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Jetzt, genau in dieser Sekunde, sind es zwölf Wochen,« sagte die junge Frau und sah zärtlich den Mann an, der genau so schlank wie sie, nur noch etwas größer als sie, neben ihr einherging.

»Und übermorgen um halb sieben Uhr abends ist es ein ganzes Jahr, daß wir uns zum erstenmal sahen.«

Dieses hinreißend feuerblaue Auge! Dazu trug sie ein Kleid aus rosa Crêpe! Ueberglücklich lächelte er.

»Du« – sie blieb stehen, – »wenn es damals nicht dazugekommen wäre, glaubst du, es wäre später doch geschehen?«

Er blickte, wie um die Antwort zu finden, ins Tal zurück. Die Prossau, unter dem Felsbau, den die Gletscher beflanken, lag schwergrün, kaum herbstlich, in stiller Besinnung. Drüber der Himmel in jenem geläuterten Blau höchster Feier, den ein unbefleckter Morgen noch dem Abend zurückläßt, wenn kein dunstiger Brand die gefährlichen Stunden des Mittags entzündet hat. Weder ein Ton von Leidenschaft, noch ein Hauch von Tragik oder von süßlicher Sentimentalität störte die Ruhe, darin die gerundete Landschaft verharrte; aber auch kein Zug. selbstzufriedener Plattheit! Sicher, im vollen Besitz ihrer Grenzen, und bewußt dieser Schönheit, empfing sie die letzte Sonne des Abends und war voll gerüstet, sich morgen im Schnee oder Regen ohne Minderung zu behaupten.

»Antworte! Du!« lachte die junge Frau und ergriff wieder die Hand des Mannes.

»Seitdem ich dich habe« – froh nahm er den Weg wieder auf – »fehlt mir ganz das Bedürfnis, Möglichkeiten zu betrachten, die nicht Wirklichkeit wurden. Wäre ich damals nicht zu Mama Leerbann gegangen, – kann sein, daß ich dich niemals gefunden hätte. Nachdem ich aber eben hingegangen bin und dich wirklich gefunden habe …«

»Der Besitz!«

»Der Besitz!!«

»Wenn du dich genau betrachtest, – findest du denn nicht, daß du viel – sagen wir – banaler geworden bist, seitdem du mich hast?«

Er ging Hand in Hand mit ihr. »Ich meine wohl!«

»Viel unproblematischer?«

»Gewiß!«

»Weil ich keine Poesie habe. Du hast einmal gesagt: du hast keine Poesie!«

»Das stimmt auch. Aber es paßt mir ausgezeichnet. Ich erinnere nur daran, wie du am ersten Abend mit – Appetit ist kein Wort dafür! – mit Hunger aßest und dabei ununterbrochen nur vom Essen redetest!«

»Ich war eben hungrig!«

»Du hast eine Hirnsuppe gegessen, einen Fogosch mit Kartoffeln, ein halbes Huhn mit Gemüseragout und Pfirsichen, Spargel, eine Sachertorte, und verlangtest nun mit Leidenschaft –«

»Ich esse eben gerne Käse!«

»… mit einer Inbrunst, die ich nie vergessen werde, Camembert!«

Es war nicht zu leugnen: von Poesie sprach das nicht. Und es gab dafür, so verlegen und eindringlich sie auch darnach suchte, keine Rechtfertigung. »Es war dir sehr arg!«

»Und kannst du dich noch erinnern? – Nein! Das ist überhaupt so arg, daß man's nicht erzählen kann.«

»Was? Sage!« Halb ängstlich, halb beleidigt: »Daß ich unfrisiert zum Frühstück kam?«

»Am ersten Morgen! Auch schauderhaft! Aber es ist noch viel ärger!«

»Daß ich erzählte, wie nervös es mich macht, wenn Mama beim Essen solange den Teller abkratzt …«

»Ausgerechnet vor dem ersten Anblick des Meeres. Die Berge traten gerade, als ob sie auf diese Sekunde gewartet hätten, auseinander, ich laufe schon, sehe es schon … aber es ist noch viel ärger.«

»So sag' es doch! Sag' es doch!«

»Wenn ich denke, was für eine unbeschreibliche Seligkeit in mir war, als ich dich zum erstenmal in die Arme nahm – wahrhaftig, sie liebt mich, sie hat mich nicht fortgestoßen, sie will mir gehören, jubelte ich, jauchzte ich innerlich! Ach, ich sage dir, das Erlösendste war es, was ich erlebt habe! Und du? Ja, lieb angeschaut hast du mich wohl, als ich dich endlich, noch über und über zitternd, freigab, – aber dann, gleich darauf, mit dem Rücken der Hand dir – den Mund abgewischt!«

Das saß!

»Kannst du's leugnen?«

Es war ein unendlich schamvolles, reuiges, aber auch ein unsäglich inniges Lachen, mit dem sie, nach einer bitteren Pause, »Nein« gestand. Aber der Hieb saß doch tiefer, als daß ihn die süßeste Gewißheit, in jenem ersten Kuß all das ureigene Leben dahingegeben und das seine empfangen zu haben, hätte gutmachen können. »Und das kannst du nun nie mehr vergessen?«

Zärtlich schlang er den Arm um den jungfräulichen Nacken. »Es ist unerklärlich. Ich habe es nie für einen besonderen Vorzug gehalten, wenn Frauen, die ich liebte, gerne Käse aßen, und so weiter. Aber, was du an eindeutigster Prosa und ungeniertester Natürlichkeit leistest – ich lieb' es und frag' nicht warum. Denn frag' ich, dann sag' ich: originell ist es nicht, und übrigens, ich bin nicht für's Originelle. Natürlichkeit aber, gewiß, ein Gut ist sie, und ich hasse Geziertheit! Aber, am Ende ist's vom Natürlichen zum Trivialen doch nur derselbe Schritt, wie von der Poesie zur Manier!«

»Ich finde aber –«

»Was findest du denn?« Er lachte so herzlich, er hörte sie so gerne reden, obwohl er sich einbildete, schon im voraus genau all das zu wissen, was dieser unverdorbene Mund da zu reden hatte.

»Wenn die Liebe blind macht, – was hat man von ihr?«

»Das habe ich mir, früher, auch oft gesagt! Ein Mensch von Auffassung kann es sich doch nicht gefallen lassen, nur deshalb glücklich zu sein, weil er blind ist. Für Handlungsgehilfen das Passende! Aber für Unsereinen?«

»Und wenn dann die Blindheit einmal aufhört?«

»Eben! Die Wirkung davon ist dann niemals die, daß man nun verstandesmäßig einsehen könnte, warum man liebt, sondern das Gegenteil: nun sieht man plötzlich mit Herz und Verstand, ja zum Beweisen klar ein, warum man nicht weiter lieben kann.«

»Und das kann, eigentlich, jeden Augenblick eintreten?«

Der Wald tat sich, als Fortsetzung des abendvergoldeten Wegs, unvermittelt auf, wie die dunkelste Gasse. Da umschlang er sie fester, viel heißer. »Es scheint aber doch richtig zu sein, daß das Ganze ein Wunder ist. Wieso es entsteht und warum es so wirkt, daß der offenbarste Widerspruch seine Kraft nicht zerstört, kann das Hirn nicht erfassen. Zu beweisen gibt es da ebensowenig wie bei irgendeinem anderen Glauben.«

»Aber wenn auf einmal ein zweites Wunder eintritt, ein drittes, ein viertes?«

»Das ist das noch tiefere Geheimnis!«

»Es kann doch jederzeit geschehen, daß die Kraft plötzlich erlischt. Und dann –«

»Ich bitte dich!« Er blieb mitten im Wald stehen, und während er sie, fast beschwörend, in seine Arme nahm, inbrünstig an seine Brust hielt, fühlte ihre sinnend verzagte Seele zum Troste: er bebt ja vor Glück! »Ich bitte dich: eine Akademie von Philosophen, ein Areopag von Psychologen –«

»Was ist Areopag?«

»Unser Herrenhaus. Ein Areopag von Philosophen, das windige Heer der Dichter ab ovo – das heißt: von Adam her – und dazu erst noch jeder einzelne Mensch haben die saftigsten Kräfte ihres Hirns und Gemüts darin verschwendet, dies Geheimnis zu lösen. Natürlich umsonst! Nur die sogenannte Moral, – ja, wahrhaftig, die Moral auch von dieser Geschichte blieb übrig in den enttäuschten Retorten. Für die Einen heißt sie: der anständige Mensch kann nur einmal lieben – soviel ich weiß, hast du, vor mir, volle zweimal! – Für die Anderen: er muß so oft lieben, bis er endlich keine Lücke im Herzen mehr findet. – Ich habe –«

»Ich habe vor dir niemals wirklich und richtig –«

»Ich bekenne mich zur zweiten! Ich habe vor dir – warte! Laß mich nichts Falsches sagen. Eins, zwei, drei, vier, – fünf – fünf sind's im Ganzen. Fünf kann ich nicht leugnen. Es ist mir nicht angenehm. Aber schämen tu' ich mich nicht. Nicht im mindesten. Ich finde es begreiflich, – ja, das Gegenteil fände ich unsinnig. Das Herz – so lege ich mir's heute sehr einfach aus – braucht ja nicht das Wunder als solches, sondern sein Wunder! Was ist da natürlicher, als daß Lehrgeld gezahlt werden muß, Zeit gebraucht werden wird, bis das richtige da ist? Der Mensch ist Entwicklung!«

»Aber, welche Stufe dieser Entwicklung die letzte ist, und ob es überhaupt jemals eine letzte geben wird, – das –«

»Ausgeschlossen, das zu wissen! Das ist eben das Rätsel.«

»Und es kann also wirklich jeden Augenblick –«

»Zweifellos!«

»Willst du mich nur bange machen?«

»Mir ist vollkommen ernst!«

»Du wartest förmlich darauf?«

»Ich denke überhaupt nicht dran!«

»Aber Angst hast du!«

»Nicht die Spur!«

Aber nun trat, mit großer Gebärde, der Wald zurück und gab den Blick in das Land wieder frei. Immer durch Wiesen schien jetzt der Weg zu leiten, die sich steil von den Hängen herab, über Buckel und Mulden, mit Tälern und Rücken bis in die dämmerigen Säume der Wälder hinabdehnten, in sanftem und lieblichem Wechsel. Die Sonne war schon dahin, blanker Abendschein überall. In der Nähe verstrahlten die Halme, die Blätter des Lattichs, der festformige, vielgrüne Wucher des Bodens und die letzten Stämme, die Stangen der Zäune, die Balken und Schindeln der Dächer, dies glasklare Leuchten, das kristallhell die Dinge umschränkte und den Abschied der Sonne versüßte. In den Runsen hingegen, die wie leibhaftige Einschnitte im Körper des Landes vom Boden von Böckstein herab die Glieder trennten, und rings um das rauschende Leben der noch verborgenen Wasserfälle lag tiefste Bläue, die großzügig die gestreckte Terrasse von weißen Hotels mitumfing und das frohe Licht erster Lampen verbrämte. Je weiter die Glücklichen aber schritten, desto weiter öffnete sich das Tal von Naßfeld; trat, entbreitet, zurück von der Gliederung des Vorlands, darüber die Bläue sich üppig verstärkte, hob sich mit sanft steigendem Schein fast unwirklich von ihm ab und zeigte auf einmal im nackten Fels, und, darüber, im Schnee des Schaareck wahre Rosen des Nachglühens. Sie blühten gemach auf, ohne Prunk, ohne Tücke, bestreuten von fern her alles, was fern war, mit verklärendem Schimmer und verlockten den Himmel, sein lieblichstes Wunder zu geben: Vergißmeinnicht. »Ein glänzendes Beispiel für die Richtigkeit des Satzes, den ich aussprach!« sagte der Mann, mit dem Blick zurückkehrend in das Auge der immer noch sinnenden Frau, »Rosen und Vergißmeinnicht – eine Zusammenstellung für jugendliche Provinzialen. Und dennoch: Alles relativ!«

»Helena nicht!« lachte sie übermütig.

»Was für eine Helena?«

»Die schöne! Griechin an Geist und Griechin an Leib. Absolut!«

»Ich bin kein Faust. Und, übrigens, sobald er vom Kaiser den Strand geschenkt bekommen hat, ist ihm auch Helena Hekuba.«

»Ich mag Goethe nicht!«

»Kann er sich leisten!«

»Nicht so böse! Soweit ich ihn verstehe, finde ich nichts Besonderes an ihm, und wo das Besondere sein soll, verstehe ich ihn nicht!«

»Aelter werden!«

»Ich glaub' einfach nicht, daß ein Werk, das nur ganz wenige verstehen können, ein Kunstwerk sein kann. Und ich glaub' es keinem, wenn er mir weismachen will, er verstehe den zweiten Teil Faust!«

»Gebt ihr euch einmal als Poeten, so kommandiert die Poesie!«

»Zornig werde ich, wenn ich ihn aufschlage. Arrogant ist das. Warum schweigt er nicht lieber, wenn er von Anfang an doch schon die Absicht hat, hineinzugeheimnissen.«

»Hast du ihn je ganz gelesen?«

»Und verstehst du ihn? Aufrichtig!«

Es war sehr unvorsichtig gewesen, dieses Thema zu berühren, denn er geriet ohne Uebergang, unvermittelt, ja gach in Feuer. »Ich liebe ihn!« rief er, verändert, verwandelt, »wie die Luft – wie den Geist überhaupt. Wie den Sinn der Welt, die ich fasse. Was soll mir Gewißheit des Buchstabenworts? Die logische Auflösung? Der Faust ist genau wie das Herz jedes Menschen: ein Wunder an Rätseln, ein Rätsel an Wundern!« Und willenlos, von einer Macht getrieben, die unwiderstehlich befahl, ließ er sich in den verglommenen Rasen nieder, zog die Erstaunte nieder auf seinen Schoß und begann nun, in langsam sich aneinanderreihenden Gedanken zu erzählen. Vorsichtig. Denn es war nicht für ihn zu reden, sondern für sie. Nicht die Glut des eingeweihten Bekenners vorauszusetzen, sondern nur das natürlich empfängliche Gemüt einer Frau. Aber schon nach zehn Sätzen hieß es umkehren. So kam er nicht weiter. Hier, wo die Handlung auf Geheiß des dichterischen Genius entstand, und nicht der Genius sich am Motto der fertigen Handlung entbreitete, war eben der Geist leichter zu entwickeln als das Drama. Nun aber war wohl die Idee des Werkes bekannt – das Wort »Faust« allein schon sagte sie aus. Nicht hingegen stand das Gerippe der Handlung so klar und greifbar da, daß die Idee jederzeit und leicht ihm angekleidet werden konnte. Wie zum Beispiel durch das Chaos der klassischen Walpurgisnacht den übersichtlichen Weg finden? Wie Helenas Entstehung entschleiern und Homunkulus wahrmachen? Trotzdem! Beherzt und entschlossen hinein in den Mythos! »Im Prolog im Himmel« begann er tastend, »überließ der Herr den Faust dem Mephisto mit den Worten:

»Zieh' diesen Geist von seinem Urquell ab,
Und führ' ihn, kannst du ihn erfassen,
Auf deinem Wege mit herab.
Und steh' beschämt, wenn du bekennen mußt:
Ein guter Mensch in seinem dunkeln Drange,
Ist sich des rechten Weges wohl bewußt!«

Das ist die Grundidee. In Fausts Studierzimmer wird dann der Pakt geschlossen. Mephisto verspricht dem Faust: die Frucht, die fault, eh' man sie bricht. Und Bäume, die sich täglich neu begrünen – das Maximum an nicht sättigender Speise für diesen Hungergefolterten. Faust dagegen schwört, dem Teufel zu gehören, wenn es dem gelingt, ihn schmeichelnd zu belügen, mit Genuß ihn zu betrügen.

»Werd' ich bruhigt je mich auf ein Faulbett legen,
So sei es gleich um mich getan!
Werd' ich zum Augenblicke sagen:
Verweile doch, du bist so schön!
Dann magst du mich in Fesseln schlagen,
Dann will ich gern zu Grunde geh'n!«

Im ersten Teil gab nun Mephisto nichts, was Faust diese Worte entrissen hätte. Die Mogelei in Auerbachs Keller ekelt ihn an. In der Hexenküche, wo er verjüngt wird, findet er's »abgeschmackter«, als er's jemals sah. In der wachsenden sinnlichen Leidenschaft zu Gretchen taumelt er ruhlos von Begierde zu Genuß und im Genuß verschmachtet er nach Begierde. Die Gewissensbisse verzerren alle Lust am Hexensabbath am Brocken. Im trüben Tag auf dem Feld geht er den Teufel darum mehr als enttäuscht an: »Hund! Abscheuliches Untier!« Und Gretchens letzter Ruf: »Heinrich! Mir graut's vor dir!« macht es notwendig, daß am Beginn des zweiten Teils Ariel, der Geist der Lüfte, die Geistergröße kleiner Elfen anruft, sie sollen dem Unglücksmann, der unruhig, ermüdet, schlafsuchend im Rasen liegt, des Herzens grimmen Strauß besänftigen, des Vorwurfs glühend bittre Pfeile entfernen, und das Innere vom erlebten Graus reinigen! Der Teufel hat also bisher nichts als auch nur Unbefriedigung geschaffen. Die Elfen gehorchen, baden Faust im Tau aus Lethes Flut, – und nun mag Mephistos zweites Werk beginnen. Mit dem Füllhorn der Sinnenfreuden war es nichts. Also höher hinan!

Erster Akt: Kaiserpfalz. Das deutsche Reich Karl des Fünften ist verlottert und kracht in allen Fugen. Da weiß Mephisto Rat: Papiergeld wird gemacht. Die Schätze, die im Boden des Reiches – der dem Kaiser gehört – vergraben oder versteckt liegen, sind die Deckung der Banknoten. Der Kaiser ist entzückt. Faust auch. Hier könnte Größeres genossen werden, als an Gretchens Brust? Aber vor allem will der Kaiser –«

»Seine Hetz' haben!«

Aus Ungeduld, aus Widerspruch sagte sie es. Die Gründlichkeit – offengestanden – ermüdete sie.

Er sah sie, blitzschnell, von der Seite an und unwillkürlich ließen seine Arme sie lockerer. »Ein welscher Fastnachtsrummel, wie ihn Goethe in Rom sah, nimmt den Hof auf. Aber nicht etwa als eingestreutes Zwischenspiel. Die Gewalt des Goldes, die Mephisto dem Kaiser vorgestellt hat, rollt in dieser Mummenschanz von allen Seiten auf. Faust, als Plutus, Gott des Reichtums, verkleidet, führt es auf vierbespanntem Wagen ein; die Poesie – »des Reichtums nächste Anverwandte« – lenkt den Wagen, Mephisto, als Geiz, sitzt hinten oben. Gleich geht der Wirbel los. Gierig stürmt die Menge die geöffneten Kisten, die vom Wagen gehoben wurden und voll sind von Gold. Alles will im Nu reich sein! Aber Plutus vertreibt sie. Sie sollen, zum Teufel, heut' Papiergeld kriegen, aber nicht Gold. Und, übrigens, das Beste wird erst kommen. Der Kaiser selbst, als großer Pan, von Faunen, Satyrn, Gnomen, Riesen und Nymphen geführt, naht sich plötzlich dem Reichtum, der nun wie eine prasselnde Feuerquelle siedet, bückt sich lüstig und schaut hinein – da fängt sein Wergbart Flammen. Und alles, Kaiser und Gefolg und Menge ging, nun rettungslos in Feuer auf, riefe nicht Plutus, von Mephisto bedient, gleich Nebel und Regen.«

»Diese Szene hat Goethe der Ueberlieferung entnommen. Karl der Sechste wurde bei einer Mummenschanz von der Pechfackel des Herzogs von Orleans angesteckt und verletzt. Ebenso ist die Beschwörung der Helena, die nun folgt, nichts Neuerfundenes. Schon das Volksbuch von 1587 kennt sie. Nach diesem Buch hat der historische Faust zu Innsbruck vor Kaiser Karl dem Fünften auch die Geister Alexander des Großen und seiner Gemahlin zitiert.«

»Der Kaiser also, um fortzufahren, nimmt Faust und Mephisto den Feuerzauber nicht übel. Im Gegenteil. Er will nur noch mehr Spuk. Und zwar: Helena und Paris! Aus der Unterwelt! – Mephisto schaudert, als Faust ihn darum angeht. Bei Heiden hat ein christlicher Teufel keine Gewalt. Den Schlüssel zum Reich der Mütter, wo Helena zu entbinden ist, und wo auch Gretchen sitzt, den gibt er wohl. Aber – selber hinabsteigen ins »Unbetretene, Unbetretbare« – nein! Faust aber geht. Das Gesicht des Goldes und der Rausch des Karnevals haben – echt faustische Gegenwirkung – den Durst nach Geistigerem erst recht gestachelt. Eine entsunkene Zeit, den Kanon von Schönheit der gestorbenen Heroenzeit aus den Geheimnissen der Ewigkeit und des handlangenden Teufels reißen – das wäre etwas! Die Mütter schrecken gewiß. Aber – nur eine einzige Erinnerung an Gretchens Leib, der so restlose Lust geboten, und die Sehnsucht hat den Ueberflug zur Idee gefunden, die in Gestalt des klassischen Idealleibs bedeutsamer wirken muß als jede sinnliche Wonne. Als Triumphator kehrt er zurück und trägt nun das Priesterkleid, wie er den mitgebrachten Dreifuß auf die Bühne setzt. Denn, was er jetzt vornehmen wird, ist mehr als heilig. Und Helena erscheint – und er ist von Grund auf verwandelt. Zersprungen die Hülle, die bisher die Welt durchraste, gesprengt die Hülle, die die Erfüllung bisher verbarg, und Helena die Erfüllung! Wütender Entschluß wird die Gewißheit, als Paris die Helena zum zweitenmal rauben will, und wenn der Vorhang niedergeht nach der Explosion, die die Geister verscheucht, weiß jeder: das war nur ein Anfang!«

»Das ewig Weibliche zieht uns hinan?«

Er hörte nicht. »Zweiter Akt! Heimkehr ins alte Studierzimmer, Rückkehr ins Laboratorium des unvergänglichen Philisters Wagner. Der erwartet soeben die Menschwerdung des Homunkulus. Und, wahrhaftig, das Glasmännchen wird – und redet! Da ist nun wohl das Eigentümlichste, daß dieses Menschlein, starr in die Phiole eingeschlossen, gänzlich unfrei, als Erstes ein Gesicht erblickt, das Faust soeben hat: wieder die Helena! Auch Homunkulus ist keine Erfindung Goethes; ihn kannten alle Magier und Weisen seiner Vorzeit. Aber, wie der Knirps, Helena kaum erblickt, zu Faust wie zu einem blitzschnell verstandenen Kampfgenossen lacht: »Bedeutend!« und gleich darauf bekennt, er möchte »werden«, da doch auch Faust nichts anderes als »werden« will, – das ist mehr als neu! Wo aber werden? Die zwei wissen es schon: nicht im nordischen Reiche Mephistos, sondern in Griechenland. Sekunden darauf sind sie schon dort. Auf den pharsalischen Feldern. Klassisches Hochland. Hier hat Cäsar den Pompejus besiegt, um Alleinherrscher des Weltreichs zu werden; hier feiert die Legion der hellenischen Sage heut' Jahreserinnerungstag. Kaum diesen Boden betreten, spricht jeder der drei verschiedenen Gäste auch deutlich aus, was er will. »Wo ist sie?« sind Fausts erste Worte; nach neuen Wunderdingen strebt Homunkulus; nach Abenteuern nur Mephisto. So trennt ihr Weg die drei, nur vorübergehend, zufällig, treffen sie sich immer wieder, und verwundert frägt man: wo bleibt Mephistos treibende Rolle? Homunkulus und Faust, die »Kreaturen, die er machte«, haben ihn hierher gezwungen, nun aber bewegen sie sich allein hier weiter. Hat er die Führung verloren? Ist ihm Faust über den Kopf gewachsen? Vollkommen! Was kann der beste Sohn der Hölle machen, wenn die verführte Seele plötzlich einer Idee nachrennt, die erzeugen – bejahen soll? Oder wenn ein Stück Lebensbewußtsein – das ist Homunkulus – herumirrt, um einen festen Leib zu finden, um so lebendig wirksame Seele zu werden? Wie die richtige Nebenfigur hat es Mephisto unterdes mit allen Statisten der griechischen Mythologie, mit den Sphinxen, mit den Sirenen, mit den Greifen, kommt dann zu den Lamien, die ihm am besten behagen – sie sind natürlich Dirnen, die würdigsten im thessalischen Hexensabbath, – und endet bei den drei Phorkyaden, niedersten Dämonen scheußlichster Häßlichkeit, von denen er sich das Profil abschaut, um im dritten Akt mit einem Aug' und einem Raffzahn die Schaffnerin der heimkehrenden Helena zu spielen.«

»Was, die Schaffnerin ist Mephisto?«

»Er sagt es deutlich am Ende!«

»Es kommt mir alles unwirklich und unkontrollierbar vor, – Dunst!« Und als ob eine ganz und gar plötzlich empfundene Verlassenheit sie vom Weiterlauschen forttreiben und ins wahre Leben zurückschieben wollte, umschlang sie den entfernten Mann mit heißen Armen, lehnte das Haar sehnend an seine Schläfe und küßte ihn mit inbrünstigen Lippen immer und immer wieder. Komm zurück, küßte sie, wir zwei sind hier in der Dämmerung der Alpenwiese. Sieh' doch, wie die Berge dunkel werden, erkenne die Lichter, die aus den festen Häusern unten uns anrufen, – und dort, etwas weiter oben, steht unser Haus. Aber all dies vernahm er nicht mehr. Sein Mund lächelte, weil er in den kindlich hingebenden Küssen das Wesen der Frau bestätigt fühlte: auf der Erde zu sein, ja, noch enger, im umfriedeten Kreis, wo sie liebte und geliebt wurde. Oh, du echtes Weib, lächelte er und genoß die unschuldigen Küsse und erwiderte die schwörende Gebärde der Arme; aber nur umso tiefer trieb ihn das erfüllte Herz hinein in das Reich, das ihm offener als ihr war. Spielend versanken ihm die Höhen des Gebirges, zerrannen die Linien des Frauengesichts in der größeren Harmonie der Bilder, die der Geist zitiert hatte, – ohne Sprung und Hindernis kehrte er an den Peneios zurück. »Mephisto muß hier einfach abwärts gehen, – wo die zwei anderen aufwärtssteigen. Hier gibt es kein Mitwandern. Faust, von keinem andern Drang durchzittert als: Helena! springt auf den vorbeireitenden Kentauren Chiron, dessen Rücken einst Helena getragen und gerettet hat, als die Dioskuren die Schwester aus Räuberhänden gelöst, die Sümpfe von Eleusis aber die zitternde Flucht gehemmt hatten. Zu ihr! Zu ihr! Zu ihr! – nur diese Sehnsucht bebt im jagenden Wort des Gepeitschten an den Erzieher des Asklepius und Achilleus, stachelt den Ritt des Helenaergebenen Alten und leuchtet das weise Gesicht der Sybille Manto an, der Tochter des Sehers Theiresias, die ihn mit Beifall in ihrer Höhle – im Eingang zur Unterwelt – empfängt. »Den lieb' ich, der Unmögliches begehrt!« ruft sie beglückt, als ihr Chiron verrät, daß sein Reiter »Helenen sich gewinnen will« – und siehe, die klassische Mythologie selbst, durch Chiron und Manto, läßt nun den lechzenden Germanen in die Unterwelt ein: soll neuer Geist sich hier die ebenbürtige Schale finden, um aus der alten eine neue Zeit zu prägen!«

»Und unterdes strebt Homunkulus auf sein Ziel zu. Auf seine Weise. Der Dichter Hesiod, – etwa dreihundert Jahre nach Homer, ungefähr sechshundert vor Christus, – schenkte den Griechen seine »Theogonie«; das ist der Mythos von der Entstehung ihres olympischen Göttergeschlechtes. Bevor aber dieses Geschlecht – mit Zeus – auf den Olympos gekommen war, hatte die Titanomachie und die Gigantomachie getobt, der Kampf des Zeus um die Herrschaft mit den Nachkommen der Erde und des Himmels. Erde und Himmel aber, Gaja und Uranos, waren das erste Naturgötterpaar, das Eros verbunden hatte, und Eros gleich ihnen eine Erzeugung des Welturstoffs Chaos. Diese Geburt von Gaja, Uranos und Eros, und diese erste Vermählung aber gehören zum Geschehen der Kosmogonie, das ist der Entstehung des Weltalls. Während nun Faust von Persephoneia, der Gemahlin des Zeusbruders Hades, Helena zurückfordert und sich – vielleicht – mit der Idee trägt, eine neue Theogonie ins Werk zu setzen, oder wenigstens eine Neugeburt der griechischen Mythologie, – sucht der ungeduldige Homunkulus die Entstehung des Weltalls in der Anlehnung an die klassische Philosophie. Goethe fröhnt hier seiner Leidenschaft, den lebendigen Menschen nicht von der Natur zu unterscheiden, ihn vielmehr ihrem Gesetze, das ewige Entwicklung aller ihrer Art ist, unterzuordnen. Faust im Hades entwickelt sich bereits geistig, zur Idee hin, – Homunkulus sucht erst den lebendigen Leib. Nun mußt du wissen, daß zwei Grundlehren über die Arten der Entstehung der Welt in Griechenland miteinander im Streite waren: der Vulkanismus, den Anaxagoras lehrte, und der Neptunismus, den Thales verfocht. Die Welt sei vom Chaos ausgespien, emporgeschleudert worden, sagten die ersten; die zweiten ließen die Welt ohne Gewaltakt und einander immer wieder vernichtende Katastrophen aus dem geduldig fortzeugenden Wandel des Wassers entstehen. Goethe neigte eher zu diesen. Ihm erschien die Entstehung der Welt als etwas, was weder jemals abgeschlossen war, noch nur in unvermittelt aufeinanderfolgenden Stufensprüngen sich auswirkte, – sondern als etwas fortdauernd Weitergeschehendes, eben Entwicklung. Diese Lehre läßt er hier den Thales liebevoll vortragen, den Anaxagoras leidenschaftlich bekämpfen, Seismos, den Geist des Erdbebens, scheinbar augenscheinlich widerlegen, – denn Seismos bricht auf einmal, »nocheinmal«, sagt er, einen Berg aus der Fläche des Tals auf und stülpt ihn gen Himmel und auf Anaxagoras' Gebet fällt ein Felsblock vom Monde – bis Thales den verwirrten Homunkulus mit richtigem Erraten endlich zu Proteus führt, dem Geist fortgesetzter Verwandlung, und Proteus die Entscheidung erzwingt. Er weist das Männchen ganz einfach zum Meergott Nereus, einem Sohn des Urmeers, und stellt so ohne lange Umschweife sowohl mythologisch wie kosmogenetisch die Glorie des Wassers wieder her. Nereus erwartet gerade Galathea, die vielgeliebte Tochter, die von Paphos herüber durchs jauchzende Meer fährt, erblickt sie nun, jubelnd, – denn die einzige Sekunde im Jahr ist's, daß er das vergötterte Antlitz des Kindes erschauen darf, – und weint, weil dies göttliche Antlitz im Gebote des ewigen Wallens schon wieder entschwindet – und das ist der Augenblick, da Homunkulus wird!«

»Aber wie?«

»Die Phiole, getrieben von unwiderstehlicher Liebe, schwebt auf Galathees Muschelwagen zu wie auf natürlichstes Ziel, – und ein Klirren, ein Strömen, ein Scheinen, – und Homunkulus ist!«

»Versteh' nicht! Was ist er?«

»Wasser!«

»Ja, wo bleibt dann sein Leib?«

»Jetzt hat er ihn! Wasser!«

»Da soll man sich auskennen!«

»Eros hat ihn zu Galathea hingerissen. So wurde er, durch Eros mit Galathea genau so verbunden, wie einst Gaja und Uranos, – Wasser. Wird genau so, wie alle Welt wurde!«

»Was sagen die Philologen?«

»Für die Philologen allein ist der Faust nicht geschrieben.«

»Aber wer weiß denn, was Goethe auch wirklich gedacht hat?«

Er merkte wohl: hier war Ungeduld oder Langeweile. Aber er wußte auch: nun zwingt es mich selber, nicht mehr einzuhalten. »Davon reden wir später. Jetzt kommt der dritte Akt.«

»Vier hat er?«

»Fünf.« Lächelnd, doch unerbittlich. Aber den Mantel nahm er vom dunkeln Rasen auf, hüllte die Lehnende zärtlich darein. »Dieser ist der schönste. Hier erfüllt sich die Höhe des Werks. Man muß sie von einem Weibe, das alle Wonnen und Peinen des Lebens erfahren hat, sprechen hören, die diamantenen, klassischen Verse, die zwischen Helena, der häßlich-rachsüchtigen Phorkyas – hab' ich's gesagt: Mephisto steckt hinter der Maske? – und dem Chor der gefangenen Troerinnen wechseln. Helena ist, von Menelaus vorangeschickt, in Sparta heimgekehrt. Ernst, wissend, reuevoll betritt sie das Haus; die Schauder des trojanischen Krieges im Busen. Gleich soll das erste Opfer bereitet werden. Da bekennt die einäugige Dienerin, die bisher folternd zwischen Vorwurf und Hohn den gelben Raffzahn bewegt hat, daß niemand anderer das Opfertier sein solle, nach des Königs Geheiß, als die Königin selbst. Das ist Rache! Und nur ein Mittel der Rettung. Aus kimmerischer Nacht, sagt Phorkyas, ist vor zwanzig Jahren ein ritterliches Volk nach Griechenland herabgestiegen; in der fürstlichen Burg seines Herrn lebt die Macht über die Grenzen um Sparta. Gleich, feige, betteln die Troerinnen: auf, nach der Burg! Und als ob Helena ahnte, daß ein ungeheuer neues Schicksal sie erwarte und nichts mehr sie zwänge, die vergeltende Tat Menelaus' zu erdulden, folgt sie den Leichtfertigen willig. Erinnerst du dich nun des Türmers Lynkeus, der, sie von weitem im Anzug erblickend, den Wachtruf vergißt, weil der Glanz ihn betäubt? Und wie Helena, in stürmischem Triumphe im Burghof empfangen, diesen ersten Minnesänger, den Hellas vernahm, von Faust, seinem Herrn, losbittet von Strafe? Wie sie, freudestrahlend und die göttliche Schönheit erhöht vom Zauber eines nie bisher gekannten Geistes, neben Faust auf dem Thronsessel Platz nimmt, – und plötzlich das deutsche Wort sich im Munde der Griechin gebiert?« Nun vermochte er der Gewalt der inneren Erregung nimmer zu meistern. »Oh! Genialer als alles andere ist dies in dem Werke. Wie der Meister – denn jetzt ist Faust Goethe – dem die Kurzsinnigen jammernd nachsagen, daß er ein steifer Grieche geworden ist, nachdem er den teutonischen Sturm und Drang im Urfaust, im Goetz und im Werther verpraßt hat, – wie Goethe, das Land der Griechen mit der Seele suchend, in der höchsten Wonne des endlichen Findens, im ersten Zeichen der Vermählung mit Hellas der taumelnd ergriffenen Form nun germanischen Geist einhaucht! Wo ist hier griechische Seele? Seit wann hat in Griechenland ein Weib solche Inbrunst des dienenden Mannes, der inneren Bewunderung und Hoffnung genossen, wie Helena hier? Die Posaunen deutscher Romantik tönen ihr festlich entgegen aus begeisterten Herzen. Der Jubelruf nordischer Seelenglut umleuchtet die Züge der Ledatochter. Sie staunt – und wird neu! Mag Arkadien, das Land westlich Spartas, das Faust der Erkorenen schenkt und wo dem schnellgeschlossenen Bunde Euphorion entsprießt, auch in Griechenland liegen und den heroischen Knaben das Spiel der hellenischen Nymphen umwogen – Faust ist Helenas wahrer Gemahl, ihre Ehe die Vermählung der reinsten Form mit dem erwärmtesten Geiste, und Euphorion –«

»Byron!«

»Was kann das Kind solcher Eltern denn anderes sein, als wieder der Knabe Wagenlenker: die Poesie! Wie hier Schönheit der Form aus der Fessel der Erstarrung, Geist aus der Fessel der Verleugnung der Form, und die Poesie ebenso aus dem Joche der Nur-Form wie aus den Banden des Nur-Geistes gelöst und eine Mischung gebraut wird, deren erster und letzter Charakter deutsche Geistigkeit ist und nur sie – wer erkennt das zur Genüge! Wer fühlt es und spürt es und weiß es genug, daß dieses Werk das deutscheste ist, blutendstes Blut von unserem Blute, – und wer errät hell genug, warum Faust, nachdem Euphorion tot ist und Helena, – restlos erfüllt, weil Euphorion einmal gezeugt worden ist und nun nimmermehr sterben kann – in den Hades zurückentsinkt, nicht in Trauer darüber verfällt, daß er selbst im Arme der Einzigen, vor dem einzigen Kinde der Einzigen nicht zum Augenblick sagte: verweile doch, du bist so schön! Ich kann mir nicht helfen, mich packt einfach die Rührung über die unbeugsame Gewissenhaftigkeit des Mannes, der nun die Beherrschung zum vierten Akt aufbringt, – in dem nichts anderes geschieht, als daß Faust mit Mephisto und allerlei Hexenspuk dem Kaiser die Schlacht gegen den Gegenkaiser gewinnen hilft und zur Belohnung dafür mit dem Strand belehnt wird, den er in fiebriger Arbeit dem Meere abdämmen will, – daß der Mann die Gewissenhaftigkeit besaß, dem arkadischen Idyll diese Feldschlacht mit deutschem Radau anzureihen, den zweifelhaften Ruhm einer Welttat hinter die Erfüllung seines persönlichsten Künstlerdranges nach Harmonie zu stellen, nur um zur »Sorge« zu gelangen, die im fünften Akt jäh wie der Blitz erscheint. Hier vergesse ich den Faust über Goethe! Wer sich erinnert, wie der Achtunddreißigjährige in Rom den schweren Entschluß zum Verzicht auf Rom faßte, muß es heroisch im höchsten Sinne finden, wie nun ein nicht weniger spartanischer Verzicht getan wird: der auf die egoistische Harmonie im Künstlergenius zugunsten der naturgewollten Rundung der Persönlichkeit – mag auch von Faust als Faust verstanden werden, daß er nach all dem verwegenen Wirbel die Freude selbsterworbener, wohltätiger Herrschaft ersehnt! Aber selbst Faust erhebt sich im fünften Akt zum erstenmal ganz über alles selbstsüchtig Himmelstürmende. In der klassischen Walpurgisnacht hat er den Mephisto geistig überwunden; in Sparta und Arkadien auf den klassischen Kothurn gezwungen; in der Feldschlacht wohlberechnend für die anderen ausgenützt, – denn der Strand ist die Wohltat für alle, – und nun, im fünften Akt setzt er den Fuß auf seinen Nacken! Mephisto ahnt noch nicht, daß sein Schüler das Faustische durch das Wiedermenschwerden überwinden wird, durch die Rückkehr aus den Zauberwolken der grenzenlosen Phantasie in den Bezirk erdbegrenzten Schaffens neben den andern für alle. Weites Land ist dem Meer schon abgerungen, besiedelt, bebaut, und stolz steht das Schloß des Herrn dieser neuen Reiche in den üppigen Fluren zwischen Kanal und Kanal, Frachten und Schiffen – da bricht die letzte Eigenlust aus Faust; die Hütte, in der Philemon und Baucis wohnen, unter den Linden, muß weg! Sie stört die Sucht nach weitem Blick, nach freiem Genuß der endlichen Herrschaft. Und kaum hat Mephisto, überfolgsam, den Brand gelegt an Hütte und Baum, kaum sind die Leichen der gemordeten Alten kalt, und kaum nagt der Stachel der Reue am herrschenden Mann, – tritt die Sorge zu ihm. Wie? In den hunderttausend Strudeln dieses Faustlebens hätte die Sorge noch nie Gelegenheit gehabt, sich zu melden? Warum kommt sie erst jetzt? Er besinnt sich. Vielleicht läßt sie sich vertreiben? Fest streitet er mit ihr. Aber sie weiß es besser, warum sie erst jetzt kam: erst jetzt ist er Mensch. Und sie bleibt – und er erblindet!«

»Niedergeschmettert? Nein! Blind, alt, aber einer neuen, ganz neuen Wahrheit voll, treibt er den grinsenden Mephisto voran, die Arbeiter hinaus in das wartende Land: einen Sumpf gilt es trocken zu legen. Mit Spaten und Schaufel, hinter Mephistos Fackel, zieht der lebendige Zug; hinterdrein, alt, blind, aber neu, der Getroffene. Arbeit, Sorge und Reue, das göttliche Teil des Menschen, nun hat es auch ihn!

»Zieh' diesen Geist von seinem Urquell ab,« bedingte sich der Herr, als er den Knecht an Mephisto übergab – nun aber breitet sich der Himmel schon lachend über dem ahnenden Teufel: was kann ein Teufel gegen die Seele, die menschlich bereut? Aber hieß nicht der Vertrag: »Werd' ich zum Augenblicke sagen: verweile doch, du bist so schön« – und was ruft Faust just in dieser Sekunde aus, da Mephisto, ungeduldig zappelnd, schon die Lemuren bereit hat als Totengräber?

»Ja, diesem Sinne bin ich ganz ergeben,

bekennt er selig,

Das ist der Weisheit letzter Schluß:
Nur der verdient die Freiheit wie das Leben,
Der täglich sie erobern muß.
Und so verbringt, umrungen von Gefahr,
Hier Kindheit, Mann und Greis sein tüchtig Jahr.
Solch' ein Gewimmel möcht' ich sehen,
Auf freiem Grund mit freiem Volke stehen!
Zum Augenblicke dürft' ich sagen:
Verweile doch! Du bist so schön!
Es kann die Spur von meinen Erdetagen
Nicht in Aeonen untergehen.
Im Vorgefühl von solchem hohen Glück
Genieß ich nun den höchsten Augenblick.«

»Jetzt blitzt es triumphierend in Mephisto auf – und ein Wink, und tot sinkt Faust in die Arme der Lemuren. Er war noch nicht da, der Augenblick! ist des Teufels teufelrufender Zweifel. Aber – er war nah, gewiß, nicht mehr entgehbar; morgen wäre er dagewesen! ist des Teufels Intelligenztrost. Aber daß Faust, seitdem er zurückgekehrt ist in die Region des Menschlich-Sittlichen, zu jedem Augenblick hätte sagen dürfen: verweile doch, du bist so schön, ohne dem Teufel noch verfallen zu können, – daß er, als er die kommende Sekunde anrief, schon endgültig der höllischen Fessel entbunden war, – ja, daß dieser titanisch streitende Geist von allem Anfang an ihr nie verfallen konnte, – nie ist« – seine Stimme bebte von Tränen, seine Arme lösten sich von der Geliebten wie von der Erde, die zu klein ist für die kühnsten Träume des Genius, – »nie ist die Dummheit eines Teufels, die Ohnmacht des »Nein« sicherer dargestellt worden, und niemals göttlicher verstanden das »Ja«, die himmlische Sicherheit der Erlösung jedes Menschen, der ewig strebend sich bemüht.«

Und über und über verklärt vom Sinn des Geistes, dem er sich geliehen, überwältigt von der Kraft des Großen, der auch nur ein Mensch gewesen, blickte er auf, blickte er rundum. Die Dämmerung war von der Nacht abgelöst worden, kalt wehte ihr Hauch. Ueber den finster gewordenen Mauern der Berge spannte sich der Himmel bar jeden Vorglanzes kommenden Mondes, und fanden die Sterne mählig klarumgrenztes, sicheres Licht. Ringsum in den Formen der Erde und ihrer Pflanzen und in den Böden des Tales machte die wachsende Dunkelheit sich ihr Haus zurecht, seine Wände stiegen höher und höher, die Flimmer aus seinen Lücken wurden unwirklich, das Dach von Sekunde zu Sekunde weiter. Er sah das nicht. Das Rauschen der Wasserfälle überzog diesen Wandel mit einem allgemeinen, nie aussetzenden Traum von schläferndem Ton, und dieser Ton verband sich mit der Nacht zu einer sinnvollen und doch grenzenlosen Wesenheit. Auch das sah und erkannte er nicht. Die Frau auf seinem Schoße hatte die Augen ratend in sein Gesicht versenkt, das liebevolle Herz schlug suchend an seiner Brust, und ihre Hand hielt die seine bewußtlos. Er wußte das alles nicht. Gezwungen ging er die heilige Spur weiter, sah Wege und Wege, eine Unzahl von Pfaden aus ihr sich abzweigen und strahlenförmig ausbreiten über die ganze Welt, Sein und Nichtsein überschwemmt werden vom Fluß und Glanz dieser Straßen, – und nun geschah ihm, ohne daß er sich darüber Rechenschaft gab, dasselbe, was ihn mit unwiderstehlicher Gewalt jedesmal befiel, wenn er das Werk betrachtete: unerbittlich fühlte er sich dazu verhalten, dem Genie dieses Schöpfers seine eigene Person gegenüberzustellen, um an den Maßen dieses Geistes seine eigenen zu messen. Homunkulus zerschellte zielsicher am Wagen Galathees, Faust gab Helena, ja Euphorion preis für ein erst werdendes Land – jäh, plötzlich, mit zwingender Hand ergriff den Jünger das Grausen! Hell sah er die Frau auf seinen Knien, entdeckte die reine Glut ihres Auges, er fühlte den Puls ihrer Hand, und mit alledem den Willen der Liebe, die sie ihm seit einem Jahr in scheinbar unbegrenztem Weiterwachsen entgegentrug. In sausendem Bilderband rollte seine Vergangenheit vor ihm auf; der Kern der Gegenwart fiel blank aus ihr heraus, war klar die Vermählung mit Gertrud. Die Zukunft aber stand wie ein Fragezeichen vor diesen zwei Zeiten und lächelte mitleidig: und das ist alles?

Er erboste; sein Gedanke wurde kritischer, seine Sucht, auch das nur Fühlbare im Werk zu ergründen, schärfer. Trotzdem! Nur noch unbarmherziger zog der zitierte Geist die unzähligen Stunden der Tatenlosigkeit, der beschaulichen Empfindung, des Wägens, ob nun geschafft oder noch zugewartet werden sollte, des Erlebnisses, das der Sehnsucht nach Liebe galt, aus der sperrangelweit offenen Seele des Jüngers hervor und hielt sie ihm zur tiefsten Scham vor. Ja die Welt selbst, die doch festbegrenzt in den Augen des Jüngers stehen mußte, denn er war Maler, dehnte sich von Blick zu Blick weiter aus und wurde goetheisch unbegrenzt, bekam – Schrecken! – zu dieser erdrückenden Unumschlingbarkeit noch die Eroberungen des Jahrhunderts seit 1832, und wies mit unverschämt lachender Kugel nach seinen wohlgezählt spärlichen bisherigen Bildern hin und spottete: das ist alles?

»Ist es nicht ungeheuer,« begann er darum in dieser wilden Bedrängnis wieder zu reden, »daß aus jedem Vers dieses Werks zum Vertrauten doch nur der Wille spricht, der unaufhaltsam vom Faust zur Urpflanze, von dieser zum Zwischenkiefer, von diesem zur Farbenlehre, und von dieser wieder zum Gleichnis des Faust wandert? Sieht man nicht unheimlich deutlich den Geist, dessen dichterisches Auge vor keinem Riegel der Technik haltmachen mußte, einen Stein anschauen, »rein und heiter«, wie er zu sagen pflegte, und nach Würmern, Moosen und Insekten spähen? Gründlich, grundehrlich, fachlich, sachlich, solide, auf lückenlos zusammengetragenem Unterbau, mit einem Fleiß, den alle seine Ameisen, Pygmäen, Arimaspen und Daktylen nicht besaßen?« Aber kein noch so flammendes Wort, kein rauschender Satz, kein aus der Besessenheit von diesem Geiste geborener Rhythmus der Rede konnte den Stachel noch töten, den die vergleichende Betrachtung ins Herz gebohrt hatte! So ist es mit dem bösen Gewissen! Mit dem Ziel der Person! Sie werden zurückgepreßt, niedergehalten, getreten, bis sie scheintot unter behaglich grünem Rasen liegen! Aber ein Augenblick nur – der richtige! – und sie stehen wieder auf, und Erinnerungen, Lemuren, Phorkyaden, Stymphaliden sind Kindergespenster gegen sie! »Hast du Angst?« hatte die Frau ihn gefragt! Lachen mußte er, nicht laut, nein, mit verstelltem Gesicht, mitten im sichern Fluß des weiterströmenden Gedankens. Ja, er hatte Angst! Bangte. Zweifelte. Sie hatte es richtig erwittert. Aber während ihn vor Stunden noch nur die beschränktere Frage gequält hatte, ob das Wunder der Liebe, das ihn an diese Frau band, auch das endgültige sei, – rann ihm nun der Schweiß von der Stirn, wurde es schwarz vor seinen Augen, hämmerte das Blut wie im Fieber, wurde er gewürgt von der Pein eines viel tieferen Zweifels: darf das Leben eines Mannes sich überhaupt in der Liebe vollenden?

Die junge Frau aber ahnte von dieser Anwandlung nichts. Lange schon, bevor die leidenschaftliche Rede in der Glorie von Fausts Erlösung geendet hatte, war ihr klar geworden, daß noch stundenlang und mit Posaunen und Trompeten zu ihr geredet werden könnte, ohne daß sich im Innern ein natürliches Verlangen nach dem Geist dieses Werks melden würde. Dieses Werk gehört den Männern, sagte ergeben, aber eindeutig eine Stimme in ihr, und nun legte sie sich, als ob ihr nichts anderes zu tun übrig bliebe als dies, noch inniger, noch ihm zugehöriger an den schweigenden Mann, dessen Herz noch im wildesten Sturm schlug, und lächelte in neidlosem Glück über das ungestüme Feuer, das aus ihm sprach. Als ob ich mich nicht ewig nach diesem Menschen gesehnt hätte! Nicht mit der starren Sicherheit eines Instinkts gefühlt hätte, daß Mann und Liebe nicht nur Kuß und Umarmung und geblümtes Wort sind, sondern die Hingabe an einen zweiten Menschen, der höher hinauf will, als ich kann, aber liebend mich mitnimmt! Und noch enger schmiegte sie sich an ihn, noch abhängiger, als könnte sie mit der Zärtlichkeit ihrer Inbrunst ersetzen, was ihr an Mitschwung versagt war. Und während sie so sich ihm enge verband, zog die ganze Zeit vor ihrem Auge auf, die zwischen der Stunde, in der sie zum erstenmal gewußt hatte: mein Gott, sind die Tage grau! und jener anderen gewesen war, in der sie diesen Mann getroffen und entdeckt hatte: hier wäre Erfüllung! Nicht Sorge oder Schmutz oder Elend oder Häßlichkeit war diese Zeit gewesen. Gerechtigkeit gebot anzuerkennen, daß dies Jungmädchenleben bis auf die letzte Einzelheit dem Typus entsprach, den das Jahrhundert in der sogenannten guten Gesellschaft für die Mädchen dieser Gesellschaft ausgebildet hatte! Aber trotzdem ein Nichts! Nein! Ein schreiendes Minus! Und noch tiefer, noch heimlicher grub sie den Kopf in die Brust des Mannes. Gemeinsamkeit, das war alles! »Mann und Frau müssen dieselben Interessen haben,« hieß es. Ganz richtig! – Richtig?? Mit einem Ruck machte sie sich frei, plötzlich, – und siehe, nun stach dieser gemeinplätzige Satz! Ließ sie deutlich erzittern. Denn er hieß: Sein Himmelreich muß das meine sein und das meine das seine! Aber gerade da, wie zum schnellen Trost in diese jähe und nagende Mahnung, erstand ein Akkord in ihr. Geweckt vom Nachklang seiner zündenden Worte? Vom Nachklang der Bilder, die er ihr vorgezaubert hatte? Oder von den ungewiß aneinandergereihten Teilen der Nacht vor ihrem sehr erschrockenen Auge? Sie wußte es nicht. Aber ein Befehl, der beschenkender Klang war, trieb sie mit aller Macht an, mit neuermutigten Armen den Mann zu umschlingen, zu umfangen, zu küssen …

Und er erwachte. Als ob er geschlafen oder geträumt hätte! Schrill zerriß die ekstatisch schmerzliche Saite. »Das Ewig Weibliche zieht uns hinab,« lachte er kühl, löste die Innige leise von sich und erhob sich. Und zog sie empor. »Kalt ist mir geworden.« Es klang reichlich verlegen. Ja! Die Situation war nicht übermäßig siegreich! Und rasch ging er nun, rasch sie mit sich ziehend, den nächtigen Weg weiter, dann in den Steig hinein, der vom Weg abzweigte und zum Haus hinaufführte. Eine Welt zeigt man und einen Kuß bekommt man dafür! brauste wohl die gestaute Flut im Innersten auf, als die Halle des Tors, und durch die Fenster neben dem Tor der Schimmer der Halle durch die Bäume herableuchtete, Gertrud aber noch immer nicht sprach. Aber nun, zufällig, ein Blick in ihr Auge, das vollgetroffen von einem der Hauslichtstrahlen da neben ihm leuchtete, und der Aufruhr verschwand. »Riesig gemütlich! Das muß ich schon sagen, so ein eigenes Haus in Gastein!« Zärtlich legte er die Hände auf die Schultern der Unsicheren und schob sie über die Schwelle hinein in die lichte Wärme. »Ich bin eben kein Goethe!« Und Faust bin ich auch keiner! dachte er dabei. Sie aber hörte es! Oh, sie verstand ihn viel besser, als er ahnte! Viel tiefer! Aber – da sah sie auf dem Silberteller im großen, runden Dielentisch eine Karte liegen. Und kaum hatte sie den Namen darauf gelesen, als sie sich noch unsicherer fühlte. »Was dieser gräßliche Mensch nur hier will,« rief sie geradezu entrüstet aus. – »Gell?« – »Ja! Begreife nicht! Ein jungverheiratetes Paar läßt man in Ruhe.« – »Langeweile hat er!« – »Aber wir nicht!« – »Er ist der Negative, der sich darüber empört, daß ich positiv wurde.« – »Als ob er dein einziger und bester Freund wäre, tut er. So widrig – berechtigt!« – »Wir haben uns nichts mehr zu sagen. Aber ich mag ihn ganz gern.« – »Wir müssen für die Diele eine neue Bodenbekleidung kaufen!« sagte sie – schlagend, als ob sie diese unpassende Freundschaft treffen wollte, – als sie zusammen die dunkelgebeizte Treppe hinanstiegen. »Und einen Gasofen bau' ich hier ein! So wahr mir Gott helfe!« schwor er, ungetroffen, als sie sich im Badezimmer die Hände wuschen. »Wärme ist alles! Weißt du noch« – er trocknete sich die Hände am selben Handtuch wie sie ab – »was du bei unseren Rendezvous gefroren hast? Ich im Pelz, du im Pelz, und gelaufen sind wir –«

Erheitert: »Das will eine Großstadt sein! schimpftest du.«

»Ist auch skandalös! Das Verbrechen, das Laster, die verruchteste Gemeinheit – für alle Menschen, die zu den frevelhaftesten Zwecken zusammenkommen, gibt es die vornehmsten, gemütlichsten, bestgeheizten Gelegenheitsräume! Aber für zwei grundanständige Liebende – mein Gott, wenn wir nicht wenigstens die Maroni gehabt hätten!«

»Dafür –« unaussprechlich lächelnd legte sie die Hände auf seine Schultern und lehnte sich an ihn – »haben wir es jetzt gut!«

»Es hat aber auch etwas gebraucht!«

»Mir hat der Kampf Freude gemacht. Nur Angst hatte ich immer!«

»Und ich erst! Die läuft mir, wenn es noch lange so geht, ganz gewiß noch davon, dachte ich immer!«

»Wie ich dich damals bei Gerstenberg traf, ganz allein mit Maria im letzten Salon! Nicht mit der Wimper zucktest du!«

»Und du mit Fritz auf dem Eis! Herrgott, habe ich mir gesagt, wenn sie so ist, daß dieser Leutnant ihr noch etwas zu sagen hat!«

»Und die Mama!«

»Ein Maler ist er, Geld hat er, von einem Mädel zum anderen, von einer Frau zur anderen läuft er, – und so einen Mann willst du heiraten!«

»Und die Tante Louise: schau' sie dir alle an, die er auslacht, und die sich die Augen ausweinen!«

»Und der Papa! In meinem ganzen Leben werde ich nicht vergessen, wie er geräuspert hat, als ich zum erstenmal in sein Arbeitszimmer trat! Geräuspert, in einer Weise geräuspert, – heut' noch, in die Nacht hinein tönt mir das Räuspern noch nach. Exzellenz, hätte ich am liebsten gerufen, reden Sie, reden Sie, was Sie wollen, aber nur nicht dies Räuspern! Aber« – unvermittelt machte er sich frei und drehte sich um – »ein Gasofen muß her! Da erfriert man!« – »Und die Stiche von Onkel Bernhard,« sagte sie wieder, als sie nun Hand in Hand die Treppe hinabstiegen, »würden eigentlich besser in das Stiegenhaus passen, als diese schweren …« – »Ich bitte dich! Es gibt Jagdschlösser, in denen Dramen vorkommen! Die Rahmen sind nicht besonders geschmackvoll; das gebe ich zu. Aber – Sixtina ist Sixtina. Am liebsten hätte ich gleiche in jedem Zimmer!«

»Daß du das Schwere so liebst!«

»Wenn dir jemand sagen würde: spielen Sie die Rose von Stambul?«

»Aber einen neuen Bodenbelag müssen wir kaufen!« Sie waren in der Halle angelangt; der Diener schlug den Vorhang vor der Türe ins Speisezimmer zurück, der weiße Tisch erschien mit dem Blitz der Gläser und Blumen. Aber die junge Frau stand fest auf dem graugrünen Linoleum und wiederholte: »Das muß sein!«

»Kokos oder Teppich?«

»Filz!«

»Grün?«

»Rot! Die Wände, die Decke und die Treppe sind rostbraun, die Fauteuils ziegelbraun, der Tisch, die Kommoden und die Truhen kaffeebraun, die Türfüllungen kastanienbraun –«

»Frau eines Malers!«

»Da kann doch nur ein kräftiges Rot helfen!«

»Wieviel Meter?«

»Sagen wir: sieben, – sechs im Quadrat. Ungefähr. Messen wir's nach Tisch vielleicht aus!«

Und sie schritten ins Speisezimmer, nahmen Platz. Der Diener trug auf. Schön warm war es hier. Auch dieser Raum hatte Täfelung. Der Glaslüster und das bestrahlte Tafeltuch leuchteten allein aus dieser Mischung von Holzbraun, Fahlnis gebleichter Stiche, Metallschimmer und Teppichdämmer. Aber dafür leuchteten sie kräftig, mit fest betonter Sammlung des Lichts, und erfreuten. »Hummer!« rief der Mann, kaum, daß er die erste Schüssel erblickt hatte, »wo hast du den Hummer her?« Ja, bei Zeus! Es war nicht zu leugnen: auch er war verwundbar! – »Martha in Hamburg hat ihn besorgt.« – »So ein Kerl! Woher weißt du, daß ich Hummer so gern mag?« – »Auch ich hab' ein Faible dafür!« – »Und diese Mayonnaise. Das hat schon Onkel Fritz immer gesagt: Kein Koch im Imperial macht so eine Mayonnaise wie die Lisa!« – »Diese habe ich gemacht!« – »Du?« Das erdrückte geradezu! Fratzenhaft erschimmerte das gemütliche Bauerngesicht des Dieners Alois hinten im Dunkel. Es war die leibhaftige Ironie, die schmatzend verkündete: die innere Erlösung begehrt der Mann von der Frau, aber am entzücktesten lacht er, wenn er erfährt, daß sie kochen kann! »Du kannst, deutsch gesagt, vollständig kochen?«

»Bis auf Risotto.«

»Um Gotteswillen! Carmen italicum! Das kann doch keine Kunst sein?«

Es kam das Filet mit kleinen Pastetchen und Salaten.

»Ich mag Risotto nicht!«

»Und was du nicht magst –?«

»Ich mag alles andere.«

»Und das alles kannst du ganz allein, vollkommen selbständig?«

»Das war das Einzige, womit Mama bei mir durchdrang. Wir hatten so viele Schlangenfräße –«

Entsetzt fuhr er auf.

»Ja! Schlangenfräße.« Sie mußte so lachen, daß der Mund lang überlegte, ob er den Bordeaux, von dem sie das Glas noch in der Hand hielt, hinabschlucken können würde, oder nicht. »Und weil mir das Essen nicht gleichgültig ist, machte ich mich endlich selber dran. Wenn nun einmal die Köchin der Schlag trifft oder ein Mann krank ist im Hause –«

»Du, mir scheint, der Wein vom Onkel Bernhard –?«

Da lachten sie beide auf einmal hellauf; lachten, während der Diener draußen war, das Dessert zu holen, beide, die Kelchgläser zwischen den Fingern und vom Lampenschein angestrahlt mit Jugend und Lust, übermütig wie die Kinder, tranken nun, lachten noch toller, tranken zum drittenmal, stellten die Gläser ins Tuch, beugten sich, seligstes Licht in den Augen, einander zu, umschlangen einander. »Diese Augen! Diese Augen! Diese Augen!« jauchzte er, schämig wieder zurechtgesetzt, und gab ihr den heißesten Blick. Ihre Hand hielt er noch. »Du geliebteste Hand!« Ja, sie strahlte! Hübsch war sie; schön war sie! Wie das Haar aus dem Saum der geräumigen Stirn wuchs und in üppigem Bogen die Schläfen umwogte, in denen, jedes einzelne haarscharfe und wellig gewundene Linie, sein noch schönerer Ansatz war! Und die verschwenderischen Brauen über der leuchtenden Bläue, und unten der Mund, dieser schuldlose, gütigste, kindliche Mund. »Du Geliebte –« da knarrte die Tür. Der Diener erschien, bot die Trauben, die Feigen, die Pfirsiche, vom Süden gekommen, und die rosigsten Scheiben der Ananasmelone.

»Weißt du, wieviel Pfirsiche ich einmal in Albano gegessen habe? Vorvorigen Herbst?«

Er goß sich ein Spritzerchen Kognak auf die quellende Scheibe und antwortete ernsthaft: »Vierundzwanzig?«

»Sechsundzwanzig!«

»Typhus?«

»Durst. Soda mit Himbeer im Café Aragno war prachtvoll darauf. Ich konnt' nicht genug trinken!«

»So ein Magen!«

»Rasse ist alles!« Sie schwelgte in Trauben. Aß sie nicht stilgerecht, Beere für Beere. Sondern gleich zehn, unmittelbar vom Aestchen hinein in den genießenden Mund. Und dieser Mund, mitten im Genuß, sagte: »Als er die Sixtina malte, war Raffael –«

»Michelangelo hat die Sixtina gemalt!«

Morgengraues Schweigen! Er aß wie eine Maschine weiter, sie wurde rot wie richtiger Feldmohn.

»Ich hab' mich versprochen!«

»Keine Angst!«

Da wurde das Rot zum siedigsten Glühn. »Es ist doch klar, daß ich mich versprochen habe!«

»Niemand behauptet das Gegenteil!«

»Du bildest dir nun ein, ich wüßte nicht einmal –«

»Es wäre mir ganz und gar gleichgültig.«

»Ich weiß es aber!«

»Ich bin überzeugt.«

Würgende Pause!

»Ich habe den Grimm gelesen.«

»Vorzügliches Buch!«

»Die Renaissance von Gobineau.«

»Noch besseres Buch!«

»Michelangelo ist 1475 in Caprese geboren, Raffael 1483 in Urbino, Lionardo 1452 in Vinci.«

Er lachte wollüstig heiter, tauchte die Finger in die goldene Schale, trocknete sie umständlich ab und stand auf. »Als ob man nicht den ganzen Katechismus auswendig können und doch keinen Glauben haben könnte!«

»Ich war doch dreimal in Rom.«

»Römer gibt es, die genau so mit Essen und Trinken und Schlafen den Tag zubringen, wie ein Herr Mayer in Wien!«

»Ich kenne sogar die Gedichte von Michelangelo!«

Er lachte noch unbekümmerter, zog sie vom Sessel empor und nahm ihren Arm. »So eine Ehe ist doch zum Totlachen! Da vermählten sich zwei Menschen, weil sie ohne einander nicht leben können und darauf schwören, daß sie ein Leib und eine Seele sind, – eins müssen sie sein, sonst geschieht ein Unglück! – und kaum sind sie eins, entdecken sie schauernd, daß sie doch zwei Menschen sind! Und plagen sich nun im Schweiße ihres Angesichts, diese Zweiheit zu erschlagen!«

»Ich will aber nicht,« – wie eine zornige Flamme ersprühend, – »daß wir zwei sind!«

»Aber um Gotteswillen! Ich möchte in der ganzen Natur nur zwei Geschöpfe kennen, die einander gleich sind!«

»Dann ist die Ehe nichts anderes als ein einziger Kampf, eine ewige Lüge!«

»Die Marie Gerstenberg liebt den Faust so wie ich, aber sie hat aschblondes Haar. Die Melitta Quinter löst dir das jüngste Gericht wie eine Ansichtskarte auf, aber sie stößt mit der Zunge an. Und die Alix schwimmt in Naturphilosophie wie ein Fisch im Wasser, aber sie trägt ununterbrochen weinrote Kleider.«

»Ah!« – sie waren im Musikzimmer angelangt, standen in lebendigster Bewegung unter dem Kronleuchter, jeder Puls bebte an jedem – »wenn ich also aschblond wäre und weinrote Kleider trüge –«

»Die Kaiserin von China könntest du sein, und ich rührte kein Auge!«

»Und das heißt man Liebe!«

»Drum ist sie ja ein Wunder!«

»Aber die Ehe ist kein Wunder!«

»Die Praxis des Wunders.«

»Da dank ich! Das muß ich schon sagen! Das find' ich entsetzlich! Nichts von sich selbst aus dazu tun können, daß es noch schöner wird; nichts dagegen tun können, daß es nicht häßlicher wird; im Blinden herumtappen –«

»Wäre es dir lieber, ich sagte: eine Kunst ist die Ehe?«

»Tag und Nacht aufpassen, daß man keinen falschen Schritt tut! Dulderhaft keine Miene verziehen, wenn der andere ihn tut, und schweigen, alle beide, wenn sie bis zum Hals hinauf in Konflikten stecken! Nur damit dieses Kartenhaus nicht umfällt!«

»Drum sag' ich ja: Wunder!«

»Ich will aber nicht!« – in den Boden stampfend, weil er überlegen lächelte – »nur deshalb geliebt sein, weil ich nicht mit der Zunge anstoße. Nur deshalb deine Frau sein können, weil ich zufällig blaue Augen habe, ein sympathisches Organ oder weißgott was für eine andere unkontrollierbare Zufälligkeit.«

»Und mir wieder ist es vollkommen gleichgültig, warum du mich liebst, und ob du weißt oder nicht, warum du mich liebst, wenn du mich nur liebst.«

»Und gerade dagegen wehre ich mich. Wir sind keine Pflanzen! Wir sind zwei Persönlichkeiten! Ich muß ganz genau wissen, warum du mich liebst, und muß es erst noch begreifen! Und weil ich weiß, daß man am meisten den liebt, der einen am besten versteht, will ich dich so gut kennen und erraten und begleiten können lernen, wie sonst kein Mensch auf der Welt!«

»Und um das zu erreichen, anstatt dich ganz einfach und kindlich dem Herzen zu überlassen, das sagt, daß es mich liebt, – mit überlegtestem Vorsatz in meine Welt hineinwandern!«

»Als ob es nicht geradezu gelogen wäre, daß du –«

»Als ob eine Frau, die den Wagner liebt, das Unbenennbare, das sie in ihm liebt, eher in seinem Werk hätte finden müssen, als in seinem innersten und geheimsten Herzen.«

»Als ob es nicht gelogen wäre, daß es dir gleichgültig war, daß ich kein Wort herausbrachte, als du den Faust erklärtest! Ah, siehst du!« – weil er sich achselzuckend abwendete – »und als ich Raffael anstatt Michelangelo sagte, – und ich wollte von der Sixtina reden, absichtlich auf die Bilder im Stiegenhause zurückkommen! – wie hast du mich da angeschaut! Vernichtend, verdammend! Kochen kann sie, wie die Vulpius –«

»Du, lasse das Christianchen in Ruh'!«

»Ich bin keine Christiane und werde keine Christiane! Ich mag nicht ein Wunder, in dem ich machtlos bin, ausgeschaltet, einflußlos, nur dazu verdammt, zuzuschauen –«

»Das sagte ich nicht!«

»– das man nicht selber erlebt, sondern das einen erlebt! Göttergeschenk, womit man nichts machen kann!«

»Oh!« Wie getroffen im Innersten drehte er sich um, richtete sich groß auf, geheimnisvoll fast. »Man kann schon was machen daraus!«

»Was?!« Fast ein Schrei.

Da brachte der Diener Kaffee und Likör.

Das Gespräch wurde nicht wieder aufgenommen. Sie, vor dem Flügel stehend, im Notenheft blätternd, er, im tiefen Fauteuil liegend, die Zigarre zwischen den Zähnen, fragten sie sich: war das ein Streit, eine Auseinandersetzung gewesen? Und wußten keine rechte Antwort. Sie hätten es begrüßt, wenn nun irgend jemand in dies dunkelblaue, fast mystisch harmonische Zimmer getreten und sie gezwungen hätte, – weil ihm Grüßgott gesagt und ein Platz angeboten werden mußte – sich wieder einander nahezugehen und anzureden. Wenn jetzt eine halbe Stunde verginge, ohne daß wir – ich da und sie dort – ein Wort sagen, dachte er unsicher, dann könnte der Fall eintreten, daß wir – da schlug sie das große A an. Nun spielte sie ohne Zweifel volle zwei Stunden lang Klavier. Ohne weiteres nahm er das Heft zur Hand, das auf dem Tische lag. Nun war sie in ihrem Himmelreich! Ein unbewußt unzufriedener Blick zu ihr hinüber – jawohl! der bekannte Schimmer lag bereits über ihrem Gesicht. Das Licht der Blendlampen über dem unregelmäßigen Kranz, den das Haar um das Antlitz wob, auf den Armen vom Ellbogen abwärts und auf den Händen. Und die ersten Töne rauschten bereits. Fest im Heft geblättert! Diana! Da standen die Gedichte der neuen Generation und ihre Kohle-, Blei- und Stichelskizzen. Junge Generation – das war nicht etwa Sturm und Drang oder Sezession oder Nietzsche oder Naturalismus. Jedes Wort, schon im Buchstaben, jeder Stich im Zug, war hier innerstes Ich des Autors, – Offenbarung: zu was Besserem sind wir geboren. Las man, als Mensch von Entwicklung, an deren Schwelle die Tradition stand, schaute man mit Augen, die daran gewöhnt waren, einen Kreis rund und ein Viereck eckig zu sehen, dann fühlte man den zornigen Schlag, der da gegen das Leben ausholte, das Gewohnheit war. Bin ich jung? Bin ich alt? fragte der Mann sich verwirrt. Steh' ich links, steh' ich rechts? Und, das Heft in der Hand, hub er an, für und wider zu reden. Einmal sank die Schale der Wage, in die er sich, zur möglichsten Gerechtigkeit entschlossen, gesetzt hatte, tief hinab in das Zwielicht, worin die Konventionellen und Routiniers saßen, die keine neuen Gedanken und keine neue Technik mehr besaßen, aber das schon Dagewesene immer noch angemessen wiedergaben; bald stieg sie in die Höhe jener geläuterten Helle, die den gereiften Stil umgab, das edle Verhältnis zwischen empfundener Form und gediegenem Inhalt. Aber ebensowenig, als sie je unten blieb, blieb sie je oben, und das Heft war auf den Boden geglitten, der Chor der neuen Generation als Maßstab der Messung vergessen, als ganz andere Pegel und andere Zwänge aus allen Ecken des blauen Raumes, aus allen Winkeln des plötzlich geöffneten Menschen hervorkamen und zur Gewissenserforschung – nicht luden, nein, drängten. Kommt die ganze Weltgeschichte – jawohl, so fragte er, einmal noch lächelnd, als er die Gewalt dieses Anpralls von außen nach innen und umgekehrt empfand – die ganze Kulturgeschichte, um mich zu fragen: wohin gehst du? Und wandte sich, wie zur Ablenkung, nach dem Flügel hinüber und fragte: »Was ist das?«

Aber sie ließ sich nicht stören. Tat, als hätte sie nicht gehört! Das aber bemerkte sie mit einem raschen Blick: nun nahm er die – Zeitung zur Hand! War's ein Stich, der sie stach? Wer ist er? Wo ist er? Wo find' ich ihn? Wie halte ich ihn? jagten die Fragen das Hirn, das von der Seele her schon der Schleier des Triebhaften – Traumhaften, der gespielten Musik überzog? Und nun noch ein Blick, der das schmale, bleiche, nicht ruhige Gesicht des Mannes im Dunkel drüben streifte, die Hände befragte, die Fremdheit der Welt aufzulösen begehrte, aus der er in die ihrige gekommen war, – und noch ein Stich in der Brust, weil der Blick wie an Stahlplatten abglitt, – dann aber hatte der Wille der Töne den Willen des Hirns besiegt. »Mein Himmelreich!« sprach noch der letzte Gedanke, ein Lächeln verschönte den schmerzlichen Mund, und die Fülle des Klangs begann zu zittern. Doch: Wer immer sich produziert, behauptete von drüben her das verfolgende Auge des Mannes, ist in Pose. Und ich hasse die Pose! Die rechte Schulter ist nun höher als die linke, der Ausdruck der Züge eine Hingabe, die verstimmt. Und überhaupt – warum nicht die unbediente Phonola? Es gibt für den Maler kaum Häßlicheres als den sperrangelweitoffenen Mund einer Sängerin, und für keinen Nichtmusiker Unbegreiflicheres, als das egozentrische Nichtbegreifen der Musiker, daß sie immer zu lang spielen.

Aber, im selben Augenblick, in dem er das zu sich sagte, gestand er sich auch, die Lippen zusammenbeißend, daß es Dummheit war, männliche, fachkünstlerische Dummheit, so zu denken! Sie war ja nun glücklich! Ebendort nun, wo er war, wenn sein Greis im Schatten des Gartenhauses das Hauptwerk begrub, oder Gottvater dem werdesehnsüchtigen Adam den helfenden Finger über den Abgrund des Nichts hinüberreichte. Das, was ihn von Anfang an zu ihr hingetrieben und mit echter Rührung erfüllt hatte: das Einsame in der jungfräulichen Gestalt, im ernsten Auge, dessen unübertreffbarer Ausdruck von edelstem Feuer die einzige Macht preisgab, die in ihrer Seele zu walten schien: Sehnsucht, – kam nun von Sekunde zu Sekunde sieghafter in ihrem Bilde zum Ausdruck. Ruhend schien sie, die Natur des Leibes in voller Uebereinstimmung mit der der Seele, und dennoch ließ die Angespanntheit der Züge keinen Zweifel darüber, daß ihr ganzer Mensch nun in tätigster Bewegung bebte. Mühelos zog das Genie, dessen Erfindung sie wiedergab, alles, was in ihr wissend und unbewußt war, aus der verborgenen Tiefe in die helle Oberfläche empor, auf welcher auch die gegensätzlichen Kräfte sich spielend vereinigten und der Seele, aus der sie stammten, die restlose Entfaltung ihrer Spannweite ermöglichten. Jahre, die weit zurücklagen, Erinnerungen, die im Gedächtnisse kaum noch hafteten, Besitz, der lange schon ausgegeben und nie wieder erwerbbar war, trennten sich mühelos vom Felsen der Vergangenheit, an den gekettet sie schliefen, und schwebten in die Gegenwart herein wie ihr Teil. Diese aber, die Gegenwart selbst, entledigte sich ebenso leicht der allzu bestimmten Formen, wodurch sie so eindeutig schroff sich als die Freude von jetzt, als das Leid von jetzt erwies, löste sich in die Grundlagen der Seele auf, die sie bedingt hatten, in die äußeren Ursachen, aus denen sie geboren worden war, und entbehrte nun allen Gegensatzes zu allem Vergangenen. So wurde die Sehnsucht von einst durch die Erfüllung von jetzt versöhnt, volle Tage der Kindheit und Jugend mit leeren Sekunden der Gegenwart ausgeglichen, und fand jeder empfundene Mangel den Trost der ergänzenden Fülle. So erlosch aber auch die erbitterte Sucht, in der Zukunft zu lesen und sie heute schon vorbereitend zu gestalten, in der beruhigenden Ahnung, daß Nichts entstehen könne aus Nichts, aus dem, was ist, aber nie wesentlich Verschiedenes.

Aber nicht ausgedacht und gemessen wurde diese Frucht des hingebenden Spiels in der Seele der Frau! Nur der Mann erriet sie, zerlegte sie. Ihr Antlitz, von den Elementen des Klangs umzogen, die ein anderer aus der unbeschränkt weiten Welt alles Lebendigen gerufen und zum Abbild seiner Welt vereinigt hatte, zeigte nun freudigen Glanz: die frohe Gewißheit der Jünger eines Glaubens, der, mit Worten nicht ausdrückbar, dem Hirn nicht erfaßbar, ein himmlischer Gast der unschuldigen Brust ist. Und diesen Glanz sah der Mann. »Ihr Himmelreich!« wiederholte er lächelnd; aber hielt sich dabei gar nicht auf. Von neuem in die Kissen zurückgelegt, nahm er sein Heft wieder auf. Ließ es aber bald wieder, zum zweitenmal, fallen. Und schloß die Augen. Noch immer wußte er nicht, was Gertrud spielte. Es mochte Mahler sein. Wo die Frau das Gefäß fand, darin sie das Unbestimmte, Unbestimmbare ihrer Sehnsucht gießen konnte, erriet der Mann die Zeichen des Kampfes. Gewiß war es Mahler! Chaos, das nie ganz besiegt wurde, im Gegenteil, als Ganzes immer üppiger wuchs, je mehr es in einzelnen Teilen zerbrach. Wohl Gipfel, die sich, unter dem Ruf des Bewältigers, aus dem wogenden Brei der chaotischen Masse in die geklärte Luft erhoben; auch ganze Ketten von Jöchern und Bergen oder Buchten oder Flächen oder Hügelländern, die, mit festen Grenzen umfriedet, abgerungenes Land darstellten, worauf der menschliche Fuß gehen konnte. Auch ein Stück Wald, eine Rotte von Tieren, ein Mensch und, vom Menschen, die eine oder andere Begier oder Höhenkraft, Stärke und Schwäche, stieg deutlich umrissen aus dem gallertigen Schleim auf, der den Bildner höhnisch verlachte. Aber in keiner der erschaffenen Gestalten die Harmonie, die das Chaos als überwunden erklärte, die endgültig war und die Welt mit dem ordnenden Sinn ihres Gesetzes erbaute! Ja, das war gewiß Mahler! Aber wie ein solch ewiger Wechsel von Chaos und Bindung, von Gott und Teufel, Harmonie und Disharmonie einer menschlichen Seele Antrieb zur Sammlung, Gelegenheit und Fähigkeit zur Stunde des Sichfindens geben kann, begreife ich nicht, dachte der Liegende desto erstaunter, je mehr der Glanz der Befreiung sich auf dem Antlitz der Spielenden erhöhte. Und war im selben Augenblick weit fort von Musik. Plötzlich hörte er die Töne nimmer, versank ihm der blaue Raum bis auf die Decke, die licht war, und auf diese hin, – malte er nun! Unbewußt, fieberhaft schnell; ja, aus bisher nie erlebter Gewißheit. Endlich – ein wirkliches Bild! Aus sprudelnden Flüßchen und Bächen gossen sich, vom Flügel her, kristallene Fluten in erwartende Mulden von hellenischem Sand, vom Sand in das herankommende Meer, und leise erzitterten die Hände der Spielenden in der Freude der süßen Entdeckung: in allem, was schön ist, ist alles Schöne geborgen. Galathee zog, im umjauchzten Zuge der Muscheln, durchs sieghaft blaue Meer, am sehnsüchtig weinenden Auge des Vaters vorbei, und die erosgefüllte Phiole Homunkuli zerschellte jubelnd am Bug ihres Boots, – über den Wassern aber schwebte, auf bauschigem Mantel, derselbe Allschöpfer, den des Mannes Geliebtester auf die sixtinische Decke gemalt hatte. So gibt es kein wirkliches Hindernis für die ahnende Seele? fragte beglückt der lauschende Frauenmund. Alles Leben ist eines, jede Kunst ist dieselbe, und jede Seele durch Leben und Kunst jeder anderen stets nahe?

Inzwischen aber malte der Mann unwissend weiter. Gegen die steil aufsteigende Wand eines Berges, die nackt ist, wird auf friedlich grünen Rasen eine uralte Hütte gestellt. Ihr Tor ist weit offen, ein Strahl der Abendsonne, die ohne Ausnahme den ganzen Bereich des Bildes überflutet, geht in den Flur hinein und belichtet das weißbartige, hochgebettete Antlitz eines männlichen Leichnams. An der grell beschienenen Hüttenwand, die nur vier Fuß hoch aus Mauerwerk, darüber aus goldbraunen Bohlen gebaut ist, sitzt das Weib des Toten auf unebener Bank. Ihr Gesicht ist, wie zwischen diesseits und jenseits, geteilt in die starre Ergebenheit dumpfer Trauer und in die unwillkürliche Neugier auf das, was vor ihr vorgeht. Ein Mann in der Vollkraft, von Arbeit gebräunt, die Beine mit festem Stand gespreizt, zimmert auf frischbehauenem Werkbock den Sarg für den Toten. Vom Hobel flog hellgelber Span in den Rasen, und ein junges, blühwarmes Weib, das, hochschwanger, doch mühlos gebeugt, ein Kind von zwölf Monaten am Kittelchen hält, rafft die hölzernen Locken auf, um sie den haschenden Fingern des Kindes zu reichen.

»Nur drei Spannen hoch Himmel darüber! Aber was für ein Himmel!« jauchzte der Maler mit schweigendem Mund und sprang aus den Kissen. Auch das Spiel war beendet.

»Mahler?« fragte er strahlend hochaufgerichtet.

Sie nickte, noch völlig entwirklicht, und ging ihm entgegen. Aber jetzt war nichts zu sagen. Langsam und stumm schritten sie aus dem Zimmer. Oben, unter der Schwelle des Schlafgemachs, in voller Dunkelheit, hielten sie sich für eine Sekunde umfangen. Dann lagen sie lange, dicht nebeneinander, im Fenster und sahen die Nacht. Jeden erfüllte nun völlig das eigene Sein, und er gewahrte kaum den anderen. Die Last der Liebe war genommen, und das Gefühl der Kindheit gegenüber der Mutter, die draußen den morgigen Tag vorbereitete, fand in ihren Herzen keine abwehrende Schranke mehr. Lange verharrten sie so; aber auch als sie, viel später, mit unbemerkt sich verwirrenden Bildern und Gedanken dem Schlafe zusanken, strahlten die Sterne von draußen sie noch mütterlich an und erhielt sich das Rauschen des Wassers von tief unten in den begütigten Sinnen.

Den Betten gegenüber, in Dreiviertelhöhe des Raums, stand auf granitener Säule eine Büste Apollons. Das Sternlicht genügte, sie so zu erhellen, daß die marmornen Züge für Augen, die sie vom Tag her gut kannten, auch jetzt noch leuchteten. Noch der letzte Blick des Einschlafenden hatte – aus Zufall, oder, weil sie der natürlichste Sammler des Dunkels im Raume sein mußte – die Büste getroffen. Nun sagte die reglose Stille: sie schlafen. Sie ruhen. Das göttliche Haupt war nicht das Werk eines großen Künstlers. Aber um den jugendlichen Mund lag immerhin das Lächeln der Antike, in den reichen Locken die üppige Natur der frischen Schöpfung, und im apfellosen Auge war Platz für das Geheimnisvolle, das diesem Gott eignete und wofür er den Beinamen »Loxias«, das ist: der Dunkle, Verworrene, trug. Auf dem Flachfeld des kurzen Schafts, der die Säule mit dem Haupte verband, war eine Blume in den Marmor gehauen, und auf ihren Blüten, ja gerade auf den obersten Blüten dieser Blume saß der Reflex eines Lichts, das die im Himmel stehende Venus in die Bahn der metallenen Bettstäbe warf.

Ob die Schlafenden träumten? Ob ein Funke des Geistes, der Apollon gewesen ist, jedem Bilde innewohnt, das ihn darstellt? Draußen, in der Nacht des Oktobers, verkündete die tiefdunkle Bläue des Taus und der eisige Hauch leise frierender Erde die Zeit des Welkens. Der starke Duft vergilbender Farrenkräuter in den Schluchten und der Duft des letzten Grases, das auf den beschimmerten Wiesen mit zäher Hartnäckigkeit widerstand, strömten zu den Fenstern herein und schwebten über den Schlafenden und über dem Gotte. Als der Mann, kurz nach Mitternacht, erwachte und das Leuchten sah, das die steinerne Blume noch immer belebte, lächelte er erstaunt. Wo wohnt in der Welt der geheimnisvolle Wille, der Zusammenhänge schafft wie diesen zwischen der unerbittlichen Angst zweier Herzen vor dem Welken des Herbstes und der marmornen Hyazinthe auf dem Schaft dieser Säule? Und wie befohlen nahm das Gehirn die ununterbrochene Arbeit des vergangenen Tages wieder auf. Richtete sich der Körper entschlossen empor, traf der gerüstete Blick das Antlitz der schlafenden Geliebten. Ja! Er liebte sie. Das stand fest! Sie war seinem Herzen teuer! Sie hatte die göttliche Gewalt, ihn zu rühren, und er glaubte an sie. Aber: war es wahr, daß sie alle übertraf, die er früher geliebt hatte, und daß er sich für alle Zukunft keine Frau denken könnte, die sie zu übertreffen vermöchte? Und war es, gemessen an den Erfahrungen seiner Vergangenheit, die ihn gelehrt hatte, daß alles relativ sei, richtig, den Beweis von der unbedingten Wahrheit dieser Liebe darin zu sehen, daß er sich entschlossen hatte, diese Frau zu heiraten?

Er legte sich zurück. Die klaroffenen Augen trafen das Bild des Gottes. Blieben daran fragend haften. Und sagten: die Schläfenbeine Gertruds treten etwas zu stark hervor. Marias Gesicht ist geradezu klassisch gewesen. Niemand hatte vollendetere Füße gehabt als Margarete. Gertruds Fessel ist fein. Aber ihr Gang – vielleicht ist er zu wenig gezähmt? Rhythmus ist sonst der Anteil der Musikalischen. Hier klafft eine Ausnahme. Ihre Hände – das ist unleugbar – sind köstlich. Margaretes Hände waren unschön. Aber sind, zum Beispiel, Gertruds Arme nicht zu wenig modelliert? Wird ihr Mund das Altern vertragen? Wenn ich an Klaras Mund denke –?

Nun sah er den Gott ohnmächtig an! Schien gepeinigt zu überlegen, ob es nicht möglich wäre, sofort wieder einzuschlafen. Aber der Gott forderte nun, und das befohlene Gehirn gehorchte. Welche Leidenschaftlichkeit war in Sybille gewesen! Gott, die purpurne Unergründlichkeit dieser dämonischen Glut! Gertrud – vielleicht starrköpfig, hartnäckig, im rassigsten Sinne charaktervoll ist sie. Aber temperamentvoll? Phantasiereich? Und wenn ich erst an Klaras grenzenlosen Horizont denke, der nichts ausschloß? Freilich – aus dem Gesetz des Gegensatzes heraus – wäre es zu verstehen, daß einen Mann, der die überaus gebildete Psyche solcher Frauen geliebt hat, plötzlich die rührende Unschuld der normalen, ja sogar der gewöhnlichen, typischen Jungfrau begeistert! Alles, was Gertrud fühlt, denkt, sagt, tut, ist unbedingt echt. Sie ist verkörperte Natur. Und das ist himmlisch, sobald man erkannt hat, daß die Natur das Höchste –

»Wachst du?«

Das war ihre Stimme! Er antwortete sofort. Unleugbar glücklich darüber, daß sie wach war. Es ist wunderschön, nie verlassen zu sein; immer ist sie da! Eben hatte er noch gedacht, ob er nicht genau so zufrieden wäre, wenn anstatt Gertrud Sybille oder Margarete oder Maria oder gar Klara da neben ihm ruhte. Ob es ihm nicht überhaupt weniger auf den bestimmten Menschen, als vielmehr darauf ankäme, lieben zu können und geliebt zu werden? Nein! sagte er nun energisch. Gertrud ist meine Frau! Etwas steckte in diesem Wort, was kein anderes im unerschöpflichen Sprachsatz der Liebe ausdrückte. Und ist jemals der Zauber der Erinnerungen vergeßbar, die von der ersten bis zur letzten nichts anderes sagen als: dem Teufel hätte sich diese Frau verschrieben, um dein sein zu können?

»Was bedeutet die Blume auf dem Stein, die so leuchtet?«

»Die Hyazinthe ist's. Apollon hat sie erschaffen.«

»Ein besonderer Sinn?«

Er überlegte. Wie kommt es, daß mitten im vollen Frieden des Glücks plötzlich ein Ton fällt, eine Farbe aufsteigt, eine Form sich verwandelt, und der Glückliche gleichzeitig den ersten Schatten erblickt? Nicht, daß dieser Schatten das Glück zerstörte. Die Freude verbleibt, aber wo bisher bewußtlos genossen ward, stört nun das Bewußtsein vom Abgrund, der die Freude vom Gegenteil trennt, den Genuß. »Apollon war auch der Gott des Frühlings und der Blumen,« begann er. »Frühling und Blumen liebte er über alles. Nun wohnte in Amyklai ein Knabe, dem er besonders zugetan war, weil er wie das Kind des Frühlings erschien; lieblich, heiter und zart. Mit diesem Knaben, der Hyakinthos hieß, brachte der Gott viele Stunden zu in den reizenden Fluren des Eurotastales, – ja, oft lagen sie beide vom Morgen bis zum Abend in den Wiesen, oder jagten durch die Wälder, oder ließen Primeln den Bach hinabtreiben. Einmal aber spielten sie mit dem Diskos. Apollon warf als erster, bis in die Wolken hinauf flog die Scheibe. »Ich werfe noch höher!« rief Hyakinthos begierig und lief schon der Stelle zu, wo die rückkehrende Scheibe ankommen sollte. Und da geschah das Schmerzliche: die Scheibe schnellte, auffallend vom Boden, ab und fuhr dem Knaben, dessen Hände schon nach ihr haschten, ins Gesicht. Zu Tode getroffen fiel er in die Arme des verzweifelten Gottes. Nichts hilft, das fliehende Leben zu halten. Wie eine jäh welkgewordene Blume sinkt das geliebte Haupt sterbend nieder; der sonnige Geist – er entflieht.«

»Da weinte Apollon! Da fluchte er Zeus, seinem Vater, und Leto, der Mutter, die zuließen, daß ihm die Lust seines Lebens geraubt wurde. Und tagelang verließ er den Leichnam nicht. Am vierten Tag aber erfand er sich Trost. Begrub ihn und rief aus dem Blut des Gespielen, das den Rasen noch färbte, eine Blume hervor. Purpurrot ist sie, übervoll an Blüten, und jede davon trägt klar eingeschrieben das wehe »Ai – ai« – den klagenden Seufzer des Gottes.«

»Seitdem blüht nun mit jedem Frühling in den Feldern Amyklais die Hyazinthe. Als ewiges Gedächtnis an Hyakinthos, den gestorbenen Frühling.«

»An Hyakinthos, den gestorbenen Frühling!« »An Hyakinthos, den gestorbenen Frühling!« Immer wieder! Immer wieder! Warum machte das weinen? Warum wehte aus der längst toten Sage ein Hauch, der aus dem verworrenen Herzen die Tränen riß, aus der Nacht der zweifelnden Brust alle Aengste, und der erzählte und mahnte: ah, so lange vor dir schon hat ein Gott, hat ein Volk, hat die Menschheit die gleiche Pein gelitten, die deine Seele nun leidet?

Sie biß mit den Zähnen das Kissen, die schauernde Frau, preßte die Hände aufs Herz, das wie Hammerschlag schlug, denn er durfte nicht wissen, daß sie weinte!

»Gertrud?« frug er, weil er's erriet.

Da befahl sie mit aller Gewalt des Bewußtseins den Körper zur Ruhe. Keine Regung! Kein Laut! Er darf es nicht wissen!

Verborgene Sekunden, verborgene Minuten der verborgensten Not! Aber – höre! Jetzt schlummert er wieder!

Da hob sich das Antlitz, noch voll von Tränen, vorsichtig zurück, zum Blick auf den Gott. Und: weil du dich schon einmal prüfen mußt, prüfe dich ohne Wehleidigkeit! riet der ermattete Glanz seines Marmors. Und sie entschloß sich! Aber wer klärt so ein Herz, dem ein unentdeckbarer Anlaß die Tiefen geöffnet hat? Stelle dir vor, er wird dir genommen, rief sie gequält sich zu. Der Tod ist nie ferne, ein Herz ist kein Wille; wie, wenn er dir morgen geraubt wäre?

Aber im Zwang dieser Vorstellung war kein Trost. Im Gegenteil. »An Hyakinthos, den gestorbenen Frühling!« klagte der Endreim, und von neuem entstiegen die Tränen; noch heißere, noch bitterere. Wo in der Welt sitzt die teuflische Macht, die ihren Pfeil aus dem Hinterhalt abschießt auf ein Herz, das noch gestern nichts war als selbstverständliche Klarheit? rang die gemarterte Seele. Ich liebe dich! Ich liebe dich! schwor sie inbrünstig – da erlosch, wie von stehlender Hand weggenommen, das Licht auf der marmornen Blume.

Ist das ein Symbol? rang sie atemlos, vorgebeugt. Ueber die Venus draußen im Himmel hatte sich eine Wolke gebreitet. Das entdeckte sie nicht. Nur noch mit sterbendem Schimmer schaute der Gott zu ihr hin. Aber nur brennender noch brannte die Frage: wo ist die Wahrheit, Sicherheit, fester Bestand? Wo die Kante, der Hebel, der Griff, an denen ich Einsicht und Absicht ansetzen kann, um ihn ganz zu erobern und mich selbst zu erhalten? Wenn er nicht will, daß ich ihn fasse? Wenn er sich entzieht allen Schlingen? Wenn er das Trennende sieht, klarer als ich, aber die Brücke verachtet?

Da stieß ein Windhauch in die Fenster. Und freundlich folgte ihm das Rauschen des Wassers. Die Düfte des Welkens, vom Atem des herannahenden Morgens gemildert, sammelten sich im dunkel gewordenen Raum. Und der Gott verschwand. Dem Auge der Sinnenden kehrte die Wirklichkeit zurück. Beruhigte sie. Da ist er ja, neben mir! Unser Haus ist's, in dem wir da schlafen. Morgen scheint gewiß die Sonne! Ist es nicht herrlich, einem neuen Tag entgegenzugehen? Frauen sind hie und da unzurechnungsfähig. Das ist das ganze! Lärm um nichts. Und nun lächelte der Mund. Müde bin ich. Was ist das für ein törichtes Fieber gewesen! Fest schlossen sich die Lider. Wohliger Zwang! Wie lange? Wo bin ich? Was ist? Was geschieht mir? Und erhoben sich wieder …

Und der Morgen war da! »Georg!« Es klang wie ein Jauchzen, wie dankbarstes Credo. Denn da war nichts als Bläue und Gold! Keine Wolke im azurblauen Himmel, aber die Sonne, ganz ohne Schleier, mitten in seiner strahlenden Tiefe! Die grasigen Gipfel darunter, gebadet in der wonnigen Hochflut des herbstlichen Rostrot. Die Wälder rundum, mit den Schluchten und Sätteln, eine prunkvolle Hochzeit alles irdischen Grün im frohlockenden Spiele von Licht und von Schatten! Aber das Tal erst! Gerade zu den Füßen der Schauenden lag es, die seligen Augen maßen es von der Mündung des Wasserfalls bis hinaus zu der rosigen Mauer des Steinernen Meers. Allerlieblichste Flur von smaragdener Frische. An den Ufern des glasklaren Bachs die bläulichen Erlen in runden Gruppen. Um die sonnroten Hütten aus saubersten Bohlen die Inseln der bunten Gärten, die läutenden Herden und die silbrige Glätte der taufeuchten Zäune. Und weiterhin, draußen, zwischen Anger und wallendem Nebel und gehütet vom Waldwerk des Ahorns, die blinkende Dorfschaft von Hofgastein!

»Und da dieser steinerne Gott!« lachte Georg und schnitt wie ein Lausbub Grimassen.

»Ah, das findest du auch?«

»Onkel Bernhard hielt's mit der Mythologie. Aber nicht mit der Kunst. Als Original – bitte, als Original! – hat er den Kerl in Velletri erstanden!«

»Und die Hyazinthe –?«

»Hyazinthe? Woher weißt du –?«

»Du hast mir die ganze Sage erzählt, in der Nacht!«

»Sie schaut wie eine Pawlonie aus! Erschlagen werd' ich das Monstrum!« Und weil sie so unbändig lachte, so kindlich vergnügt: »Nein! Im Ernst! Der muß weg! Nicht eine Nacht länger. Ich sag' dir –!« Sie liebte es geradezu, wenn er übertrieb. »Er ist der verkörperte Superlativ!« sagte sein bester Freund, der Tiermaler Gehrcke von ihm. Und er wieder liebte es, daß dieses hinreißende Geschöpf – »ach! wie der Morgen den Mädchen gut steht!« rief er, die Arme weit ausgebreitet, in jähem Entzücken und strahlte, – daß dieses hinreißende Geschöpf ihn jauchzen und jammern und schimpfen ließ, wie er wollte, und selber so überbegeistert, empört und totunglücklich sein konnte wie er! »Gebaut hat dies Haus ein richtiger Meister! Kein anderes paßt besser herein in dies Land! Aber – innen!« fuhr er eifervoll fort. »Wochenlang habe ich wie ein Vandale gehaust, um nur die bösesten Geschmacksmörder zu morden. Und trotzdem gibt es mir täglich noch hundert Stiche ins Herz! Zum Beispiel: der Möbelstoff im Herrenzimmer! Der Gonghälter im Flur! Das Farbenfenster im Badezimmer! Die Läufermuster im Korridor! Das Perlenkissen –« Unerschöpfliches Thema! Uebermütig, mit Lachen, Protest, Wut und Anekdote breitete es sich aus über die erfrischende Stunde des Bads, des Ankleidens und der Prüfung im Spiegel, und ging erst unter, als das Frühstück im Garten vor dem Haus ein noch bedeutsameres brachte. »Eine Kuh werd' ich uns kaufen! Und Hühner! Mindestens zwanzig!« behauptete er unvermittelt und ganz tief überzeugt. »Man kann nicht genug viel und nicht genug Butter und Eier und Milch haben!«

»Und wer milkt und hält den Hühnerstall in Ordnung?«

»Der Alois.«

»Dann kommt er mit Kuhgeruch und kotigen Füßen servieren.«

»Dann nehmen wir uns eine Dirn! Eine Mirzel oder Kachel oder Nandl. Kann oben im Fremdenzimmer schlafen.«

»Um Gotteswillen!«

»Melken ist überhaupt keine Kunst! Die Lolo Gehrcke machts in Kitzbühel mit ganzen elf Stück.«

Entrüstet, die Teetasse in der einen Hand, die andere, mit den Ringen, im Blitzlicht der Sonne: »Ich melke nicht!«

Er schwieg einen Augenblick, legte seine Hand auf die schöne und schaute. Himmelblau stand ihr so gut! Die Bläue hochoben, das flammende Grün rundum, die verschwendrische Sonne in Gras und Büschen und Bäumen des Gartens – und in der Mitte des Zaubers dies junge Geschöpf mit den Augen, darin aller Zauber sich zauberhaft spiegelte! »Die Lolo Gehrcke ist eine geborene Gräfin!«

In eine Semmel beißend, die den köstlichsten Kaviar trug: »Ich melke nicht!«

»Ich habe sie melken gesehen! Reizend sah sie aus!«

»Und woher nimmt man das Futter für die Kuh?«

»Ich pachte eine Wiese!«

»Und die Kuh selber? In diesen Zeiten?«

»In ganz Salzburg wird es noch eine Kuh geben!«

»Und der Stall?«

Sofort stand er auf und ging den Garten ab. Ja: wo könnte der Stall am besten gebaut werden? Aber als er zurückkam, war der Stall vergessen. »Also wo?« sagte Gertrud. Aber er antwortete nicht einmal. Als er auf dem Hügelchen gestanden hatte, das mit drei jungen Zirben den Garten talhin überhöhte, war unten im Weg ein weißer Tannensarg vorbeigetragen worden. Seit diesem Augenblick hatte er sein Bild wieder. Und nun saß er schweigsam und unsicher da. Allein sollte ich jetzt sein, dachte er und blinzelte, tadelnd fast, auf Gertrud hin. Ich muß mit etwas fertig werden. Heute noch! Das fühle ich! – Aber sie bemerkte diese Wandlung; sogleich! Mit einem einzigen Blick. »Du!« unterbrach sie ihn sofort. Sein Gesicht war kalt geworden. Die Stirn hatte sich gefurcht. Und obwohl er die Augen auf eine rote Aster gerichtet hielt, die zu seinen Füßen brennend im Gras stand, schauten sie, offenbar, weit weg von allem, was ihn in der Nähe umgab. »Du?« – ihr Herz, vor dieser Sekunde noch friedlich und fröhlich, schlug nun genau so gepeinigt wie in der Nacht, ja noch wilder – wachst du?« Und sie beugte sich vor, um die jäh eingefallene Unrast zu verbergen und nahm seine beiden Hände. »Was ist? Sag' mir's?« Aber er antwortete nicht! Ja, es stieg sogar etwas wie Trotz in ihm auf. »Sag' mir's,« drängte sie weiter, sich ihm immer mehr nähernd und mit Lippen, deren zitternde Angst ihn hätte rühren müssen. Und er sah diese Angst; aber sie vermehrte nur seinen Trotz. Die Aster verlassend, blickte er die Ratlose mit großen, ganz und gar ruhigen Augen an. Mit überlegenen, – das erkannte sie! – mit Augen, die anteillos über alles hinschauten, was nicht er selbst war! »Sage,« begann sie da, und die Qual, das zu fragen, saß ihr am Halse, aber gerade so zu fragen, befahl das erschreckte Herz unerbittlich! »Hast du niemals, seitdem wir uns kennen, – nie eine Sekunde erlebt, in der du dich fragtest –«

»Was?« Hart!

»In der du fühltest –«

Da merkte er erst auf. »Was fühltest?«

»In der du zweifeltest, ob du mich –«

»Ob du mich –?« Ungeduldig, erbittert.

»Ob du mich – wirklich auch liebst?«

Da stand er auf. Rücksichtslos. »Nein!« sagte er einfach und küßte sie. »Aber ich will jetzt ein Stückchen spazieren geh'n!«

Wie versteinert sah sie ihn an. Das war noch nicht vorgekommen! »Allein?« wollte sie fragen. Aber – er ging schon!

»Wir essen um halb zwei?« fragte er vom Weg herab noch.

»Wie immer.«

Und nun ging sie – nein, lief sie ins Haus zurück. Denn: hier war etwas geschehen! Es hatte sich etwas verändert. Er war noch niemals auch nur einen einzigen Schritt ohne sie gegangen. Bisher! Heute zum erstenmal! Also hatte sie einen Fehler gemacht! »Also habe ich einen Fehler gemacht!« sagte sie sich ununterbrochen und immer überzeugter vor, während sie die Treppe hinanstieg, in den Altan hinausging, in ihr Zimmer zurückschritt.

Im Boudoir setzte sie sich nieder. Saß steif auf dem Stuhl vor der Wand und sann nach. Es konnte erst seit gestern abend geschehen sein. Denn noch gestern nachmittag … Da sprang sie, als ob ihr ein rettender Einfall gekommen wäre, auf und lief schnurstracks empor in das Atelier! Hierzu war die geräumigste der Stuben des Hauses dadurch umgestaltet worden, daß ihre Nordmauer und das Dach durch Glas ersetzt worden waren. So stand das Licht voll im Raume, stellte die bunte Gemischtheit der Dinge heraus, die hier vereinigt waren: Staffelei, bemalte und unbemalte Leinwand, Schränke, Truhen, ein gewaltiger Schreibtisch – und verursachte Heiterkeit. Und hier, auf diesem Sessel hatte er gestern gesessen und begeistert gerufen: »Soviel weiß ich nun endlich: Liebe ist alles, – erst seitdem ich dich habe, fehlt mir innerlich nichts mehr!« Und dieses Bekenntnis strahlten die Dinge auch heute noch aus. Das sah sie mit Freude. Ruhiger schritt sie heran, lehnte sich ermutigt an den Schreibtisch. Es lag ja nur ein Tag zwischen gestern und heute! Nicht mehr! »Ich bin zu kleinlich für ihn!« sagte sie sich laut. »Stecke in Grenzen, bin – richtige Eva! – da logisch, wo Logik Einseitigkeit ist und Beschränkung. Und wo er grenzenlos ist und darum auch voll Widerspruch, erschrecke ich sogleich und versage! Horizont fehlt mir!« Gott sei Dank: so, wie sie zu Hause gewesen – griesgrämig, zänkisch, rechthaberisch, zuwider! – hatte Georg sie nie gesehen! Aber – und dieser einzige Gedanke genügte, um die Ruhe von neuem zu rauben – war er vielleicht trotzdem darauf gekommen, daß sie so war? Und hatte sie – erkannt, entlarvt, – und nun –?

Tödliche Angst! Das war es! Natürlich! Das war ihm offenbar geworden. Er hatte sich ganz einfach getäuscht. Und sein Auge, der Ton seines Worts, das Eigentümliche seiner Bewegungen, aber auch der Sinn alles dessen, was er ihr jemals gesagt, und der Geist, durch den er diesen Sinn bekräftigt hatte, fielen ihr nun ein. Und klein, ja erbärmlich, winzig klein, in schreiendem Mißverhältnis zu ihm erschien sie sich. So war's! Er, der Großzügige, Großherzige, Weite, Berechnungslose, – sie die Philisterhafte, Höchstpersönliche, Enge …

Entsetzt trat sie vom Schreibtisch fort. »Vogelgehirn!« hatte der Franzose das Gehirn des Weibes genannt! Aber auch der Schuster der Fabel fiel ihr ein, der sich gewünscht hatte, im Louvre zu wohnen, weil der Maler d'Argentiere seine Tochter gemalt und den Vater »den Anlaß ihrer Schönheit« genannt hatte. Der Schuster bekam tatsächlich einen Saal zugewiesen im Louvre. Aber er wohnte nur drei geschlagene Stunden lang darin, dann lief er, heulend vor Heimweh, zurück in den Schmutz der Werkstatt! So war sie! Und ebensowenig wie dieser Schuster zu ändern. Kein Mensch kann aus seiner Haut heraus! Da hing ihr Porträt. Skizze in Pastell. Hingehaucht wie vom glühenden Atem der Liebe, befohlen von einer Liebe, die hell sieht. Aber sie hatte kaum darin gelesen, was der Maler mit aller Inbrunst und Andacht zu lieben schien, und schon floh sie davor wie vor einer neuen Medusa. Jetzt war es leicht zu verstehen, was er gestern vom Aschblond und den weinroten Kleidern gesagt hatte. An ihrem Bild hing er noch! Aber wie lange noch? Denn das weiß er bereits: von diesem Aeußern habe ich auf das Innere geschlossen, und dieser Schluß war ein Trugschluß. Und drum belügt er sich, behauptet verstiegen, daß, was er noch hat, ihm genüge! »Ja, belacht mich geradezu, wenn ich mich dagegen wehre. Weil er weiß: Da nützt kein Sichwehren, kein Versuch, kein Erzwingenwollen –«

»Aber ich will es erzwingen!« Feuerrot stand sie, hochaufgerichtet, wunderschön. Ein brennender Mensch. Als ob er nicht unsäglich litte im Trotz dieser Ergebung. Denn: was stand auf dem Spiele? Und nun begann sie eine fieberhaft tätige Arbeit. In diesem Raum nämlich – da war er! Hier malte, hier las er und schrieb er und sann er! Hier war er zu finden! Hier allein, – aber ganz! Ein Schrank barg die Bände, die Abbildungen aller bedeutenden Werke der Skulptur enthielten. Ein zweiter die Bände, die eine lückenlose Uebersicht über alle maßgebenden Schulen der Malerei boten. Ein dritter nur Bücher. Auf dem Schreibtisch, in eigenem Gehäuse, stand die Sammlung von ledergebundenen, handlichen Ausgaben jener Philosophen und Dichter, die er »die Unentbehrlichen« nannte. In den Laden, Fächern und Truhen die Unzahl der Skizzenbücher, Tagebücher, Atlanten, Hefte und Reiseaufzeichnungen! Eine reichliche halbe Stunde brachte sie damit zu, Folianten, Rollen, Blätter, Anatomietafeln, Gipsmodelle und Zettel zum Schreibtisch zu tragen und darauf auszulegen. Dann erst begann sie. Mit Michelangelo. Aber als sie auf dem vierten Karton, der die heilige Familie darstellte, von Georgs Hand geschrieben das Wort »Masaccio« las, fand sie es für notwendig, auch die Sammlung Masaccio vorzunehmen. Run waren die Ränder fast sämtlicher Kopien dieses Meisters mit Notizen bekritzelt, in denen immer wieder der Name Giotto und Melozzo da Forli vorkamen. Unwillig zurückgekehrt zu den Bildern nach Michelango, entdeckte sie, daß zwischen Bild und Bild Halbbögen eingelegt waren, die so gut wie nichts anderes als vergleichende Hinweise auf eine Unzahl anderer Meister und Zitate aus Vasari, Condivi, Villani und Angaben kunst- und zeitgeschichtlicher Quellen enthielten. Nun hob sie an, zu verzagen. Eine Zeitlang blätterte sie noch, dann, mit dem grausamen Gefühl, in einem Labyrinth zu stecken, durch das die Augen allein sie nicht leiten könnten, räumte sie die gewaltigen Bände entschlossen vom Tische. Geologie war ein Lieblingsfach Georgs! Nach längerem Stöbern fand sie denn auch drei dicke, abgegriffene Bücher, schleppte sie herbei und begann darin zu suchen. Georg interessierte sich für die Gletschermühlen Gasteins. Also nachschlagen! »Gletschermühlen.« II. 513. Da stand das Kapitel. Gut! Sie las. Als sie nicht sogleich erfaßte, ein zweitesmal. Aber ein drittesmal las sie das Unverständliche nicht. Ohne Zögern zurück an den Schrank! Da standen in brüderlicher Reihe Shakespeare, Lessing, Schiller, Goethe, Herder, Rousseau, Spinoza, Kant, Fichte und Hegel. Nun, hier war man bereits bekannter! Einige dieser Herren durften getrost übersprungen werden. Aber von Herder wußte sie wenig. Georg hingegen hatte in den letzten Wochen, nach langem, ihn neuerdings durchgenommen und die »Kritischen Wälder« mit Begeisterung gelobt. Neben dem Schreibtisch stand ein bequemer Fauteuil. Da hinein! Die ersten Seiten lasen sich ohne Schwierigkeit. Dann begann die Sprache plötzlich stachlig, der Gedanke dunkel, die Verbindung zwischen den einzelnen rätselhaft zu werden. Was wollte hier eigentlich gesagt werden? Sie hob den Kopf und versuchte, mit der festesten Absicht, nicht mutlos zu werden, das Gelesene aufzulösen. Und da erblickte sie den »Greis«. Der Greis war die letzte unvollendete Arbeit Georgs. Hundertmal schon hatte sie das Bild betrachtet, aber niemals den geringsten Eindruck davon empfangen. Georg erklärte es mißlungen von Anfang an, konnte sich aber noch immer nicht entschließen, es von der Staffelei zu nehmen. Sie legte das Buch auf den Tisch zurück und trat vor das Bild. An die Staffeleiposten gelehnt und hinter der Staffelei am Boden standen leicht ein Dutzend Kartons. Sie erkannte zum ersten Male, daß alle diese Kartons Studien zum Bilde waren und daß der Maler auf ihnen, in einander immer wieder kreuzenden, verbessernden, allgemeiner werdenden Linien jeden der wesentlichsten Teile des Bildes zu prägen versucht hatte. Der Greis lag, das Haupt so nach rückwärts gebeugt, daß die Augen den Himmel sahen, im schrofigen Grunde eines Felsgipfels, der sich über unglaublich wilden Dolomiten in die Luft hob. Die Arme des Liegenden waren um ein vierschrötiges Felsstück geschlungen, und ruhesuchend schmiegte sich der ermattete Körper an die Erde, leckten die weißen Locken des Hinterhauptes den kaum bemoosten Stein. Hingegen rann der silberne Bart jugendlich kühn vom entschlossenen Kinn herab in die Halme des Grases, und im angestrengt weit offenen Blick der Augen glomm ein Feuer, das mit Alter und mahnendem Tod nichts gemein hatte.

»Ich mag ihn nicht! Mag ihn nicht!« Böse verzog sich der kämpfende Mund, zornig erhoben sich die Schultern. »Was das alles heißen soll! Was er mit alldem nur sagen will!« Beleidigt ging sie an den Schreibtisch zurück. Lehnte sich tief über ihn hin. Hier lag ein Heft mit Notizen aus der Farbenlehre Goethes und Helmholtzens. Wütend warf sie es sich von sich. »Schopenhauer. Die vierfache Wurzel vom Satz über den zureichenden Grund.« Sie hob das Buch aus dem Verschlag heraus, schlug es auf – und nun kamen die Tränen. »Ich müßte alles das genau so gelernt haben wie er, um es gleich zu verstehen!« begehrte das verzweifelte Herz auf, »und selbst dann wäre mein Hirn noch nicht sein Hirn und fehlte mir noch die ganze Natur, das gesammelte Leben, alles nicht Geschriebene, nicht Gemalte, nicht Gemeißelte, aus dem er Idee um Idee zieht. Bild um Bild – ah!« Gepeitscht flog das Buch an das Fenster, daß das Glas klirrte, und in den Boden stampfte sie, daß der Raum bebte. Da lag ein Brief. Mit dem Kram aus dem Laden geholt. Warum nicht ihn lesen? Der Brief war nach Wien gesendet und von dort nach Gastein nachgeschickt worden. Er trug das Datum vom elften September, war aber erst vor wenigen Tagen angekommen. »Klara« hieß die Unterschrift. Groß und fest stand es da: »Deine Klara.« »Mag ich auch nichts Neues aus diesem Erlebnis gelernt haben,« sagte die zweite Seite, »meine Untauglichkeit, mit einem Menschen ein Leben lang zusammenzuleben, ist mir neuerdings zur unbedingten Gewißheit geworden. Eheuntauglichkeit. Genau so wie Du kann auch ich mich nicht vergegenständlichen, jede feste Form – und gibt es eine festere als die Ehe? – erstickt mich, jeder Mensch, sobald er mir deutlich wird, langweilt mich, jeder, an dem man nicht vorübergeht, ist nur der Begleiter eines neuen Stadiums, und ist dieses vorüber, dann ist er es auch! Mit einem Wort: heiraten – niemals! Und das hast du allein von allen Männern verstanden. Und darum unsere Gemeinschaft! Präliminarien, solange sie die Möglichkeit zu weiterem nicht ausschließen – aber auch nur so weit! – mit Wonne! Jedes Jahr auf ein, zwei Wochen zusammen sein, immer sich wieder finden und gegenseitig vertauschen, niemals einander verhaftet, aber darum auch niemals verbraucht – das ist unsere Fasson! Keine andere wäre uns gemäß und könnte uns mehr geben! – Ich male viel und will Ende September in Samaden sein. Schreibe mir, ob du –«

Da warf sie ihn fort! Zurück in das Chaos der Dinge. Eifersucht? Nein! Wie ein Gewitterfunke plötzlich und grell blitzte dies Nein in ihr auf; entschieden und klar. Aber es war auch die letzte festumrissene Wahrheit, die sie noch besaß. Alles andere schaukelte nur ungewiß in der tobenden Brust, im völlig ratlosen Hirn. Nirgends mehr Insel im wallenden Meer, überall Schleier und Nebel, und Abgrund, davor kein Stab und kein Ruf den taumelnden Schritt bewahrte. Hinaus! In die Sonne! Ins Freie! Und wahrhaftig – kaum war sie vor dem Haus, als sie sich leichter fühlte, befreit! erst ging sie noch wie durch uferlosen Glanz. Aber es war doch Glanz, durch den sie schritt. Dann aber, wie von der zunehmenden Sicherheit ihres Tritts gerufen, lösten sich die lichtumflorten Gestalten der Berge, der Bäume, der Gräser und Steine aus der blendenden Sonne, und als sie am Waldsaum angelangt war und vom Schatten zurückblickte in die gleißende Helle, atmete sie erlöst auf: nun hab' ich mich wieder!

Unter der höchsten Tanne, zwischen Flur und Wald, stand eine Bank. Auf dieser ließ sie sich nieder. Lehnte sich müde an den Stamm. Schaute ausruhend empor. Tief unter ihr bohrten sich die Wurzeln des Baums über Fels und Moos und Dickicht hinein in die herbstträchtige Erde. Ein Quell rieselte verborgen noch tiefer. Dämmerung umgab all dies Unterste, das sie nicht sah. Ueber ihr hing von den nadellosen Zweigen des Anfangs, die mit den Jahren verdorrt waren, der bläuliche Bart. Er und ein verworrenes Netz von Gespinst, von Gewebe aus Aestchen und Reisig, darin lautlos die Meisen hüpften, trennten den Blick, der empordrang, vom Reich des lebendigen Grün, das von der Höhe herablockte. Ausdauernd, erreichte er's doch! Nicht den Gipfel, dessen wiegende Lust im tiefblauen Aether verborgen blieb, aber die tröstende Ordnung der kräftigen Zweige, dieses franke Hinauf und dies sanfte Hinab, das mit urstarker Treue die Jahreszeiten bindet. Hier lebte der Traum so gut wie die nüchternste Wahrheit, Tag und Nacht in einem, und die Grenzenlosigkeit des Himmels, in den die Phantasie sich erhob, wob sich herab in die feste Figur eines Hauses, worin das Gemüt erdbegrenzt sich erquickte. Aber schon kam die Störung! Ein Mann, mit dem rechten Bein hinkend, erschien oben im Wege, der etwa zehn Meter über ihrem Platz durch den Wald lief. Schmunzelte, als er sie sah. Schritt sehr langsam vorbei, kehrte aber plötzlich um, blieb stehen – »a ça!« Wie vom Baum umarmt, an ihn herangehoben und in sein einfaches Geheimnis gezogen, hing die himmelblaue Gestalt an der dunklen Stärke des Stammes. Das Haupt an die Rinde gelehnt, ein Arm auf der Lehne der Bank, der andere vergessen im Schoße. »Sehnsucht und Frage!« lispelte der Mann spöttisch, aber doch neidisch, und ging weiter. Und war schon vorbei, als er auf einmal zum zweitenmal umdrehte – das ist ja Gertrud! »Guten Morgen, gnädige Frau!« rief er wie ein ganz Junger begeistert herab, lenkte begierig nach abwärts, und war trotz dem hinkenden Bein auch schon da!

Sie war erschrocken. Aber nun, da sie ihn erkannte, viel mehr als nur das. Gerade dieser Mensch mußte ihr heute begegnen! »Was machen Sie allein da im Walde?« lachte er mit dem hübschen Mund im glattrasierten, gutgebräunten Gesicht und setzte sich auch schon neben ihr nieder. »Ich stehe bei Nacht auf, gehe im Morgengrauen durch die Einsamkeit der Natur, einsam wie sie – er legte die schönen Hände, die in weißen Schwedenhandschuhen steckten, auf die Stockkrücke, lehnte die einfache Selbstverständlichkeit des grauen Anzugs an die Rinde, wobei ihm der grüne Steirerhut aus der Stirn rückte und der dunkle, fast junge Scheitel erschien, und bemerkte das alles pünktlich! – »und glaube, daß alle glücklichen Seelen noch tief im seligsten Schlummer liegen, und –« und jetzt kam sein Blick! Er hinkte mit dem rechten Bein und war deshalb in Gastein, aber die Richtigkeit, mit der er seit langen, erfahrenen Jahren seine grauen Augen in Frauenantlitze zu senken wußte, stets zur rechten Stunde, prüfend, auf die hervorgerufene Frage sogleich, wohlvorbereitet, antwortend, und so in zwei, drei Minuten mühelos alle Stufen überspringend, die zu den eigentlichen Seelen hinanführten, hätte es ihm erlaubt, auf beiden Beinen lahm zu sein. »Sagen Sie mir,« fuhr er fort, nicht im geringsten darüber betroffen, daß sie kaum »Guten Morgen« gesagt und seinen gestrigen Besuch nicht erwähnt hatte, und nun klang seine Stimme schon wie die eines Vertrauten, dem die geheimsten Bekenntnisse bereits gemacht wurden – »wo ist Georg?«

Am liebsten hätte sie geweint. Sie besaß nicht mehr Menschenkenntnis als andere Frauen ihres Alters, aber vom ersten Augenblick an, den sie in das Gesicht dieses Mannes getan hatte, wußte sie, daß er sie bemitleidete, weil sie liebte, und daß er das tat, weil er der Skeptiker vom reinsten Wasser war. »Georg ist in die Berge gegangen«, antwortete sie trotzig; aber so unverhüllt trotzig, daß der Kenner gleich lachte, weil ihm dieser Trotz nur noch mehr enthüllte.

»Unbegreiflicher Leichtsinn dieser Ehemänner!«

Da wurde sie aber nur noch stachlicher! »Sie fangen wieder an, Witze zu machen!« rief sie böse, und die Hartnäckigkeit, mit der sie von ihm wegsah, und die Unrast, die sich in Antlitz und Gestalt vermehrte, verrieten dem harthäutigen Beobachter, daß sie schon zu fürchten begann, den Panzer der Dame nicht finden zu können. »Ich bin der ernsteste Mensch, den die Erde trägt,« sagte er feierlich und fuhr fort, das lesende Auge an der jungen Schönheit zu werden, die die Unordnung der Seele so klar widerspiegelte. »Sie sind eine Blume –«

Zornig: »Eine Knospe!«

»– die gerade im Begriffe ist, sich zu entfalten. Unerfahren, unverdorben und schön –«

»Haben Sie die Absicht, mir den Hof zu machen?«

»– und wie gesagt, mitten in der Entwicklung! Das Leben einer anständigen Frau beginnt ja nicht damit, daß sie auf Bälle geht, sondern mit der Ehe. Und der Ehemann weiß das! Was weiß ein Ehemann nicht! Aber ein Ehemann ist gerade, weil er alles weiß, auch unendlich sicher. Ja, ich wage zu behaupten: er frönt geradezu seiner Sicherheit! Ich gehe jetzt einmal in die Berge, denkt er sich hochgemut –«

»Wieviel Bäder haben Sie schon?«

Diese unbeschreiblichen Augen! »Zweiundzwanzig!« sagte er liebenswürdig. Aber das Entzückendste an dieser Frau war ihr Haar. Nicht blond, nicht brünett, umgab es das entschlossen geschnittene Gesicht mit einem fast buhlerischen Dämmergold, sodaß der Zusammenklang von Haar und Auge einen Himmel von Freuden vorspiegelte, geistigen und sinnlichen, die von dieser schlanken, unüppigen Gestalt gewährt werden könnten. »Denkt er sich überlegen, denn eigentlich will er gar nicht in die Berge gehen! Er bliebe viel lieber zu Hause! Aber justament! Er kann sich Abwesenheit leisten! Glauben Sie mir, der tiefste Genuß, den sicherer Besitz gibt, besteht darin, daß man es wagen darf, ihn zu verlassen. Daß man sich sagt: jetzt gehe ich einmal. Bleibe nur schön da, ich komme schon wieder, und unterdes bist du noch tiefer daraufgekommen, wie abhängig du von mir bist.«

»Und das alles« – mit herrischem Zügel zwang sie sich zu scheinbarer Ruhe zurück, fühlend, daß es nur noch zweierlei gab: sich verstellen oder verraten! – »hat Georg ganz genau bedacht, als er heute morgen in die Berge ging!«

»Was Sie für eiskalte Hände haben!« sagte er heiser. Ganz plötzlich hatte er ihre Hand ergriffen; »eisige –«

Ihr Herz klopfte zum Springen. Das war ihr noch nicht vorgekommen! Wo, um Gotteswillen, begann die Pflicht, einem solchen Mann eine Ohrfeige zu geben? Oder wo endete, um Gotteswillen, die Pflicht, zu tun, als ob nichts geschehen wäre?

»Antworten Sie!« befahl sie und entzog ihm die Hand ohne Wimperzucken. Er war in Unordnung geraten und sah sich genötigt zu bremsen. »Ich schwöre, daß er dieses Raisonnement angestellt hat! Jeder Ehemann stellt es an!«

»Und das wissen Sie, weil Sie nie verheiratet waren!«

Er lachte diabolisch. »Die Ehe zwischen zwei, die sich lieben, ist im Anfang, ein paar Monate, sagen wir sogar: ein paar Jahre lang nichts anderes als ein – pardon – Verhältnis. Was an der Ehe Ehe ist, das Sichineinanderleben der zwei Persönlichkeiten zu einem Zweckleben, – Heim, Kinder, gegenseitige Hilfe, geistige Vermählung – das stellt sich, wenn es überhaupt je dazu kommt, erst –«

»Nach den Flitterwochen ein!«

»Flitterwochen!« Das Wort tat ihm weh. »Nein! Nach –«

»Dem Rausch?«

»Sobald es ausgemacht ist, daß die zwei aneinander keine Überraschungen mehr erleben können! Mit der Gewohnheit.«

»Und deshalb« – und nun war ihre Stimme gezähmt, kein Ton mehr verriet, wie voll tobender Angst das beleidigte Herz da drin schlug – »ist also, solange die zwei sich noch ohne alle Gewohnheit lieben, immer die Gefahr da, daß der eine oder der andere –«

»Der eine und der andere!« Sein Auge wurde willenlos, lüstern. Diese prachtvollen, noch ganz mädchenhaften Schultern. Dieser strenge, makellose Hals! »Gefahr ist nur solange da, als die Phasen des Liebeslebens jeden der zwei inneren Organismen zerwühlen. Stellen Sie sich vor« – er rückte um eine Spanne näher zu ihr, drehte sich so, daß er restlos ihr Profil beherrschte, das von ihm weg hinaus gewandt war ins große Licht, – »Sie wären heute in problematischer, – in negativer Stimmung! Irgend ein Manko in Georg hat Sie erschreckt. Oder irgend ein Plus in Georg hat ein Manko in Ihnen bloßgelegt. Oder – umgekehrt. Nun säßen Sie da – ja, wie soll ich sagen? Sobald es der liebenden Seele aus Eigenem nicht mehr möglich ist, eine offenbar gewordene Disharmonie aufzulösen, beginnt sie unwillkürlich zu hassen! Haß erschafft in Sekunden ein Vacuum. Und Leere ruft nach Erfüllung! Ohne lange Kritik. Und nun säßen Sie da –« ah! wie diese zarte Brust wogen, ja hochgehen konnte! – »und es säße, sagen wir, ein bildhübscher Ulanenoberleutnant –«

Da lachte sie ungeniert hochmütig aus.

»Eben deswegen!« Er lachte auch, aber anders; jeden Zug des entflammten Gesichts in kaum erträglicher Spannung. »Nicht ein alter, hinkender Psychoanalytiker, sondern ein blutjunger Mensch, der weder weiß, was Georg und ich wissen, aber darum von der Frau noch viel mehr will, als wir wollen, – weil er die Grenzen der Möglichkeit noch nicht kennt, die ihrer Natur gesteckt sind.

Und dieser junge Mensch da redet nun zuerst vom Himmel, wie er so schön blau ist, vom Gras, das so frisch grün ist, und vom Wald, der so eigentümlich geheimnisvoll ist, – lauter Dinge, die jedes Kind sagen kann. Dann aber, plötzlich und übergangslos, ja meuchlings, spricht er davon, daß er Sie liebt, lange schon, Jahre lang liebt, ohne daß Sie es wußten. Und kaum hat er das Wort »Liebe« ausgesprochen, fließt er auch schon über von Liebe, und nun sage ich gar nicht –«

»Sie brauchen überhaupt nichts mehr zu sagen!« Aber es klang freundlich, ganz gemütlich.

»Nicht, daß dieser neue Mensch nun eine ganz andere Liebe aufbrächte, als irgend ein anderer! Aber je heißer er Sie versichert, Sie glühend zu lieben, je wahrer er jammert, ohne Sie nimmer leben zu können, je inbrünstiger sein Knabenblick Sie anbettelt und zugleich unverschämt anbetet, desto unheimlich schneller vergrößert sich das Vacuum in Ihnen, wächst der Trotz, schafft der steigende Haß die furchtbare Gefahr des Vergleiches –«

»Zwischen dem Oberleutnant –«

»Und Georg, jawohl. Und nicht etwa, weil Ihr Verstand im Vergleiche dem Oberleutnant mehr zuerkennte als – Georg, sondern, weil Sie plötzlich wie in erleuchtendem Blitzlicht erkennen, daß nicht Georg allein die Liebe gepachtet hat, sondern daß gewissermaßen alle Männer neben ihm in beständiger Fähigkeit sich befinden, Sie im Großen so wie er, im Kleinen aber wie nur sie zu lieben, – und darum sehen Sie nun aus einmal die Liebe als etwas Allgegenwärtiges, Fließendes, Ungebundenes, Unbindbares vor Ihrem Auge entstehen, und –«

»Fallen dem Oberleutnant um den Hals!«

»Fällt Ihnen der Oberleutnant um den Hals!«

»Und ich –«

Er machte eine Pause. Sammelte das Bild ein, das geboten war: er neben dieser berückend widerstandreichen Frau – Grau neben Blau –, rundum der mosaikartige Schatten im Grün, und draußen das Uebermaß an Licht, dem sich schon gierig die Wolken näherten. »Schwören Sie, wenn Sie den Mut dazu haben« – durstig betrachtete er den Mund, der noch so wenig geküßt schien, aber es lernen könnte, wahnsinnig durstig zu küssen – »schwören Sie, daß Sie ihn entrüstet zurückstoßen, daß –«

»Ich schwöre, daß ich nicht dazu kommen werde, ihm soviel antun zu müssen.«

»Wenn er aber schwört, daß er sich nichts daraus machen wird, wenn Sie ihn abweisen, und Ihnen unbekümmert ein zweitesmal um den Hals fällt?«

Es rief eine empörte Stimme in ihr, ein Zorn und ein Abscheu sondergleichen: steh' aus und gehe! Nicht, was der Mann redete, aber daß er das redete und daß er es heute reden mußte, brachte das Blut, das schon gehetzt und gejagt war von allen Geistern des Zweifels, in siedende Welle. »Ich will Ihnen,« sprach sie mit zuckenden Lippen, in letzter Beherrschung, »die Wohltat erweisen, nicht als die Frau Ihres Freundes, überhaupt als Dame, sondern nur als Frau wie jede andere Frau Ihre Studie zu beurteilen. Ja« – und nun lächelte sie traurig, weil sie bemerkte, das habe zu pathetisch geklungen – »als ein simples Weib. Und da sage ich nur: es mag sein, daß es Unzählige gibt, die einer solchen Gefahr, wie Sie es nennen, unterliegen. Aber es gibt ebensoviele, die ihrer lachen. Zu den letzteren gehöre ich!«

»Sie tun ungeheuer unrecht daran, sich zu überschätzen!«

»Sie müssen ewig in Gefahren gelebt haben.«

Er zog das rechte Bein über das linke. »Ich bemitleide Menschen, die keine Gefahr kennen!«

»Sie hassen die Sicherheit!«

»Als Anlage, weil sie starr macht. Als Erworbenes, weil mir die Natur über jeden Drill geht.«

»Und es liegt in der Natur –?«

»Natürlich! Was ist denn fest? Bleibend? Endgültig?« Und weil sie nun wie auf den Mund geschlagen schien, und er den richtigen Uebergang zu noch eindringlicherer Beredung gefunden hatte, kam das überlegene Lächeln wieder und verzuckerte die schneidenden Worte. »Wo gibt es denn keine Gefahr? Was ändert sich nicht beständig? Welchen Satz kennen Sie, von dein Sie nicht gleich auch den Gegensatz sehen können? Es ist wolkenlos – nachmittag regnet es. Es ist Winter – morgen ist Frühling. Eine Stunde des Glücks zieht Sie zu Gott empor, daß Sie meinen, Ihre Hände ergreifen ihn. Einen halben Tag später finden Sie sich irgendeines köstlichen Gutes beraubt und fluchen ihm, weil Sie den nimmer sehen, der Sie retten sollte. Europa ist heute ein immerhin noch festes Land. In der Nacht bricht der Krieg aus und kein beharrlicher Traum flickt es wieder zusammen. Sie atmen jetzt gemächlich und sind um zwölf Uhr eine Leiche. Reich sind Sie – abends kracht die Börse. Sie kennen Ihre Mutter als eine Heilige, und morgen vergiftet sie Ihren Vater. Aber auch ohne das Mittel der Zeit zur Hilfe zu nehmen: sagen Sie mir etwas, das wahr ist. Absolut wahr ist!«

Alles verwirrte sich!

»Etwas, das vollkommen offenbar ist!«

Alles verdunkelte sich!

»Etwas, womit Sie ganz fest rechnen können!«

Aus wahrhafter Todesangst heraus: »Ich selber!«

»Sie selber! Schwören Sie mir, daß Sie heute genau so sind, wie Sie gestern waren!«

Ein Teufel ist er! Ein Teufel!

»Daß Sie sich vollkommen schleierlos kennen für alle Zukunft.«

Sie preßte die Hände zusammen.

»Daß nichts Wunderbares, Rätselhaftes, Geheimnisvolles in Ihnen ist!«

Sie zitterte am ganzen Körper!

Aus seinen flackernden Augen aber lachte die Freude des Triumphes. »Sie sind überzeugt davon, Georg besser zu kennen, als irgend einen anderen Menschen. Wenn ich frage: warum? werden Sie antworten: weil ich ihn liebe. Wenn ich Ihnen dawider sage: gerade deshalb kennen Sie ihn schlechter, als jedweden anderen Menschen, werden Sie widersprechen, den Widerspruch aber nicht beweisen können! Schauen Sie sich doch diese Tanne an! Hier ist die Wurzel, da ist der Stamm, deutlich erkennen Sie Ast um Ast, Rinde, Bart, Knorpel, auch den Gipfel. Nichts kann es Eindeutigeres geben, als diesen Baum. Eine Tanne. Abies. Aber die Wurzel braucht Erde, der Stamm Raum, Licht und Luft. Man kann einen Baum fällen, zu Holz verarbeiten, im Walde verfaulen lassen, – diese und tausend andere Möglichkeiten und Eigenschaften spricht er selber handfest aus. Aber« – und nun wagte er es, noch näher zu ihr hinzurücken, so, daß er den Duft ihres lodernden Menschen erhaschen mußte – »aber: Sie wissen nicht einmal, ob er lebt oder nicht! Ob er trag und gemußt aus seinen Bedingungen hervorfließt, oder ob er daneben oder darüber aus eigenem Lebenswillen sich bestimmt! Ja, um keinen Hauch wissen Sie mehr von ihm, als was er selber sagt, indem Sie ihn sehen, anfühlen und riechen. Ist es Ihnen denn nie ausgefallen? Man sitzt unter einem Baume, fühlt sich aufgehoben und geborgen, weil man empfindet, daß es etwas Einfacheres gar nicht geben kann. Da kennt man sich aus wie im primitivsten Zuhause. Da herrscht man. Aber auf einmal ist man –«

»Nein! Ich bin gar nicht erstaunt! Nicht im Geringsten!« Verzweifelt rief sie es aus, ihre Gestalt bebte unter dem Damoklesschwert noch viel schauerlicher Ahnungen und wollte sich wehren.

»Aber – entsetzt! Was diese Wurzel da unten im Dunkel eigentlich treibt? Was dieser Stamm da im Anblick der Runde – sie sei begrenzt, wie sie wolle, rund ist sie doch! – sich denkt? Und was der Gipfel, der die Symbole des Aufstiegs, des Lichtes, der Ueberragung und, in gewissem Sinne, auch der Einsamkeit trägt und überall getragen sieht, fühlt? Kurz, wie dieser eindeutige Baum, den man an Länge, Dicke, Breite messen, dessen Aeste man zählen, dessen Umgebung man auf Kilometer rundum wissenschaftlich bestimmen kann, – was dieser Baum plötzlich für eine unnahbare, unbegrenzte, ins Unendliche der unergründlichen Ursachen, Tätigkeiten und Ziele hinaufwachsende Unbekannte wird? An die man mit aller Liebe, allem Verstände, allem Verständnisse nicht heran kann, weil sie – ein eigenes Ich ist, ein eigenes Wesen?«

Mit einem Ruck war sie aufgesprungen. Fort! Fort! Fort! »Und wie so ein Baum, wollen Sie natürlich sagen,« – sie ging so rasend schnell, daß er ihr kaum folgen konnte – »ist ein Mann?«

»Ist ein Mann!«

»Als ob von einer Frau nicht ganz dasselbe –«

»Natürlich!« Siegreich lächelte er. »Das war ja zu beweisen!«

»Gar nichts ist bewiesen!« Gestachelt, von Furien gehetzt, jagte sie über den Weg hin, keine Fiber im Innern noch unbeschädigt. »Alles nur Worte, die man so oder so –«

»Alles ist eben so oder so!«

»Es ist eine Krankheit, die Welt so zu ent–«

»Ent–?«

Leichenblaß, das Gesicht verzerrt von der Pein ihrer Ohnmacht. »Entkernen! Es gibt ein Ja und ein Nein!«

»Und zwischen beiden sind wir!«

»Warum sagen Sie das?« Außer sich stampfte sie in den Boden. »Was hat es für einen Sinn, das zu sagen? Warum sagen Sie es mir? Den Zweck davon möchte ich wissen!«

Mit Wollust genoß er das Bild der Qual, die er eingeimpft, den Anblick der Flamme, die er entzündet hatte. Und wie er den hilflosen Haß im Gesicht sah, das vor ihm brannte, wurde der Zug um seinen Mund hart, die Wonne der Rache, die er an allen Unschuldigen für alle an ihm Schuldigen übte, eroberte das ganze Gesicht, straffte die Gestalt, färbte den Ton seines Worts. »Ich bin ein Mörder,« antwortete er unbewegt, das Auge voll in das ihre versenkt »und meine Arbeit ist: Häuser untergraben, Felsen zersplittern, alles Feste auflösen, Grenzen beseitigen, Zäune niederreißen, Sicherheit rauben, überallhin, wo die träge Ruhe ist, die tätige Gefahr setzen, die Eitelglücklichen erschrecken. Glück überhaupt vergiften –«

»Adieu!«

»Nur noch einen Augenblick!« rief er hell auflachend; »einen Satz noch!« Aber sie kehrte nimmer um. Fest und gemessen schritt sie den Weg, den sie mit ihm gegangen war, zurück. »Lieber Freund Georg,« lispelte er, nachblickend, wonnig, und wartete, bis sie in der Biegung des Waldes verschwand. Aber sie mußte den schadenfreudig zufriedenen Ton dieses Wortes gehört haben! »Du mußt ruhig sein!« befahlen ihr alle Stimmen des aufgerüttelten Inneren, das wie ein zerstörtes Uhrwerk rasselte und federte und nur unklar erriet, daß seine Zerstörung die übertriebene Wirkung einer Ursache war, die hämisch darüber grinste. »Du mußt dich wieder sammeln und neu aufbauen!« Und schon stiegen die angeflehten Geister des Willens hernieder ins zerrissene Herz und wollten das Werk beginnen. Und gerüstet ließ sie sich, zurückgekehrt unter den Baum, wieder nieder. Aber auf einmal geschah es, daß der bebende Mund, jeder Fähigkeit zu gehorchen, nun bar, ein einziges Wort laut aussprach, es hieß »Georg« – und als dieses Wort, angestaunt von den erschreckten Sinnen des Ohrs, widerspruchslos verhallte, sprach der Mund fest entschlossen noch weiter und lauter in den Wald hinein: »Eitel bist du, Georg!« Und damit war die letzte Hemmung gefallen! Wie ein gierig seit Stunden genährtes Feuer stieg der Trotz, der Mut, die bewußte Auflehnung aus dem Herzen hervor, alle Besonnenheit fressend, jede Gerechtigkeit ermordend, – dahin war sie nun, die erste Freude am Baum, die der Mörder geschändet hatte, in die Winde verstreut sein verständiger Trost, alle Ruhe vertan! Wie der Baum war der Mann! Ja, das war das Ergebnis! Wie der Baum stand er da, scheinbar ein offenes Buch, voller Einfalt des Wachsens, voller Stärke des Seins, allen Himmelsrichtungen gleich hingegeben, keine Gefahr richtig fürchtend, allen Liebe verheißend, anziehend, festhaltend, bergend und tröstend alles – aber unabhängig von allem, was sich an ihn lehnte, und am unabhängigsten vom Abhängigen! So war es! So ist es! Verächtlich fast stieß sie es hervor, wollüstig sprach sie es aus. Ja, jetzt mußte alles heraus aus der durchwühlten Brust. Alles, gar alles! »Er begnadet mich und sonnt sich in der eigenen Gnade! Er schmückt sich mit mir, und glaubt, daß er mich schmücke. Er liebt meine Einfalt, denn sie zeigt seine Weisheit! Er ist gütig mit mir, denn den Ueberlegenen krönt Güte! Oh! Wenn er jetzt da wäre!« Nicht mehr imstande, nur die äußerste Ruhe zu wahren, sprang sie hervor aus der dunkeln Nische, floh sie die Dämmerung, schritt sie wie im Fieber hinaus in das fließende Licht. »Und nicht mehr ein Wort, keinen einzigen Hauch dieser Erkenntnis würde ich ihm verschweigen! Das ist allein nicht zu tragen! Er muß sich verteidigen dagegen. Alles sich sagen lassen, was gegen ihn spricht, heute noch. Denn ich weiß nichts dawider, – verteidige dich selber, werde ich ihm sagen, ich gehe zu Grunde, wenn du es nicht sofort tust. Sogleich! Ich kann alles ertragen. Nur das nicht. Ich verlange von dir, daß du ohne lange Ueberlegung, sofort –«

Da hielt sie jäh inne. Erbleichend! Da oben im Weg über die Blösse ging Georg. »Georg!« hauchte sie, obwohl sie schreien wollte. Und noch einmal: »Georg!« Wie die Flügel einer stürzenden Taube preßten sich die Hände auf die tobende Brust, denn jetzt, da sie ihn sah, stand es fest, unerbittlich und unzweifelhaft fest: ich liebe ihn gar nicht mehr, nein! ich liebe dich nicht mehr, wahr war es, sie liebte ihn nimmer! »Georg,« rief sie ein drittesmal. –

Aber der Mann oben im Weg war nicht Georg! Georg kam in diesem Augenblicke etwa fünfhundert Meter über ihr aus dem Walde in den Almboden heraus und blieb ausrastend stehen. Der freigewordene Blick wollte soeben die Weite begrüßen, die nun aufgetan war, wurde aber abgelenkt von der Gestalt einer Frau, die, vom Gebirge herabkommend, auf dem schmalen Steg ihm entgegenschritt. Plötzlich machte auch diese Gestalt Halt. Das Gesicht war noch nicht zu erkennen, ein breiter Strohhut beschattete es. Aber Georg sah sie kaum wieder in Bewegung geraten, den rechten Arm, der vergnüglich den Stock führte, den linken, der einen mattgelben Sweater schwenkte, als er überzeugt vor sich hin sagte: »Klara.« Ein Strahl heißer Freude blitzte in seinem Auge auf, eroberte es, und ohne zu wollen, begann er zu laufen. Die Wege des Herrn sind sonderbar, zuckte es noch durch sein Hirn, und dem Verhängnis, das notwendig ist, entrinnt man nicht, – da jauchzte schon der Ruf hellen Jubels zu zu ihm herab: »Georg!« – und er sah in ein Antlitz voll köstlichster Wonne.

Fünf Minuten später redeten die zwei, einträchtig nebeneinander im Moose sitzend, genau so miteinander, als hätten sie sich gestern, nicht aber vor fünfviertel Jahren zum letztenmal gesehen, und setzten nun genau dort fort, wo sie gestern aufgehört hatten. Alles war in der ersten Sekunde des Wiedersehens wieder da, was sie von Anfang an und ohne jede Störung durch Trennung oder zu tiefes sich einander Verschenken geschaffen hatten und nun an die zehn Jahre lang unangefochten besaßen: die uneingeschränkteste Vertrautheit, die, wie zwischen Bruder und Schwester, durch keine Mauer des Geschlechts gehemmt war; die gegenseitige klare Illusionenlosigkeit gegenüber ihren Naturen und deren Grenzen, wie sie nur ein lange verheiratetes Ehepaar, das sich wahrhaftig liebt, zum Sieg über die gegenseitigen Enttäuschungen führen kann; aber auch der ungeminderte gegenseitige Reiz ihrer Persönlichkeiten, die durch gleiche Anlage, weise Kunst oder gütigen Zufall es zustandegebracht hatten, sich unentwegt anzuziehen, diese Anziehung aber im normalen Erlebnis der Liebe nicht aufs Spiel zu setzen. Zur sicheren Beständigkeit dieses Besitzes und zu seiner unbegrenzten Weite paßte es vortrefflich, daß sie sich jetzt so lächerlich pünktlich und richtig getroffen hatten, und ebenso, daß sie gerade hier nebeneinander saßen. Tief unter ihnen die gebändigte Ordnung des Tales mit festen Häusern, Hütten, Kirchen, Straßen, Wegen und Tafeln; über ihnen die unerschöpfliche Vielgestalt und Vielform des Hochgebirgs und des unberechenbaren Himmels; zwischen beiden Welten aber sie, weder der einen, noch der anderen zugehörig, im Ausgang des Waldes, der von unten kam, und am Saume der Weiden, die von oben herabrannen.

»Ein eigener Stern ist über uns,« lachte Klara glückselig und hielt seine Hände in ihren. »Ich hoffe, dich in Samaden zu finden, da warst du nicht! Dann fürchtete ich mich, in dieses kalte Greisenbad zu kommen, – und da bist du!« Ihr Gesicht war vollkommen regelmäßig, von unübertrefflicher Reinheit und Schönheit. Er sah es!

»Tausendmal habe ich mich nach dir gesehnt,« begann sie nach einer fast andächtigen Pause des Vorsichhinschauens von neuem, und er fühlte die innige Wärme der Hände, die die seinigen drückte. »Noch vor einer halben Stunde war ich die, die ich immer bin, wenn du nicht bei mir bist: ungesammelt, zersplittert, eine Unzahl von Kräften, aber ohne Zentrum und darum mutlos, schwach und unfroh – und jetzt? Du tust mir so wohl!«

Er schaute unbeweglich lächelnd in das wunderschöne Gesicht. Dieses Gesicht, diesen Menschen kannte er ganz genau! Aber auch umgekehrt! Selten, gewiß, gab es Mann und Weib, die sich in allem, was sie besaßen und nicht besaßen, erstrebten und verurteilten, ähnlicher waren als sie.

»So schön,« fuhr sie fort und legte sich ohne jegliche Scheu an seine Schulter, »immer wieder dieselben zu sein, so oft wir uns wiederfinden. Du erlebst, wenn du allein bist; ich erlebe, wenn ich allein bin; aber über jedem einseitigen Erleben steht unverbrüchlich unsere tiefe Gemeinschaft!«

Er antwortete auch jetzt nicht! Vor seinem Auge, das in der wilden Schlucht hing, die rechts von ihnen aus dem Lawinenbruch in den Wald hinabstürzte und worin der Gischt des Bachs mit dem Wirrsal von Blöken und Stöcken und Schrofen und den hochstengligen Blumen des schattigen Herbstes kämpfte, erstanden sie alle die Oasen der ungetrübten inneren Freude, die diese seltsame Gemeinschaft mit Klara seinem Gang durch die Wüsten beschert hatte. Voraussetzungslos und niemals. genötigt, die Grundlage neu zu prüfen, auf der sie so naturbedingt nebeneinander standen, hatten sich ihre zwei Seelen stets wieder zur vollen Harmonie vereinigt, so oft sie von ihrem eigenen oder ihrer Sinne eigenen Reisen müde zueinander zurückgekehrt waren.

»Und erleben wir uns selber,« vollendete sie ergriffen, »jenseits aller von Menschen geprägten Form!«

Leise, sehr leise entzog er ihr die Hand. Aber dem Schlag ihres Herzens, das langsam, gemächlich und rastend an seiner Brust schlug, konnte er sich nicht entziehen. Und das – zum erstenmale! – beunruhigte ihn. Der Ausdruck um seinen noch immer still lächelnden Mund wurde verlegen, obwohl er sich, kaum dieser Regung der Unsicherheit bewußt geworden, fast schamhaft beschwor, um Gotteswillen doch gerade nicht vor diesem Menschen verlegen zu werden. So war es ja immer gewesen: eng aneinandergeschmiegt, seelisch und körperlich, ruhten sie oder wandelten sie durch die Welt, die dann zauberhaft schnell reich wurde an Wundern von Güte und Schönheit, – wandelten, ruhten sie, bis plötzlich die Sehnsucht nach einander in ihnen aufstieg und ihnen ein Land vorspiegelte, das ein einziger inbrünstiger Kuß zum Paradies, die endlich gewährte Umarmung zum Himmel machen mußte, – um dann im letzten Augenblick jedesmal zurückzukehren in die begierdelose Sphäre ihrer Seelen, und so das Tor zu Paradies und Himmel sich stets offen zu halten.

»Wir wollen noch gute zwei Wochen hier bleiben,« nahm sie das Wort wieder auf, nicht im geringsten erstaunt oder bekümmert darüber, daß er noch immer nicht redete. »Kannst du dir's einrichten?«

Da raffte er sich auf. Ununterbrochen während des Aufstiegs war der zähe Gedanke einem einzigen Ziel zugewendet gewesen: wie finde ich die Formel, die, was nun als tadelloser Stoff zum Bau eines fruchtbaren Lebens bereitliegt, zum Gebäude des Lebens gestaltet? Darf denn ein Mann sein Leben in der Liebe vollenden, hatte die treibende Angst noch gestern gefragt? Und heute wußte der Geist, der nur eine Nacht lang über der Idee eines Bildes gebrütet hatte, schon die entschiedene Antwort: »Ja, wenn die Liebe zum Leben selbst wird, und das heißt: wenn sie erzeugt!« An der Hand dieser endlich gefundenen Wahrheit war er heut' ausgegangen, um die Gegenwart endgültig von der Vergangenheit zu lösen, die diese Wahrheit nicht gekannt hatte, und von der Zukunft, die zur sinnlosen Gegenwart werden mußte, wenn er den bereiten Stoff nicht endlich in die eindeutig schließende Form brachte und der Grenzenlosigkeit abrang, vor der er so tatenlos wartend sich gerne bespielte. »Ich bin mit meiner Frau hier,« sagte er darum fest. »Ich habe nämlich geheiratet.«

Als hätte sie der Blitz getroffen, fuhr sie empor. »Du hast –«

»Vor drei Monaten, jawohl.«

Bleich wie eine Mauer wurde sie, und eine metallene Starrheit trat in die weitoffenen Augen. »Wenn du mir sagtest, du seist gestern gestorben und heute von den Toten auferstanden –!«

»Das versteh' ich!«

Aber wie ein Berg, der von der Höhe herab auf ein ebenes Inselchen Wiese gefallen ist und nun immer weiter preßt, tötet und quält, bis der letzte Grashalm zerquetscht ist, lag das unerhörte Wort auf ihrer Seele. »Warum schriebst du's nicht wenigstens?«

Er konnte nicht anders: jeden Zug im Bild dieser furchtbaren Enttäuschung mußte er betrachten; dieser ungeschminkten Trauer, die nicht einer betrogenen Hoffnung auf den Mann, sondern der unglaublichen Tatsache galt, daß dieser Mann dem gemeinsam gepflegten Glauben abgeschworen hatte. Und als er die fast hilflose Gebeugtheit der jungen Gestalt sah, den Schleier erriet, den das Rätsel seiner Worte über diese Augen gebreitet hatte, und den Zug von Weh um diesen Mund, der ihm soviel Unvergeßliches seit Jahren gesagt hatte, ergriff ihn ein Schmerz, dem er nicht gewachsen schien. »Ich bin, so möchte ich sagen,« antwortete er endlich, »seit drei Monaten im Begriff, dir zu schreiben.«

Nach einer endlosen Pause: »Du liebst sie?«

»Sehr.«

»Bist zufrieden?«

»Ganz.«

Noch tiefer sank das schöne Haupt! Ach! Wie oft hatten der Mann da und sie das Unergründliche ihres seltenen Gefühls füreinander zu erforschen gesucht, das nicht Freundschaft war, Liebe nicht, nicht hinderte, daß sie andere liebten, und vor dem bloßen Gedanken an Ehe spöttisch zu lächeln begann! Jetzt aber –«

»Ich habe den Entschluß natürlich ganz unabhängig von jeder Besinnung auf dich, von jedem Vergleiche mit dir gefaßt,« begann er plötzlich. »Wir zwei waren von Anfang an jenseits jeglicher Praxis, und –«

»Selbstverständlich!« Sie hob um eine Linie das Antlitz und stützte es auf die zusammengelegten Hände; denn auch das war nicht zu leugnen: mit dem Dahinsinken der Welt, die dieser Mann für sie bedeutete, tauchte die zweite, die sie bisher daneben besessen hatte, von selbst aus der Kulisse empor. Und diese war Praxis! Das wußte der Mann!

»Und wo sind wir jetzt?«

»Ich denke, genau ebendort noch, wo wir immer waren.«

»Das heißt?« Im Nu veränderte ein dankbarer Strahl das trauernde Auge, und fast atemlos sprach sie – »du meinst, daß – deine Ehe uns eigentlich nichts anhaben kann?«

»Und umgekehrt! Ich müßte lügen, wenn ich das Gegenteil sagte.«

»Gott sei gepriesen!« Alles Leben kam zurück in die Gestalt, die sich erlöst aufrichtete. Dahin alle Schwerins. Jeder Zweifel gebrochen. Alles Alte gerettet. »Es wäre anders auch unmöglich. Eine unbegreifliche Verurteilung des Bisherigen. Ein Sieg aller Form. Und eine Schlappe des Inhalts, des Geistes – der Grenzenlosigkeit.«

»Unnatürlich!«

»Unnatürlich!« Leidenschaftlich, begeistert, mit der prachtvollen Glut ihres Wütens gegen Ketten der Sitte, der Gewohnheit und Dummheit sagte sie's. Mit triumphierender Stimme. »Als ob du auf einmal ein anderer Mensch geworden wärest. Einen Schritt zurück getan hättest!«

Sein Auge war tief im Himmel drin, der sich drohend umwölkte. »Unmöglich!«

»Es wäre die grausamste Enttäuschung für mich gewesen, wenn du anders empfunden hättest!« Und jauchzend, weil nun der gefährlichste Gipfel überwunden schien, der sich dem Flug ihrer entwurzelten Seelen gegenüberstellte, nahm sie seine Hände zurück: »Das ist ja der Sinn unseres seltenen Bundes: immer weiter! Nie stecken bleiben! Vorwärts, und –«

Und da setzte sie aus. Ganz unvermittelt. Das Auge war plötzlich vom Tal gefangen worden. Nun hing es gezwungen an seinen Häusern und wanderte Haus um Haus ab. Ja: Wo wohnt diese Ehe? Und was war diese Ehe? Was war eine Ehe überhaupt? – »Schlägt es elf?« unterbrach sie, gepeinigt, gewaltsam, den Zwang dieses Blicks, dieses Gedankens. Eine Uhr schlug von unten verhallend herauf. Aber lächerlich, nun noch zu bangen! Jetzt war es nicht mehr gefährlich, zu gehen! Die Frage ist gelöst. Der Weg in die Fortsetzung geebnet! »Wenn es elf ist,« wiederholte sie gleichmütig und stand auf, »muß ich gehen. Ich soll um halb zwölf im Hotel sein.«

»Ist deine Mutter da?«

»Ja. Sie hat sich in Samaden eine Muskelentzündung geholt.« Sie hatte bereits die ersten Schritte abwärts getan und kehrte nun um. Und da sah sie: er folgte ihr nicht. Er war stehen geblieben.

Ratlos, in einem einzigen Augenblick wieder zurückgestoßen in das grausame Dunkel, starrte sie ihn an. »Du willst noch weiter hinauf?«

Sofort stieg er die paar Stufen bis zu ihr herab. »Ja, ich möchte noch ein Stück höher.«

Jeder Gedanke entsank ihr. Jedes Wort verfinsterte sich. Wie ein brausendes Lied sang das Blut in den Adern.

Und auf einmal schloß sie die Augen.

Aber ebenso rasch schlug sie sie wieder auf, und die alte, selige Gewißheit und Sicherheit jagte ihr das Rot aus den Wangen. »Wann sehen wir uns denn wieder? Du mußt es bestimmen!«

Er hörte; es sang eine Glocke, Sirenen, ein Cherub sang: du mußt es bestimmen!

»Ich bin, wie du weißt, so gut wie immer frei. Meine Mutter –«

»Nein!« Wie ein Schlag klang's; mit Eisen auf Eisen. Und voll und entschlossen blickte er sie nun an: Jetzt stelle ich die erzene Schranke auf, meine erste, und wenn du mich für einen Philister erklärst! »Ich mag die halben Wahrheiten ebensowenig wie die Unwahrheiten,« sagte er klar und fest. »Es ist mir nicht leicht, dir Adieu zu sagen, und genau so wie in dir, rebellt auch in mir der alte Trieb, gleichzeitig allem zu gehören und niemandem ganz, dagegen. Und wie! Aber gerade, weil ich weiß, wie leicht für Menschen unseres Schlags alle Grenzen verschwimmen, so lächerlich leicht, daß solche Menschen immer und überall ein doppeltes Leben führen müssen, auch wenn sie sich einbilden, ein einziges zu führen, stelle ich nun absichtlich zwischen dir und meiner Ehe die Grenze auf. Meine erste! Als ich heiratete, habe ich noch gar nicht die Notwendigkeit empfunden, dir gegenüber zu einem Abschluß zu kommen. Du warst ja weder jemand, der mich erwartete oder auf mich hoffte, noch jemand, den ich deshalb aufgeben mußte, weil ich nun liebte. Unsere Beziehung stand von Anfang an über Liebe und Ehe. Und ich war, als ich heiratete – was? drei Monate lang nachher, noch nicht so weit, um zu fühlen, daß ich mit dir zu einem Ende kommen müsse, weil du –«

Willenlos gezwungen setzte er aus. Senkte er den wehmütigen Blick auf sie und liebkoste sie damit. Nicht als das Weib, das ihm als Weib nun den Scheideweg schwer machte. Nichteinmal als die Idee des Weibes, die jeder unbewußt sucht, der rastlos von einem zum andern getrieben wird, in jedem ein bestimmtes, in keinem das wirkliche findet. Aber als die menschliche Verkörperung seines bisherigen Lebens, von dem er nun in voller Ueberzeugung Abschied nahm.

»Weil du die Inkarnation meiner Sehnsucht zu fliegen bist,« fuhr er, mit jedem Worte erschütterter, fort, »meines Triebs, die Erde durch Verleugnung ihrer Grenzen zu überwinden.«

»Und jetzt bist du –?« Sie empfand nur ganz unklar, daß das Weh, das in jeder Fiber der bloßgelegten Seele zuckte, das weh tat bis in das Geheimste ihrer Wurzeln hinab, verbrämt ward von einem sonderbar lichten Gefühl, das sie nicht nennen konnte, obwohl sie es nicht zum erstenmal empfand. Als wäre der Entschluß dieses Mannes, der so verwundete, vielleicht auch eine Befreiung der Zukunft, erschien es ihr plötzlich, als sie bewußtlos wiederholte: »Und jetzt bist du so weit?« Und dennoch verstand sie nicht, warum sie dabei so gespannt und erwartend hinausblicken mußte in den Himmel des Nordens, der mit reinstem Licht über stahlfesten Bergen sich bedeutungsvoll abhob vom Grauen und Brauen über ihr.

Er aber verstand es. »Ja! Nun bin ich so weit. Seit wenigen Tagen. Ich sehe nun ganz einfach – anders kann ich's nicht sagen – daß jetzt alles da ist, woraus man ein richtiges Menschenleben zimmern kann. Und baue ich es jetzt nicht und lasse es ungeformt weiter hinausstarren in unsern formlosen Himmel, ins Grenzenlose –«

»Wär's ein Verbrechen an ihr!«

»Ein Verbrechen an mir! Das ist freilich das Gleiche! Aber« – und mit der ganzen unveränderten Lebendigkeit seines Feuerblicks sah er sie an – »ich will es ja gar nicht begründen. Das ist nicht meine Absicht, auch nicht mein Bedürfnis. Es ist wie es ist, ich habe es einfach erlebt. Da gibt es nichts zu beweisen! Und sind wir schon – Menschen unseres Schlags! – viel geneigter dem Negativen als alle die Festen, für die es durch einen Wesensabgrund getrennt ist vom Gegenteil, – soviel muß doch Maxime bleiben: ausweichen darf man dem Positiven nicht, wenn es uns, – wo es uns wirklich erfaßt!«

Sie stand wie erstarrt. Er hat es erlebt! Werde ich es erleben? Und das Grauen vor der Sekunde packte sie, die bevorstand und unbegreiflich war wie keine andere. Einen ganzen Menschen verlieren! Den einzigen! Ja: eine ganze Vergangenheit! Ein Prinzip! – »Ich kann's nicht verstehen!« riß sie, mit aller Macht, endlich sich los und ergriff seine Hand, »und du kannst nicht verlangen, daß ich's verstehe! Aber daß nun die Zukunft –«

»Laß mich, um Gotteswillen, keine Rede halten, die sinnlos wäre!« bat er mit Tränen, mit zitternder Stimme. »Das Selbstverständliche –«

»Ich weiß es!«

»Du mußt es ja wissen!«

Und ein Haupt, das noch nickte. Ein Blick, der noch weinte. Noch einmal die Hand in der seinen …

Dann war es geschehen!

Wie ein Stein stand er da!

Der Himmel umdüstert. Der Berg wie ein Dämon. Das Tal unten finster, – und im Steg, der hinabstieg, der scheidende Strahl!

Stille, Herz du! Du Rätsel!

Und nun war sie verschwunden!

Mit einem einzigen Ruck drehte er um. Dem Berg entgegen. Vorwärts! Hinauf. Jetzt! Sofort nun! Und nimmer zurückgeschaut! Regen tropfte, Nebel schwammen. Der Spruch fiel ihm ein: Regen macht die Erde trächtig. Nebel hilft die Nässe wahren. Steine gibt's zum Häuserbauen. Bäume, daß man Dächer zimmert, Masten zimmert, Wiegen zimmert, – Särge! Brave, gute Mutter Erde! Hält die Bäume, zwingt die Steine. Gras wächst aus der Mutter Erde. Ruft die Schafe. Lockt die Rinder, – Holla! Da war er gestrauchelt! Lachte laut auf. Und erschrak. »Hat sie's gehört?«

Nein!

Weiter! Die Zähne zusammengebissen! Es scheint nur ein Schmerz zu sein, der da drinnen wehtut, aber es ist kein Schmerz! Denn da drin ist nun Einheit! Einziges, ausschließliches Feuer! Endlich! Laß es nur brennen jetzt, wachsen und steigen, und aus jeder Flamme mache Leben! Der Boden der Alm, unter dem feurigen Schritt, wurde schütter und braun. Der Hauch aus den nebelspeienden Tälern kalt. Drüben im Naßtal schüttete eine pechschwarze Wolkenwand blühweiße Güsse nieder. Draußen, ums Gamskar, spielten die lichtgrauen Flocken des Brodems. Unten, die Wälder, rundum, verjagten aus dem finstersten Tannicht die fröstelnde Buntheit der Buchen. Elend und jämmerlich floh sie vom geizigen Schwarzgrün. All dieses Starre, Tote, Sonnenlose, Unerbittliche aber spiegelte sich, rücksichtslos alle Härte entblößend, die auf Erden zu finden war, im vernäßten Fels wider, der nun, erst Block und Gerölle, dann noch grasufrige Runse, doch endlich ganz halmlose Schichtung die Weide ablöste. Doch was tat es dem Wanderer? In zwei Hälften ist das Leben gespaltet, nur die schönere heißt: Blühen. Aber sie beide vermählte das geeinigte Feuer im Herzen! Bis hierher hatte der Weg geleitet. Nun war er zu Ende. Links an ihn brandete der Aufprall des Felsens. Der Mann überlegte. Empor durch die Trümmerschlucht? Oder um den Klotz herum auf das Band, das steil links in die Höhe führt? Ein Blick in den Himmel: wird es heut' nimmer heller? – da sah er, auf der Rückkehr: sein Haus! Tief unten!

Und noch etwas: Auf dem Stein da, der das Steigende markte, einen Strauß lila Nelken. Vergessen! Nicht welk; aber welkend.

Von ihr gebrochen!

Die Hand fuhr darüber. So zärtlich! Ein Seufzer – ein Lächeln – dann wurde das Antlitz streng. Fast verzweifelnd. War's roh, war's barbarisch, die Arme weit auszubreiten, jetzt, gleich darauf, der Wonne des Lebens entgegen, und tief aufzuatmen, tief, wie noch nie, und begeistert zu rufen?

»Gertrud!« flüsterte er scheu.

Und hinein in den Fels! Die Augen glühten. Als ob die Gräue, die sich da allmählich auftat, ein goldenes Feld wäre voll goldener Aehren, und er Garben zu binden käme, endlich zu sammeln! Die letzten Büschel Gras erstürben im fressenden Stein, das Tal versank hinter der ersten felsernen Wand, und eine neue Welt war geöffnet! Grau die herrschende Farbe! Vom finstersten Schwarz, das in den Rissen und dort wucherte, wo die regellose Form sich mit Buckeln, die überhingen, an den weichenden Grund preßte, lief das Grau über sämtliche Stufen 'seiner trostlosen Leiter hinan in die taubengrauen, tischplattendünnen Tafeln des Schiefers, die wie Zaunblätter in die Luft stachen, und darüber hinaus in die Fahlnis der Wolken, die fledermausgrau durch die bleichen Räume dahinjagten. Der Fuß zwang nur Grau! Die Hand suchte Griff nur im Grau. Das Band, das mit Mühsal erklommen war, drängte wie der Weg alles grauen Widerspruchs über Blöcke, die umstiegen, Spalten, die übersprungen, Zinken, die erklettert werden mußten, gegen Süden. Im südlichen Himmel wuchs schwellend der föhngraue Mittag. Ihm erschien er wie Morgenrot! Da rann, über Kleinzeug des Steins, eine Handvoll Wasser. Die Perlen des Gischtes waren noch weiß, die Blasen im Hohlwerk der Tümpel schon grau, und das Fließende, Kalte, das über die glatteste Nässe glitt, wie der Nachlaß der Nacht. Aber ihm war es nur Kraft! Voller Macht fühlte er sich; ihn konnte nichts mehr verwunden! Dort, sieh! – Helles Rot? Ein Findling? Oder Eisen? Auf gelblichem – »Neapelgelb!« rief er gemütlich, obwohl ihm der Schweiß von der Stirne rann – Sockel saß ein zinnoberroter Stock. Sofort war das Grau getötet. Und wenn noch ein einziger Strahl Sonne daherkäme – er dachte es, und da war er! Ein Loch im Himmel, der Strahl glomm hervor wie aus meilentiefem Schleiergang, der Stein schrie getroffen auf und ahnte die Freuden des Regenbogens – da war das Loch wieder zu!

Aber er lachte nur! Andere Hindernisse! Eine drohende Wand stellte sich auf. Wurde spielend bezwungen. Hinter ihr brüllte ein gähnender Schlund, wild wie das Maul eines Kraters. Hinunter, und drüben wieder herauf? Wurde geduldig vollbracht. Und jetzt zeigte der Gipfel, der als grauer Sessel endlich emportauchte aus der Unform der umgebenden Dinge, schon selber den richtigen Weg! Nur besonnen! Noch einmal hinein in das spottende Grau, in die Wirrnis der Formen und Linien, wo kein verschönendes Licht war, kein Winkel gerade saß, keine Rundung erlaubt schien, alles den immer heißer pulsenden Trieb zu gestalten verhöhnte und dennoch kitzelnd den Trieb noch mehr stachelte. Hinein! Ein Bild muß erlebt sein! Aus Grauem springt Helles, aus Chaos die Formel, aus Willkür erzeugende Ordnung, wenn das Herz, das erfindet, nur richtig erzittert! »Und weiß Gott, bevor dieses Bild nicht vollendet ist« – Wort für Wort rang sich der Steigende keuchend und dampfend heraus aus der Brust – »fix und fertig ist, so, daß nur der Nagel noch fehlt, um es auf die Mauer zu hängen, führe ich dich nicht nach Florenz! Und in Rom, kann ich dir sagen« – zwei teuflische Platten, eine prall über der anderen, grinsten noch tückisch – »wird der Greis neu gemalt! Den du nicht magst! Gerade in Rom, vor dem Riesen! Der nicht Raffael heißt. Denn jetzt werde ich« – ein Zug noch! – »dich lieben!« – ein Ruck noch! – »dich lieben« – ein Jauchzer – »dich lieben –«

»Gertrud!« schrie er, daß es rings widerhallte wie Ruf neuer Schöpfung, – er war auf dem Gipfel!

Die Welt! Ausgebreitet!

Leise verebbte, während er schaute und staunte, die Flut, die so hitzig gebrannt; der Sturm, der so rüttelnd erfaßt und getrieben hatte. Alles war gut nun! Fest und ganz rein! Es brauchte sogar über nichts mehr nachgedacht werden, alles, was da war, und alles, was erst erstrebt werden mußte, verstand sich nun völlig von selber! Aus den Zügen, die im heftigen Anstieg vom Herzen her gequält worden waren, sank die Spannung; lächelnd entwich der Krampf des Kampfes, den die Seele seit Wochen, nichts wissend, seit gestern bewußtest gekämpft hatte. Und Ruhe zog ein. Sicher, so, als ob dieser Berg seine Vergangenheit wäre, die er nun endlich bezwungen hatte, weil es ihm gelungen war, sie aus der Gegenwart der prüfenden Stunde heraus zum brauchbaren Sockel der Zukunft zu machen, stand er auf der Krone des Bergs. Und ebenso zweifellos beherrschte der Blick die Runde, weil nun der Sinn und das Gesetz erworben waren, darin ihre unerschöpflichen Räume und Zeiten zu fruchtbarer Zukunft gestaltet werden konnten. Und erweiterte und festigte sich immer noch mehr, je länger er schaute. Die Nebel waren nicht verwallt, die Graunis nicht hinweggezogen. Der Regen rieselte noch. Die Gipfel und Grate, die Bögen der Gletscher im ungeordneten Durcheinander von Dämmer und Frost hatten keine Sanftmut und Milde. Nicht das Bild einer sinnklar geordneten Welt zeigten sie, sondern das Sinnbild der Wiederkehr jenes Streits, den die granitenen Felsen unter den Gletschern noch Tag für Tag streiten für das Sein jedes siegreichen Morgens. Aber gerade dieser Anblick tat dem Schauenden wohl. Er enthüllte vernehmlich das göttliche Gesetz von der Pflicht zur Entwicklung. Auf die Höhe allein kam's nicht an; auf die lichtesten Phantasien von Helle und Klarheit noch weniger. Aber erfahrener Wille war alles! »Ist das Speik?« fragte er plötzlich, leise. Von der tischbreiten Felsplatte, auf der er stand, rann mäßig steil Schutt und Rasen hinab zur buckligen Fläche, die den Gipfel umsäumte. Diese war nicht größer, als daß ein mittleres Haus auf ihr Platz gehabt hätte, und unvermittelt führten von ihren Rändern die unzähligen Runsen und Einschnitte durch Felsen und Grasbusch zu Tal. »Das ist Speik«. Eifrig kletterte er ab. In drei Schneetümpeln, darauf die neuen Flocken zerschmolzen, standen die niedrigen blauen Blumen; kalt, aber von unübertreffbarer Tiefe der Farbe. Während er sorgsam pflückte, wandelten sich seine Züge zu den innigen eines Jünglings, dessen Brust das Geheimnis der ersten, wahren Liebe erfüllt. Vor dem Auge, das die Blumen liebkoste, stand die Stunde, in der er, wiedergekommen, Gertrud in die Arme schließen würde, liebreicher, als er es jemals getan, und aus der Fülle edelster Lust, die sich dieser Vorstellung ergab, tauchte, unwägbarer Beziehung voll, das Bild des vergessenen, welkenden Straußes von lila Nelken auf, dieses Zeichens auf dem Felsen im Weg. »Für dich einen Strauß, Gertrud!« flüsterte er, noch leiser, und genoß von Blume zu Blume seliger die Gewißheit dieser Liebe, schöner die Freude auf das Leben aus dieser Liebe. »Da ist Rauthe! Wahrhaftig!« Goldbraun saßen die winzigen Knöspchen am seegrünen Schaft der seltensten Blume, die aus dem Rand des Abgrundes emporschoß. Fein bedachtsam verfuhren die Hände. »Und hier« – das rief er wie ein Kind, dem das erste Edelweiß in den Weg kommt – »noch Edelweiß!« Ueber einen Hemmklotz hinüber! Hier, zwischen Halm und Halm standen vier halbwelke Blumen. Aber schon im Uebersteigen hatte das begierige Auge zwei große glänzende Sterne tiefer unten entdeckt. Hinab! Und als er sie, geholt, zu Speik und Rauthe gab, lachte er stolz: »Das ist für heute der richtige Strauß!« Und stieg noch tiefer. Und da, auf bequem ebenem Fleckchen verblichenen Bodens, blühte ein ganzer lachender Garten! Die kleine, blaue Glockenblume neben dem Alpenmohn und das Edelweiß neben der Rauthe. »Was für ein Wunder!« Lieblicheres war nicht zu denken! Sanft und demütig standen sie alle in der unwirklichen Wildnis, die Himmel und Erde ringsum wieder aufgeworfen hatten. Der ewige Bestand des reinen Herzens redete inbrünstig aus ihnen. Mut hieß das undurchdringliche Blau, Kraft das Gelb, Sicherheit das verbrämte Gold, und Wahrheit das Weiß mit dem samtenen Schleier. Für einen Strauß an die Brust der Geliebten wären schon lange genug Blumen in der freudigen Hand gewesen. Aber die dankbare Wonne, die wie ein Schein rechter Jugend im Antlitz des Gebückten stand, trieb noch weiter, von der einen zur anderen. »Wie liebt sie euch! Wie liebe auch ich euch! Ja! Noch ein Aestchen Steinbrech! Und da, diese Aster auch! Und hier« – vorsichtig steckte er die Hand aus, über den Grasrand hinaus in das Reich der Luft – »noch dies allerschönste« – da wich, wie mit Peitschenknall, der Fels unterm Fuß – und Mann und Fels hinab in die Tiefe!

»Halt!« schrie ein wahnsinniger Schrei durch den Lärm. Da blieb der geschleuderte Leib, gute Zwanzig Meter unter dem Rande, auf lächerlich schmalem Band platschnassen Halms hängen über neuem, noch wilderem Abgrund. Ein Latschenstämmchen, keinen halben Dezimeter dick, hatten die suchenden Finger in der Todesangst erhascht.

Daran hing er nun. Die Knie verzweifelt gestemmt auf die glitschige, erdlose Nässe, die linke Hand ausgereckt nach der Rettung eines Riffs, eines Griffs, die rechte am Stämmchen. Purpurn und strickdick geschwollen, zum Bersten, standen die Adern im verzerrten Gesicht, denn die Augen, dem weitoffen grinsenden Antlitz des Todes gegenüber, sahen mit dem Fetzen eines Blicks zwischen den zuckenden Schenkeln – das Tal und das Haus!

»Herrgott!« – jetzt hatte die linke Hand ihren Griff! Nun den Oberkörper ganz langsam erheben! Auf den Griff alle Schwere!

Aber es ging nicht! Das Tal und das Haus, wie zwei Fernen von teuflischer Unerreichbarkeit, höhnten das Auge, das Auge den Glauben! Der Griff ist zu niedrig! Der Griff ist –

In diesem Augenblick glitt das linke Knie aus, wie am Hanf eines Glockenseiles riß die rechte Hand wütend am Holzstamm, die linke mußte dem Griff nun vertrauen, ein Ruck, und ein Riß mit dem Mut des va banque – und es ging!

Weiß wie Kalk, mit Gliedern, die grauenvoll bebten in zuckenden Krämpfen, auf allen Vieren, langsam, ja schleichend, doch lautlos, als lauere der Tod leicht mit noch hundert Abgründen dem entsetzten Fuß auf, kroch der Gerettete zum Gipfel zurück. Fiel, oben angelangt, zerfetzt und zerschlagen, mit Blut an der Stirne, am Knie, an den Händen, ins Gras, dem der Schauer von Regen und Schnee wieder grau um die Schäfte strich. Und schloß, zum Tode erschöpft, die Augen. Es war um dieselbe Sekunde, in der Gertrud unten das Haus verließ. Seit zwei Stunden sollte er zurück sein! Jetzt ließ sie die Angst nimmer zwischen den schweigenden Mauern. Niemand hätte im bleischwer Daliegenden den Mann noch erkannt, der vor Minuten mit knabenhaft glänzender Freude die Blumen gepflückt. Aber auch niemand in der Frau, die jetzt hinausfloh ins fröstelnde Naß vor dem Waldsaum, das frohe Geschöpf, das noch gestern die Anmut der Welt übertroffen. Es war vier Uhr. Der Blick, den jede Ruhe verlassen hatte, lief ratlos die Gipfel ab, die aus den Nebeln noch herausragten; durchbohrte die Nebel, die Gipfel verhüllten. Wo war er? Was tat er? Wie könnte ihn der rasende Herzschlag, der die Angst immer hilfloser mehrte, antreffen, anrufen, bewegen, zu kommen? Zum hundertsten Male rannte sie den Weg hinan, der zu den Windischgrätzhöfen führte, denn in diesem war er morgens verschwunden. Stand dann stille, durchbrach mit der Leidenschaft des immer wieder getäuschten Auges das Dunkel des steigenden Walds, bezwang mit gerüstetem Willen die Geräusche des fallenden Regens, der knarrenden Aeste, des seufzenden Bodens, um Stille zu schaffen dem Hall jenes Tritts, den sie flehend ersehnte.

Aber auch jetzt nur vergeblich! Kein Zweifel: es war ihm etwas geschehen! Er hat sich verirrt! Kann den Weg nimmer finden! Gehetzt von der Fülle der Phantasien, die vergeblich erwartetes Leben zum schaurigsten Tode verstümmeln, flog sie den Weg zurück, am Hause vorbei, auf das Nachbarhaus zu und trat entschlossen über die Schwelle. Der Mann war da, vor dem Herde, allein, und aß aus der Pfanne geschmalzte Kartoffeln. Das sei freilich schwer, sagte er behaglich; zu erraten, wohin der Herr gegangen sei, wenn man nicht annähernd wisse – wohin er eben gegangen sei! Die Berge rundum? »Ah! Naa!« – er leckte das Schmalz vom Bart auf, in dem es hängen geblieben war – »dö Berg sein nit gfahrlich!« Die Wahrscheinlichkeit spreche dafür, daß der Herr auf dem Graukogel oder dem Hüttenkogel sei, »weil er vom Haus auf in Berg eini ist.« Und diese zwei Kogel« – er lachte mit der ganzen Unempfindlichkeit von dreißig bäuerlichen Ehejahren – »er werd schon kemmen!«

»Aber ob man nicht« – heiser und schaudernd sprach sie es aus – »eine Rettungsexpedition ausschicken sollte?«

»Auf 'n Graukogel,« antwortete der Mann, noch immer unbewegt, »ist, so lang i denk, lei oan Oanziger abergfallen. Vorigs Jahr der Doktorsohn.« Und von neuem begann er zu essen; die Pfanne hatte keinen Grund! »Und wenn selbigs gschehen war, nutzet a Rettungsexpeidition a nix.«

Da ließ sie den Nachbar. Lief zum Hause zurück. Stellte sich im Garten auf, blickte scharf empor und machte sich Mut. Er muß kommen! Er wird kommen! Und Alois, der seelenruhig daneben ein Beet umgrub, bestärkte sie darin. Er kannte den Herrn seit zwanzig Jahren, und in zwanzig Jahren war dieser Herr mehr als oft zu spät gekommen oder – ausgeblieben! Und übrigens – besonders tief senkte er die Schaufel in die prachtvoll schwarze Erde – »ist der gnä' Herr bis fünfe nicht da, dann geh' ich ihn suchen!«

Aber auch das klang nicht fest. Verzweifelt wandte sich das Haupt nach der Helle hin, die vom freien Wiesensteilland her, wohin sich der Garten gegen Norden verlief, die bedrückenden Schleier der Bäume erleichterte. Wer sang da? Und schon ging sie der Helle entgegen. Erst zog sie der Klang auf die Straße hinab, die unter dem Hause durch's Steilland ins Wildbad hinabführte, dann bog sie links in den Seitenpfad ein, dem Reitbauerhof zu. Kinder sangen. Fünf oder sechs, – es konnten aber auch zehn sein. Viel schneller schritt sie bereits. Der Hof stand ursauber da. Ringsum Wiese, die im jauchzenden Grün ihres Herbstkampfes grellfarben lachte; in den kleinen, gefaßten Fenstern die niederströmende Fülle der Pelargonien, Nelken und brennenden Liebe; über'm Kamin die ewige Fahne von blaugrauem Rauch. Dem Naßfeld zu ging ein Altan aus dem braunen Blockwerk, ein geräumiger Boden, den das Dach überwölbte, und auf diesem Söller – hinter ihnen die Blumen, die wie eine feurige Zeile die Brüstung begleiteten – sangen die Kinder.

Im Pfad stehen geblieben, an den Zaun gelehnt, sah die junge Frau nur die flachsgelben Scheitel, und hie und da ein patschiges, schmutziges Händchen, das zwischen Balken und Balken der Altanwand mit trommelnden Fingern das Lied begleitete. Und hörte das Lied, aber erkannte es nicht. Die Kinder sangen nicht mehr, als was der Schullehrer sie gelehrt hatte: Gott erhalte! Stille Nacht! Fuchs, du hast die Gans gestohlen, aber sie erkannte keines dieser Lieder, auch wenn das eine noch so unvermittelt oder falsch in das andere überlief. Sie fühlte nur die Müdigkeit, die sie tief in den nassen Zaun hineinpreßte, umfangen werden von Tönen, deren Herkunft ebenso rätselhaft war wie das Ziel, nach dem sie strebten. Und zuckte sie auch jedesmal aufmerksam zusammen, wenn der Hahn in das Lied hineinkrähte, oder ein Weib, das wohl die Mutter der Kinder sein mochte, hinter der Blockwand ein lautes Wort, rief, oder der Klang des Dreschflegels vom entfernten Tennen her die Melodie unterbrummte, – alle Töne verschmolzen zu einer einzigen Woge von Schönheit, umstrickten sie immer zwingender wie ein Netz aus Fäden süßesten Silbers und gaukelten ihr das stille Glück eines irdischen Himmels vor, den gute Menschen sich schaffen konnten. Aber wenn sie dann scheinbar gerettet aus der Qual ihrer Angst und zurückgebracht der Hoffnung und dem Mut zum Vertrauen, die Augen erhob, um dem Glück, das da sang, ins Gesicht zu schauen, dann zuckte in der Tiefe des Netzes der dunkle dicke Leib der Spinne auf, die dies täuschende Netz geschaffen hatte, die Spinne bewegte sich, kroch, lief über das Silber der schmeichelnden Fäden zu ihr, ihr zu, immer näher kam sie, vor den Händen, die abwehren wollten, fürchtete sie sich nicht, ja, nun krabbelte sie zielgerecht auf ihre Brust her, die in den Schauern des wilden Atems sich bäumte, und jetzt, angelangt über dem Herzen, krallte sie sich fest in das Fleisch und saugte.

Und nun erstand der Frau, die verloren auf der Grenze zwischen Wirklichkeit und Unwirklichkeit schwankte, die furchtbarste Qual – sie fühlte: von hier komme ich nicht fort! Zum hundertsten Male hob sie den Fuß, um zu fliehen, – da begann das allerhellste Stimmchen eines Kindes, das noch sehr klein sein mußte, einen schillernden Triller von Lalala und Lilili zu singen, und nur noch fester sah sie sich gebunden. Tausendmal sagte sie sich vor: was stehe ich noch da, wo ich doch rennen und rasen und jagen, ja fliegen sollte? Es muß ja sein, daß man die Sucher ausschickt, und ich als die erste will ihnen voran! Ja, was stehst du noch immer? Du weißt doch: die Nacht kommt, und wenn sie kommt und er ist noch immer nicht da – –

Da tat sich das Gatter im Söller auf, und über die Treppe herab kam ein Kindlein gestiegen! Und im selben Augenblick erstarrte die Gestalt der Frau zu felsernem Stein. Mit Augen, in denen urgeschaffen nackt das Licht einer ganz neuen Welt saß, einer Welt, der bisher kein einziger Gedanke dieses Herzens war zugedacht gewesen, starrte das Antlitz das Gesichtchen des Kindleins an, das sich lächelnd ihr völlig zuwendete. Und ein Feuer von Fiebern, geteilt in zwei reißende Ströme, die nun herrschsüchtig Seele und Leib durchrasten, und von denen der eine nichts war als staunende Wonne, der andere aber nichts als allerteuflischeste Folter, rüttelte sie, riß sie vom Zaun los, an den sie gekettet schien, stieß sie von neuem zurück in das Holz, zerrte mit der Macht eines Erdbebens an Gliedern und Fibern und brannte ihr endlich das flammende Mal des geborenen Bewußtseins in die schaudernden Züge. Aber diesem Bewußtsein wurde nicht Zeit gegeben, Wort zu werden oder ausdrückende Geste. Zwischen den Augen des Kindes und den Augen der Frau, die magnetisch sich kreuzten, stand plötzlich jener Mann, den Georg am Morgen mit dem weißtannenen Sarg hatte ins Tal steigen gesehen. Diesen Sarg trug er auch jetzt! »Dös ist öpper nit zu lachen,« rief er kreuzvergnügt und blieb stehen, weil er den Blick der Frau sich zugedacht hielt und der Last, die er trug, »seit elfe Vormittag probieren mir's auf a jede Modi, den Stampfer Jörg da eini zu bringen, – aber jetzt ist's ausgemacht: er hat wirkli nit Platz drein! Muß der Sepp halt an neuen schneiden!« Und nun machte er Miene, den Sarg auf die Straße zu stellen. Sein Gesicht war in der linden Dämmerung, die mit dem Rieselregen herabtropfte, nicht deutlich zu erkennen. Aber ein hellicht glühender Schimmer erschien zwischen dem schwarzen Bauernhut und dem weißen Hemdkragen, als er nun auffordernd laut, daß die schwerstehende Luft erzitterte, rief: »Kaafts mir ihn ab, Leutlen! An Sarg kann man heut oder morgen brauchen! Und i muß ihn dann nit no hoamtragen! I gib ihn billig her. Sagen mir: fünf Gulden.«

Atemlos, beide Arme wie zwei gespannte Bögen zitternd gegen den Zaun gepreßt, der sie immer noch hielt, starrte Gertrud und konnte sich nicht rühren. Aber, als nun das Kind wie ein wandelnder Schein in den Weg herabtrat und am Manne vorbeitrippelnd auf sie hinstrebte und das Händchen schon ausstreckte, und der Mann da einen großmächtigen Schritt tat, auch ihr zu, und lustig rief: »Kaaf'n Sie mir ihn ab, Frail'n!« – zerriß mit einem Schrei, der den Himmel zerschnitt, die tyrannische Fessel, entfloh die Entsetzte.

Erst tief drin im Walde kam sie zu sich. Wimmernd, wie ein Tier klagend, das einen giftigen Pfeil im Leibe trägt und nun ruhlos, vom Weh gehetzt, von Baum zu Baum irrt, um den dunkelsten Platz und den barmherzigsten Boden zu finden, darauf es sterben dürfte, stieg sie, nie stehen bleibend, den kaum noch erkennbaren Steig hinan und überwand Windung auf Windung mit der jagenden Pein des verwundeten Herzens. Ströme von Tränen, die nimmer versiegten, bedeckten das Antlitz, die Brust, die Hände, benetzten den fiebernden Schoß und den wandelnden Boden. Die Dunkelheit ballte Tännchen und Strünke und Buckel des Berges zu schwarzen, rundgliedrigen Gebilden zusammen und schoß von diesen Kugeln erobernd hinaus in die lichteren Flecken, die der herabdrohende Himmel noch bestehen ließ. Sie aber sah keine Finsternis, keine als die in der Schlucht ihres Herzens. Das ist die Strafe, die Strafe, die Strafe für den Frevel dieses Tag's, an dem ich, mein göttliches Glück nicht verstehend, es preisgab an Habsucht und Hochmut! – wiederholten in qualvollem Wechsel, des Worts nie ganz sicher und dennoch beharrend auf dem Sinn dieser furchtbaren Wahrheit, die zitternden Lippen. Die Strafe für die sündhafte Stunde, in der ich die Liebe nimmer fand, weil ich den Sinn ihrer Gnade vergaß! Und die dämonische Finsternis dieser würgenden Weisheit, die das Gehirn umso ganzer eroberte, je tückischer sie seine einzelnen Kammern zerstörte, wurde umso schwärzer und endgültiger von Sekunde zu Sekunde, je heller und köstlicher das gezüchtigte Herz alles anstrich, was es von außen umgab. Jeder Zweig, der noch schimmerte, jeder Stein, der noch blinkte, jede Flocke noch scheinender Wolke, die von oben durch die Schleier des Dunkels herabsah, verkündete wie Seele von Engeln die unendliche Schönheit des verlorenen Glücks. Alles, was dieses Glück jemals enthalten, erzeugt und vermehrt und alles, was es zuletzt noch gewesen war und der Zukunft als sicheren Besitz hatte vorweisen können, – in märchenhaftem Glanze erstand es, erschien es! Greifbar, daß die verzweifelten Hände danach langten, verklärt von den Strahlen der vergangenen Tage, ging im Schweigen des Waldes die Gestalt des Geliebten auf und erstickte die erkennende Brust im Meer neuer Tränen. Hell, sonnenvoll, umgeben von Blumen und Sommern, die das feste Herz in jeden Winter hineinretten konnte, wuchs vor den peinvollen Augen das Haus aus dem Wald empor, und die strahlenden Gesichter zweier Menschen, die sich grenzenlos liebten, erschienen im Tor und warfen den Himmel ihres Glücks auf das Haupt, das sie erkannte und getroffen niedersank. Aber mehr noch! Ein einziges Sichbesinnen der Seele, die das Maß ihres Irrtums nun einsah, und es versanken Wald und Berg und Abend und Atem der Nacht, und vor einem Paar, das umschlungen auf namenlosem Weg ging, spulte sich, göttlich erlichtet, die Rolle der Weltkugel ab, und ein Ruf jauchzte: alles gehört euch! »Oh, wenn ich ihn einmal noch finden dürfte! Einmal noch mich an ihn lehnen! Jetzt, da ich weiß, daß das Pfund, das die Liebe ist, nicht besser verwaltet werden kann, als nur eben im Lieben! Daß sie kein größeres Recht gibt, aber auch keine heiligere Pflicht, als nur eben: zu lieben! Jetzt, wenn er nocheinmal käme« – noch heißer, noch wilder, noch brennender strömten die Tränen – »wie wollte ich die falsche Scham verbannen, die mich hieß, die natürlichste Natur meines Herzens verstecken, die mir die Arme fesselte, wenn sie umschlingen, die Lippen versiegelte, wenn sie das Verlangen der einfältigen Sehnsucht bekennen wollten und die Wonne der einzigen, Erfüllung, die das Herz ganz befreit. Eitelkeit war's und mißverstandene Sendung, die mich so fälschten. Oh, – nur noch lieben, wie das Herz mir befiehlt, wie das Herz mir erlaubt, wollt' ich jetzt, da ich ahne, da ich weiß –«

Ein Blitz durch die Seele und ein Riß durch den Leib, und wie aus einer Brust, die geträumt hat, es sitzen die Geier auf ihr, und die nun erwachend den kreischenden Biß der Schnäbel im auflodernden Fleisch fühlt, hob sich die Klage des Schluchzens aus ihr. Wenn das wahr war! Wenn die Ahnung nicht täuschte! Wenn es ein Schicksal gibt, das so satanisch roh ist, ihr den Inbegriff der Liebe in den Schoß zu senken just in der Minute, in der der Geliebte – da stieß sie an einen Baum an! Der Anprall, der wehtat und ringsum jäh das Schweigen brach und das Sein der wirklichen Welt enthüllte, die außerhalb dieses nachtbangen Waldbergs noch lebte, traf sie wie ein neuer Blitz, drehte sie um. Wo war noch ein Weg? Dunkel und Schrecken rundum! Wo ging es hinauf? Wo ging es hinab? Wo war sie? Mit weit ausgestreckten Armen, deren tastende Hände die täuschende Rindenhaut der Bäume erfühlten, zwischen denen sie schwankte, stand sie wie in der Luft auf dem Boden, der ihr nimmer gehörte, und entdeckte entsetzt, daß das Hirn die lastenden Netze von sich warf, in die es weiß Gott wer zur Strafe gepreßt hatte, und neue, unheimlich klare Arbeit begann. Aber diese Arbeit war vernichtender als jede vorherige. Weiß auf schwarz, blendend wie Sonnenschrift, stand auf einmal vor den erwachten Augen die Frage wieder: es ist sechs, es ist sieben, vielleicht ist es schon acht, und du bist noch untätig und wartest. Seit Stunden hast du Zeit, ihn zu suchen, Lärm zu schlagen und Leute auszusenden, und jetzt ist es Nacht, bald schon schlafen sie alle – schrill schrie sie auf, rannte, zerrissen, gefoltert, von Baum zu Baum geschleudert, durch das Chaos der Dunkel, – ja! zuerst in das Haus zurück! – nein! lieber doch nocheinmal aufwärts! – und nun kehrte sie um und lief wieder empor, über Stock und Stein – nein, hinab nach Gastein und die Männer geholt! – und nun drehte sie wieder um und raste wieder hinab – bis sie plötzlich, von einem Fieber geschüttelt, gegen das es kein Widerstehen gab, und aller letzten Kraft beraubt, die sie bettelnd noch zusammengerafft hatte, niedersank. Und ohne, daß nur noch ein flatternder Rest von Ueberlegung in ihr gelebt und sich gezeigt hätte, hob sie das Haupt, das zerpflügt war von der Fülle des Leidens und das Bild allen menschlichen Jammers, und begann mit einer Stimme, die die Dunkelheit peitschte und zugleich beschwor, zu rufen: »Georg! Georg! Georg!« Immer wieder. In ganz kurzen Zwischenräumen, nach oben, nach unten, nach Westen, nach Osten: »Georg!« Und wenn ihr die wachsende Fülle des Tons die Augen blendete, daß sie nichts mehr sah – nur wieder und noch weher, lauter noch: »Georg!« Und wenn sie, des Auges beraubt, auch das Ohr verlor und nun nichts mehr vernahm und im Nichts selbst zu kauern schien, aus dem sie den Schöpfer anflehte, den zweiten Menschen noch einmal für sie zu erschaffen – nur heller noch, höher und lauter noch: »Georg!« Die Hände in den Schoß gelegt, aufgerichtet die Brust, und den Rücken ans Nichts gelehnt, immer nur: »Georg!« Wenn dann die Stille nach dem Wort, das so schallend ins Leere drang, noch leerer und tauber wurde, – mit vermehrter Kraft immer nur: »Georg!« Und wenn die Finsternis nach dem Schein, den der zündende Ruf in sie zu werfen schien, sich noch schwärzer und endgültiger verhallte, – mit wachsendem Glauben nur: »Georg!« Und endlich, als ihr die Kette dieser wirbelnden Schreie wie ein Kranz eiskalter, stechender Steine im Haar saß und der Stirne den letzten Funken Lebens entlockte, fuhr sie auf – ja, jetzt galt es zu sterben! – und wußte: nun rufe ich zum letztenmal: »Georg!« –

Und da wurde ihr geantwortet: »Gertrud!«

Das ist Täuschung! Höllenspott. Fest rief sie: »Georg!«

Doch nocheinmal: »Gertrud!«

Einen Schritt nur! Das Herz bricht!

Erdrosselt klingts: »Georg!«

Von oben jetzt: »Gertrud!«

Die Stimme stirbt. Tapfer sei! Letzte Kraft: »Georg!«

Von unten nun: »Gertrud!«

Ein Schrei jetzt, Verzweiflung! Barmherzigkeit! »Georg!«

»Da bin ich. Wo bist du?« Ganz nahe schon, Schritte schon, Schimmer schon, Lärmen schon, Leben – –

Und nun erwachte der Wald!

Und die Finsternis starb. Und ein Schluchzen des Jubels, und die Arme wie Klammern um den Gefundenen geworfen, die Nägel gepreßt um den Leib, der gerettet, die Hölle des Haupts an den Himmel der Brust getan, die neu wieder da war – so nahm sie die göttlich erlösende Stunde. Und so nahm er sie auch. Wer fühlte von beiden noch, wo die Liebe heißer, das Leiden bitterer und die Erkenntnis weher gereift war: bei mir oder bei dir? Wie ein einziger Mensch, nur ein Herz, nur ein Leben, umschlingend, umschlungen, bekennend, bekannt, – wie ein Pfeiler der Welt stand ihr Paar da im Walde. Kein Zweig knackte. Kein Licht glomm. Kein Laut war und kein Himmel sah nieder. Aber das Herz, mit dem Herzen zum Herzen vermählt, – zum erstenmal selig, erriet es die Macht seines Wunders. Die Tränen getrocknet. Die Schrecken verblichen. Die Zweifel begraben. Aus dem schweigenden Boden, der so urgetreu trug, stieg entbunden der Zauber des Märchens. Durch die Gänge der Tälchen, zwischen Bäumen und Felsen, ritt umwimpelt der Sangtroß der Sage. Und als wäre er weit genug, reich genug, alt genug, jung genug, dieser Wald, um die Welt in den Ring seiner Bäume zu schließen, erstand vor den Augen, die ins Herz hineinschauten, die Pracht aller Sonnen, die nur jemals die Erde getragen, erbrauste den Ohren, die ins Herz hinablauschten, das Meer aller Töne, die jemals erklungen, und gebar sich den Seelen die himmlische Ahnung: nun sind wir das Zentrum des Ganzen! Und ein einziger Vogel, der jetzt erst heimgeflogen war – –

»Still! Hörst du's? Ein Zeisig!«

Hell sang er!

Oh köstliches Lächeln, zum erstenmal wieder!

Oh seligster Heimweg!

Als sie in den Garten traten, war es Nacht und regnete. »Du hättest mich also seelenruhig zu Grunde gehen lassen!« rief Georg den Diener an, der noch immer Beete umgrub und nun gemütlich den Herrn begrüßte. »Und wer ist der Mann da im Busch?« Sogleich trat der Dunkle hervor. Der Tischler Gessenharter war's; er drehte den runden Hut vor dem Magen. »Wegen die Schalusien bin i kommen, Gnädiger!« Aber der Herr schritt schon eilig, die Frau an der Hand, durch das Tor in die Halle, – und da erst, plötzlich, wie er eben den Fuß auf die Treppen setzen wollte, unter der Krone des Lichts, sah sie ihn. »Um Gotteswillen! Du bist abgestürzt!« Zwar war das Blut mit den Wassern der Berge gut zehnmal gewaschen worden. Aber auf der Stirn klaffte eine richtige Wunde, an den Händen saß es noch, und um die Augen rangen sich purpurne Ränder. Und die Kleider! »Alois!« – aufgeregt lief sie zurück, aber er lief ihr nach. »Laß' den Alois in Ruh', ich brauche keinen Doktor, das machen wir selber!« – »Aber die Stirne!« Als ob alle Schrecken wiederkehrten, die schon überwunden sein sollten, und schrecklicher wiederkehrten, weil sie nun unheimlich sagten: es war also doch nicht so grundlos, verzweifelt zu sein, bebte die himmelblaue Gestalt – »und du fieberst!« – »Hunger hab' ich; das ist alles!« – »Und die Hände! Sage nur endlich –!« Und nun kam richtig das Gesinde aus allen Türen: die Köchin, die Zofe, das Stubenmädel, und vom Garten herein der Alois und der Tischler Gessenharter. »Fehlt dem gnä' Herrn was?« – »Ein Bad will ich haben!« rief er zornig von der Treppe herab, »seit wann hab' ich einen Gärtner zum Bedienten? – Nein!« beharrte er, weil Gertrud ihn führen wollte, mit ängstlich abgerissenen Worten schon ankündigte, wie sie ihn reinigen, verbinden, neu kleiden wolle – »das mache ich allein! Ich brauche keine Hilfe!« – »Aber –!« – »Bitte, red' nicht und folge: in zehn Minuten bin ich unten bei dir!«

Da ging sie, ganz langsam, die Treppe hinab. Und im blauen Zimmer zuerst, dann im Boudoir, das daran grenzte, ließ sie sich nieder. Für je eine rastlose, peinvolle Minute. Wenn er nicht gekommen wäre? Sie schlug ein paar Töne auf dem Flügel an, zwischen dem Grauen, das noch nicht gewichen, und dem Glück, das noch nicht geglaubt war. Dann schnitt sie vom Rosenstock ein vergilbtes Aestchen ab. Dann nahm sie von einem alten, runden Salontischchen alle Dinge weg, die darauf standen, und stellte sie gleich darauf wieder zurück. Und endlich, da sie diese Last des Nocheinmalwartenmüssens, des noch immer nicht Sicherseins nimmer ertrug, lief sie in die Wirtschaftsräume hinüber. Und hier, seltsam, fand sie sich zum erstenmal wieder. Die Köchin in der Küche buk eine Pastete, im Office nebenan bügelte das Stubenmädel einen Pack weißer Stubenmädelschürzen, in der Vorratskammer lagen appetitlich geordnet die Aepfel, die Birnen, die Mispeln, die Möhren und Blumenkohlköpfe und Fenchel, – und als sie, ein ganz neues Lachen im Gesicht, in die Diele zurückkam, rannte händeringend die Zofe herbei und beschwor sie, sich frisieren zu lassen. Aber jetzt verschwand das Lächeln auf ihrem Gesicht nimmer! Eine Sekunde lang lauschte sie klopfenden Herzens zur Decke empor: ja, er duschte sich allerkräftigst! Die Brause rumorte wie ein Wasserfall! Und wie ein Backfisch entfloh sie nun der Zofe – ins Speisezimmer! Blumen! Jetzt war sie verändert. Jetzt erst erlöst! Auf den Fensterbretten standen vier hohe Kristallvasen; in der ersten war Herbstlaub von Buchen, Ahorn, Esche und Birken. In der zweiten blühten die gelben und roten Dahlien des Gartens; in der dritten die letzten langstieligen Glockenblumen, und in der vierten der Bergginster. Vom Buffet holte sie nun die ovale, tiefgründige Altmajolikaschüssel, ein Stück aus Brescia in den Farben blau-gelb, auf blau-gelb-weißen Knopffüßchen. Wohl! Da auf der Truhe stand ein Venezianerkelch mit zwei blaßroten Rosen. Hier, auf dem Halbrundtisch, noch ein Strauß weißer, gefüllter Astern. Es ließ sich ein richtiges Niederländerblumenstück machen, wenn man richtig verteilte und richtig vereinte. Froh lachte sie, die Finger schon mitten drin in der Arbeit der Auswahl: was für schöne Geschöpfe! Und während sie ordnete, wieder weglegte, wieder aufnahm, – immer heller erstrahlte das genesende Antlitz. Jetzt band sie bewußtlos, die Hände fanden das Passende von selber. Das Auge tat kaum noch mit. Wie die Dinge alle dasteh'n, die großen und kleinen! So sicher und stark! Das besann nun ihr Geist wie eine große Entdeckung. Als wäre sie lange und weit weg gewesen von hier, auf einem Meer, das ihr Schiff schaukeln und tanzen gemacht hatte, sodaß sie die Ruhe und Gewißheit der Erde vergessen, und kehrte nun zurück und fände die Erde in scharfgeschnittenen Bergen, in klar aufgebauten Talzügen, mit fest umwallten Städten und unzerreißlichen Dörfern wieder und erkennte sie wieder, und dennoch wäre sie neu. Daß die Wände sich nicht bewegten, das Licht von der Decke ruhig leuchtend herabhing, auf den Tischen und in den Schränken die Dinge saßen, die man gerne gebrauchte, von außen Stimmen hereinklangen, die man kannte, und Stimmen und Dinge und Wände verläßlich erzählten: wir sind das Haus deines Lebens, und dein Leben – das bist du, die hier Blumen zum Feste bindet! »Entzückende Kinder!« rief sie laut und gerührt ihnen zu, die nun allfarbig abgetönt gegeneinander, die einen kaum über den Schüsselrand guckend, die anderen in die Höhe gehoben, als ein Volk aller Rassen von Kindern von ihr lachten und lockten. »Kinder!« Ja, Kinder! Aber – da – da war es wieder! Zum drittenmal! Aussetzend legte sie die Hände auf den weißen Damast, grub das Auge versonnen, weil das Herz so stark pochte, in die Blumen, deren Schweigen so tausendfach redete. Wenn es wahr war? Und schnell nahm sie die Hände wieder zurück, den Blick zurück, stand auf, nichts als Licht in den Zügen: es ist wahr – und da war er! Wie ein Pfeil ihm entgegen!

»Mit ganzen sechs Pflastern,« lachte er vergnügt, »habe ich es gerichtet! Schön gerade bin ich nicht!« Es war richtig: auf der Stirne ein Pflaster, je ein zweites und drittes im Schläfenhaar, zwei an den Händen und ein kleines am Kinn. »Nein!« bat er und trennte sich zärtlich von ihr – er hatte die Türklinke in der Hand behalten – »hier unten wird man in jeder Sekunde gestört. Komm' hinauf in mein Zimmer.« Und wie zwei Diebe huschten sie über die Schwelle, schlichen sie über die Treppe, schlüpften sie hinein in den Raum. Und gerade da ertönte von unten das Gong. »Sollen warten, bis sie Methusalems werden,« rief er lustig. Und wie sie erst lachte! Sich freute! Aber zugleich – denn jetzt flammte das Licht auf – zu Tode erschrak! Da lag noch die ganze Unordnung von Mittag! Darauf hatte sie völlig vergessen! Betroffen blieb sie an der Tür stehen; sah, wie er langsam, verwundert an den Tisch herantrat, nach links schaute, nach rechts – Bücher, Zeichnungen, Mappen, Skizzen – alles durcheinander!

»Ich habe das getan!« sagte sie endlich, weil die schweigsame Musterung schmerzvoll lang währte, und kam hinter ihm drein.

Aber er hatte schon richtig auch jenen Brief gefunden, hielt ihn bereits in der Hand und las ihn.

»Auch diesen Brief habe ich gelesen!«

Die Hände auf dem Rücken gekreuzt, zwei Schritte hinter ihm, stand sie, trotzig. »Ich wollte einmal erfahren, was ein Mann, wie du, wenn er allein ist, sich eigentlich vorstellt. Was er eigentlich denkt.«

Ruhig drehte er um. Sagte kein Wort. Fest sah sie ihn an. Und soviel sah sie sogleich: so hatte dieser Mann sie niemals noch angeschaut, bisher! Tiefst das ganz ruhige Auge in das ihrige versenkt, stand er vor ihr. Lächelnd, und doch voll Geheimnis. Nicht mit dem Willen im Blick, einen Sinn von besonderer Bedeutung mit besonderer Tiefe ihr zu vermitteln. Aber einen Himmel von Liebe im Glanz der Pupillen, die süßeste Regung ganz echter Rührung im reinen Zug um den Mund. »Nein,« sagte er leise, weil sie gezwungen, bezwungen, keinen einzigen Stachel mehr im betenden Herzen, sich an ihn lehnte, »ich bin noch immer nicht so weit.« Und machte sich noch einmal von ihr los. Mit sicherem Handgriff wurde der Greis von der Staffelei gehoben, ein Skizzenkarton an seine Stelle gebracht. Und Kohle genommen. Und angefangen. Der erste Strich, wie er den Bergkontur riß, zögerte noch. Und die Frau, die, selber voll von Geheimnissen, seit einer Stunde auf die Offenbarung der seinigen wartete, rang sich mühsam die Geduld ab, nach den Schlägen dieses Tages zuzusehen, wie der Rätselhafte zur Unzeit und tappend die Idee eines Bildes festlegte. Aber sobald die Nüchternheit der Hütte in Umrissen gebaut und einem fliegenden Stoßgebet an die Gnade des Genius das gebrochene Auge des toten Greises im Flur gelungen war, – dieses Auge des Bildes, – fand die zeichnende Hand keinen Einhalt mehr. »Wieder ein Greis? Und ein toter?« frug die hartnäckig Wartende und tadelte unwillkürlich im stillen; des Malers Hand fand aber nun sogar Zeit, einen Schemel für sie herbeizuschieben. »Komm', setze dich her; nun erzähle ich!« Aber auch jetzt nicht ohne weiteres! Je und je ein Blick auf sie herab – nur ein kurzer, – dann leuchtete das Antlitz unter den spottenden Pflastern und entdeckte die Hand noch besser! So ein Weib von vielleicht achtzig Jahren, – Bauernweib, – was empfindet es beim Tod des Gefährten, der vielleicht neunzig hatte? Und ein Bauer war?

»Ist sie das Weib des Toten?«

»Ich denke mir's so.«

Aber ein Strich – und er fuhr ohne Zweifel und Raten vom Kopftuch überm weißen Haar der Erhaben-Ergebenen herüber zur Linie des Holzbocks, der den halbfertigen Sarg trägt!

»Der Sarg – das?«

»Ich denke mir's so.« Ja! Nun, weil es Lust war, dem Tode die Urkraft des Lebens gegenüberzustellen, und trotzdem beide vereint. Nichts und Alles, Blüh'n und Verwelken, in das Haus und in die Flur der Familie zu nehmen, mochte er reden! Wonnig, aus der Fülle des Eigenen erschaffend, erfindend, prägte er die sichere Gebärde des Mannes, des Weibes, des Kindes.

»Ein Kind?« Ueberraschung! Ein Kind! Und schon neigte sich das Haupt mit entfeuertem Auge, der Leib mit schlagenden Pulsen viel näher!

»Ich habe dieser Klara« – nun tänzelte die Kohle, das Große saß bereits sicher, das Kleine durfte im Tummelplatz wachsender Fabellust schweifen – »heute morgen im Walde begegnet.«

Nur ein »Ah!« Aber der Schemel bewegt sich!

»Ich hatte seit einigen Tagen keine Rast in mir –«

Pause! Wie wäre es, wenn nun ein Farbstift mithälfe? Idee! »Keine rechte Ruhe,« fuhr er behaglich fast fort, »und plagte mich mit dem Gedanken: was nun? Ja, genau dies bedachte ich! Wird nun die Zukunft einzig darin bestehen, daß ein schöner Tag nach dem anderen kommt? Oder wird diese Ehe, dieses letzte Geschenk, ganz genau gleich wie jedes andere altern, und genau gleich wie jedes andere abgelöst werden vom nächsten? Mit einem Wort: ist diese Ehe ein Abschluß, oder was das Gleiche ist, ein Anfang, sodaß alles, was nach ihr kommt, von ihr bedingt ist und bleibt – oder ist sie nur ein vergängliches Glied in der Kette?«

Der Farbstift fuhr blau im Himmel herum.

»Und in dieser Arbeit verglich ich meine Liebe zu dir mit dem Gefühl, das ich früher für andere Frauen gehabt hatte, und weil – wie du lasest – Klara die voraussetzungsloseste, unbestimmteste, anfang- und endeloseste Frau ist, die ich kenne, besonders mit meinem Gefühle für sie.«

»In der gestrigen Nacht?«

»Ja,«

»Du hast sie geliebt?«

»Ja, und nein –« Der Stift kolorierte behaglich die Hütte. »Jedenfalls sind wir uns dermaßen verwandt, daß wir uns nahesteh'n mußten. Ob wir uns dabei liebten oder nicht, war nebensächlich. Die Hauptsache war: für mich überragte der Mensch in ihr das Weib, und in mir, für sie, der Mensch den Mann.«

»Freundschaft!«

Er lächelte. Der Stift konnte nicht rasch genug in seiner Hand wechseln. »Aber wir waren jung, sie schön, ich wenigstens gesund, und so besaßen wir natürlich auch stets die volle Möglichkeit, uns innerhalb dieser seelischen Gemeinsamkeit wie andere junge Leute verschiedenen Geschlechts einmal –«

»Warum habt ihr euch nicht geheiratet?« Er riß den Kopf zu ihr herüber. »Ah! Da hört sich alles auf!«

»Es war doch das Naheliegendste!«

»Wir hätten es zweifellos getan, wäre es das gewesen!«

»Du hast dich aber davor gefürchtet, ihr zu sagen, daß du eine andere geheiratet?«

Dies tote Auge war doch keine Kleinigkeit! An dem arbeitete man gewiß einen Monat lang! »Wir hielten die Ehe für eine Form, die wir lange schon hinter uns hatten – innerlich. Ich glaube, Klara hätte sich, im selben Fall, ganz gleich schrecklich geschämt, es mir einzugestehen.«

»Und hast du es ihr heute gesagt?«

»Natürlich! Ungerne!«

»Du hättest es ja nicht sagen müssen!«

»Es wäre meine erste Lüge ihr gegenüber gewesen!«

»Deshalb!« Der Schemel rückte empört ein Stück nach dem Fenster hin. Nein! Ich gebe mir absichtlich nicht die geringste Mühe, seinen Standpunkt gerecht zu beurteilen, befahl sich die zornige Brust. »Aber drei Monate lang logst du?«

»Man lügt nicht länger, als es erlaubt ist!« Dieses tote Auge wird zwei Monate Arbeit brauchen!

»Und – was sagte sie? Daß' du ein Philister bist?«

»Sie sagte« – nun redete das Auge wenigstens ein richtiges Wort! – »was das Selbstverständlichste war für ihren, für unseren jahrelang gehärteten Standpunkt: daß meine Ehe unserer Beziehung nichts anhaben kann!«

»Daß diese Beziehung also – das Weitere, deine Ehe das Engere ist?«

»Richtig!«

»Und das ist auch deine Ansicht?«

»Theoretisch gewiß!«

»Und praktisch?« Sie sprang auf, glühend von oben bis unten. Feuer. Nie noch war sie so schön gewesen wie in diesem Augenblick! »Ich kann dir nur sagen, wenn sie morgen einen Besuch hier macht, ich empfange sie nicht! Und wenn du, ohne daß sie hierherkommt, mit ihr zusammentriffst – adieu!«

»Von einem Besuche war nicht die Rede!«

»Aber von einem Rendezvous?«

Er schwelgte im grünen Rasen unter dem sonngelben Tannenbock und unter den Füßen von Vater, Mutter und Kind.

»Findest du etwas daran?«

Sie stand, himmelblau, bebend, an der Wand, die von der Bogenlampe bläulich bestrahlt war. »Ich könnte mich, wie jede andere Frau, die einen Künstler liebt, dazu zwingen, nichts daran zu finden. Weil ich den Künstler liebe und – weil ich gelesen habe, daß sie alle »so sind!« Aber ich täte es gegen mein Herz! Und ich habe mir heilig geschworen, heute« – unter würgenden Tränen kam es hervor – »daß ich nichts mehr tun werde, gar nichts, nein, gar nichts, gegen mein Herz!«

Der Stift knirschte in der Totenstille.

»Denn ich habe nichts als mein Herz!«

Die Totenstille stritt gegen den knirschenden Stift.

»Und wie hast du entschieden?«

»Ich habe Abschied von ihr genommen!«

»Aus Furcht?«

»Nicht aus Furcht so sehr davor,« – er redete langsam und ruhig, das Auge unverwandt tief drin im Bilde – »daß wir uns nun am Ende gefährlicher werden könnten als bisher. Obwohl, offen gesagt, die Gefahr stets dort ist, wo man sie leugnet. Und ich nehme es keiner Frau übel, wenn sie den – Mann, der ihr als Mensch mehr als jeder andere Mann bedeutet, auch als Mann erobern will, – sobald eine andere ihn auch als Mann sich gewann. Aber –«

»Meinethalben?«

Er setzte einen Augenblick aus. »Wäre das etwas so Unrechtes?«

»Nein! Aber sagen brauchtest du es nicht! Opfer bringt man besser schweigend!«

Jetzt stand er auf. Und blieb ihr gegenüber stehen. »Ich habe nicht angefangen zu reden, um dir eine Heldentat von mir zu berichten. Ich hielt es ganz einfach für meine Pflicht, das, was ich ruhig hätte verschweigen dürfen, weil es ein wirklicher Abschied war, klipp und klar zu erzählen, damit der Pfahl, den ich damit aufgerichtet habe, auch vor deinen Augen stehe!«

»Aber der Pfahl war ein Opfer!«

Wie ein Mensch sich in vierundzwanzig Stunden entwickeln kann. »Natürlich! Dem Mädel, das mir weiß Gott wie viele Jahre hindurch der treueste Kamerad war, im Weg drin zu sagen: Adieu! Du gehst hinab, ich gehe hinauf, und sie ziehen zu lassen, nur weil die Möglichkeit bestand, daß ich vielleicht ihr auch etwas gäbe, wenn wir zusammengingen, – war mir ein Opfer.«

»Ich brauche aber kein Opfer!«

Er setzte sich gelassen wieder nieder. Das Weib und das Kind durften noch ein bißchen derbere Farbe bekommen! »Es wird wohl in jeder Ehe immer so sein, denke ich, daß kein Teil ein Opfer sich selber bringt, ohne daß es dem andern auch gilt! Ich habe, als Klara fortsetzen wollte, ganz einfach gefühlt und gewußt: ich mag keine Götter neben dir haben!«

Zögernd, unsicher trennte sie sich von der Wand, kam zurück und blieb vor dem Schemel stehen. Was da zu sagen war, wußte sie wirklich nicht.

»Weil ich dich« – er sagte es malend und ohne jedes Pathos – »von ganzem Herzen und allein liebe. Und weil ich, zum erstenmal allerdings, ganz und gar deutlich empfand, daß es nun darauf ankäme, ein für allemal mich zu entschließen: entweder es wird diese Liebe, die mich voll ausfüllt, zum ausschließlichen Mittelpunkt eines Lebens gemacht, das von ihr aus Kreis um Kreis zieht und erwirbt, – oder aber: sie wird genau so unausschließlich und unendgültig verzettelt wie so viel anderer Stoff, den ich in Händen hatte und aus dem ich nichts schuf.«

Leise ließ sie sich niedersinken aus den Schemel. Jetzt – göttliches Wunder! – war das Glück wirklich da! Ohne Grenzen. Der letzte Alp tot! Fiel wie durch einen Zauber alles Raten dahin unter der einfachen Klarheit dieser einfachsten Worte. Auf die Skizze hin das Auge gesenkt, als stünde in ihr durch die beglückende Kraft eines himmlischen Willens das Wunderbare aufgeschrieben, das von der eben vergangenen Sekunde letzter Zerrissenheit zu dieser des vollkommenen Glücks geführt hatte, fühlte sie, wie überirdisch dankbar das Herz in der erleuchteten Brust tobte und schlug. Schämte sie sich, weil sie so geizig, so wenig erratend geredet hatte. Sehnte sie sich flammend, ja hungrig danach, daß er noch weiterredete. Und brachte es endlich, als er beharrlich weiterschwieg, trotz der Furcht, er könnte nun die Geduld verlieren, dazu, ihn zu reizen. »Sollte man das nicht eigentlich schon wissen, bevor man heiratet?«

Er stand langsam auf, legte die Stifte weg, überflog das Geschaffene mit zufriedenem Gesicht. Und trat nun weiter zurück, um zu prüfen. »Jeder, wie er kann! Als ich dich heiratete, wußte ich nur, daß ich ohne dich nicht weiterleben wollte. Wie ich aber mit dir leben will, das weiß ich erst seit heute. Scheinbar« – er lachte verlegen – »entwickelte ich mich langsamer als andere. Dagegen läßt sich nichts tun!«

Kein Wort kam aus dem stürmisch lobpreisenden Herzen!

»So oft ich aber« – das sagte er nimmermehr gerne, aber zum Abschluß rang er sich's ab – »an einen Stein komme, der Markstein wird, werde ich dir genau so ungeschminkt davon erzählen wie jetzt, ob es dich freut oder nicht!«

Nicht ein einziger Laut des unsäglichen Jubels aus dem begeisterten Herzen! Nur die Reue, so klein, so zum Verachten kleinlich gewesen, und die Pein, auf den Mund geschlagen zu sein, jetzt, zur Strafe, stieg empor in die brennenden Wangen.

»Dieses Bild gefällt mir!« vermochte sie endlich, nach einer unerträglichen Pause und mit aller Macht gegen die Tränen kämpfend, zu sagen.

»Mir auch!« Er wusch sich geräuschvoll die Hände. »Daraus wird was!« Nie, nie noch, schien es ihr, hatte sie Einfacheres, Irdischeres, Klareres von seinen Händen gesehen! Da drin war das natürlichste Leben eines Herzens! Das konnte sie – endlich – verstehen! »Wann ist dir's eingefallen?«

Er wusch sich noch immer die Hände. »Du hast es mir gegeben. Gestern abend. Als du spieltest.«

Das war nicht zu fassen! Zu ertragen! Woher auf einmal so viel? Ja, alles? Ueberströmt, überwältigt vom Licht unaussprechlicher Seligkeit wandte sie sich um, ihm entgegen, sah ihn nicht durch den Schleier von Tränen. »Meine armselige Musik?«

Schaute er absichtlich nicht auf sie hin? Kämpfte auch er mit den Wogen des unbegreiflich vollkommen Vollendeten? »Ja! Es ist aber auch das erstemal, daß mir dies geschieht!« Noch immer wusch er sich leidenschaftlich. »Ich liege da, denke noch: wie unkontrollierbar ist das, was der Komponist ausdrückt, drückt er doch meist Empfindungen aus, die er gar nicht näher betrachtet, zerlegt, dem Verstand übergibt – die er zu Musik macht, kaum daß er sie fühlt. Das ist ein Vorzug, sowohl der Dichtkunst als auch uns Bildnern gegenüber, denke ich mir, und wohl auch daher kommt die stärkere Macht dieser Kunst über die Seelen der Empfänger. Ein gewisser Neid regte sich in mir, eine Eifersucht, dazu der Widerstand des Künstlers, dem das Auge stets Realität vorschreibt …«

»Aber die Idee eines Malers ist gerade so wenig real –«

Oho! Er tat einen Seitenblick. »Mir wenigstens, dachte ich, macht er nichts vor! Mir gefällt, was er sagt, weil mir Musik überhaupt gefällt; aber erzeugen kann er in mir nichts; nur bestätigen, versammeln, mit Stimmung beleuchten. Und indessen – das heißt, ich wußte es erst heute morgen, daß es so und nicht anders geschehen war, – muß ich auf einmal zeichnen, eine Figur wächst aus der anderen – au!«

»Um Gotteswillen!« sie flog, außer sich, empor, zu ihm hin, »es ist doch nicht zu glauben!« Das Pflaster hatte sich im Handteller losgemacht, das Blut floß von neuem. »Da rede ich und höre ich, und kein Mensch denkt an deine Wunden!«

»Das sind doch nur Kratzer!«

»Danke schön!« Wie im Fieber der Sorge, unter der zweiten Wiederkehr tödlichster Schrecken, während sie mit zärtlichsten Fingern die Hand behandelte: »Die auf der Stirne da, – morgen muß sie der Doktor sehen! Und da, in der Handwunde – Erde ist da! Und woher hast du dies abscheuliche Pflaster?« – »Der Alois hat es gegeben.« – »Mein Gott! Sei still, – einen Augenblick – das muß doch neu gemacht werden. Ich begreife nicht« – lodernd vor Empörung über ihre eigene Sorglosigkeit – »aber sag' doch nur endlich, wie das geschehen ist?«

»Abgestürzt bin ich.«

»Wo nur? So rede doch endlich!«

»Auf dem Graukogel, denk' ich.«

»Was hast du auf dem Graukogel – warte, eine Sekunde noch! So!« Und, nun, weil er sie lächelnd niederzog auf seinen Schoß, wiederholte sie, ganz versunken in die Gefahr, die überstanden war, zitternd: »Was hast du auf dem Graukogel gesucht?«

»Jeder Mensch muß hier und da allein sein!« sagte er einfach. »Heute morgen konnte ich einfach nimmer dableiben. Ich muß Ordnung machen, Rechnung machen bis heute empfand ich; wie einen unzweideutigen Befehl. In der besten Arbeit traf ich Klara. Und als sie wegging, hatte ich natürlich noch mehr zu ordnen. Jetzt muß die ganze Vergangenheit unter einen Hut gebracht werden, sagte ich mir. Die Welt, die ich besitze, in ein Zentrum geschlossen werden. Und ging weiter. Und kam so, natürlich, mit der Zeit auf den Gipfel. Und fand das Zentrum! Das nämlich muß ich betonen: ich hatte es schon gefunden, als ich auf dem Gipfel saß. Nicht etwa, daß ich – wie es in den Romanen zu lesen steht, – erst daraufgekommen wäre, als ich abgestürzt war. Nein! Das war ja das einzig Gruselige an der Sache! Ich hatte das Zentrum, konnte es sogar mit Worten nennen: die Liebe zu dir muß die Hand sein, mit der ich mein Leben baue; der Stoff sein, aus dem ich es baue; die Gewalt, mit. der ich es nicht nur ernähre, sondern täglich vermehre, erschaffend, erzeugend, größer und reicher mache – und just in diesem Augenblick – ich pflücke gerade einen kleinen Strauß für dich, Edelweiß, Rauthe, Speik; bricht –

»Um Gotteswillen!«

»Bricht der Boden unter mir –«

Wie ihn ihre Arme nun, als ob sie ihn nocheinmal retten müßten, umschlangen!

»– ich stürze – und bleibe an einem Latschenstämmchen hängen!«

Wie sich ihr Haupt nun in seine Schulter hineingrub und ihr Herz rasend tobte.

Aber er selber war bleich jetzt! »Wenn das nun reißt – oder wenn die linke Hand keinen Griff findet, – oder wenn ich nimmer die Kraft habe, mich aufzuschwingen –«

»Nimmer weiter! Nicht weiter!«

»Und das Höhnische war: ich mußte die Gefahr haarscharf, ja ganz lächerlich deutlich erkennen! Denn zwischen meinen Knien, die mit aller Macht das schneeige Gras preßten, sah ich, senkrecht unter mir unten, – das Haus!«

Welcher Sturm von verzweifelten Tränen! Wie nun der Tag zurückkam, dessen Abend nur durch eine ungeheure Gnade des Schicksals vergoldet war vom Feuer der süßen Erlösung! Umso heißer, entfesselter, ohne Scheu, ohne Scham, ohne Rückhalt und Zügel nahm sie den Geliebten jetzt ganz sich zurück. Das entflammte Gesicht an seiner Brust geborgen, die schaudernden Glieder, die das Leben der Geretteten lobpriesen und liebten, an die Ruhe der seinen gepreßt, – so lag sie an ihm, sein, nicht als sein, als der Sinn seiner Rettung am Sinn seines Daseins. »Nein!« mahnten die Wirbel der wiedergekehrten Qualen, »verrate ihm nichts von der Stunde deines Zweifels.« »Doch!« spornten die Chöre der neuen Wahrheit, die seinem getreuen Bekenntnis entstiegen war und eine ganz neue Erkenntnis in ihr Herz gegossen hatte, »sei ebenso wahr wie er, ob es ihn freut oder nicht!« Und zwischen Stachel und Mahnung schwebte, himmlisch erglänzend wie die goldenste Wolke über feiernder Erde, die Zwingkraft der Liebe, die der Liebe größte Siege erstreitet. Nie habe ich dich so geliebt wie jetzt, schwor das Herz in den Klammern des Schweigens, das ums Wort rang, nie so gewußt, was du allein mir bedeutest, nie so dankbar und kindlich den Geist jenes Gottes erkannt, den du mir, der Ungeweckten, so oft vorgestellt hast! Und dennoch, gerade deshalb – »Und gerade in jener Stunde muß es gewesen sein,« erhob sich da trotzdem die kämpfende Stimme aus den Strudeln des Streites, und schluchzend, »daß ich verzweifelt hier umherlief, weil ich plötzlich empfand, daß ich dich nimmermehr liebte.«

Ein Riß ging durch den Leib, der sie trug; als ob ihn ein Blitz getroffen hätte.

»Nicht! Nicht! Nicht! Georg! Es ging ja vorüber! Natürlich! Und war wieder vorbei! Und ist nun, auf ewig – so hoffe ich – vorbei.«

Starres, fassungsloses Staunen! Geschieht so den Männern, die blind übersehen, daß nicht sie allein eine Seele haben, die sich entwickelt, sondern auch die Menschen, die mit ihnen leben?

»Das laß' mich Gott nie mehr erleben!« Mit Armen, die ihn unheimlich heiß umschlangen, mit einer Stimme, die aus der abgründigsten Tiefe kam, bettelnd: »Nie wieder! Aber – die Strafe war grausam genug! Ich muß unbewußt gespürt haben, daß du deiner nicht ganz sicher warst, und daß etwas plötzlich dich zwang, deine Sicherheit erst zu suchen. Ich empfand so gewiß, daß dir etwas fehle, und glaubte, das Manko liege in mir. Du sagtest, es genüge dir, wenn ich dich nur recht liebte, und trotzdem kam es mir auf einmal vor, als ob du die Bedeutung der Liebe bezweifeltest. Umso ehrgeiziger trachtete ich danach, auch deinen geistigen Gesichtskreis mir zu erobern. Aber so oft ich das versuchte, umso kläglicher mißlang es. Und darüber wieder sah ich dich lächeln. So begann natürlich auch ich die Bedeutung der Liebe, deren ich fähig war, zu bezweifeln – und die der deinigen erst recht! Und als du morgens nun weggingst, packte mich ausgesprochen richtige Verzweiflung. Stundenlang blätterte, las ich, schaute ich an – aber je länger ich mich abmühte, dich zu finden, umso weniger fand ich dich. Ich fand nur die Aufschriften, Titel, Etiketten, unter denen die Gebiete deines geistigen Lebens sich in mir unergründliche Tiefen und Weiten erstreckten. Ich erriet im Anblick dieser unerschöpflichen Masse, daß du dich dieser Uebermacht und Kluft freutest, und« – jetzt waren die Tränen völlig versiegt, ihr Haupt hatte sich erhoben und ragte gleich hoch wie das seine im freudigen Licht – »da begann ich deine zufriedene Liebe zu hassen, meine weibliche Liebe, die dir angeblich genug war, zu verachten, zwei Größen sah ich nebeneinander stehen: Liebe und Leben, aber welche von beiden die Gewalt haben mußte und sollte, die andere in sich aufzunehmen, zu verschlingen und zu verzehren, wußte ich nicht – besser so: ich, das sah ich genau, hatte diese Gewalt nicht!«

Wenn das Latschenstämmchen nicht gehalten und ihn verhindert hätte, heimzukommen zu der, die ihn liebte?

Wenn aber die Frau, zu der heimzukehren er sich sehnte, ihn nimmer geliebt und das Stämmchen gehalten hätte?

Ein Grauen ohne Grenze, aber auch der Schauer einer Schönheit, die schöner war als jede Wonne der steinernen Sicherheit, eine unverrückbare, unbewegliche Seele neben seiner beweglichen zu wissen, fesselte ihn, zwang ihn, sitzen zu bleiben. »Und dann?«

Ganz leise senkte sie das Haupt, und wieder zitterte die bekennende Stimme. »Ich habe das nicht gesagt, um dir die Selbstverständlichkeit der Rückkehr als ein Geschenk vorzumalen, das ich dir hätte verweigern können! Ich habe es nur für meine Pflicht gehalten, die wunderbare Ursache eines Bewußtseins von Liebe aufzuklären, das ich, so restlos überzeugt, niemals für möglich –«

Und da riß ihm die Kraft der Beherrschung! Mit entloderten Armen, die sich für fähig hielten, wie Atlas die Kugel der Erde zu stemmen, mit einem Leib, der von der Welle der Seelenkraft jauchzte, die ihm von tiefstinnen zufloß, umfing er, umschlang er sie, nahm er sie ganz und erleuchtet an sich. »Glaube nicht, daß ich dein Geständnis nur einen Augenblick lang überschätzte,« flüsterte er inbrünstig begeistert, und in jedem Ton bebte die stolze Rührung über ihren Mut zur Natur und zur Wahrheit, diesen größten Beschützern der Liebe – »aber glaube auch nicht« – und da rang er sich von der letzten Fessel los, die noch drohte – »daß ich so töricht war, es zu unterschätzen, weil die Rückkehr natürlich war.«

Strahlend, weil sie nun bis auf den geringsten Rest ihrer Liebe verstanden war, frei in ihrer göttlichen Freiheit, küßte sie ihn. »Als ich, in der Angst um dich, schwor, nie mehr, ja, nie mehr, dem Herzen nicht zu geben, was einzig und vor allem des Herzens ist, und dem Wunder mich anzuvertrauen, so, wie es befiehlt, und nur zu lieben, zu lieben –«

»Weil dann das Leben von selber gewonnen wird!«

»Ja!« Wie ein Jauchzer!

»Und das Wunder nicht zwingen mit erwogenem Programm, sondern ahnen und wissen, daß man von ihm eben so verwundbar ist wie begnadbar –«

»Ja! Jetzt weißt du alles!«

»Und du alles!« Nein, es war nicht wahr, daß seine Liebe erst durch die Schraube dieses Tages tiefer, seine Ueberzeugung noch fester, die Gnade des Wunders noch reicher geworden war! Nein, es war nicht wahr, daß sie der Folter dieses Tages bedurft hatte, um das Licht im Herzen als ewig brennende Sonne des Lebens zu erkennen! Es war nur wahr, daß das Wunder, das zwei Menschen aus unverbundenen Fernen zueinander gebracht und vereinigt hatte zu einem einzigen Menschen, selber das Leben war, das nicht ruhte, nicht rastete, nie gleichblieb, sondern, aufsteigend jetzt, und in die Tiefe ziehend jetzt, und nun wieder empor in die höhere Höhe wachsend, urewig sich wandelnd und wechselnd nach aufwärts entwickelte! Und trotzdem lagen sie nun aneinander wie das köstlichste Opfer dieses Tages, reich an Abgrund und Freiheit, und war jede Liebkosung, die sie selig sich gaben, nur ein Gebet an den Tag, der sich sinkend entfernte. Was war ihre Sehnsucht im Anfang denn anderes gewesen als der dunkel unsichere Trieb, der tausend und tausend andere neben ihnen täglich auch aneinander fesselte? Was ihre Hochzeit anderes als die purpurne Entfaltung einer lechzenden Rose, die die Welt nun rings ausgebreitet sah als Zukunft ohne Welken und Sterben, aber dem Wunder, das die Wonne dieses Blicks geschaffen hatte, nicht die Kraft ablauschte, mit diesem Blick die eröffnete Welt auch zu fassen? Jetzt aber – jetzt trat greifbar und deutlich aus den Wesenheiten des Glücks die Gestalt des Paars hervor als des Urkerns der Schöpfung, der Sinn der Vermählten als der Urwille des Vaters. Das war die köstliche Hoheit und Weihe dieser Stunde: im Arm des Geliebten zu entdecken, daß es nicht nur vielmehr galt, als in einer glücklichen Liebe leben zu dürfen, sondern, daß auch schon die innere Kraft da war, dieses Mehr zu leisten und daß die erglühte Seele es auch schon nennen konnte, – ja, daß sie es völlig klar erkannte: als ein Leben im Sinne der Schöpfung! Wo war da noch kleinliche Sorge zu fürchten, Unsicherheit vor dem anderen, künstliche Absicht, List, Spiel, Uebertölpelung, schweigsam duldendes Opfer, Unterwerfung der eigenen Person, Graue des Alltags und dumpfe Gewohnheit, wo im Innersten das Gesetz des ewig vermehrenden Aufstiegs offenbar geworden war und sich dies Innere als erstes Kind der Natur bekannte? Göttlich, wie nur der Sinn jeder Liebkosung gewandelt war! Wenn jetzt ihre Hände die Hände des Liebsten streichelten, ihre Brust sich an seine lehnte, war es nimmer nur Geben von ihr hin und Nehmen von ihm her, sondern die freudige Tat einer viel tieferen Bedeutung. War nun diese Hand nicht viel rechtvoller, furchtloser? Bangte nun das Herz noch vor der Möglichkeit einer Sekunde, in der es nicht erfaßt sein könnte? Weckte sie noch Angst und den Gedanken an den Gegensatz, die Erfahrung, daß, während ihr Herz ruhte, das seine schon wieder höher strebte oder umgekehrt? Nein! »Aber ich habe dir noch nicht alles gesagt!« wuchs so wie von selber ihre Stimme aus den Eroberungen des Schweigens hervor, hoben sich die Augen ohne Zwang empor aus dem Gesicht, das im Schoß des Geliebten lag.

Und er lächelte. »Nun?«

Ja! Jetzt war es nicht notwendig, sich noch lange zu besinnen! Nur die Augen tief hinein in die seinen und die geliebten Hände erfaßt! »Ich glaube, daß ich –«

Aber nun wurde sie doch rot! Feuerrot! Trotzdem: das Auge noch tiefer hinein in das seine! Und mutiger – »daß ich ein Kind bekomme.«

Er sprang ohne weiters empor. »Du – glaubst nur?« Und seine Stimme war vollkommen tot.

»Ich glaube – ich weiß es.«

»Seit wann, sag'!«

»Seit – heute.«

Er starrte sie die längste Zeit wie ein Rätsel an. Dann ging er auf einmal in den Raum hinein, schritt ziellos darin herum, als stünde in der Luft oder im Boden die Erklärung dieses vollkommen Neuen, das ihn wie Botschaft aus versiegeltem Buche getroffen. Dann kehrte er wieder um, blieb wieder vor ihr stehen, wieder eine lange Weile, – und nahm dann den ratlosen Gang zum zweitenmal auf. Endlich, mit einem festen Ruck, den er sich gab, nach links hin, machte er Kehrt und strebte auf den Tisch zu. Und nun schien er gefunden zu haben, was er suchte. »Komm' her, bitte!« sagte er heiser. Und mit dem linken Arm sie, die gehorsam gefolgt war, umschlingend, begann er mit der Rechten schnell und sicher ein Blatt zu bezeichnen. Ohne jeden Zweifel, jede Unterbrechung, ohne jede Korrektur. Nur einmal setzt die Hand aus und ergriff die Klingel. Aber gleich darauf setzte sie ihr Werk wieder fort und hob sich zum zweitenmal erst, als die Zeichnung vollendet war.

»Alois!« – es hatte gepocht und der Alois stand in der Tür – »ist der Gessenharter noch da? Er soll kommen.«

Und nun stand er in der Minute dieses Wartens hinter Gertrud, die über das Blatt gebeugt war, und sein Blick zitterte, bebte und betete, aber er rührte sie nicht an.

»Gessenharter!«

Der Mann kam mit groben Stiefeln herein. Langsam. Machte Halt unter dem Licht.

»Gessenharter« – er hielt ihm das Blatt vor – »können Sie das machen?«

Der Tischler war alt und bedächtig. Er hatte Brillen auf, zittrige Hände und betrachtete das Blatt mit unerträglicher Umständlichkeit.

»Die Maße stehen daraus. Sehen Sie's?«

Da regte sich endlich der Apostelkopf, und der dröhnendste Baß von der Welt frug:

»Das ist eine Wiege!«

»Ganz richtig.«

»Nußholz?«

»Nicht Nußholz! Eiche natürlich!«

»Aber die Schnitzerei da! Nix als Schnitzerei da! Italienisch?«

»Ich weiß nicht! Portugiesisch, provencalisch – –«

»Langwierige Arbeit!«

»Hat bis Ostern Zeit! Aber bis Ostern –«

Bedächtig und schmunzelnd: »Oktober – November – Dezember – Jänner –«

Da war es wohl das richtigste, einen entschlossenen Schritt zu tun, die Tür aufzumachen und den Alten hinauszubegleiten. Und: »Gertrud,« sagte er, als er eilig zurückkam, und nahm sie heilig, ja die Augen ganz voll von den heiligsten Tränen, in seine ehrfürchtigen Arme, »verzeih', aber du brauchst dich, weiß Gott, nicht zu schämen!« – »Und du auch nicht!« weinte sie lachend, glückselig, weil er wild wie ein Kind an ihrer Brust lag und schluchzte.

 

Ende.

 


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