Leo Tolstoi Sohn
Ein Präludium Chopins
Leo Tolstoi Sohn

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VII.

Kriukoff mußte auf dem Wege nach seinem Hause lange über das alles nachdenken, was er während dieses Abends, den er in so unerwarteter Weise verbracht, gehört hatte. Doch seltsam! obwohl Komkoff ihm so warm geraten hatte, sich zu verheiraten und sich selbst als lebendiges Beispiel eines verheirateten jungen Mannes voll Gesundheit und Thätigkeit präsentiert hatte, so waren seine schneidigen Reden doch eine zu schwache Hilfe für Kriukoff, um ihn über seine eigene Lage aufzuklären; im Gegenteil, sie brachten seine Ideen noch mehr in Verwirrung. Kriukoff konnte seinem Kameraden nicht beistimmen.

Das alles war in Worten sehr schön, doch es war von der Wirklichkeit und einer praktischen Lösung so weit entfernt, wenigstens für ihn, daß es besser war, gar nicht an das Unmögliche zu denken.

»Komkoff kann leicht so sprechen; jetzt, da er verheiratet ist, da er umsonst wohnt, da seine Mutter und vielleicht auch die Verwandten seiner Frau ihm zu Hilfe kommen. Es ist ihm leicht, so zu sprechen, da seine Frau wahrscheinlich nicht an den Luxus gewöhnt ist und sich mit dem begnügt, was sie hat. Doch könnte er, Kriukoff, Sonitschka in eine solche Baracke einführen? Und würde er überhaupt noch eine solche haben?«

»Es ist schade, daß ich nicht die ganze Geschichte von Komkoffs Ehe kenne,« sagte Kriukoff zu sich selber. »Obwohl er sagt, man müsse sich selber helfen, steht es doch fest, daß ihm jemand zu Hilfe gekommen ist, wenn nicht seine Familie, so doch wenigstens die seiner Frau. Übrigens wer weiß – er ist so kräftig, vielleicht hat er sich selbst aus der Affaire gezogen. Doch wie könnte er, Wanja Kriukoff, sich mit einer Prinzessin Baretzki verheiraten?«

Und diese letzte Phrase kam ihm unaufhörlich in den Sinn:

»Er, Wanja Kriukoff!«

»Was nun? Fünf, zehn Jahre warten? Kann man seinen Körper und sein Herz so lange rein intakt erhalten? Kann man für sich selbst stehen, den Versuchungen widerstehen, die uns umgeben und während dieser ganzen Zeit das Feuer ersticken, das nicht aufhört, in uns weiter zu brennen?«

»Nein, nein,« wiederholte sich Kriukoff stets, »es ist mir nicht erlaubt, an Sonitschka zu denken; ich muß sie sehr schnell, sehr schnell vergessen; das ist das einzige, was mir zu thun übrig bleibt. Und warum habe ich mich von einer solchen Zuneigung fortreißen lassen, warum habe ich so viel an sie gedacht und von ihr geträumt, wenn mir nichts weiter übrig bleibt, als ein Gegenstand des Gelächters für mich und die andern zu werden?«

Und plötzlich erinnerte er sich an die Worte Komkoffs über die Liebe.

»Die Liebe existiert nicht, sie ist nur ein geschlechtliches Bedürfnis zur Zeit der körperlichen Reife.« – »Wäre denn das so einfach? Sollten seine Gefühle für Sonitschka nur eine Qual sein, nur das Bedürfnis, die geschlechtliche Seite seines Wesens zu befriedigen? Sollten sich alle seine poetischen Träume in so plumper, so materieller Weise erklären?«

»Das kann nicht sein, nein, das kann nicht sein,« sagte sich Kriukoff.

»Wie? Und was er gestern empfand, als er mit ihr tanzte, und was er heute empfand, als er sie nach dem Bahnhof begleitete, das war keine Liebe, keine brennende und aufrichtige, wahrhafte Liebe? Gewiß ja, gewiß war das Liebe. Und jetzt? Jetzt, da sie fort ist, kann er, obwohl er nicht aufhört, an sie zu denken und sich ihrer zu erinnern, sie schon nicht mehr so leidenschaftlich lieben? Warum nun an sie denken, da das ja doch zu nichts anderem führen wird, als zu Qualen? Ich muß sie sehr schnell vollständig, ganz und gar aus meinem Gedächtnis verjagen!«

Und je mehr sich Kriukoff seiner Wohnung näherte, desto trauriger und verwickelter erschien ihm seine Situation. Er war sich unbestreitbar über eines klar und zwar mit dumpfem Schmerze, daß er sich krank, elend und einsam, unsäglich einsam auf der Welt fühlte, und daß er Sonitschka vergessen mußte, gleichviel, ob er sie lieb hatte oder nicht.

Als er an seinem Hause angelangt war, blieb er auf der Schwelle der Wohnung stehen und drückte auf den elektrischen Knopf der Klingel, damit ihm die Thür geöffnet werde.

»Morgen muß ich noch zehn Tage Linguistik lesen und die Hälfte der römischen Geschichte repetieren,« dachte er unruhig.

Die junge Matruscha ließ ihre schleppenden Schritte auf den letzten Stufen der Steintreppe ertönen. Der lange Eisenriegel knirschte und Matruscha trat zur Seite, um Kriukoff in das niedrige und kalte Vorzimmer eintreten zu lassen. Sie trug jetzt eine kleine weiße Nachtjacke, die aufgeknüpft war und deren Ränder sich nicht über ihrer starken Brust schlossen. Ihr leuchtendes Gesicht glänzte wie stets und ihre roten Lippen lächelten.

Kriukoff kletterte die Treppe herauf, warf seinen Mantel auf einen Stuhl und wandte sich schnell durch den dunklen Korridor seinem Zimmer zu. Er setzte sich und öffnete das erste Buch, das ihm in die Hand fiel. Es war Tacitus. Er hatte auch eine ganze Reihe von Kapiteln für das Examen zu präparieren. Doch warum? wozu? Tacitus hatte die ganze letzte Zeit über Kriukoff gequält und gereizt.

Obwohl er in der philologischen Facultät die Sektion der lebenden Sprachen anstatt der klassischen Sektion gewählt hatte, so hatte er doch trotzdem zu dem verdammten Latein zurückkehren müssen. Und nicht zufrieden, die Autoren zu übersetzen, hatte er lateinische Arbeiten machen müssen, dieselben Extemporalia, von denen er gehofft hatte, nach seinem Examen auf immer befreit zu sein.

Jetzt hatte er keine Lust mehr, zu schlafen. Nachdem er in der frischen Luft spazieren gegangen war und sie mit vollen Lungen eingeatmet hatte, fühlte er, daß er in seinem kleinen Zimmer erstickte. Er erhob sich und öffnete das Fenster; die frische mit den Düften des Frühlings geschwängerte Nachtluft schlug ihm ins Gesicht. Er atmete aus voller Brust und setzte sich an seinen kleinen Tisch, nachdem er sein Buch auf das Fenstersims geworfen hatte.


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