenschaften jetzt leer und verlor sie alle: – bis aus den Laffroyer und seinen Toten!

Diese beiden schienen miteinander noch nicht fertig zu sein! Das Roß stöhnte hochaufgeblähten Brustkorbs um Gnade und bekam sie, des sterbenden Mannes Auge aber gab dem des Laffroyer, obwohl es flehend darum bettelte, keine. Der blutende Leib lag reglos und röchelnd im Grase, ein Schenkel unter dem zuckenden Fleisch des Pferdes, das Haupt wie auf einem Kissen auf dem Krauspelz der Mütze. Und von dieser Erhöhung aus, zwischen den weit und gleichlinig ausgespreizten Armen, beherrschte das brechende Auge das Gesicht des Feindes, der wie hilflos vor ihm stand, und weil das Himmelsblau mit zwei kleinen flammigen Punkten in den Pupillen sich sammelte, hatte der Blick eine wundersame Mitte zwischen Diesseits und Jenseits, Liebe und Haß, Trennung und Verbundensein, und zwang den Laffroyer gerade mit dieser Mischung immer verwurzelter in den Boden. Je und je versuchte er es allerdings noch, zu fliehen, als erlaubte ihm das Kriegsrecht, so hart zu sein, oder geböte es ihm sogar. Als aber auf einmal die zwei dunklen Lippen sich öffneten, die Reihen der weißleuchtenden Zähne aus ihnen hervorbrachen und ihm ein gequält gestammeltes Wort zustießen, fuhr ihm die Ergebung in diesen Zwang wie der Blitz in die Glieder, er nahm den schon gemachten Fluchtschritt zurück, und flüsterte zitternd und verzweifelt: »I versteah nit!!«

Da hob sich die rechte Hand des Sterbenden aus dem Grase empor und das gestammelte Wort kam wieder kam weicher, allverständlicher – verständlich –, und die Brust tat den letzten Seufzer. –

Nach einer Ewigkeit der Starre sank der Laffroyer in den Rasen, zwang beide Hände gegen das blasse Himmelsblau in den gestorbenen Augen und löschte es aus.

Als er aufstand, war er totenbleich, und mit zwiespältigem Antlitz ging er dem Sperl entgegen, der, die Seinigen hinter sich, aus der niedergehenden Dämmerung in die Wiese hereinstieg. »Dö Hund haben Rösser, dö saßen können!« keuchte er, von Anfang an den Blick auf den Toten hinübergerichtet wie auf einen peinigenden Ankläger, und nahm den Laffroyer wie ein Kind unter den Arm und führte ihn zum Toten zurück. »Und oaner von dö g'fangenen Gauner da ist m'r auskemmen!« setzte er fluchend hinzu und zählte mit schmerzhaftem Auge in der antrabenden Gruppe nur noch siebenundzwanzig. »All's wegen den Teufel da!«

»Und gierig beugte er sich daraufhin nieder und betrachtete ihn eindringlich. Und dann das Roß. Und dann jede Einzelheit an beiden. Und rief dann den Nopp herbei, und nach diesem einen um den anderen von den fünf Getreuen; und stieß es endlich knirschend heraus: »Und dö Sau, den ersten Feind schiangezielt und in Oanzelangriff, und nit etwa ung'sehener und ung'spürter zu derschiaßen, – muaß ausg'rechnet der Laffroyer hab'n, der no koaner Fliag nit an Hax g'rissen hat!«

»Du hast dafür siebnazwanzig Lebendige, Franzele!« tröstete der dicke, stiernackige Nopp. Seine Heimathütte stand dicht neben der des Sperl, und er folgte ihm im Kriege ebenso grundsätzlich treu, wie seit friedlichen fünfzehn Jahren beim Weintrinken, Viehhandel, Forstfrevel und Kirchtagraufen zu Hause. »Siebnazwanzig lebendige Seelen!«

»Und schian in d'r Herzgruab einitroffen!« überhörte im Jägereifer der Sperl und untersuchte die winzige Wunde. »Und schiaßt dahoam bei an jeden Zieler vorbei!«

»Ja! 's Leben ist a hurtige Sach'!« meckerte der Nopp und zündete die Pfeife an; er hatte ein ausgemachtes Elend zu Hause, die Rosel, sein Weib, war eine Böse, und elf Kinder bringen jeden Bauern um, der nur Hafer und Gerste erntet. Darum kannte er die Unbarmherzigkeit des Lebens und freute sich philosophisch darüber, wenn er sie auch außer seiner Grenze traf. »Vor an halben Stündel hat dös Büabl da no Larifari getrieb'n!«'

»Mit oan oanzig'n Schuß!« bewunderte der Sperl noch immer kniend; und noch immer knirschend.

»Geahts amal!« rief der Laffroyer rauh. Er hatte sich lange schon abgewendet. Nun ging er.

Der Sperl blinzelte den Nopp an. Der Nopp dann den Sperl. »A feiner Soldat! Ha?!« meckerte er dann.

»A jeder, wia er kann!« sagte der Sperl trocken und stand auf; und drehte mit kaltblütigen Füßen den Toten halbrechts. »Und wenn man bedenkt: wenn i den Laffroyer hätt' vorgehn lassen und selber als letzter marschiert war' ...!«

Des Noppen Pfeife rauchte wie in den Rotwanderfelsen drin, wenn er vom Seiter-Wirt Sonntag abends heimtorkelte. »Mir krieg'n sie no genua, Franzele, sag i dir! Meahr als du packen kannst!«

»Aber der Erschte! Mandl! – Und wenn man bedenkt ...«

Da standen sie, in den Sand hinausgekommen, verblüfft vor dem ebenso verblüfften Salbeiner. »Ös Saxelabüablm,« schlug der die Hände zusammen, als er die Gefangenen sah. »Ös ganz ahdrahte Spitzbuabn!« Aber nun erwiderte der Sperl nur mehr hochnäsig, als Gefangenenkommandant geradezu, und als sie nach einer halben Stunde alle zusammen zum Bataillon stießen, das unterm Abendnebel tief in einer Erdmulde drin lichtlos versteckt lagerte, machte er nicht einmal mehr seinen Mund auf, um die Meldung zu sagen, sondern stand ganz einfach vor den siebenundzwanzig Mitgebrachten graniten Habtacht. –

Die Nacht im Lager war kühl, und als sich gegen zehn Uhr die Sterne aus den webenden Schleiern hoben, ward sie kalt. Das Land lag unterm Licht der Gestirne endelos fahlgrünblau; endelos unheimlich. Von den angepflockten Pferden scharrte jetzt eines und jetzt eines in das volle Stillsein hinein, und aus lächerlich weiter Ferne bellte klagend ein Hund. Das war aber auch alles, was an Stimmen da umging! Die Leute schliefen fast alle schon, die Köpfe auf den Tornistern, die Gewehre neben sich, und die Hände in den Händen der Ehfrauen, Bräute oder Kinder, von denen sie träumten. Röchelnder, schwermüder Schlaf! In einem Kreise aber lagen der Sperl, der Nopp, der Salbeiner und die Fünfe hell wach. Sie hielten dafür, daß der Laffroyer neben ihnen schliefe, und darum ging von diesem Schlafenden ein quälendes Fieber auf sie aus. Der Sperl erinnerte sich nun, daß er den Laffroyer habe zielen und schießen geseh'n; der Nopp, daß er den Säbel des Kosaken neben dem flink ausweichenden Laffroyer die Luft durchschneiden gesehen hatte; die Fünfe, daß der Kosak aufgebrüllt hatte wie ein Stier, als ihm die Kugel im Fleisch saß. Und »A schiache Sach!« sagten sie fast zur selben Zeit auf einmal; »eigentlich a schiache Sach!« Es war aber noch keine halbe Minute nach diesem Aufruf vergangen, als der Sperl die heimatliche Speckschwarte, an der er genagt hatte, in die Nacht hinauswarf, mit zappelnden Händen in die Luft griff und, indem er die zwölf Augen, so gut er sie im Dunkel eben sehen konnte, anstarrte, sagte: »Aber a bissele schian aa! Teufel no amal eini, aber i kann nicht dafür: wia i den Kerl da han liegen gsechen, – a so mausgageltoat – und wenn er aa lei oaner ist von die hundert- und hunderttausend: er ist m'r vürkemmen wia alle hunderttausend auf oanmal! Und deretwegen sein m'r ja kemman: sie alle zu derschiaßen! Teufel, no amal eini!«

»Pst!!!« pfiff es vom Offizierszelt wütend herüber.

»Sollen lei kemmen!!« grinste der Sperl gleichmütig und dämpfte die Stimme nicht; »von mir aus in a Viertelstund, und am liabigsten gleich!« Und sprang auf und gab dem Laffroyer einen gutgezielten Fußtritt, »weil, dös tua i wissen, Hansele! morgen um dö Zeit han i mei Dutzend, so wahr i da steah.«

Aber der Mißhandelte war nicht der Laffroyer! »Laß mi in Ruah, sag i!« fluchte er rebellisch und legte sich bös auf die andere Seite; es war der Tenner Seppl von Mittelberg am Ritten »a so a bluatrünstiger Metzger!«

»Wo ist nachher der Hansl?« fragte begossen der Sperl rundum.

Der Hansl war aber in diesem Augenblick zwei Kilometer nordwärts des Lagers und kehrte auf seinem schmalen Pfad eben um. Denn es kam jemand. Eine Schaufel hatte er bei sich, die nahm er nun fest an den Leib, drückte sich platt an den Föhrenstamm, der als erster zum Holz hinaufleitete, das am Nachmittag Kampfplatz gewesen war, und paßte. Aber der Kommende hatte seiner schon früher gewahrt. »Wer da?« rief er schnell. Der Hansl, hervortretend, antwortete prompt. Und er erkannte den Unteregger Toni, – und der hatte auch eine Schaufel! »Was tust da?« fragte er verwundert. Aber ebenso erstaunt fragte der Toni: »Und du?« Weil aber keiner recht antworten wollte, der Weg des Laffroyer jedoch vom Hügel rechts wegführen mußte, blieb dieser nach einer zähen Weile wiederum stehen, zögerte noch eine mißtrauische Minute lang, und sagte dann fest: »Guate Nacht!«

»Wohin geahst denn?«

Der Hansl preßte die Lippen aufeinander. »Wohin du?«

»Den Gadner Louis eingraben.«

Das traf wie ein Schlag! »Ist'r g'fallen?«

»Als Erschter!«

»Heut Nachmittag?«

»Ja. In Wirrwarr hat's koaner nit wahrg'nommen. Lei der Leutnant und i. I bin neben ihm gangen.«

»... Hat er lang leiden g'müaßt?«

»Herzschuß!«

Der Hansl streckte sich, als ob er fühlen möchte, daß er noch der Laffroyer war. »Und sonst – koaner nit g'fall'n?«

»Leidear!«

Ein grausam heller Blitz flog dem Erblaßten ins streitende Hirn. War so der Krieg? Einer um den anderen? Hier der Erste, – und dort der Erste? Und beide begraben?

»Du hast wohl – an ähnliches G'schäft?« rief nach einer ellenlangen Pause der Toni herüber; schon von seinem Weg aus.

Aber er sagte nicht »ja« oder »nein«, der Laffroyer; »Guate Nacht!« wiederholte er frierend und schied.

Eine Zeitlang hörte er noch den Schritt des anderen. Dann wuchs der Hügel trennend zwischen die zwei Wege. Und nun schritt er schnell, das kleine Wiesenland unter den Sträuchern am Wasser zog ihn rasch und ohne Abweg an; er fand es, ohne zu suchen. Aber als der plumpe Fuß den Tau der Halme trat, die dem Toten nahe sein mußten, begann sein Herz wie ein wilder Hammer zu schlagen. Und zitternd tat er jetzt Tritt für Tritt. Und: »Herr,« rief es dunkel in ihm, »warum fällt mir diese Prüfung so schwer?« Und: »Herr,« jammerte in nagendem Zweifel seine unbefleckte Erdseele, »bin ich der Kriegsmann, wie du ihn willst, oder ein Lamm?« Und stieß auf einmal einen Laut des Entsetzens aus: Der Riesenflügel eines aufkreischenden Raben hatte sein heißes Gesicht geschlagen!

Eile! rief es jetzt jagend und zerrend in ihm. Eile! Aber von jetzt an mußte er kämpfen! Mit aller Gewalt kämpfen! Nur mit aller Gewalt gegen das Grausige ringend, dem jeder Schritt ihn näherbrachte, konnte er weiterkommen; während die Raben, hochgestiegen zu einer himmelverfinsternden Schar, seinen tappenden Weg beschrien.

Aber ganz auf einmal war er da! Das Roß leuchtete im Dunst seines weißen Todes. Trotzdem er das sah: jetzt, weil er es sah, bekam er die Fassung zurück! Bedächtig, damit nicht das leiseste Geräusch entstünde, riß er das Sacktuch hervor, das, von seinem Weibe sauber gemerkt, die Buchstaben des nichtssagenden Bauernnamens trug, und ließ es über das mattsilberne Gesicht des Toten gleiten. Und nun schwand ihm mit einemmal ganz alle Furcht. Lange blieb er beim Toten knien, ganz und gar unbeweglich, und ganz und gar in das Rätsel dieser Stunde versunken, ehe er das Grab schaufelte. Er hatte nie andere Menschen gekannt als die Nachbarn seines Hofes im Land seiner Geburt. Die Hände des Toten aber, die, fast lächerlich klein gegenüber der Riesengröße des Körpers, vereist waren um die bittere Sekunde, die der Tod gebracht, redeten zu ihm, wie früher nicht einmal die Hände des alten Vaters auf Laffroy hatten zu reden verstanden! Zwar verzerrte die maskenhafte Tracht der Uniform die Eindeutigkeit des Menschen, den sie als letztes Kleid deckte. Aber während sie immer unwidersprechbarer sagte: »Dein Kosak bin ich, Hansl!«, trat eine Gestalt, aus deren angstbebenden Gang und hartnäckig suchender Liebesgebärde deutlich das Mütterliche leuchtete, dem Gebannten aus der Lichtung der Büsche heraus zu, und Kinderfüßchen, kaum andere als die des Louisele und Moidele auf Laffroy, trippelten suchend über den blutbesprengten Boden. Oh! – Ein Mensch wie ich! ahnte getroffen die erschauernde Seele des Bauern, und weil diese Offenbarung wie Geißel weh tat, wollte er mit aller Härte sich dawider wehren. »Herr, nimm diesen Gedanken von mir,« flehte er händeringend, indem er aufstand; und noch einmal und noch einmal; und noch einmal. Aber auf dieses Flehen kam keine Hilfe! Im Gegenteil: noch heller erschien plötzlich dem lichtsuchenden Auge die unbekannte Hütte der fremden Ferne, die von diesem Begräbnis noch nichts wußte. »Ein Mensch wie du!« hieß es unerbittlich zum zweitenmal – da entblößte er entschlossen das Haupt, betete sein »Vaterunser« und langte nach der Schaufel.

Das Grab grub er, obwohl er noch niemals ein Grab gegraben hatte, kunstgerecht. Am Saume der Wiese, unter den Büschen. Bis dahin hatte er den Toten schweißtriefend geschleppt: die Vögel sollten nicht neben dem Grabe die Eingeweide des Schimmels zerfetzen! –

Mitternacht war vorbei, als er über dem begrabenen Leichnam den Hügel baute. Die Hände zitterten ihm nicht mehr, und im Schädel hatte das Fieber zu klopfen aufgehört. Und in der Brust drin kam die Ruhe wieder, und vor dem erlöst erwachenden Auge kehrten die Gesichter der Mutter und der Kinder zufrieden heim. Ohne Hast brach er jetzt zwei Weidenäste und bildete aus ihnen das Kreuz. Dieses sah er deutlich ihm nachschauen, als er, das Grab schon verlassen, hinaus an das Wasser trat, um in der stillen Welle die Hände zu waschen. Langsam ging sein Atem hiebei: als redeten Wasser und Herzschlag dasselbe lindernde Wort, ward ihm wohl. Und als er, die Perlen noch an den Fingern, in die Weite der Ebene zurückkam, erblickte er wie Blutsverwandte, die ihm aus gemeinsam getragenem Wunderdasein tröstend zuwinkten, die Sterne. Obwohl er sie niemals bisher beachtet hatte, fand er nun gleich jenes Dreigestirn aus ihnen heraus, das zu Hause, dem Hof gegenüber, überm Höggerwald stand, und über sein Gesicht, das wieder das einfache Naturantlitz des Bauern geworden war, lief heimelig ein Lächeln! Da drüben war das Lager! Und rundherum in der göttlich unbewußten Weite der Krieg! Er hatte kaum angefangen, aber mit dem heutigen Tage schon kam er vielleicht unleugbarer, als er sich gestern aus dem Versteck gewagt hatte. Bei diesem Gedanken besannen und strafften sich die Muskeln, während dem Geiste so die nüchterne Helle zurückkehrte, und der kommende Tag erschien vor ihm klar. Im Gewissen drinnen war Ordnung – jetzt konnte nichts Böses mehr geschehen! Ohne daß er es wollte, wurden seine Schritte nun schneller, aus voller Brust stieß er die blühende Luft zurück, etwas wie Erkenntnis so froh machte ihm sein Auge licht, – als in das große Schweigen herein plötzlich ein zorniger Schuß flog.

»Geats jetzt wieder an?« lachte, ein paar Schritte hinter ihm, eine bekannte Stimme.

Er drehte sich rasch um. In einem einzigen Augenblick war ihm die sichere Ruhe wieder zertrümmert worden. »Bist du's, Toni?« fragte er heiser.

Sie gingen sich, ein Wort suchend, aber keines findend, wie rechte Bauern langsam nahe und strebten, von Sekunde zu Sekunde tiefer versteckt voreinander, dem Lager zu.

Auf einmal aber, mit einem jähen Ruck, machte der Toni halt und verlangte: »Hast ihn ordentlich ein'grab'n?«

Der Hansl maß ihn geradezu feindlich. »Woll!« antwortete er roh und nahm den Weg wieder auf.

»I aa,« hauchte, nach einer Weile weiteren Gehens der Toni. »A schians Grabl han i ihm g'macht.«

»Hat er schiach ausg'schaut?« stieß der Hansl aus der wilden Bewegung des Schrittes, aus dem Trotz des Versteckspiels hervor.

»Gar nit a bissele! Als ob er schlafet. Und der deinige?«

»Aa nit.«

Und wieder gingen sie stumm eine Weile.

Aber einmal mußte der stürmende Quell wohl entspringen, der sie so plagte! Sie waren dem Lager auf etwa dreihundert Schritte nahegekommen, als der Unteregger Toni atemlos fortfuhr: »Überhaupt, Hansl, dös werd'n m'r schon g'wöhnen! Bei die insrigen und bein Feind! – Heut ist's halt no der Erschte gewesen! Boaderseits!!«

»Moanst du, – mir werd'n dös a'wöhnen??« erwiderte ebenso atemlos der Laffroyer.

»Mir kimmt's vür!«

Der Laffroyer schaute ihn heißgespannt an: Hatten diese Worte wild oder ruhig geklungen?

»Red' amal!« begehrte der Toni, fieberhaft gehend, und von der Seite »sag' amal! Du!«

Da warf der Laffroyer die Schaufel von sich, daß ihr kreischendes Scheppern ins Morgengrauen gellte. »Toni, schau,« stieß er in würgender Qual hervor und an allen Gliedern zuckte der geschüttelte Körper, »i han bis zan gestrigen Tag koa Kalbl derhängen gekönnt! Ja nit amal a Henndl. Und gestern – an lebendigen Menschen!«

»Huu,« kam es gurgelnd und glucksend aus der Brust des Begleiters:

»Und jetzt« – er warf die Arme wie verzweifelte Flügel in die Luft –, »seit i ihn ein'grab'n han, kimmt mir's a so vor, als müasset i's heut wieder tian! Und morgen aa wieder! Und übermorgen aa wieder! Und nit lei oan oanzigen – naa, Toni: zwoa, drei, viere, fünfe, sechse ...«

»Und ii!« schrie ihm, jetzt losgelassen, der andere ins Wort, »seit i mein' Gadner Louis ein'grab'n han, beneid i di, daß du schon oan hast! Und wenn's heut und jetzt angeht« – wild drehte er sich dem Genossen zu und packte ihm eisern die Hände – »a so ist's, Hansl: i freu mi jetzt drauf!«

»I aa! Und i aa!« Und noch eiserner preßten die gezwungenen Hände. »Und wenn's no a so schiach ist: jetzt freu i mi drauf!«

»I kann nicht dafür!«

»I aa nit! Han gmoant, bald i ihn in der Erd' einileg ...«

»I aa! Grad a so!«

»Wenn i 'hn in der Erd' einileg, han i mir gedenkt, nachher ist alls guat und Amen! Aber kaum han i 'hn dreing'habt und schnell drauf den Schuß g'hört ...« –

»Melde gehorsamst!« Dem Unteregger Toni hatte es einen Riß von oben bis unten gegeben. Zwei Offiziere standen peinlich dicht vor ihm und dem Hansl. »Melde gehorsamst!« wiederholte er keuchend und warf wie ein ertappter Dieb nun auch seinerseits die Schaufel ins Graue.

Aber die zwei Offiziere waren der Sperl und der Nopp! Einen Augenblick lang blinzelten sie noch vielsagend, aber stumm, der Schaufel nach, – dann begann der Nopp sein gemeinstes Meckern loszulassen, und der Sperl sein hellichtestes Hosenlatzlachen. Und erst nachdem sie ein wahrhaftiges Konzert von Hohn und Spott zusammengebracht und den zwei Gewissenhaften damit die schamroten Gesichter ordentlich auf die Brust hinabgedrückt hatten, nahmen sie sie, der Sperl den einen und der Nopp den anderen, beim Krawattel und trieben sie, wohin sie gehörten. Und: »Toatengraber!« grinste der Sperl, daß ihm das Bäuchl wackelte und die übermütigen Augen fast aus dem puterroten Gesicht fielen – »wenn m'r hoamkemmen, Noppele, rekammandieren m'r sie bein Mesner auf Deutschnoafen! Als Toatengraber!«

Aber, ob er es auch dreimal und viermal wiederholte, und jedesmal wonniger, und bei jedem Male ausgelassener grinste und spukte, – die zwei Gewissenhaften hörten es gar nicht! Sie fühlten auch gar nicht, daß sie am Arm anderer gingen, von der Gewalt anderer getrieben wurden, am wenigsten aber, daß sie bereits durch die erwachenden Reihen des Lagers schritten. Gegenüber ihren wieder aufgeschlagenen Augen flog nämlich der Tag jetzt auf, schüchtern, bleich, ungewiß, mitten aus den ungewissen Schleiern der Dämmerung. Den starrten sie an. Wie ein Wunder; und trotzdem klar und völlig frei; völlig zweifellos. Er war ja, wenn nicht der letzte, jedenfalls und wenigstens der zweite! Und dieser Gedanke mußte beiden zur selben Sekunde gekommen sein – plötzlich rissen sie sich von den zwei Treibern los, sahen sich an und lachten hell auf.

»Toatengraber!« fluchte der Sperl.

»Abwarten!« lachten die zwei.

* * *


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