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Stimme des Geharnischten

Der Landschaftsbogen, flach, aus Hügeln, Stromlauf, mehr denn halb gelichteten Waldungen des Herbstes geründet, hat nun bereits die etwas hochmütige Fremdheit der Göttergestalten. Der Himmel, um viele ernste Unermeßlichkeiten höher als sonst, das flach abgestreckte Land – schon flieht es seine eigene, hingelagerte Natur – gegen den herrlichen Bogen des Horizonts unaufhaltsam im Enteilen. Klarheit gegen Klarheit, stehen Erd' und Himmel, gelassen. Vollkommen, ermißt nunmehr ein jedes einzig sich.

Was weiß vom Pfeil, und sei er noch so schwungvoll abgeschnellt, der Bogen? was vom Bogen, und sei seine Ründung vollkommen wie der Horizont, ein Pfeil? Die Senne des Horizonts entsandte seit frühen Mittagsstunden schon auf Wien zu etwas, das schwarz zielte, zügig im Bau, ein eilender Strich. Es schoß durch festliegende, gescheckte Gemarkung, seinem Vorüberziehen standen doppelt steil die Eschen, Eichen, Erlen, immer andere Brunnen mit schmerzenreichen, schwertdurchstoßenen Marien überm Quellwasser, wo es, bleich und sehr kalt, langsam in Becken verrann, zu Kreisen, wie Blei. Doppelt stark bewegten sich in gebauschter Wallung gottselige Faltenröcke der Nepomuks, wenn die Kutsche, sechs schwarze Rösser Vorspann, auf dem Bogen hochgekrümmter Brücken dahinrückte. Unablässig, wie bald gerad, bald geschlängelt sich auf Wien die Fahrstraße schleuderte, nahte das Gefährt dieser Stadt zu, ob rechts die Äpfel reif vom Baume herklatschten beim Peitschenschlag eines sehr hoch gesetzten Kutschers, ob links, unerreichbar dem hochherrschaftlichen Geknalle, eine Himmelserscheinung, Feld und Wolken und wohl den noch höheren Äther untereinander verbindend, lieblich im Raume stand. Nicht Regen, nicht Gewitter, obwohl vielleicht ehedem etwas dergleichen gewesen, fiel es nicht mehr, stieg es schon wieder. Unablässig zehrte eine schöngeformte, baumartig erwachsene Wolke von Dünsten sich an der Luft weg, wuchs, angezogen, geliebkost, emporgeschlungen, gestrudelt, leicht, doch gewaltig gedreht von der Bewegung schon höheren Bereichs. Ein Heraufblick der tiefstehenden, selbst unsichtbaren Sonne berührte das Ding allseitig mit dem Schauer goldener Wimpern, plötzlich war es, als breche jähes Entzücken, daß so schön die trüben Wassergestaltungen, armen Dünste der Erde, aus vor Liebe brüchig gewordenem Himmel und her über die unmerklich zum Gestaltlosen emportanzende Gestalt.

»Es leckt's wieder auf,« wurde im Wagen hierzu bemerkt. »Behalt' Er Sich's, Corradieri; wirkungsvolles Sujet, das Phänomen.« Ans Fenster tippte eine Hand, bei der nichts bemerkenswert war als der ungewöhnlich große, schliffgewaltige Diamant, mit welchem sie nahe und ferne Blitze in die Landschaft schrieb.

Es gibt eine frühe Abendstunde – sechs bis sieben im Oktober –, da mit eins die Hauptzüge der soeben noch sichtbar überallhinverbreiteten Welt in einem starken Licht stehen, ohne Farbe, selbst in fahles Geleucht verwandelt. Alles steht sich, ehe die Nacht es in sich zurückschlingt, wie von innen oder von der andern Seite her an. Der Vorgang ist blitzschnell da, er überholt stets die Sehkraft. Eben noch ward etwas betrachtet, als es sich unter letztem, gesammeltem Licht zu einem grellen Fladen Unsichtbarkeit zersetzt. Das Auge aber kann auf eine sehr kurze Zeit, eine köstliche und schauderhafte Zeit, das Sehen selbst, als Gegenstand des Sehens, erleben. Diese Spanne ist es weit mehr als die an sich belanglose Mitternacht, welche die wahre Gespensterstunde genannt werden muß. Hier liegt im Herbst, dem Schwerpunkt des Jahres, der Schwerpunkt des Tages. Es ist jener Jenseitspunkt, an dem das Sehen, auf kürzeste Zeit Selbstzweck geworden, sich und nichts sonst sieht. Sonderbar, dies obendrein in rollender Kutsche zu erleben, über zurückgewälztem Wege, zwischen aufgewulsteten Hügeln, unter einem Himmel, der versunken dreinstarrt, ganz grausenhaft hoch. Sonderbar, plötzlich – angenommen nämlich, man spielt, und zwar Karten – beinahe den Trumpf, das Treff-As, zu bringen, die Runde aber aufsagen zu müssen, weil das schwarze Kreuz auf weißer Karte verflimmert. Die Karten wurden eingenommen und in geräumiger Ledertasche untergebracht, die noch sonstiges enthielt, zunächst eine kalte Pute. Sie ward, schon zerlegt, herausgenommen, auf drei Silberteller verteilt, anfangs von stoßenden Knien gewippt, sodann, mittels Messer und Gabel, wappenbezeichneter, schwerer Silberbestecke, gespeist. Bald lagen aber die Schlegel, die Flügel, die Rippenstückchen in zahlreichen fettigen Fingern, und alles Fett überglänzte vorbesagter Diamant. Die verzweifelte Beleuchtung ließ keinerlei Zusammenhang bestehen, sie verschlang alles außer den selbst mit Verschlingen beschäftigten Gesichtern, – diese, wenn in dem schwarzen, hin und wider schwankenden Behälter grellblaß die Lichtvierecke der Fenster gaukelten, ungewöhnlich zu erblicken. Sie wackelten wie ohne Hinterhaupt, drei Gespensterköpfe, vor dem Schwarz der Kaleschenwände herum. Sie grinsten, bissen, nagten, klafften, zerrten, knabberten, schmatzten, all dies nun noch zierlich im Fall von zweien der Gebisse, bemüht, gute Lebensart und eine weltbürgerlich gemäßigte Unterordnung mit ihrer Tätigkeit zwanglos zu vermählen. Die Subordination an breiterem Fletschen zu erkennen, welches, über den Augenblickszweck hinaus, die heitere Bonhommie eines Angestellten bekundet. Neben dem nüchternen: Ich fresse Pute – ein leicht und wohltätig angedeuteter Sinn für das Gute, Wahre und Schöne ersichtlich. Das dritte Gebiß hatte derartiges nicht nötig, da die eigene, selbstbezahlte Pute es war, die gefressen ward. Ganz zerfallen, wie alte Schindeldächer, lag das Gesicht an der unsichtigen Beleuchtung, zerschichtet, Stirn, Schläfen, Nase, Jochbeine, Schneidezähne, Eckzähne verschiedenen Richtungssystemen entstammt, alles, vorläufig gleichsam, lässig, zusammengeschossen, vieles schief, nur ein überaus gerades, unerträglich steiles Rückgrat durch das Ganze von unten nach oben gestrahlt. Denn das Rückgrat dieses Menschen fing unten an, bei den Steißwirbeln, und er saß daraufgespießt, so hochgeboren, daß es unter seiner Würde gewesen war, seinerzeit für ein deutliches Menschengesicht Sorge zu tragen. Die nachlässig gemachte Andeutung eines solchen war nonchalant ausgesteckt. Das Fett wurde in eine damastene Serviette gewischt, Mund und Finger strichen wechselweis darin herum, zuletzt schneuzte die Nase sich über das Gesamtbild hin, oberhalb dessen sie stand wie der Erker eines Trompeterschlößchens. Indessen zuckte schräg durch dunkle Lüfte der Diamant, es gab in Verbindung damit einen Ruck. Die Schnur, welche durch vordere Wagenwand in den großen, nirgend begrenzten Kosmos leitete – zunächst bis zum Oberarm des Kutschers –, ward stark angezogen, daher denn der Wagen auf freiem Feld anhielt. Die beiden bezahlten Gesichter an der Rückwand tanzten unter wesenlosem Gelächel auf und nieder, aus stieg der Herr vom Fond, um sein Rückgrat angeordnet, respektvoll unter Augen gehalten von den beiden im Wagen.

Unterm offenen Himmel angelangt, suchte er sich etwas Hagedorn beim Wegrand, um stillzustehen, die Hand mehrfach gegen den alabasterblassen Horizont zu werfen und sein Wasser abzuschlagen, wobei er gegen den Wagen knarrte: »Hesperus.« Pflichtgemäß hielten die Häupter Ausschau, Hesperus ward gesucht und gefunden, Beifall verlautbart. Dann wichen die Häupter, auf Station gefaßt – der Graf war blasenleidend – in den Verschlag.

»Hesperus,« sagte eine der Rücksitzgestalten, ein behender, ältlicher Mensch, leise und überschnell in der italienischen Sprache, » attenzione, jetzt da ist der Bestie leider eine stella cadente, künstlerische Sternschnuppen, ins Hirn einzischet; ohimè, ahnen wir, Abbate, das nächste Tableau? Den nächsten originalen Claude Lorrain? mit dem Seine gräfliche Impotenz nun subito, subito ächzend und krächzend in Wochen kommt, bis ich für Ihro Gnaden begonnene Angelegenheit alleruntertänigst zu Ende gebären darf, fertig für letzte Überpinselung und allergnädigste Namensunterschrift. Vielleicht auch,« schwatzte er angesichts der entschiedenen Beleuchtung, »versehen wir uns diesmal am Salvatore Rosa oder am Ruysdael.«

»Achtung,« schwatzte ebenso schnell, aber bedeutend schlechter, in wirrem Italienisch, der kleine, dicklippige Abbate, der keine Serviette gehabt hatte und Nachlese hielt in Mundwinkeln und zwischen den Zähnen. »Achtung, dem Verräter von Kutscher trau' ich nicht, welche Sprachen er kann und welche nimmer. Die Frau Gräfin, das ist ausgemacht, hat er ins Verderben gerissen, weil er Polnisch versteht, ich lasse mich drauf vierteilen, er hat dem gnädigen Herrn gepfiffen.«

»Ockergelb – blau – schwarz,« schrie vom Hagedorn mit rasselnder Stimme der Graf herüber. »Notier' Er's, Corradieri, Obacht.«

» Pronto, Eccellenza,« schrie der Maler, »es ist notiert, in der Herzkammer notiert, – o Gott, was für ein Auge! Ist denn die Bestie nicht beschäftigt, zum Teufel?« zischte er durch seine Zahnlücken gegen den Hausgeistlichen.

»Der Herr Graf tun in jeder Lage etwas für die Kunst,« sprach, diesmal deutsch, laut, gegen den Kutscher, der Abbate und wischte Spritzer vom Jabot. »Gott, welch ein Mann! Ruhelos für alles portiert, was schön ist. Da schaun's her, cacatum est pictum, sozusagen. – Ich lasse mich hängen, Corradieri,« begann er neue, holperige, zischende Wasserfälle von Italienisch gegen den Maler zu schleudern, »hängen lass' ich mich, ist die Frau eines natürlichen Todes gestorben.«

»In diesem Fall freilich,« sprach der Italiener, »hätte Seine Exzellenz sie untrüglichermaßen mittels der einen oder andern Kunstgattung mumifiziert. Mit keinem Knie- oder Bruchstück jedoch, keiner allegorischen Statue, keinem Karmen ist die Mitwelt anläßlich des gnädigsten Hinscheidens molestiert worden. Scheint nicht die Frau schlechthin zu verwesen? Unangefochten von Musen und Grazien? Nein, hier stimmt allerdings etwas nicht, dies Schweigen deutet auf krasse Taten, unnatürliche Vorkommnisse. Es kann sonst, so wahr ich vor dem Angesicht Gottes stehe, auf dem Stuppach keine Kuh krepieren, ohne, es gibt künstlerische Beiluft.«

»Eine sehr eine stimmungsreiche, wasserdampferfüllte Luftperspektiven dahier, schmutzig-blau, verwaschen gegen nördlich aufgetauchten Kahlenberg,« schrie der Graf, »Notier' Er Sich's, Corradieri, Böotier, anstatt mit seinem Geschwätze die Luft zu zerbohren wie 'n Holzwurm. Diantre, mein Unterleib. Ich bin ein toter Mann ohne Wärmflaschen.«

»Ein göttlicher, ein wahrhaft erstaunlicher Mann,« rief Corrabieri und rasselte italienisch weiter: »Was hat das Schwein mit der Luftperspektiven? Jetzt, da wird er mich wieder zerquälen, Abbate, geb' Er Obacht. Man ißt sein Brot nicht umsonst auf dem Stuppach. Hat er sich am Guardi versehen diesmal? Am Canaletto? Wer kann's denn wissen, über welcher besonderen Musen er gesessen ist dieser vierzehn Täg', sie zu notzüchtigen in seinem geheimen Kabinettchen? Geächzet hat er und Tabak verbraucht hat er für etliche Kamönenserails.«

»Was ich wissen möchte,« bemerkte, drei Kinne übereinander auf den Stockknopf geschoben, der Abbate, »wäre zuvörderst dieses: Was, amice, wollen wir in dem Wien? Hier hat es drei Möglichkeiten. Primo: wir tun einen andern Hausgeistlichen ein, bei denen Theatinern, schlechten Menschen, wo er's so schon immer mit hat. Ober da gurgeln wir einmal zum échangement den langnaseten Corradieri ab, miserabeln Italiener, und tun ein anders Originalgenie hinter Schloß und Riegel. Terzo–«

» Terzo: die Blasen,« rief Corradieri. »Er tut in Wien den Arzt benötigen, keine Gefahr.«

»Leicht hinhüpfendes Kindsvolk, die Künstler,« sprach gedrückt der Abbate. »Auf der Blasen hat er's eh nimmer so sehr, seitdeme daß er von den fußkalten Treibjagden Abstand genommen. Wöllt' noch der Himmel,« sprach er, »es tät um ein' Mätressen sein. Eine Herrschaft, die sich Mätressen hält, hast hernacher so gut als schon im Sack. Aber in nichts ist er denn in ihme selber verliebt, alter abgenagter Narzisso, und ist ihme darum in der Ewigkeit nimmer beizukommen, nicht von Gott, nicht vom Satan. Was er nur intendiert in dem Wien? Völlig auf den Schneller her, und zuvörderst vierzehn Täg' in dem Kabinett brüt't.«

»Jetzt, was wird's hernacher auf die Letzt anderst sein denn ein überlebensgroßes Windei?« sprach der Italiener. »Vielleicht, daß er neuerdings einmal will unter die Kompositeurs gehen, einzige Kunst, die er noch nimmer ausgehunzt hat, und ist in dem Wien auf einen Lehrer aus. Oder nein, – was Lehrer? Einen armen Hund sucht er, der im Druck sitzet und machet ihme für Geld ein Meisterwerk, mit dem er alles auf dem Stuppach kann seiner Täg' gewaltig in Erstaunen setzen. Dahier, Obacht, schau Er sich den Storchen im Salat an, Abbate, wie er umeinandstelzet und gegen alle Couleuren des Himmels empor visiert. San Luca muß ein Bauchgrimmen davon haben, schaut er jetzt herunter.«

Der Graf wandte sich um und kam über Hartheu und Heidekraut herangestiegen, mit einer Hand hielt er sich das schwarzgefaßte Augenglas vor, mit der andern knöpfte er seine Hosentür zu. Der Kutscher salutierte ihm mit der Peitsche, und er stieg ein.

Gleichen Abends zu Wien zwängte bei starker Dämmerung der bauchig gebaute Kutschwagen sich in die schmale Straße, die mit ärmlichen Häusern auf ihn herabstarrte. Es ward gehalten, aus stieg der Graf. Die Begleiter im Wagen hatten ihn daselbst zu erwarten, indes der Kutscher sie langsam im Kreise fuhr, sechs-, zwölf-, achtzehnmal vor demselben matt erleuchteten Eingang eines Kasperltheaters vorbei, zu dem die Leute in mäßig starken Trupps kamen. Ein Ölpapier, Lampen dahinter aufgestellt, zeigte seitlich überm Torwege Kasperl, wie er mit der Pritsche den Tod bekämpft, einen Knochenmann von beträchtlich scheußlichem Lächeln. Eben holte das Gespenst mit der Sense aus, den armen Kasperl vom Erdboden wegzumähen, darauf er schön tanzend sich zu erhalten bemüht war. Vorerst rettete sich der wienerische Lokalgenius noch durch salto mortale, so daß ihm die Schneide untern Schuhsohlen wegfuhr. Aber wie, so fragt man sich, geht dennoch der Zweikampf aus? »Kasperl und der Tod,« besagte der Komödiantenzettel nur, es lohnt demnach, hineinzugehen.

Indes stand der Graf im unbeleuchteten Schacht eines Treppenhauses. Das Milchmädchen, das von oben hergeträllert kam, ließ er vorbei und tat, seitlich über die Rocktasche gebückt, die schwarze italienische Halbmaske vor, welche er mit festem Spagat hinter die Ohren band. Da der Mann so gut wie keine Nase hatte oder doch erst ganz unten, wo die Löcher befindlich, etwas in der Art, so rutschten ihm die Augenschlitze mehrmalen vor ganz indifferenten Stellen der Haut, solchen ohne Sehnerv, herum. Daher geschah es, daß er sich an den schiefen und ausgetretenen Stufen je nachdem Schienbeine oder Waden stieß, welche beiden Partien bei ihm einzig durch verschiedene Richtungslage im Weltganzen unterscheidbar waren.

»Eine Sauwirtschaft hier,« bemerkte er, herangekrümmt zu Türschildern, wo sich auch bei richtig sitzenden Sehlöchern nichts erkennen ließ. Hinter der einen Tür sang es, hinter der andern zankten sich zwei, der Wut nach ein Ehepaar. Er dachte zufrieden an seine Gräfin, nunmehr dem Zanken und anderen Menschlichkeiten enthoben, einwandfreier Gegenstand für ein Requiem. Beim nächsten Stockwerk, so beschloß er im Hinaufsteigen, wird geklopft und nach dem Compositore gefragt. Schon aber fügte sich's, daß, indem er ins Dunkle hinein klopfen wollte, vor seiner Hand mit dem Diamanten die Tür wich – unsichtbar, unhörbar wich, wenig fühlbar wegschwebte, sich schief mit ihm in einen dunklen, warmen Raum stellte, wo eine Luft war, wie er keine kannte. Hinter einer andern Tür ward ein Klavier flüchtig angerührt, es beschloß ein abgebrochener verminderter Akkord mit einem Lächeln von unaussprechlich beiläufiger Todestraurigkeit eine Kadenz, gleichsam, als seufze nur eben ein wenig die Luft, und herein, ohne zu klopfen, trat der Mann, der bei keiner Tür der Welt, offener oder geschlossener, sich Nennenswertes zu denken vermochte, so wenig er jemals eine authentische Kadenz von plagaler zu unterscheiden den innern Antrieb bemerkt hatte.

»Jesus Maria,« sagte es mit schwacher Stimme drüben, indes er gewissenhaft die Gegend seiner Backenknochen nach den verrutschten Sehlöchern abtastete, der Ansicht, es handele sich bei hier vorhandener erschrockener Person um einen Pfandleiher, eine weise Frau oder Hure; bei diesen nutzbringenden Gliedern der Gesellschaft hätte er offene Wohnungstüren in der Ordnung gefunden.

»Wohnt,« fragte er, – »guten Abend allerseits, – wohnt hier irgendwo ein gewisser Mozart, Kompositeur?«

»Jesus Maria,« ward von dem Menschen beim Klavier geantwortet, und, gelähmt durch den Anblick der Maske, schlug er sich sehr langsam Kreuze über Stirn und Brust. »Hier.«

An Glück dieser Art gewöhnt, trat der Graf Walsegg herzu, vorsichtig, dürrbeinig und um bereits wieder verrutschte Sehlöcher bemüht. Als er sie von neuem vor geeigneter Stelle sitzen hatte, sah er einen Menschen, von dem bei der Dunkelheit nur Umrisse zu erkennen waren, über das kleine Klavier gelehnt, Hände gerungen. Er fragte: »Der Herr Mozart persönlich?«

Was er herauswürgen hörte, konnte so gut nein wie ja bedeuten, auch schien es ungewiß, ob es mit Weiber- oder Mannsstimme gesprochen sei. Über das schlechthin Menschliche also vor ihm beugte sich der Graf langsam herein, untersuchte, dem schmalen Instrument aufgestützt, dasjenige, was bewegungslos zu seiner Maske aufstarrte. Alles in allem schien es ein Mann zu sein, es ließen sich mit nahezu völliger Sicherheit Hosen vermuten, welche dem Grafen durchaus genügt hätten, das Ingenium festzustellen. Als Mensch, der gern sicher ging, griff er aber dennoch zu, strich über eine männliche Frisur, faßte auf der Klaviatur Finger, kalt, wie einer Leiche, die sich unter seinem Griff krümmten.

»Ich komme,« sprach er ohne Umschweif und in munterem Ton, »in künstlerisch erfreulicher, menschlich hingegen bedauerlicher Angelegenheit. Eine Totenmusik ist zu machen. Es eilt, es eilt. Wie denkt der Herr Mozart darüber?«

Die Entgegnung ward, kaum hörbar, geseufzt: »O Jesus Maria, das ließ sich leicht denken.« Dann, indem der Graf an den Sehlöchern zu tun hatte: »Bitt' schön, für wen?«

»Für eine verstorbene Person, mein Lieber,« sagte der Graf von oben herab. »Das dürfte genügen für Information wie für Inspiration. Verstorben, schlechthin verstorben, versteht Er, begreift Er? Nach voraufgegangener Todsünde kurzerhand verstorben. Der Tod ist der Sünde Sold. Eine arme Seelen also, welche, wie sich einsehen läßt, die Barmherzigkeit Gottes anzuflehen alle Ursache hat, alle Ursache, in der Tat.«

»O du mein barmherziger Heiland, das lässet sich denken,« murmelte es im Dunkeln. »Darf ich jedoch fragen,« – wieder sah der Besucher, daß Kreuze geschlagen wurden – »auf welch eine Weise der Herr hier hereingekommen sind?«

»Die Tür,« sagte der Graf, »ist offen genug g'standen für mich, offen genug g'standen ist sie, offen g'standen für dreie meinesgleichen, doch gibt es die nicht, da ich einzig in meiner Art.«

Der Mann beim Klavier nickte mit schweren Neigungen des Kopfes. Vor seiner innerlichen Anschauung, einer gleichsam zerknitterten, zerfetzten, zerschlagenen, welche zu jenem »Wirklichkeit« genannten Übereinkommen seit einiger Zeit seltsamerweise nicht mehr passen wollte, vor dieser Anschauung streifte das Lichtbild vom Kasperltheater hin. Dort mußte, eben um nämliche Zeit, sein Weib mit den Buben sitzen, kandierte Nüsse essen und vor Lachen schreien. Dann wieder rettete er sich zu dem bewußten, Wirklichkeit genannten Verhältnis zurück. Die Abendmillich, dachte er, nu freilich. I hab haltern das Schloß nimmer einklinket, wie schon das andere Mal, z'wegen derer Musik oder z'wegen derer Malaria oder z'wegen sonst was. Und wahrlich, mit gesundem Verstand, nüchternem Wirklichkeitssinn betrachtet, – konnte denn das, bitt' schön, etwas Besonderes genannt werden bei einem Mann, der sogar am Abend seines Hochzeitstages die Wohnungstür hat sperrangelweit offenstehen lassen? Offen, freilich! So daß ihm und der Kostanza morgens der erste Lendemain-Besucher mit dem Priamerlscherben beim Bett g'standen is? Und damals war er noch gesund gewesen, jetzt war er krank, unleugbar krank, hatte jeden Abend Schlag sechs seinen ausdauernden Schüttelfrost, nahm ihn, wenn die Zauberflöte zu dirigieren war, mit ins Wiedener Theater und verlor ihn unterm ersten Akt. Oder er ging in einem andern Fieber unter, das, süß und quälerisch, mit dem Mark durch alle Knochen hinfloß. »Nu – alsdann a Totenmusik wär' es,« sagte er, schnell aufgeheitert von seinem Lieblingsgedanken: Fein brav ein Geld gemacht! – »'s is schon recht,« rief er und klapperte nur noch ein weniges mit den Zähnen. »Und wer alsdann tut sie b'stellen, bitt' schön?«

»Ich,« sprach die Maske.

»'s is schon recht. Mit wem, mein' ich,« – hier war wieder herzzerschneidende Angst im Ton »mit wem, möcht' ich wissen, daß ich das ungemeine und schätzenswürdige Vergnügen habe?«

»Mit mir,« sprach die Maske. »Ist die Sache noch nicht klar? Ich sollte meinen. Es ist jemand gestorben. Net wahr? Das ist meine Sachen. Net wahr? Ich benötige aus diesem Grund eine Totenmusik. Net wahr? Gleichfalls meine Sachen. Am soundsovielten Jänner hat das Opus fertig vorzuliegen. Orchester- und Singstimmen wie Partitura sind vollzählig auszuliefern. Ich werde im Spanischen Café bei Mariahilf sein. Kennwort,« sagte er nachdenklich: » Requiem. Requiem aeternum. Gut. Name hat keiner draufzustehen.«

»Name – keiner?«

»Gleichsam, als ob weder Er noch ich einen Namen hätten, ganz recht. Im Reich der Toten hat es all solchene törichte Leidenschaft nimmer.«

»Leidenschaft?«

»Der Name ist nur eine Leidenschaft,« sprach es. »Denk' Er sich zum Exempel, die arme Seelen, die, für welche das Stück eine Verehrung sein soll, sei vom Leibe geschieden worden wegen ihrer Leidenschaft. Soll ihr nun im Fegfeuer ein Requiem helfen, woran der Kompositore selbsten nichts hat denn ein Theater der eigenen Leidenschaften?«

»Name – keiner,« sprach Mozart. »Es ist schon recht. Wann es meinen Namen nimmer ausspräche, das Stück, ausspräche durch sein erstes Gestöhn, wann es die Lüfte bewegt, nachher da wär's doch gefehlt. Name keiner. Freilich, freilich. Es ist schon recht. So muß es werden,« dachte er, »daß die Musik selbsten zum Namen geworden ist, weil nun der ganze Mensch in seine Musik eingangen is und nicht mehr da.« – Wieder kamen verwirrte und fremdartige Gedanken, doch klimperte bereits im Finstern erwünschte Musik des Geldes. Stück um Stück fiel vor ihm aufs Klavier und brachte ihn sehr rasch wieder zu sich selbst.

»Dies für die Totenmusik,« sprach die Stimme, mit jedem Laut wesenloser. »Dies« – es klang, zeichnete sich krumm die neue Linie Goldes in die Dunkelheit, »für die umgehende Erledigung, prontezza, denn es eilt, es eilt, der Todestag kommt heran. Dies,« die dritte, längste Linie erschien gekrümmt, funkelte, klingelte, die Stimme kam wie aus Kälte todeinsamer Weltenräume, »dies für die größeste, allersorgfältigste Diskretion. Pian piano,« und eben hier mußte es eine Saite anreißen, zwei, drei Stücke mußten hinabtänzeln, das ganze Innere des Klaviers mußte lachen, einen grellen, unerhörten Akkord herausschwirren, es war wie Hohn eines großen Gottes.

»Abgemacht also,« sprach im Zurückweichen der Fremde. »Und etliche Dublonen finden sich im Diskant.« Er war bereits an der Tür, die er rückwärts durchschritt, die Sehlöcher – augenlos, da die Maske übermalen abgeglitten – gegen die Stube, den Künstler gerichtet. Vom Wagen, welcher unten vorfuhr, schlug Lichtschein hoch, machte die Fenster hell und zeigte weiße Streifen an Stelle der Augen. Dann war die Erscheinung ins Dunkle zurückgeschlungen, ein Goldstück klang noch, wie aus Träumen, tief und tiefer in den Saiten herum. Unten klappte ein Schlag zu, ab fuhr der Wagen. Stumm blieb in der dunklen Stube der Mann, festgefroren in ihm gleich neuartigen Kristallbildungen Zeit und Raum. Träge, schwer, mit tödlichen Stößen, arbeitete in seinem Herzen das Blut. Er achtete darauf und glaubte etwas zu vernehmen wie Stampfen der geharnischten Männer in der Zauberflöte, ausgestellt vor den Pforten des Todes. Mit schweren Zuckungen sang sein Blut den letzten Choral:

»Der, welcher wandelt diese Straße voll Beschwerden,
Wird rein durch Feuer, Wasser, Luft und Erden,
Wenn er des Todes Schrecken überwinden kann.«

Alsdann – avanti, lesto, lesto, gearbeitet muß sein, sagte er sich, zu was soll all das? Requiem, Requiem aeternum, dachte er, arbeitete er, spielte er eine Stunde lang und länger, dann ward der Schlüssel im Schloß gedreht, die Frau mit den Buben. – Licht angeschlagen. – »Jess', Mar' und Joseph, bist das du?«

Requiem aeternum. In letztes D-Moll fing an, Well' auf Welle, das süße, klingende Leben einzumünden, breiter und breiter ihm vor Augen, grau, weit, ans Unendliche verspült, schönste Mündung. Kerzen aufgesetzt und die ganze Nacht geschrieben! Es eilt, es eilt!

»Der Kasperl is gar so lieb g'wesen, Papa.« –

»Da schau hier, Papa. So hat er ihme mit dem Knochenmannderl herumg'haut. Da schau her, so. – G'schreit hab'n mer vor Lachen, die Mama und der Karl und ich. Gelt, Mama?« –

»Gute Nacht, die lieben goldenen Buben. Gute Nacht, Stanzerl, Bagatellerl.«

Requiem aeternum. Et lux perpetua.

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1923, im Herbst.

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