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Der Morgen eines Gutsbesitzers

Bruchstücke aus eimem unvollendeten Roman Ein russischer Gutsbesitzer

Übertragen von Karl Nötzel

1

Fürst Nechljudow war neunzehn Jahre alt und besuchte den dritten Universitätskursus, als er für die Sommerferien auf sein Dorf zog und dort den ganzen Sommer allein verbrachte. Im Herbste schrieb er dann mit seiner noch nicht fest gewordenen, kindlichen Handschrift seiner Tante, der Gräfin Bjelorjezki, die, wie er glaubte, sein bester Freund und die genialste Frau auf der ganzen Welt sei, folgenden, hier in der Übersetzung wiedergegebenen französischen Brief:

›Mein liebes Tantchen! Ich habe einen Entschluß gefaßt, von dem das Schicksal meines ganzen Lebens abhängen muß. Ich will die Universität verlassen, um mich dem Leben auf dem Dorfe zu widmen, weil ich fühle, daß ich dazu geboren bin. Um Gottes willen, liebe Tante, lachen Sie nicht über mich! Sie werden sagen, ich sei jung; vielleicht ist das auch so, ich bin noch ein Kind. Das hindert mich jedoch keineswegs, zu wünschen, das Gute zu tun und zu lieben.

Wie ich Ihnen bereits schrieb, fand ich meine Angelegenheiten in unbeschreiblicher Verwirrung vor. Als ich sie in Ordnung zu bringen gedachte und mich hinein vertiefte, entdeckte ich, daß das Hauptübel in der über alle Begriffe erbärmlichen ärmlichen Lage der Bauern beruht und daß das ein solches Übel ist, daß man es nur durch Arbeit und Geduld zu beseitigen vermag. Wenn Sie nur zwei von meinen Bauern sehen könnten, David und Iwan, und wüßten, was für ein Leben sie mit ihren Familien führen, so bin ich überzeugt, daß schon allein der Anblick dieser beiden Unglücklichen Ihnen mehr als alles das, was ich Ihnen sagen kann, meinen Entschluß erklären würde. Ist es denn nicht meine heilige und unmittelbare Verpflichtung, mich um das Schicksal dieser siebenhundert Menschen zu kümmern, für die ich Gott werde Rechenschaft ablegen müssen? Ist es denn nicht Sünde, sie der Willkür der rohen Ältesten und Verwalter zu überlassen und selber dem Genuß oder dem Ehrgeiz zu frönen? Und warum soll ich denn in einer anderen Sphäre die Möglichkeit suchen, nützlich zu sein und Gutes zu tun, wenn sich mir eine so vornehme, glänzende und naheliegende Pflicht eröffnet? Ich fühle mich imstande, ein guter Landwirt zu sein; um aber das zu sein, was ich unter diesem Worte verstehe, dafür bedarf ich weder des Kandidatendiploms noch eines Dienstranges, die Sie so für mich wünschen. Liebes Tantchen, schmieden Sie keine ehrgeizigen Pläne für mich. Gewöhnen Sie sich an den Gedanken, daß ich einen ganz besonderen Weg gehe, der aber schön ist und ich fühle das mich zum Glücke führen wird. Ich habe sehr viel nachgedacht über meine zukünftigen Pflichten, ich habe mir Regeln zum Handeln aufgeschrieben; und wenn mir nur Gott Leben und Kräfte geben wird, so werde ich in meinem Unternehmen Erfolg haben.

Zeigen Sie diesen Brief nicht meinem Bruder Wassja: ich fürchte seinen Spott; er ist gewohnt, mich zu beherrschen, und ich gewöhnte mich, mich ihm zu fügen. Was Wanja anbetrifft, so wird er meinen Entschluß begreifen, wenn er ihn auch nicht billigen wird.

Die Gräfin sandte ihm folgendes Antwortschreiben, das hier ebenfalls aus dem Französischen übersetzt ist:

›Dein Brief, lieber Dmitri, hat mir nichts bewiesen, als daß Du ein gutes Herz hast, woran ich niemals zweifelte. Indes, lieber Freund: unsere guten Eigenschaften schaden uns mehr im Leben als unsere schlechten. Ich werde nicht sagen, daß Du eine Dummheit machst, daß Dein Betragen mich bekümmert, ich will Dich vielmehr nur zu überzeugen suchen. Laß uns einmal überlegen, mein Freund! Du sagst, Du fühlest Dich zum Landleben berufen. Du wollest Deine Bauern glücklich machen, und Du hoffest, ein guter Landwirt zu sein. Erstens muß ich Dir sagen, daß wir unsere Berufung erst dann fühlen, wenn wir uns schon einmal in ihr irrten. Zweitens, daß es leichter ist, sich selber glücklich zu machen, als andere zu beglücken, und drittens, daß, um ein guter Landwirt zu sein, man ein kalter und strenger Mensch sein muß, was Du kaum jemals werden wirst, wenn Du Dir auch alle Mühe gibst, Dich für einen solchen auszugeben.

Du hältst Deine Erwägungen für unerschütterlich und sogar für Regeln im Leben; in meinem Alter aber, mein Freund, glaubt man nicht an Erwägungen und Regeln, vielmehr nur an die Erfahrung; die aber sagt mir, daß Deine Pläne Kinderei sind. Ich bin schon fast fünfzig Jahre alt, und ich habe viele würdige Menschen gekannt, niemals habe ich aber gehört, daß ein junger Mann mit Namen und Fähigkeiten sich unter dem Vorwand, Gutes zu tun, auf dem Lande vergraben habe. Du wolltest immer als ein Original erscheinen. Deine Originalität ist aber gar nichts anderes als übermäßige Selbstliebe. Und, mein Freund, wähle lieber geebnete Pfade: sie führen leichter zum Erfolg; wenn Du den aber auch schon nicht für Dich selber nötig hast, so ist er doch unerläßlich dafür, das Gute tun zu können, das Du liebst.

Die Armut einiger Bauern – ist entweder ein unvermeidliches Übel oder ein solches, dem man abhelfen kann, ohne alle seine Verpflichtungen gegenüber der Gesellschaft, seinen Verwandten und sich selber zu vergessen. Bei Deinem Verstand, Deinem Herzen und Deiner Liebe zur Tugend gibt es gar keine Karriere, in der Du nicht Erfolg hättest; wähle aber wenigstens eine solche, die Deiner würdig ist und Dir Ehre einträgt.

Ich glaube an Deine Aufrichtigkeit, wenn Du sagst, Du habest keinen Ehrgeiz; Du betrügst Dich aber selber. Ehrgeiz ist eine Tugend in Deinen Jahren und bei Deinen Mitteln; sie wird erst zu einem Mangel und einer Gemeinheit, wenn der Mensch schon nicht mehr imstande ist, diese Leidenschaft zu befriedigen. Auch Du wirst das erfahren, wenn Du Deinen Entschluß nicht änderst. Leb wohl, lieber Mitja! Mir scheint es, ich liebe Dich noch mehr wegen Deines albernen, aber edlen und großherzigen Planes. Handle so, wie Du willst; ich gestehe aber, ich kann nicht einverstanden sein mit Dir.

Als der junge Mann diesen Brief erhielt, hatte er lange Zeit über ihn nachgedacht, endlich aber entschieden, daß auch eine geniale Frau sich irren könne. Darauf hatte er dann sein Entlassungsgesuch bei der Universität eingereicht und war für immer auf dem Lande geblieben.

2

Wie er seiner Tante mitgeteilt, hatte sich der junge Mann Verhaltungsmaßregeln für sein Wirtschaften aufgeschrieben, und sein ganzes Leben und alle seine Beschäftigungen waren eingeteilt nach Stunden, Tagen und Monaten. Der Sonntag war bestimmt zum Empfang von Bittstellern, Hofleibeigenen und Bauern, zum Besuch der Wirtschaften armer Bauern und zur Gewährung von Hilfe mit Zustimmung der Bauerngemeinde, die sich jeden Sonntag abends versammelte und entscheiden mußte, wem Hilfe zu erweisen nötig sei und was für eine. Unter solchen Beschäftigungen war schon ein Jahr vergangen, und der junge Mann war schon nicht mehr völlig Neuling, weder in praktischer noch in theoretischer Kenntnis der Landwirtschaft.

Es war an einem klaren Junisonntag; Nechljudow hatte eben Kaffee getrunken und ein Kapitel des › Maison rustique durchlaufen. Nunmehr verließ er, sein Notizbuch und einen Packen Banknoten in der Tasche seines leichten Mantels, das große Landhaus mit seinen Terrassen und Säulenhallen, in dessen Erdgeschoß er ein einziges kleines Zimmerchen bewohnte, und wandelte auf den ungepflegten, verwachsenen Wegen des alten englischen Gartens dem Dorfe zu, das zu beiden Seiten der Chaussee lag. Nechljudow war ein hochgewachsener, gutgebauter junger Mann mit langem, dichtem, lockigem, dunkelrotbraunem Haar, mit lichtem Glanz in den schwarzen Augen, mit frischen Backen und roten Lippen, über denen sich eben der erste Flaum der Jugend zeigte. In allen seinen Bewegungen wie auch in seinem Gange offenbarten sich Kraft, Energie und die gutmütige Selbstzufriedenheit der Jugend. Das Bauernvolk kehrte gerade in bunten Haufen aus der Kirche zurück; Greise, junge Mädchen, Kinder, Weiber mit Brustkindern schritten in Feiertagskleidern ihren Hütten zu. Alle verneigten sich tief vor dem gnädigen Herrn und machten ihm ehrerbietig Platz. Auf der Chaussee blieb Nechljudow stehen, nahm sein Notizbüchelchen aus der Tasche und las auf der letzten mit kindlicher Handschrift beschriebenen Seite einige Bauernnamen, denen Bemerkungen beigefügt waren. Iwan Tschurisenok bat um Stangen, las er und ging zum Tore der zweiten Hütte rechts.

Das Wohnhaus von Tschurisenok bestand aus einem halb verfaulten, sehr feuchten Blockhaus, das sich schon auf die Seite neigte und derart in die Erde eingewachsen war, daß gerade noch über der aus Mist bestehenden Aufschüttung ein einziges zerbrochenes rotes Schiebefensterchen zu sehen war; auch war noch ein anderes Fensterchen da, das jedoch mit Hanf zugestopft war. Der aus Balken gezimmerte Vorraum mit verfaulter Schwelle und niedriger Tür, ein anderer kleiner Balkenbau, noch älter und noch niedriger als der Vorraum, ein Tor und ein Speicher aus Flechtwerk klebten an der Haupthütte. Alles dies war einstmals mit einem Dach von ungleicher Höhe bedeckt gewesen; jetzt aber hing nur noch auf dem Schirmdach dichtes, schwarzes, faulendes Stroh; oben waren dagegen an einzelnen Stellen das Dachgerüst und einige Dachsparren zu sehen. Vor dem Hofe stand ein Brunnen mit einem zusammengefallenen Brunnenkasten, mit dem Rest eines Holzstammes und eines Rades und mit einer schmutzigen, vom Vieh ausgetretenen Pfütze, in der Enten herumplätscherten. Bei dem Brunnen standen zwei alte, gesprungene und geknickte Weidenbäume mit wenigen blaßgrünen Zweigen. Unter einem von ihnen, die Zeugnis davon ablegten, daß sich einst irgendwer um die Ausschmückung dieses Ortes bekümmert hatte, saß ein achtjähriges blondes Mädchen und ließ ein anderes, zweijähriges Mädchen um sich herumkriechen. Als der Hofhund, der bei ihnen herumwedelte, den gnädigen Herrn erschaut hatte, stürzte er sofort unter das Tor und begann von dort aus sein erschrecktes heiseres Bellen.

»Ist Iwan zu Hause?« fragte Nechljudow.

Es schien, als ob das ältere Mädchen bei dieser Frage erstarrt wäre. Es machte immer größere Augen, ohne irgend etwas zu antworten; das kleinere Mädchen öffnete schon den Mund und wollte zu weinen anfangen. Ein kleines altes Weibchen in einem durchlöcherten, karierten Rock, der tief umgürtet war mit einem rötlichen Gurt, schaute aus der Tür heraus und antwortete gleichfalls gar nichts. Nechljudow schritt zum Vorraum und wiederholte eine Frage.

»Zu Hause, Ernährer«, sprach mit zittriger Stimme das alte Weibchen, indem es sich tief verneigte und ganz in Schrecken und Verwirrung geriet.

Als Nechljudow sie begrüßt hatte und durch den Vorraum den engen Hof betrat, stützte die Alte das Gesicht in die Hand, ging zur Tür hin und begann, ohne den gnädigen Herrn aus den Augen zu lassen, den Kopf hin und her zu bewegen. Auf dem Hofe war es ärmlich, an einzelnen Stellen lag alter nicht ausgefahrener, schwarz gewordener Mist; darauf lagen ein verfaulter Futterkasten, Heugabeln und zwei Eggen unordentlich herum. Die Schirmdächer um den Hof, unter denen auf der einen Seite ein Hakenpflug stand und ein Wagen mit drei Rädern sowie ein Haufen leerer, aufeinandergehäufter unbrauchbarer Bienenkörbe, waren fast ganz unbedeckt, und die eine Seite war derart eingestürzt, daß vorn die Dachstangen schon nicht auf den Stützen, vielmehr auf dem Misthaufen lagen. Tschurisenok zerschlug eben mit dem Beil, dessen Schneide und dessen Rückseite gebrauchend, den Zaun, den das Dach niederdrückte. Iwan Tschuris war ein Bauer von fünfzig Jahren, weniger als mittelgroß. Die Züge seines gebräunten, länglichen Gesichtes, das von einem dunkelrotbraunen, schon grau durchsetzten Bart und von ebensolchen dichten Haaren umrahmt war, waren schön und ausdrucksvoll. Seine dunkelblauen, halbgeschlossenen Augen schauten klug und gutmütig sorglos drein. Ein nicht großer, regelmäßiger Mund, der sich, wenn er lächelte, scharf unter einem rotbraunen, spärlichen Schnurrbart abhob, drückte ruhiges Selbstvertrauen aus und eine etwas spöttische Gleichgültigkeit gegenüber der ganzen Umgebung. An der Rauheit der Haut, den tiefen Runzeln, den scharf hervortretenden Adern an Hals, Gesicht und Händen, an seiner unnatürlich gebeugten Haltung und der krummen, bogenartigen Stellung der Füße war zu ersehen, daß sein ganzes Leben in unerträglicher, allzu schwerer Arbeit verflossen war. Seine Kleidung bestand aus weißen, hanfenen Hosen mit blauen Flicken an den Knien und einem ebensolchen, schmutzigen, auf dem Rücken und an den Armen auseinandergehenden Hemd. Er trug es tief gegürtet mit einem Zwirnband, an dem ein kleines kupfernes Schlüsselchen hing.

»Gott helfe dir!« sprach der gnädige Herr, als er den Hof betrat.

Tschurisenok schaute sich um und machte sich von neuem an seine Arbeit. Er holte gewaltig aus, riß den Zaun unter dem Schirmdach hervor, und dann erst, nachdem er das Beil in den Holzstock gesteckt und seinen Gürtel zurechtgerückt hatte, trat er in die Mitte des Hofes.

»Zum Feiertage, Euer Erlaucht!« sprach er, indem er sich tief neigte und dann mit einer raschen Kopfbewegung seine Haare zurückwarf.

»Danke, Bester! Siehst du, ich kam, mir deine Wirtschaft anzusehen«, sprach mit kindlicher Freundlichkeit und Schüchternheit Nechljudow, wobei er die Kleidung des Bauern musterte. »So zeige mir denn, wozu du Stangen brauchst, um die du mich auf der Bauernversammlung batest.«

»Die Stangen? Es ist bekannt, wozu man die braucht, Väterchen, Euer Erlaucht. Ich wollte, wenn auch nur ein ganz klein wenig, stützen. Sie selber geruhen zu sehen: sehen Sie, unlängst ist die Ecke da eingefallen; Gott war noch gnädig, daß um diese Zeit das Vieh nicht dort stand. Gleichwohl hängt sie eben grade noch so,« sprach Tschuris, indem er verächtlich seinen dachlosen, krummen und zusammengestürzten Schuppen betrachtete, »jetzt braucht man auch die Dachsparren und die Seitenwände und die Dachstangen nur zu berühren brauchbares Holz wird da wohl kaum herauskommen. Woher wird man aber jetzt Holz nehmen? Sie selber geruhen es zu wissen.«

»Wozu brauchst du dann aber fünf Stangen, wenn der eine Schuppen schon eingestürzt ist und der andere bald einstürzen wird? Du brauchst nicht Stützen, vielmehr Dachsparren, Dachstangen und Balken alles brauchst du neu«, sagte der gnädige Herr, augenscheinlich großtuend mit seiner Sachkenntnis.

Tschurisenok schwieg.

»Du brauchst demnach Holz, nicht aber Stangen. So hättest du auch sagen sollen.«

»Zweifellos ist es nötig, ja, aber von wo soll man es nehmen? Man kann doch nicht immer auf den Herrenhof laufen. Wenn man unseren Bruder daran gewöhnt, wegen jeder Kleinigkeit zu Euer Erlaucht auf den Herrenhof zu kommen und zu betteln, was werden wir dann schon für Bauern sein? Wenn aber Euer Gnaden dafür sein wird, hinsichtlich des eichenen Gipfelholzes, das da auf der Herrschaftstenne ohne jede Verwendung herumliegt,« sprach er, indem er sich verneigte und verlegen von einem Fuß auf den anderen trat, »dann werde ich vielleicht die einen auswechseln, andere kürzer machen und irgendwie aus dem Alten aufbauen.«

»Wie denn aus dem Alten? Du sagst ja selber, alles sei bei dir alt und faul: heute ist dieser Winkel eingestürzt, morgen wird jener einstürzen, übermorgen ein dritter; wenn man es schon einmal macht, so soll man auch alles neu machen, damit die Arbeit nicht umsonst ist. Sage mir, ob du glaubst, daß dein Hof noch diesen Winter über stehen wird oder nicht.«

»Wer weiß das denn!«

»Nein, wie du glaubst; wird er einstürzen oder nicht?«

Tschuris dachte eine Minute nach.

»Er muß wohl völlig einstürzen . . .« sprach er plötzlich.

»Nun, siehst du wohl! Du hättest besser so auch auf der Bauernversammlung sagen sollen, daß du den ganzen Hof umbauen mußt, und nicht nur einzig und allein um Stangen bitten. Ich bin ja froh, dir zu helfen...«

»Sehr zufrieden mit Euer Gnaden!« antwortete mißtrauisch und ohne den gnädigen Herrn anzuschauen Tschurisenok. »Wenn Sie mir nur vier Balken, ja, und die Stangen schenken würden, so werde ich vielleicht selber damit fertig; was sich aber darüber hinaus noch unbrauchbares Holz finden wird, so wird das für die Hütte auf die Stützen draufgehen.«

»Ist denn bei dir auch die Hütte schlecht?«

»Das erwarten wir ja grade jeden Augenblick, ich und mein Weib, daß sie irgendwen erschlägt,« sprach Tschuris, »unlängst hat so schon eine Latte von der Decke mein Weib erschlagen!«

»Wie denn erschlagen?«

»Ja, so, erschlagen, Euer Erlaucht: wie es ihr nur so über den Rücken fährt, so hat sie auch bis zur Nacht wie tot gelegen.«

»Wie denn, ist es vorübergegangen?«

»Vorübergegangen ist es schon, ja, sie kränkelt aber immer noch. Sie kränkelt eigentlich ihr ganzes Leben lang.«

»Wie denn, bist du krank?« fragte Nechljudow das Weib, das die ganze Zeit über in der Tür gestanden und sogleich zu stöhnen begonnen hatte, als nur eben ihr Mann von ihr zu sprechen anfing.

»Immer läßt es mich dort nicht los, ja, und damit Schluß«, antwortete sie, indem sie auf ihre schmutzige, hagere Brust wies.

»Immer das gleiche!« sprach mit Verdruß der junge gnädige Herr, und er zuckte die Achseln. »Weshalb bist du denn krank und bist doch nicht ins Krankenhaus gekommen, dich untersuchen zu lassen? Siehst du, dafür habe ich doch das Krankenhaus eingerichtet. Hat man euch das denn nicht gesagt?«

»Man hat es uns gesagt, Ernährer, ja, aber nie habe ich Zeit dazu: der Herrendienst, die eigene Wirtschaft und dann die Kinderchen immer allein! Unsere Sache ist einsam...«

3

Nechljudow betrat die Hütte. Die ungleichen, verräucherten Wände waren in der schwarzen Ecke mit verschiedenen Lappen und Kleidungsstücken behängt, in der roten Ecke aber wörtlich bedeckt mit rötlichen Küchenschaben, die sich bei den Heiligenbildern und der Bank besonders dicht drängten. In der Mitte dieses schwarzen, stinkenden, sechs Arschin Ehemaliges russisches Längenmaß = 0,71 m. großen Hüttchens war in der Decke ein großer Spalt, und obgleich an zwei Stellen Stützen standen, hatte sich die Decke so geneigt, daß sie jeden Augenblick einzustürzen drohte.

»Ja, die Hütte ist sehr schlecht«, sprach der gnädige Herr, indem er Tschurisenok anschaute, der, so schien es, gar nicht die Absicht hatte, über diesen Gegenstand zu sprechen.

»Sie wird uns totschlagen, uns und die Kinderchen wird sie totdrücken«, begann mit weinerlicher Stimme das Weib, das sich unter dem Schlafgerüst an den Ofen gelehnt hatte.

»Du, schwatze nicht!« sprach Tschuris streng, und mit feinem, kaum wahrnehmbarem Lächeln, das sich unter seinem Schnurrbart abzeichnete, wandte er sich an den gnädigen Herrn, »ich kann mir gar nicht klar werden, was ich mit ihr tun soll. Euer Erlaucht, mit der Hütte meine ich, ich habe sowohl Stützen wie auch Unterlagen gelegt, nichts kann man erreichen.«

»Wie soll man hier den Winter zubringen? Ach, ach, ach!« sprach das Weib.

»Das ist es eben, wenn man noch Stützen aufstellt, eine neue Deckenlatte anschlägt,« unterbrach sie ihr Mann mit ruhigem, geschäftigem Ausdruck, »ja, eine Dachstange auswechselt, so werden wir vielleicht irgendwie den Winter zubringen. Leben kann man dann, nur wird man die ganze Hütte mit Stützen versperren, das ist es; rührt man sie aber auch nur an, so wird kein lebendes Spänchen bleiben; nur solange sie steht, hält sie«, schloß er, augenscheinlich äußerst zufrieden damit, daß er auf diesen Gedanken gekommen war.

Nechljudow verdroß und schmerzte es, daß Tschuris es bis dahin hatte kommen lassen und sich nicht schon früher an ihn gewendet hatte, da er ja gleich von seiner Ankunft an den Bauern niemals irgend etwas abgeschlagen und eben erst durchgesetzt hatte, daß sich alle mit allen ihren Nöten unmittelbar an ihn wendeten. Er fühlte sogar eine gewisse Erbitterung gegen den Bauern, er zuckte erzürnt die Achseln und runzelte die Stirn, aber der Anblick der ihn umgebenden Armut und inmitten ihrer der ruhige und selbstzufriedene Ausdruck des Tschuris verwandelten seinen Verdruß in ein ganz trauriges, hoffnungsloses Gefühl.

»Nun, Iwan, warum hast du mir denn das nicht früher gesagt?« bemerkte er vorwurfsvoll, indem er sich auf die schmutzige schiefe Bank setzte.

»Ich wagte es nicht, Euer Erlaucht«, antwortete Tschuris mit ganz dem gleichen, kaum merkbaren Lächeln, indem er auf dem holprigen Boden von einem seiner schwarzen nackten Füße auf den anderen trat; er sagte das aber so kühn und ruhig, daß es schwer war zu glauben, er habe nicht gewagt, zum gnädigen Herrn zu kommen.

»Unsere Sache ist eine bäuerliche Angelegenheit, wie sollten wir es wagen?« begann schluchzend das Weib.

»Schwatze doch nicht!« wandte sich Tschuris von neuem an sie.

»In dieser Hütte kannst du nicht leben, das ist Unsinn!« sprach Nechljudow, nachdem er einige Zeit geschwiegen hatte. »Nun sieh, was wir tun werden, Brüderchen...«

»Ich höre«, ließ sich Tschuris vernehmen.

»Hast du die steinernen Gerardowschen Hütten gesehen, die ich auf dem neuen Hofe erbaut habe, die mit den hohlen Mauern?«

»Wie sollte ich sie nicht gesehen haben!« antwortete Tschuris und ließ in einem Lächeln seine noch vollzähligen weißen Zähne sehen; »wir waren nicht wenig erstaunt, als man sie baute schlaue Hütten sind es! Die Burschen lachten: ob das wohl ein Getreidespeicher werden soll, um vor den Ratten das Korn in die Mauern einzuschütten? Die Hütten sind trefflich!« schloß er mit dem Ausdruck spöttischen Nichtverstehens, wobei er den Kopf schüttelte, »gradeso wie ein Gefängnis.«

»Ja, die Hütten sind ausgezeichnet, trocken und warm und nicht so feuergefährlich«, bemerkte der gnädige Herr, und er verzog dabei sein junges Gesicht, offenbar unzufrieden mit dem Spott des Bauern.

»Es ist nicht zu bestreiten. Euer Erlaucht, die Hütten sind trefflich.«

»Nun, siehst du, eine Hütte ist schon ganz fertig. Sie ist zehn Arschin groß mit Vorraum und einem Speicher und vollkommen fertig. Ich werde sie dir am Ende gar abgeben, auf Vorschuß, zum Selbstkostenpreis; du wirst es irgendwann zurückzahlen«, sprach der gnädige Herr mit selbstzufriedenem Lächeln, das er nicht zurückhalten konnte in dem Gedanken, daß er eine Wohltat übe. »Du kannst deine alte Hütte abbrechen,« fuhr er fort, »sie wird zum Speicher dienen; den Hof werden wir gleichfalls überführen. Wasser ist dort vorzüglich. Einen Gemüseacker werde ich aus Neuland schneiden lassen. Dein Land werde ich in allen drei Feldern dir gleichfalls dort an Ort und Stelle anweisen. Trefflich wirst du dort leben. Wie denn, gefällt dir das denn nicht?« fragte Nechljudow, da er bemerkt hatte, daß, sobald er nur angefangen hatte, von Übersiedlung zu sprechen, Tschuris in völlige Unbeweglichkeit verfallen war und ohne zu lächeln auf die Erde blickte.

»Das ist der Wille Euer Erlaucht«, antwortete er, ohne seine Augen zu erheben.

Das alte Frauchen beugte sich nach vorn, als ob man sie an der verwundbarsten Stelle getroffen habe, und machte Miene, etwas zu sagen, ihr Mann kam ihr aber zuvor.

»Wie Euer Erlaucht will,« sprach er entschlossen und dabei doch unterwürfig, indem er den gnädigen Herrn anschaute und mit einem Ruck seine Haare in Ordnung brachte, »aber auf dem neuen Hof ist uns nicht beschieden zu leben.«

»Weshalb denn?«

»Nein, Euer Erlaucht, wenn Sie uns dahin übersiedeln um uns ist es auch hier schon schlecht bestellt, dort aber werden wir Ihnen nie ordentliche Bauern sein was werden wir dort schon für Bauern sein? Ja, dort ist es auch nicht einmal möglich, zu leben, wie Sie wollen!«

»Ja, aber weshalb denn nur?«

»Bis zum letzten werden wir uns dort zugrunde richten, Euer Erlaucht.«

»Weshalb kann man denn dort nicht leben?«

»Was ist das denn dort für ein Leben? Urteile doch selber: der Ort ist unbewohnt, das Wasser unbekannt, Weide gibt es keine. Die Hanffelder sind hier bei uns von alters her fettes Land, aber dort? Ja, und was ist denn dort? Nackt und kahl! Weder Zäune, noch Getreidedarren, noch Scheunen, gar nichts ist dort. Wir werden zugrunde gehen. Euer Erlaucht, wenn du uns dahin jagen wirst, endgültig werden wir zugrunde gehen! Der Ort ist neu, unbekannt...« wiederholte er nachdenklich, wobei er aber entschieden den Kopf schüttelte.

Nechljudow wollte dem Bauern beweisen, daß die Übersiedlung im Gegenteil sehr vorteilhaft für ihn sei, daß man Zäune und Scheunen dort bauen werde, daß das Wasser dort gut sei usw., aber das starre Schweigen des Tschuris verwirrte ihn, und er fühlte aus irgendeinem Grunde, daß er nicht so spreche, wie es sich gehöre. Tschurisenok entgegnete ihm nicht; als aber der gnädige Herr verstummte, bemerkte er mit einem leichten Lächeln, es sei am allerbesten, auf jenem Hofe die greisen Hofleibeigenen anzusiedeln und Alescha, das Dummköpfchen, damit sie dort das Brot bewachten...

»Das wäre großartig!« bemerkte er und lächelte von neuem. »Das andere aber ist ein Unsinn, Euer Erlaucht!«

»Was macht das denn aus, daß der Ort unbewohnt ist?« suchte Nechljudow geduldig von neuem zu überzeugen. »Siehst du, auch hier war irgendwann die Gegend unbewohnt, jetzt aber leben ja Leute hier, auch dort, siehst du, sobald du nur als erster übersiedelst mit leichter Hand ... Zieh du nur unbedingt hinüber...«

»Väterchen, Euer Erlaucht, wie kann man das nur vergleichen!« antwortete Tschuris mit Lebhaftigkeit, als ob er fürchtete, der gnädige Herr möchte eine endgültige Entscheidung treffen. »Hier mit allen zusammen ist unser Platz, ein lustiger, gewohnter Platz: auch der Weg und der Teich ist da hat das Weib Wäsche zu waschen oder das Vieh zu tränken. Ja, und unsere ganze Bauernwirtschaft ist hier von alters her eingerichtet, die Tenne und das Gemüsegärtchen und die Weiden, die meine Väter pflanzten; mein Großvater und mein Väterchen haben hier Gott ihre Seele zurückgegeben, und ich möchte nur, daß ich mein Leben hier beschließen kann. Euer Erlaucht, weiter bitte ich um gar nichts. Wenn Euer Gnaden mir behilflich ist, die Hütte auszubessern, werden wir sehr zufrieden bleiben mit Euer Gnaden; wenn aber nicht, so werden wir irgendwie in der alten unser Leben verbringen. Laß uns doch ewig zu Gott für dich beten,« fuhr er fort, indem er sich tief verneigte, »verjage uns nicht aus unserm Nest, Väterchen...«

Während Tschuris so sprach, wurde unter dem Schlafgerüst, dort, wo sein Weib stand, immer lauteres Schluchzen vernehmbar, und als ihr Mann sagte Väterchen, sprang sein Weib plötzlich hervor und stürzte sich in Tränen dem gnädigen Herrn zu Füßen:

»Richte uns nicht zugrunde, Ernährer! Du bist unser Vater, du bist unsere Mutter! Wo sollen wir uns denn hinwenden? Wir sind alte, alleinstehende Leute. Wie Gott, so auch du...« brüllte sie los.

Nechljudow sprang von der Bank auf und wollte die Alte aufheben, sie aber schlug wie in einer Art Wollust der Verzweiflung mit dem Kopfe auf den Erdboden und stieß die Hand des gnädigen Herrn zurück.

»Was machst du denn! Steh doch auf, ich bitte dich! Wenn ihr nicht wollt, so ist es ja nicht nötig; ich werde euch doch nicht zwingen,« sprach er, indem er eine abwehrende Handbewegung machte und zur Tür zurücktrat.

Als sich Nechljudow wieder auf die Bank gesetzt hatte und in der Hütte Schweigen eingetreten war, nur unterbrochen von dem Schluchzen des Weibes, das sich wiederum unter das Schlafgerüst zurückgezogen hatte und sich dort die Tränen mit ihrem Hemdärmel abwischte, da begriff der junge Gutsbesitzer, was für den Tschuris und sein Weib das zerfallende Hüttchen bedeutete, der zusammengestürzte Brunnen mit der schmutzigen Pfütze, die faulenden Ställchen, Speicherchen und die gesprungenen Weiden, die vor dem schiefen Fensterchen zu sehen waren, und ihm ward es seltsam schwer und traurig zumute, und er schämte sich über irgend etwas.

»Wie, Iwan, hast du denn aber nicht am letzten Sonntag in der Bauernversammlung gesagt, daß du eine Hütte nötig hast? Ich weiß jetzt nicht, wie ich dir helfen soll. Ich habe euch allen auf der ersten Versammlung gesagt, daß ich mich im Dorfe niedergelassen und mein Leben euch gewidmet habe, daß ich bereit bin, selber allem zu entsagen, wenn ihr nur zufrieden und glücklich seid und ich schwöre vor Gott, daß ich mein Wort halten werde,« sprach der junge Gutsbesitzer, ohne zu ahnen, daß derartige Ergüsse völlig ungeeignet sind, in irgendwem Vertrauen zu erregen, und besonders in einem russischen Menschen, der nicht Worte liebt, sondern Taten, und ungern seine Gefühle ausdrückt, wie schön sie auch sein mögen.

Der naive junge Mann war aber so glücklich über das Gefühl, das er empfand, daß er es unbedingt ausströmen lassen mußte.

Tschuris hatte den Kopf zur Seite geneigt, und langsam blinzelnd hörte er seinem gnädigen Herrn mit gezwungener Aufmerksamkeit zu, wie jemandem, dem man nun einmal zuhören muß, wenn er auch Dinge spricht, die nicht ganz schön sind und uns auch gar nichts angehen.

»Ich kann aber doch nicht allen alles geben, worum sie mich bitten. Wenn ich es niemandem abschlagen würde, der mich um Holz bittet, so würde mir selber bald gar nichts mehr bleiben, und ich könnte dann nicht dem geben, der in Wahrheit Not leidet. Deshalb habe ich ja auch einen Teil meines Waldes abgetreten, ihn zur Ausbesserung der Bauernbauten bestimmt und ihn völlig der Bauerngemeinschaft übergeben. Dieser Wald gehört jetzt schon nicht mehr mir, vielmehr euch Bauern, und ich kann schon nicht mehr über ihn verfügen, es verfügt vielmehr die Bauerngemeinde, wie sie es versteht. Komme heute in die Versammlung, ich will da deine Bitte vorbringen. Wenn die Gemeinde bestimmt, dir eine Hütte zu geben, so ist das gut, ich habe jetzt keinen Wald mehr. Ich wünsche dir von ganzer Seele Hilfe; wenn du aber nicht übersiedeln willst, so ist das nicht meine Sache, sondern die der Gemeinde. Verstehst du mich?«

»Sehr zufrieden mit Euer Gnaden,« antwortete verlegen Tschuris; »wenn Sie für den Hof Hölzerchen gütig ablassen, so werden wir uns auch so behelfen. Was denn die Gemeinde? Die Sache ist bekannt...«

»Nein, komm nur hin . . .«

»Ich gehorche. Ich werde kommen. Weshalb nicht? Nur werde ich die Gemeinde wohl nicht bitten.«

4

Der junge Gutsbesitzer wollte augenscheinlich noch etwas fragen, er erhob sich wenigstens nicht von seinem Sitze und blickte unentschlossen bald auf Tschuris, bald auf den leeren, ungeheizten Ofen.

»Wie, habt ihr schon zu Mittag gegessen?« fragte er endlich.

Unter dem Schnauzbart von Tschuris zuckte es wie ein spöttisches Lächeln, als ob es ihm komisch vorkomme, daß der gnädige Herr so dumme Fragen stellte. Er antwortete gar nicht.

»Was für ein Mittagessen denn, Ernährer?« stieß schwer seufzend Tschuris' Weib hervor. »Brot haben wir gegessen, das ist unser Mittagessen. Kohlsuppe zu bereiten, war nichts da, und was wir an Kwaß hatten, haben wir den Kindern gegeben...«

»Heute sind hungrige Fasten, Euer Erlaucht!« mischte sich Tschuris selber ein, die Worte seines Weibes deutend. »Brot und Zwiebeln, das ist unser Bauernessen. Noch hat Gott sei Ruhm dafür das Brötchen bei uns bis jetzt gereicht durch Eure Gnade. Aber sonst dicht nebenan bei unseren Nachbarn, da ist auch kein Brot mehr da ... Zwiebeln hat es dieses Jahr überhaupt nicht gegeben. Bei dem Gemüsebauer Michael unlängst haben wir dahin geschickt verlangt man für ein Bündel einen Groschen, aber zu kaufen haben wir doch nichts ... Von Ostern an gehen wir auch nicht mehr zur Kirche und haben nicht einmal ein Lichtchen dem Nikolai aufzustellen!«

Nechljudow kannte lange schon und nicht nur vom Hörensagen, vielmehr aus eigenster Anschauung, jenes äußerste Maß von Armut, in dem seine Bauern lebten. Diese ganze Wirklichkeit stand aber in einem solchen Gegensatz zu seiner Erziehung, zu seiner Denkweise und Lebensführung, daß er wider Willen immer wieder diese Wahrheit vergaß. Und jedesmal, wenn man ihn, wie jetzt, lebhaft und greifbar an sie erinnerte, ward es ihm unerträglich schwer und traurig im Herzen, als quäle ihn die Erinnerung an irgendein von ihm begangenes und nie mehr zu sühnendes Verbrechen.

»Weshalb seid ihr denn so arm?« rief er aus, unwillkürlich seinen Gedanken Ausdruck verleihend.

»Ja, wie sollen wir denn sein, Väterchen, Euer Erlaucht, wenn nicht arm? Unser Boden ist so Sie selber geruhen es zu wissen: Lehm, Hügelland; ja, und dann, augenscheinlich haben wir Gottes Zorn erregt. Schon von der Cholerazeit an wächst kein Brot mehr. Wiesen und Weideland ist wiederum weniger geworden; einiges wurde von der Gutsverwaltung in Bebauung genommen, anderes hat man einfach der Herrschaft zugeteilt ... Meine Sache ist langsam alt geworden ... Wenn ich auch froh wäre, mich zu regen ich habe keine Kräfte mehr. Meine Alte ist krank, jedes Jahr gebiert sie Mädchen, und alle müssen doch gefüttert werden ... Siehst du, ich allein rühre mich, zu Hause aber sind sieben Seelen. Ich bin wohl sündig vor Gott, dem Herrn! Oft denke ich mir: Würde Gott nur eines oder das andere der Kinderchen rascher zu sich nehmen! Mir wäre es leichter, ja, und auch ihnen wäre es besser, als hier Elend zu leiden...«

»Oh, oh!« seufzte laut das Weib, wie zur Bestätigung der Worte ihres Mannes.

»Siehst du, meine ganze Hilfe ist hier,« fuhr Tschuris fort, indem er auf einen dickbäuchigen, weißhaarigen, zerzausten Knaben von etwa sieben Jahren wies, der eben schüchtern und leise die Tür aufklinkte, in die Hütte trat und, indem er von unten her die erstaunten Augen auf den gnädigen Herrn richtete, sich mit beiden Händen am Hemd des Tschuris festhielt.

»Siehst du, das ist meine ganze Hilfe,« sprach mit klangvoller Stimme Tschuris und fuhr mit seiner rauhen Hand über die weißen Haare des Knaben. »Werde ich es wohl noch erleben, daß er mir wird helfen können? ... Mir aber geht schon die Arbeit über die Kräfte. Das Alter wäre noch nichts, aber ein Leistenbruch hat mich überwältigt. Bei schlechtem Wetter möchte ich schreien, und es ist ja auch schon Zeit für mich, den Herrendienst aufzugeben und mich zu den Greisen zurückzuziehen. Da haben Dutlow, Dunkin, Sjabrjew alle jünger als ich längst ihr Land abgegeben. Nun, ich habe es niemandem abzugeben das ist mein ganzes Unglück. Man muß sich füttern: und da schlage ich mich denn so herum, Euer Erlaucht.«

»Ich möchte dir gern Erleichterung schaffen, wirklich; aber wie soll ich das machen?« sprach der junge gnädige Herr mit Teilnahme, indem er auf den Bauern blickte.

»Ja, wie denn Erleichterung schaffen? Es ist doch eine bekannte Sache, wenn man Land besitzen will, so muß man auch Herrendienst leisten das sind schon bekannte Einrichtungen. Irgendwie werde ich den Kleinen schon erwarten. Nur mögen Sie so gnädig sein wegen der Schule, geben Sie ihn frei; unlängst ist der Gemeindeschreiber gekommen und sagte, auch ihn verlange Euer Erlaucht in die Schule. Ihn lassen Sie mir schon frei! Was hat er denn für einen Verstand, Euer Erlaucht! Er ist noch jung, er denkt noch gar nichts.«

»Nein, Bruder, das geht nicht so, wie du willst,« sagte der gnädige Herr, »dein Knabe kann schon begreifen, es ist Zeit für ihn zu lernen. Ich spreche doch zu deinem eigenen Besten. Urteile doch selber: Wenn er bei dir heranwachsen wird, wird er Hauswirt werden, ja, und wird zu lesen und zu schreiben verstehen, auch in der Kirche zu lesen es wird ja alles bei dir zu Hause mit Gottes Hilfe gut gehen,« sprach Nechljudow, indem er sich bemühte, sich möglichst verständlich auszudrücken, dabei aber doch aus irgendeinem Grunde errötete und stotterte.

»Es ist nicht zu bestreiten, Euer Erlaucht, Sie wünschen uns nichts Böses. Ich und meine Frau sind beim Herrendienst; er aber, wenn er auch noch ein kleiner Kerl ist, hilft uns gleichwohl das Vieh auf die Weide zu treiben und die Pferde zu tränken. Was für einer er auch ist, er ist aber gleichwohl ein Bauer,« und Tschurisenok faßte lächelnd den Knaben mit seinen dicken Fingern bei der Nase und schneuzte ihn.

»Gleichwohl schicke du ihn, wenn du selber zu Hause bist und er Zeit hat hörst du? Unbedingt!«

Tschurisenok seufzte schwer und antwortete gar nichts.

5

Ja, was ich noch sagen wollte . . .« sagte Nechljudow, »weshalb ist denn bei dir der Mist nicht ausgefahren?«

»Was ist denn bei mir für ein Mist, Väterchen, Euer Erlaucht? Es ist auch gar nichts da, auszufahren. Mein Vieh, was ist es denn? Ein einziges Stutchen, ja, und ein Füllen; das Kühchen habe ich im vergangenen Herbst dem Verwalter kurz vor dem Kalben abgegeben das ist mein ganzes Vieh!«

»Wie denn das, du hast wenig Vieh, und dabei hast du noch eine tragende Kuh abgegeben?« fragte mit Staunen der gnädige Herr.

»Womit soll man sie denn füttern?«

»Reicht denn dein Heu nicht aus, um eine Kuh zu füttern? Bei den anderen reicht es doch!«

»Die anderen haben fettes Land, mein Land ist aber Lehmboden, da ist nichts zu machen.«

»Nun, so dünge es doch, damit es nicht nur Lehm ist, und der Boden wird Brot geben, und du wirst genug haben, um das Vieh zu füttern.«

»Ja aber Vieh habe ich nicht, woher soll denn der Mist kommen?«

›Das ist ja ein furchtbarer cercle vicieux! dachte Nechljudow. Er vermochte aber entschieden nichts auszudenken, was er dem Bauern raten könne.

»Wiederum muß man auch das sagen. Euer Erlaucht, nicht der Mist gibt Brot, vielmehr alles gibt Gott,« fuhr Tschuris fort. »Sehen Sie, ich hatte voriges Jahr auf dem Brachfeld sechs Heuhaufen, auf dem gedüngten Feld hat man aber nicht einmal einen Garbenhaufen gesammelt. Niemand anders als Gott!« fügte er mit einem Seufzer hinzu. »Ja, und das Vieh bleibt nicht in unserem Hof. Sehen Sie, das sechste Jahr lebt es nicht. Vergangenes Jahr ist ein Kälbchen krepiert, ein anderes habe ich verkauft: ich hatte nichts, um es zu füttern; im vorletzten Jahr ist eine tüchtige Kuh gefallen: sie kam von der Weide gar nichts fehlte ihr, plötzlich schwankte sie, und der Atem verging ihr. Alles mein Unglück!«

»Nun, mein Brüderchen, damit du nicht sagst, du habest deshalb kein Vieh, weil du kein Futter hast, und kein Futter deshalb, weil du kein Vieh hast, da hast du genug für eine Kuh«, sprach Nechljudow, indem er errötend aus der Hosentasche ein zusammengedrücktes Bündel Geldscheine hervorholte und es auseinandernahm. »Kaufe dir auf mein Glück eine Kuh, Futter nimm aber von meiner Tenne ich werde es ansagen. Sieh aber zu, daß du am kommenden Sonntag eine Kuh hast: ich werde nachschauen.«

Da aber Tschuris lange Zeit hindurch, verlegen lächelnd, seine Hand nicht nach dem Gelde ausstreckte, legte es Nechljudow auf das Tischende und errötete noch mehr.

»Sehr zufrieden mit Euer Gnaden,« sprach Tschuris mit seinem gewöhnlichen, ein wenig spöttischen Lächeln.

Die Alte unter dem Schlafgerüst seufzte einige Male schwer, und es war, als ob sie ein Gebet murmele.

Dem jungen gnädigen Herrn ward es peinlich; er erhob sich eilig von der Bank, ging zum Vorraum und rief Tschuris zu sich hinaus. Der Anblick des Menschen, dem er eine Wohltat erwiesen hatte, war ihm so angenehm, daß er sich nicht so rasch von ihm zu trennen wünschte.

»Ich bin froh, dir helfen zu können«, sprach er, indem er beim Brunnen stehen blieb. »Man kann dir helfen, weil ich weiß, daß du nicht faul sein wirst. Du wirst dich bemühen und ich werde helfen. Mit Gottes Hilfe wirst du auch wieder gesund werden.«

»Es handelt sich schon nicht darum, gesund zu werden, Euer Erlaucht,« sprach Tschuris, wobei er plötzlich einen ernsten, sogar strengen Gesichtsausdruck annahm, gerade so, als ob er sehr unzufrieden sei mit der Annahme des gnädigen Herrn, daß er überhaupt gesund werden könne. »Wir lebten unter dem Väterchen mit meinen Brüdern und sahen in nichts Not; als er aber eben gestorben war, ja, als wir uns getrennt hatten, da ist alles schlechter und schlechter gegangen. Alles ist die Einsamkeit!«

»Weshalb habt ihr euch dann aber getrennt?«

»Alles ist wegen der Weiber so gekommen, Euer Erlaucht. Damals war schon Ihr Großväterchen nicht mehr am Leben, denn bei ihm hätten sie es nicht gewagt da herrschte noch wirkliche Ordnung; er ging ebenso wie auch Sie auf alles selber ein und wir hätten nicht einmal gewagt, daran zu denken, uns zu trennen. Aber der Verstorbene liebte es nicht, den Bauern nachzugeben. Nach Ihrem Großväterchen hatte die Verwaltung Andrej Iljitsch übernommen Friede seiner Asche!, er war ein Trunkenbold und unzuverlässiger Mensch. Wir kamen mit der Bitte zu ihm, einmal, ein zweites Mal: Es ist sozusagen kein Leben wegen der Weiber; erlaube, daß wir uns trennen! Nun, er prügelte, er prügelte; aber endlich kam es doch dazu, daß die Weiber gleichwohl ihren Willen durchsetzten; wir begannen getrennt zu leben; es ist aber bekannt, was der alleinstehende Bauer ist! Nun ja, auch Ordnung gab es damals gar keine; Andrei Iljitsch ging mit uns um, wie er wollte: Du mußt alles haben. Woher es aber der Bauer nehmen soll, danach fragte er gar nicht. Damals wurden die Kopfabgaben erhöht, Tischvorräte wurden mehr eingesammelt, der Boden wurde weniger, und das Korn hörte auf, sich zu vermehren. Als aber die Vermessung kam, ja, und er unsere fetten Länder seinem eigenen Land zuschnitt, der Übeltäter, da richtete er uns völlig zugrunde: Stirb nur! Ihr Väterchen das Himmelreich ihm! war ein guter, gnädiger Herr, ja, wir sahen ihn auch kaum: immer lebte er in Moskau; nun, es ist bekannt, auch Fuhren begann man häufiger dahin zu treiben. Ein andermal ist die Zeit der schlechten Wege, es gibt kein Futter, aber fahre nur! Es kann aber ja auch der gnädige Herr nicht ohne das auskommen. Wir wagen nicht darüber gekränkt zu sein; ja, es war aber keine Ordnung. Wie jetzt Euer Gnaden jedes Bäuerlein vor Ihr Gesicht lassen, so sind auch wir andere geworden, und auch der Verwalter wurde ein anderer Mensch. Wir wissen jetzt wenigstens, daß wir einen gnädigen Herrn haben. Und man kann auch schon sagen, daß die Bäuerlein Euer Gnaden dankbar sind. Sonst aber gab es unter der Vormundschaft keinen wirklichen gnädigen Herrn; jeder war da gnädiger Herr: sowohl der Vormund ist ein gnädiger Herr, und Iljitsch ist ein gnädiger Herr, und seine Frau ist gnädige Frau, und der Schreiber von der Polizei ist auch ein gnädiger Herr. Da litten viel, ja sehr viel Kummer die Bäuerlein!«

Wiederum empfand Nechljudow ein Gefühl, das der Scham ähnlich war oder Gewissensbissen. Er lüftete seinen Hut und ging weiter.

6

Juchwanka Mudreny will ein Pferd verkaufen,« las Nechljudow in seinem Notizbüchlein und ging über die Straße hinüber zum Hofe von Juchwanka Mudreny. Dessen Hütte war sorgfältig bedeckt mit Stroh aus dem Herrnhofe und gefügt aus frischem, hellgrauem Espenholz (ebenfalls aus dem vom gnädigen Herrn abgetretenen Walde); sie hatte zwei rot gestrichene Läden an den Fenstern und ein Aufgangstreppchen mit einem Schirmdach und mit phantastisch ausgeschnittenen, glatt gehobelten Geländerchen. Der Vorraum und die kalte Hütte waren gleichfalls so, wie sichs gehört; aber der allgemeine Eindruck der Zufriedenheit und Genügsamkeit, den dieser Bau hervorrief, wurde ein wenig getrübt durch die Kornkammer, die an das Tor angebaut war und einen nicht fertigen Zaun und ein ungedecktes Schirmdach hatte, das hinter ihr zum Vorschein kam. Zu der Zeit, als Nechljudow von der einen Seite her sich dem Eingang näherte, schritten von der anderen zwei Bauernweiber zu ihm hin, die einen vollen Bottich trugen. Eine von ihnen war die Frau, die andere die Mutter des Juchwanka Mudreny. Jene war ein stämmiges, rotbäckiges Weib mit ungewöhnlich entwickelter Brust und breiten Backenknochen. Sie trug ein reines, an den Ärmeln und am Kragen gesticktes Hemd, auch der Brustlatz war gestickt, einen neuen Rock, Schuhe, Glasperlenkette und einen viereckigen schmucken Kopfputz, der ausgestickt war mit rotem Garn und kleinen Metallplättchen. Das Ende des Tragbalkens schaukelte nicht, lag vielmehr ruhig auf ihrer breiten und festen Schulter. Die leichte Anspannung, die in ihrem roten Gesicht und in der Krümmung des Rückens und der gemessenen Bewegung der Hände und Füße zu bemerken war, verriet in ihr eine außerordentliche Gesundheit und männliche Kraft. Die Mutter des Juchwanka, die das andere Ende des Tragbalkens trug, war im Gegensatz dazu eine von jenen Greisinnen, die bei lebendigem Leibe an der Grenze des Alters und des Zerfalls angelangt zu sein scheinen. Ihr knochiger Körper sie trug ein schwarzes, zerrissenes Hemd und einen ausgeblichenen Rock war gebeugt, so daß der Tragbalken mehr auf ihrem Rücken als auf ihrer Schulter lag. Ihre Hände mit den gekrümmten Fingern, in denen sie den Tragbalken so hielt, als ob sie sich an ihm festhalten wolle, waren von einer ganz dunklen Farbe und konnten sich, so schien es, schon gar nicht mehr auseinanderbiegen; der herabhängende Kopf, der mit irgendeinem Lappen umwunden war, zeigte in höchstem Maße die entstellenden Züge der Armut und des hohen Alters. Unter ihrer niedrigen Stirn hervor, die nach allen Richtungen von tiefen Furchen durchzogen war, blickten glanzlos zwei gerötete Augen zur Erde, die keine Wimpern mehr hatten. Ein einziger gelber Zahn schaute aus der eingefallenen Oberlippe hervor, und in unaufhörlicher Bewegung berührte er sich bisweilen mit dem spitzen Kinn. Die Runzeln auf dem unteren Teil ihres Gesichtes und ihres Halses sahen wie Säckchen aus, die bei jeder Bewegung schaukelten. Sie atmete schwer und röchelnd; aber wenn es auch so schien, als ob ihre nackten, gekrümmten Füße sich über ihre Kraft über die Erde hinschleppten, so bewegten sie sich doch gleichmäßig, einer hinter dem anderen.

7

Als das junge Weib mit dem gnädigen Herrn fast zusammengestoßen war, stellte es flink den Bottich hin, senkte die Augen zu Boden, verbeugte sich und schaute dann erst mit leuchtendem Blick von unten her zu dem gnädigen Herrn auf, und indem sie sich bemühte, mit dem Ärmel des gestickten Hemdes ein leichtes Lächeln zu verbergen, lief sie mit den Schuhen klappernd zur Treppe.

»Du, Mütterchen, bring den Tragbalken zur Tante Nastassja zurück,« sagte sie, indem sie in der Tür stehen blieb und sich an die Alte wandte.

Der züchtige junge Gutsbesitzer blickte streng, aber aufmerksam auf das rotbäckige Weib, verzog seine Stirn und wandte sich an die Greisin, die mit ihren krummen Fingern den Tragbalken losmachte, ihn auf die Schultern nahm und sich soeben gehorsam der Nachbarshütte zuwandte.

»Ist dein Sohn zu Hause?« fragte der gnädige Herr.

Die Greisin bückte ihren gebeugten Körper noch mehr, verneigte sich und wollte etwas sagen; indem sie aber die Hände an den Mund legte, fing sie derart zu husten an, daß Nechljudow, ohne abzuwarten, in die Hütte trat. Als Juchwanka, der in der roten Ecke auf der Bank saß, den gnädigen Herrn erblickte, stürzte er zum Ofen hin, als ob er sich vor ihm verbergen wolle, legte eiligst irgendein Ding auf das Schlafgerüst, und mit Mund und Augen zwinkernd, drückte er sich an die Wand hin, als wolle er dem gnädigen Herrn Platz machen. Juchwanka war ein rotblonder Bursche von dreißig Jahren, hager, gut gewachsen, mit einem jungen, spitzen Kinn, ziemlich hübsch, wenn nicht seine unruhigen grauen Augen gewesen wären, die aus seinen verzogenen Brauen unangenehm hervorschauten, und wenn ihm nicht zwei Vorderzähne gefehlt hätten, was sogleich in die Augen fiel, weil seine Lippen kurz waren und sich unaufhörlich bewegten. Er trug ein Feiertagshemd mit grellroten Achselzwickeln, gestreifte Kattunhosen und schwere Stiefel mit gefalteten Schäften. Das Innere der Hütte Juchwankas war nicht so eng und finster wie das Innere der Hütte von Tschuris, obgleich es auch in ihr schwül war, nach Rauch und Schafpelz roch und ebenso unordentlich Männerkleider und Hausgeräte umherlagen. Zwei Dinge zogen die Aufmerksamkeit besonders auf sich: ein nicht großer, krummer Samowar, der auf dem Wandbrett stand, und ein schwarzer Rahmen mit dem Rest eines schmutzigen Glases und dem Bild irgendeines Archimandriten mit krummer Nase und sechs Fingern, das bei dem in Kupfer gefaßten Heiligenbild hing. Nechljudow schaute nicht gerade wohlwollend auf den Samowar, das Porträt des Archimandriten und das Schlafgerüst, an dem, aus irgendeinem alten Lumpen hervor, das Ende einer Pfeife mit Kupferbeschlag hing, und wandte sich an den Bauern.

»Guten Tag, Epiphan,« sagte er, wobei er ihm in die Augen schaute.

Epiphan verneigte sich und murmelte: »Gesundheit wünschen wir Euer Gnaden,« wobei er das letzte Wort besonders zärtlich aussprach, und seine Augen umliefen dabei augenblicklich die ganze Gestalt des gnädigen Herrn, die Hütte, den Fußboden und die Decke, ohne bei irgend etwas stehen zu bleiben. Dann ging er eilig zu dem Schlafgerüst, zog dort seinen Rock hervor und begann ihn anzuziehen.

»Weshalb ziehst du dich denn an?« sprach Nechljudow, während er sich auf die Bank setzte und sich augenscheinlich bemühte, den Epiphan möglichst streng anzublicken.

»Wie denn, erbarmen Sie sich doch. Euer Gnaden, kann man denn...? Wir, scheint es, können verstehen...«

»Ich bin zu dir gekommen, um zu erfahren, weshalb du es nötig hast, ein Pferd zu verkaufen, ob du viele Pferde hast und welches Pferd du verkaufen willst,« sprach trocken der gnädige Herr, augenscheinlich vorbereitete Fragen wiederholend.

»Wir sind hoch zufrieden mit Euer Gnaden, daß Sie sich nicht ekelten, zu uns zu kommen, zu einem Bauern,« antwortete Juchwanka, und er warf rasche Blicke auf das Bild des Archimandriten, auf den Ofen, auf die Stiefel des gnädigen Herrn und überhaupt auf alle Gegenstände, ausgenommen das Gesicht Nechljudows. »Wir beten immer für Euer Gnaden zu Gott...«

»Weshalb mußt du ein Pferd verkaufen?« wiederholte Nechljudow, wobei er seine Stimme erhöhte und sich räusperte.

Juchwanka seufzte, strich sein Haar zurecht (sein Blick umlief wiederum die Hütte), und als er eine Katze bemerkt hatte, die friedlich auf der Bank liegend schnurrte, schrie er sie an: »Fort, Luder!« und wandte sich eiligst an den gnädigen Herrn. »Das Pferd, welches, Euer Gnaden, nichts taugt ... Wenn es ein gutes Tier wäre, würde ich es nicht verkaufen. Euer Gnaden...«

»Wieviel Pferde hast du denn überhaupt?«

»Drei, Euer Gnaden.«

»Sind keine Füllen darunter?«

»Wie ist das denn möglich, Euer Gnaden! Auch ein Füllen ist dabei.«

8

Komm, zeig mir deine Pferde! Sind sie bei dir auf dem Hofe?«

»Genau so. Euer Gnaden, wie es mir befohlen ist, so ward es auch getan, Euer Gnaden. Können wir denn ungehorsam sein, Euer Gnaden? Mir befahl Jakow Alpatitsch, die Pferde morgen nicht aufs Feld zu lassen, der Fürst werde sie anschauen; wir haben sie auch nicht fortgelassen. Wir wagen schon nicht, Euer Gnaden ungehorsam zu sein.«

Während Nechljudow zur Tür schritt, nahm Juchwanka die Pfeife vom Schlafgerüst und warf sie hinter den Ofen; seine Lippen bewegten sich ganz ebenso unruhig auch zu der Zeit, als der gnädige Herr nicht auf ihn schaute.

Eine magere graue Stute wühlte unter dem Schirmdach in faulem Stroh, ein zweimonatiges langbeiniges Füllen von einer ganz unbestimmten Farbe, mit bläulichen Füßen und bläulichem Maul, ging nicht von ihrem hageren Schwanz weg, in dem Kletten hingen. Inmitten des Hofes stand, die Augen geschlossen und nachdenklich das Haupt geneigt, ein dickbäuchiger brauner Wallach, augenscheinlich ein gutes Bauernpferd.

»So, sind das hier alle deine Pferde?«

»Keineswegs, Euer Gnaden, da ist noch eine kleine Stute, ja, und da noch ein kleines Füllchen,« antwortete Juchwanka, indem er auf die Pferde zeigte, die sein Herr gar nicht übersehen konnte.

»Ich sehe schon. Welches willst du denn verkaufen?«

»Aber da gerade dieses da, Euer Gnaden,« antwortete er, und er wies mit seinem Rockschoß auf den verschlafenen Wallach, wobei er unaufhörlich mit den Augen zwinkerte und seine Lippen bewegte. Der Wallach öffnete die Augen und drehte ihm faul seine Rückseite zu.

»Er ist dem Augenschein nach nicht alt und an sich ein stämmiges Pferdchen,« sprach Nechljudow. »Fasse es und zeige mir die Zähne! Ich erkenne, ob es alt ist.«

»Ich kann es auf keine Weise allein festkriegen. Euer Gnaden. Das ganze Vieh ist keinen Groschen wert, es hat Mucken, beißt und schlägt mit den Vorderfüßen aus, Euer Gnaden,« antwortete Juchwanka. Er lachte dabei sehr vergnügt und wandte die Augen nach verschiedenen Seiten hin.

»Was für ein Unsinn! Faß es, sag ich dir!«

Juchwanka lächelte lange, indem er von einem Fuß auf den andern trat, und erst als Nechljudow zornig schrie: »Nun, wirds bald?« stürzte er hinter das Schirmdach, brachte ein Halfter hervor und begann hinter dem Pferde herzujagen, wobei er es erschreckte und von hinten, nicht von vorn, auf dieses zukam.

Dem jungen gnädigen Herrn war es offenbar langweilig geworden, dem zuzuschauen, ja, und vielleicht wollte er auch seine Geschicklichkeit zeigen. »Gib mir das Halfter!« sprach er.

»Erbarmen Sie sich! Wie ist das möglich für Euer Gnaden? Geruhen Sie doch nicht...«

Nechljudow schritt aber gerade von vorn auf das Pferd zu, und es unversehens an den Ohren fassend, beugte er es mit einer solchen Kraft zur Erde nieder, daß der Wallach, der, wie es sich erwies, ein sehr frommes Bauernpferdchen war, schwankte und zu röcheln begann, wobei er sich bemühte, sich loszureißen. Als Nechljudow gemerkt hatte, daß es völlig unnötig war, solche Gewalt anzuwenden, und er auf Juchwanka schaute, der gar nicht aufhörte zu lächeln, kam ihm der in seinem Alter allerbeleidigendste Gedanke in den Kopf, daß Juchwanka über ihn lache und ihn im stillen für ein Kind halte. Er errötete, ließ die Ohren des Pferdes los, öffnete ihm ohne die Hilfe des Halfters das Maul und betrachtete die Zähne: die Eckzähne waren heil, die Kronen der Vorderzähne noch ausgefüllt, was der junge Landwirt schon gelernt hatte; es war also ein junges Pferd.

Juchwanka ging währenddessen zum Schirmdach hin, und als er gemerkt hatte, daß eine Egge nicht am rechten Platz lag, hob er sie auf, lehnte sie an den Zaun und stellte sie aufrecht hin.

»Komm hierher!« rief der gnädige Herr mit einem kindlich betrübten Gesichtsausdruck und fast mit Tränen des Verdrusses und des Ärgers in der Stimme. »Wie alt ist dieses Pferd?«

»Erbarmen Sie sich. Euer Gnaden, sehr alt, zwanzig Jahre wird es alt sein ... ein solches Pferd...«

»Schweig! Du bist ein Lügner und ein Taugenichts, weil ein ehrlicher Bauer nicht lügen wird; er hat es nicht nötig!« sprach Nechljudow. Er keuchte, weil Tränen des Zornes ihm in der Kehle aufstiegen. Um sich nicht bloßzustellen, indem er vor dem Bauern in Tränen ausbreche, verstummte er. Juchwanka schwieg gleichfalls; mit der Miene eines Menschen, der sogleich in Tränen ausbrechen wird, zog er ein paarmal die Luft durch die Nase und zuckte leicht mit dem Kopf. »Nun, womit wirst du denn pflügen gehen, wenn du dieses Pferd verkauft hast?« fuhr Nechljudow fort, als er sich hinlänglich beruhigt hatte, um mit seiner gewöhnlichen Stimme zu sprechen. »Man sendet dich absichtlich ohne Pferd zur Arbeit, damit deine Pferde zum Pflügen Kraft haben, und du willst dein letztes Pferd verkaufen? Aber die Hauptsache, weshalb lügst du?«

Als sich der gnädige Herr nur eben beruhigt hatte, hatte sich auch Juchwanka beruhigt. Er stand aufgerichtet da, und während er noch immer ebenso seine Lippen bewegte, liefen seine Augen von einem Gegenstand zum andern.

»Wir werden für Euer Gnaden«, antwortete er, »nicht schlechter als die anderen zur Arbeit fahren.«

»Ja, womit wirst du denn fahren?«

»Seien Sie nur unbesorgt, wir werden mit der Arbeit für Euer Gnaden schon fertig werden!« antwortete er und schrie dann den Wallach an und jagte ihn weg. »Wenn ich nicht Geld nötig hätte, würde ich ihn dann wohl verkaufen?«

»Wozu hast du denn Geld nötig?«

»Brot habe ich keines, Euer Gnaden; ja, und dem Bäuerlein muß ich auch meine Schuld abzahlen. Euer Gnaden.«

»Wie, hast du denn kein Brot? Weshalb haben es denn noch die andern, die Kinder haben, und du, der du kinderlos bist, hast keines? Wo ist es denn hingekommen?«

»Gegessen haben wir es, Euer Gnaden, und jetzt ist kein Krümel mehr da. Ein Pferd kaufe ich mir im Herbst, Euer Gnaden.«

»Wage nicht noch einmal daran zu denken, das Pferd zu verkaufen!«

»Wie denn, Euer Gnaden, wenn dem so ist, wie soll dann unser Leben sein? Brot gibt es nicht, und zu verkaufen wage ich nichts«, antwortete er völlig zur Seite, indem er die Lippen bewegte und plötzlich einen frechen Blick dem gnädigen Herrn grade ins Gesicht richtete. »Das heißt also, man muß Hungers sterben.«

»Nimm dich in acht, Bruder!« schrie Nechljudow erbleichend, und er empfand ein böses persönliches Gefühl gegen den Bauern; »solche Bauern wie du werde ich nicht halten. Dir wird es noch einmal schlecht gehen.«

»Das ist der Wille Euer Gnaden,« antwortete Juchwanka, indem er die Augen schloß, mit geheuchelt ergebenem Ausdruck, »wenn ich es Ihnen nicht recht machte. Es scheint aber, man hat keine Laster an mir bemerkt. Ich weiß, daß, wenn ich schon Euer Erlaucht nicht gefallen habe, alles in Ihrem Willen steht; nur weiß ich nicht, wofür ich leiden muß.«

»Aber, siehst du, dafür: daß bei dir der Hof kein Schirmdach hat, der Mist nicht untergepflügt, der Zaun zerbrochen ist und du zu Hause sitzt, ja, und eine Pfeife rauchst, aber nicht arbeitest; dafür, daß du deiner Mutter, die dir die ganze Wirtschaft abgab, kein Stück Brot gibst, deiner Frau erlaubst, sie zu schlagen, und sie dahin brachtest, daß sie kam, sich bei mir zu beklagen.«

»Erbarmen Sie sich, Euer Erlaucht; ich weiß nicht einmal, was es da für Pfeifen gibt«, antwortete verwirrt Juchwanka, dem augenscheinlich vor allem die Beschuldigung, eine Pfeife zu rauchen, kränkend war. »Von einem Menschen kann man alles sagen.«

»Da lügst du wiederum! Ich habe es selbst gesehen!«

»Wie wage ich denn, Euer Erlaucht zu belügen!«

Nechljudow schwieg. Er biß sich die Lippen und begann im Hofe auf und ab zu gehen. Juchwanka rührte sich nicht vom Fleck und verfolgte, ohne die Augen aufzuheben, mit den Blicken die Füße des gnädigen Herrn.

»Höre, Epiphan,« sprach Nechljudow mit kindlich sanfter Stimme, indem er vor dem Bauern stehen blieb und sich bemühte, seine Aufregung zu verbergen, »so zu leben ist unmöglich, und du wirst dich zugrunde richten. Denk einmal schön nach! Wenn du ein guter Bauer sein willst, so ändere du dein Leben, gib deine schlechten Gewohnheiten auf: lüge nicht, trinke nicht, achte deine Mutter. Ich weiß ja alles über dich. Beschäftige dich mit deiner Wirtschaft, nicht aber damit, Kronsholz zu stehlen, ja, und ins Wirtshaus zu gehen. Was ist da Schönes dran? Wenn du an irgend etwas Mangel leidest, so komm zu mir; erbitte ganz offen, was nötig ist und wofür, und lüge nicht, sage vielmehr die ganze Wahrheit; dann werde ich dir nichts abschlagen.«

»Erbarmen Sie sich, Euer Gnaden; wir können, scheint es, Euer Erlaucht verstehen!« antwortete Juchwanka, indem er so lächelte, als ob er durchaus den vollen Reiz des Scherzes seines Herrn zu würdigen verstehe.

Dieses Lächeln und diese Antwort enttäuschten Nechljudow völlig in seiner Hoffnung, den Bauern zu rühren und ihn durch Ermahnung auf den richtigen Weg zu bringen. Auch schien es ihm immer so, als ob es unziemlich für ihn sei, der die Macht habe, seinen Bauern zu ermahnen, und als ob alles, was er ihm gesagt habe, durchaus nicht das sei, was sich zu sagen gehöre. Er senkte traurig den Kopf und trat in den Vorraum. Auf der Schwelle saß die Greisin und stöhnte laut, wie es schien, zum Zeichen des Einverständnisses mit den Worten des gnädigen Herrn, die sie gehört hatte.

»Da hast du etwas für Brot!« sagte ihr Nechljudow ins Ohr, indem er ihr einen Geldschein in die Hand drückte; »kaufe nur selber und gib es nicht dem Juchwanka, der wird es nur vertrinken.«

Die Greisin griff mit ihrer knochigen Hand an den Türrahmen, um aufzustehen, und wollte dem gnädigen Herrn danken; ihr Kopf wackelte. Nechljudow war aber schon auf der andern Seite der Straße, als sie sich endlich erhoben hatte.

9

Dawidka Bjely bat um Brot und Zaunpfähle, stand im Notizbüchelchen geschrieben, nach Juchwanka.

Als Nechljudow an einigen Höfen vorübergegangen war, begegnete er beim Einbiegen in eine Seitengasse seinem Verwalter Jakow Alpatitsch, der von weitem seinen Herrn erschaut hatte, seine Wachstuchmütze abnahm, sein seidenes Taschentuch herauszog und sich damit sein dickes rotes Gesicht abzutrocknen begann.

»Bedeck dich, Jakow! Jakow, bedeck dich doch; ich sag es dir doch...«

»Wo geruhten Sie gewesen zu sein, Euer Erlaucht?« fragte Jakow, indem er sich mit der Mütze vor der Sonne schützte, sie aber nicht aufsetzte.

»Ich war bei Mudreny. Sage mir, bitte, warum ist der so geworden?« sprach der gnädige Herr im Weitergehen.

»Was denn, Euer Erlaucht?« fragte der Verwalter, der in respektvoller Entfernung seinem Herrn folgte und, nachdem er seine Mütze aufgesetzt hatte, seinen Schnurrbart zupfte.

»Wie, was denn? Er ist ein völliger Taugenichts, ein Faulpelz, ein Dieb, ein Lügner; er quält seine Mutter und ist offenbar ein so eingefleischter Schuft, daß er sich niemals bessern wird!«

»Ich weiß nicht, Euer Erlaucht, weshalb er Ihnen so mißfällt.«

»Und seine Frau«, unterbrach der gnädige Herr den Verwalter, »ist, scheint es, ein sehr übles Weib. Die Alte ist schlechter angezogen als irgendeine Bettlerin, hat nichts zu essen; sie selber dagegen ist herausgeputzt, und er ebenso. Was soll man mit ihm anfangen? Ich weiß es wirklich nicht.«

Jakow war merklich verlegen geworden, als Nechljudow von Juchwankas Frau sprach.

»Was ist da zu machen? Wenn er sich so gehen ließ, Euer Erlaucht,« begann er, »so muß man eben Maßregeln ausfindig machen. Er ist wirklich in Armut, wie alle einzeln wohnenden Bauern; aber er sieht gleichwohl irgendwie auf sich, anders als die andern. Er ist ein gescheiter Bauer, versteht zu lesen und zu schreiben, und da ist nichts zu sagen: es scheint, er ist ein ehrlicher Bauer. Zum Einsammeln der Kopfgelder geht er immer. Auch Ältester ist er, während ich Verwalter bin, schon drei Jahre gewesen; gleichfalls in nichts ertappt. Vor zwei Jahren beliebte es dem Vormund, ihn aufs Land zurückzunehmen, er war auch im Herrendienst ordentlich. Es mag sein, als er in der Stadt bei der Post angestellt war, daß er hier und da ein wenig trank; dagegen muß man eben Maßregeln ausfindig machen. Es kam vor, er trieb Unfug, man strafte ihn er kam wieder zur Vernunft: es geht ihm gut, und in der Familie herrscht Eintracht. Wenn es Ihnen aber nicht gefällig ist, das heißt eben, diese Maßnahmen zu treffen, so weiß ich schon nicht, was mit ihm anzufangen. Er hat sich also wirklich sehr gehen lassen? Zu den Soldaten taugt er nicht, weil, wie Sie zu bemerken geruhten, ihm zwei Zähne fehlen. Er hat sie sich längst schon absichtlich ausgeschlagen. Ja, ich erkühne mich mitzuteilen, er ist es nicht allein, der keine Furcht hat...«

»Das laß schon sein, Jakow«, antwortete Nechljudow mit leichtem Lächeln; »darüber haben wir beide schon genug gesprochen. Du weißt, wie ich darüber denke, und was du mir auch sagen wirst, ich werde gleichwohl so denken.«

»Natürlich, Euer Erlaucht, dies alles ist Ihnen bekannt«, sprach Jakow, indem er die Achseln zuckte und von hinten so auf den gnädigen Herrn schaute, als habe das, was er gesehen hatte, nichts Gutes versprochen. »Daß Sie sich aber hinsichtlich der Greisin zu beunruhigen geruhten, ist umsonst«, fuhr er fort. »Es ist natürlich wahr, daß sie die Waisen erzog und nährte und Juchwanka verheiratete und alles dergleichen; aber das ist doch überhaupt so bei den Bauern, wenn die Mutter oder der Vater dem Sohne die Wirtschaft übergibt, dann ist dieser Hauswirt der Sohn und die Schwiegertochter; die Alte muß dann schon ihr Brot nach ihren Kräften, soweit die reichen, erarbeiten. Sie haben natürlich nicht zärtliche Gefühle, aber bei den Bauern geht es schon überhaupt so zu. Darum erkühne ich mich auch, Ihnen mitzuteilen, daß die Alte Sie umsonst bemühte. Sie ist doch eine kluge Greisin und eine Hausfrau: ja, wozu denn den gnädigen Herrn wegen diesem allem beunruhigen? Nun, sie hat mit der Schwiegertochter gezankt, die hat sie vielleicht auch gestoßen das ist Weibersache! und sie hätten sich lieber wieder versöhnen sollen, statt Sie zu beunruhigen. Schon so geruhen Sie sich alles zu sehr zu Herzen zu nehmen«, sprach der Verwalter, wobei er mit väterlicher Zärtlichkeit und Nachsicht auf den gnädigen Herrn schaute, der schweigend mit großen Schritten vor ihm her die Straße hinaufschritt.

»Geruhen Sie nach Hause zu gehen?« fragte er.

»Nein, zu Dawidka Bjely oder Geisbock ... was hat er für einen Spitznamen?«

»Sehen Sie, das ist auch so ein Unglück, ich sage es Ihnen. Schon dies ganze Geschlecht der Koslows ist solches. Was ich auch mit ihm tat, nichts führt zum Ziele. Gestern fuhr ich am Bauernfeld vorüber, bei ihm ist der Buchweizen nicht ausgesät. Was werden Sie befehlen, mit einem solchen Völkchen anzufangen? Wenn wenigstens der Alte den Sohn lehren würde, aber der ist ebenso ein Taugenichts, weder für sich noch zum Herrendienst taugt er; überall erweist er sich als ein Tölpel. Was haben nicht schon alles der Vormund und ich mit ihm angefangen: zur Polizei geschickt und bei uns gestraft das ist es aber, was Sie nicht zu lieben geruhen...«

»Wen meinst du denn, doch nicht den Alten?«

»Gerade ihn. Der Vormund hat ihn so oft schon selbst vor der ganzen Bauernversammlung gestraft; glauben Sie, Euer Erlaucht, daß das nur irgend etwas genützt hätte? Er schüttelt sich nur und geht, und immer das gleiche. Und sehen Sie, Dawidka, ich sage es Ihnen, ist ein friedfertiger Bauer und auch nicht dumm, das heißt, er raucht nicht und trinkt nicht,« erklärte Jakow, »aber dabei ist er schlechter als ein andrer, der trinkt. Es bleibt nur das eine: daß er zu den Soldaten kommt oder zur Ansiedlung geschickt wird; weiter bleibt gar nichts zu tun. Das ganze Geschlecht der Koslows ist schon ein solches Unglück: auch Matrjuschka, der in der schwarzen Hütte wohnt, ist ein ebensolches verfluchtes Unglück ... So haben Sie mich also nicht nötig, Euer Erlaucht?« fügte der Verwalter hinzu, da er bemerkt hatte, daß der Herr ihm gar nicht zuhörte.

»Nein, geh nur deiner Wege«, antwortete Nechljudow zerstreut und wandte sich zu Dawidka Bjely.

Dessen Hütte stand schief und einsam am Rande des Dorfes. Bei ihr war weder ein Hof, noch eine Getreidedarre, noch eine Scheune, nur irgendwelche schmutzige Ställchen für das Vieh klebten auf der einen Seite; auf der anderen Seite lagen, auf einen Haufen zusammengelegt, für den Bau des Hofes vorbereitetes Strauchholz und Balken. Hohes grünes Unkraut wuchs an der Stelle, wo einstmals der Hof gewesen war. Niemand war bei der Hütte außer einem Schwein, das an der Schwelle im Schmutz lag und grunzte.

Nechljudow pochte an das zerbrochene Fenster; da ihm aber niemand antwortete, ging er zum Vorraum und rief: »Hausleute!« Aber auch darauf erfolgte keine Entgegnung. Er durchschritt den Vorraum, blickte in die leeren Ställchen und betrat die offen stehende Hütte. Ein alter roter Hahn und zwei Hühner gingen, den Hals hin und her bewegend und mit ihren Zehen aufklopfend, auf dem Fußboden und den Bänken hin und her. Als sie den Fremden gewahrten, breiteten sie mit verzweifeltem Gackern die Flügel aus, stießen sich an den Wänden, und eines von ihnen flog auf den Ofen. Das sechs Arschin große Hüttchen war völlig ausgefüllt durch einen Ofen mit zerbrochener Ofenröhre, einen Webstuhl, der ungeachtet der Sommerzeit noch nicht hinausgetragen war, und einen schwarz gewordenen Tisch mit verbogener und gesprungener Tischplatte. Obgleich es draußen trocken war, stand doch an der Schwelle eine schmutzige Pfütze, die von einem früheren Regen her durch ein Loch in der Decke und im Dach entstanden war. Schlafgerüste gab es nicht. Schwerlich konnte man dies für einen Wohnraum halten einen so entschiedenen Anblick von Verödung und Unordnung bot die Hütte von außen und von innen; gleichwohl wohnte in dieser Hütte Dawidka Bjely mit seiner ganzen Familie. Augenblicklich schlief Dawidka einen festen Schlaf. Er hatte sich trotz der Hitze des Junitages mit dem Kopf in seinen Schafpelz gewickelt und in die Ofenecke verkrochen. Das erschreckte Huhn, das auf den Ofen geflogen war, sich noch nicht von seiner Aufregung erholt hatte und auf dem Rücken Dawidkas hin und her lief, weckte ihn nicht einmal auf.

Da Nechljudow in der Hütte niemand sah, wollte er schon hinausgehen, als ein langgezogener Seufzer den Hausherrn verriet.

»Ei! wer ist denn da?« rief der gnädige Herr.

Vom Ofen her war noch ein gedehnter Seufzer zu vernehmen.

»Wer da? Kommt doch herunter!«

Noch ein Seufzer, ein Brüllen und ein lautes Gähnen antworteten auf den Anruf des gnädigen Herrn.

»Nun, wo bleibst du denn?«

Auf dem Ofen rührte es sich langsam: es zeigten sich die Schöße eines abgetragenen Schafpelzes; ein großer Fuß ließ sich herab in zerrissenem Bastschuh, dann ein anderer, und endlich zeigte sich die ganze Figur Dawidka Bjelys, der auf dem Ofen saß und sich langsam und unzufrieden mit seiner großen Faust die Augen rieb. Er erhob langsam den Kopf, schaute gähnend in die Hütte, und als er den gnädigen Herrn erblickt hatte, begann er sich ein wenig rascher zu bewegen als vordem, aber gleichwohl noch so langsam, daß Nechljudow es fertigbrachte, dreimal von der Pfütze zum Webstuhl und zurück zu gehen, während Dawidka immer noch vom Ofen herabstieg. Dawidka der Weiße war wirklich weiß: seine Haare, sein Körper, sein Gesicht alles war außerordentlich weiß. Er war von hohem Wuchs und sehr dick, aber so, wie das die Bauern sind, das heißt, nicht dick am Bauch, vielmehr am ganzen Körper. Seine Dicke war aber ganz weich und ungesund. Sein ziemlich hübsches Gesicht mit hellblauen, ruhigen Augen und einem breiten, großen Bart trug den Stempel der Kränklichkeit. An ihm war weder Bräunung von der Sonne noch Backenröte zu bemerken; es war gleichmäßig von einer ganz blassen, gelblichen Farbe, mit leichtem lilafarbigem Schatten um die Augen, und es sah aus, als sei es völlig von Fett aufgeschwemmt oder aufgeschwollen. Seine Hände waren sehr dick, gelblich wie die Hände Wassersüchtiger und bedeckt mit dünnen weißen Haaren. Er war so verschlafen, daß er durchaus nicht die Augen öffnen konnte und auch nicht zu stehen vermochte, ohne zu wanken und zu gähnen.

»Nun, wie, schämst du dich denn nicht,« begann Nechljudow, »am hellen, lichten Tag zu schlafen, wenn du den Hof bauen mußt, weil du kein Brot hast?«

Als Dawidka nur eben vom Schlafe zu sich gekommen war und zu begreifen begann, daß der gnädige Herr vor ihm stehe, faltete er die Hände unter dem Bauch, senkte den Kopf, neigte ihn ein wenig zur Seite und rührte kein Glied mehr. Er schwieg; aber der Ausdruck seines Gesichtes und die Haltung seines ganzen Körpers sagte: Ich weiß, ich weiß; ich muß das nicht zum ersten Male hören. Nun, schlagen Sie mich doch, wenn es so nötig ist ich werde es schon ertragen. Es schien, als wünschte er, der gnädige Herr möchte aufhören zu sprechen und ihn lieber schlagen, ihn sogar so, daß es weh täte, auf die dicken Backen schlagen, ihn aber nur möglichst bald wieder in Ruhe lassen. Da Nechljudow merkte, daß ihn Dawidka gar nicht verstand, bemühte er sich, durch verschiedene Fragen den Bauern aus seinem ergeben-geduldigen Schweigen aufzurütteln.

»Weshalb hast du mich denn eigentlich um Holz gebeten, da doch solches schon einen ganzen Monat bei dir liegt und die allerfreieste Zeit über so liegt, wie?«

Dawidka schwieg hartnäckig und rührte sich nicht.

»Nun, so antworte doch!«

Dawidka murmelte irgend etwas und zuckte mit seinen weißen Wimpern.

»Man muß aber doch arbeiten, Brüderlein; ohne Arbeit, was wird denn da sein? Siehst du, jetzt hast du kein Brot; aber weshalb das alles? Weil bei dir der Boden schlecht gepflügt ist; ja, gar nicht zum zweiten Male, ja, nicht zur Zeit besät alles aus Faulheit. Du bittest mich um Brot: nun, nehmen wir an, ich würde dir etwas geben, weil es nicht angeht, daß du Hungers stirbst; ja aber, siehst du, so zu tun taugt doch nichts. Wessen Brot werde ich dir denn geben? Wessen glaubst du wohl? Antworte doch, wessen Brot werde ich dir geben?« fragte Nechljudow hartnäckig.

»Herrenbrot . . .« murmelte Dawidka, indem er schüchtern und bittend die Augen erhob.

»Aber das Herrenbrot, woher kommt es denn? Urteile doch selber. Wer hat es gepflügt? Wer hat es geeggt? Wer hat es gesät? Wer hat es geerntet? Die Bäuerlein? Ist es so? Du siehst also: wenn man schon den Bauern Herrenbrot austeilen muß, so muß man denen mehr davon zuteilen, die mehr dafür gearbeitet haben; du aber hast weniger als alle andern gearbeitet über dich beklagt man sich auch beim Dienst für die Herrschaft, weniger als alle andern hast du gearbeitet, und mehr als alle bettelst du um Herrenbrot. Wofür soll man denn dir geben und den andern nicht? Siehst du, wenn alle wie du auf der Seite lägen, so wären wir alle auf der Welt längst schon Hungers gestorben. Man muß sich mühen, Brüderchen, dies aber ist schlecht hörst du, Dawid?«

»Ich höre«, sprach er langsam durch die Zähne.

10

Um diese Zeit huschte am Fenster der Kopf einer Bauernfrau vorüber, die Leinwand auf einem Tragejoch trug, und einen Augenblick später trat Dawidkas Mutter in die Hütte, ein hochgewachsenes Weib von fünfzig Jahren, sehr frisch und lebhaft. Ihr von Pockennarben und Runzeln durchfurchtes Gesicht war nicht hübsch, aber die gerade, feste Nase, die zusammengepreßten dünnen Lippen und die flinken grauen Augen drückten Verstand und Willenskraft aus. Ihre eckigen Schultern, ihre flache Brust, ihre trockenen Hände und die entwickelten Muskeln an ihren schwarzen nackten Füßen zeugten davon, daß dies Weib längst schon aufgehört hatte, Frau zu sein und nur noch Arbeiter war. Sie kam flink in die Hütte, schloß die Tür, zog ihren Rock zurecht und blickte erzürnt auf den Sohn. Nechljudow wollte ihr irgend etwas sagen, sie wandte sich aber von ihm weg und begann sich zu bekreuzigen nach dem hinter dem Webstuhl hervorschauenden schwarzen hölzernen Heiligenbild zu. Als sie damit fertig war, rückte sie das schmutzige karierte Tuch zurecht, mit dem ihr Kopf umwunden war, und verneigte sich tief vor dem gnädigen Herrn.

»Zum Feiertage des Herrn, Euer Erlaucht,« sprach sie, »errette dich Gott, du unser Vater...«

Kaum hatte Dawidka die Mutter erblickt, so wurde er merklich verlegen, beugte ein wenig den Rücken und ließ seinen Kopf noch tiefer hängen.

»Danke, Arina!« antwortete Nechljudow. »Siehst du, ich habe eben mit deinem Sohn über eure Wirtschaft gesprochen.«

Arina, oder, wie man die Bäuerin schon von ihrer Mädchenzeit an nannte, Arischka Burlak, legte das Kinn auf die Faust der rechten Hand, während der Ellenbogen sich auf die linke Handfläche stützte, und begann, ohne den gnädigen Herrn ausreden zu lassen, so scharf und klangvoll zu sprechen, daß die ganze Hütte erfüllt war von dem Schall ihrer Stimme und es von draußen scheinen konnte, als sprächen plötzlich mehrere Weiberstimmen.

»Wozu denn, du mein Vater, wozu denn mit ihm sprechen! Er kann ja nicht einmal sprechen wie ein Mensch. Er steht ja da ... Tölpel!« fuhr sie fort, indem sie mit dem Kopfe verächtlich auf die jämmerliche massige Figur Dawidkas hinwies. »Wie meine Wirtschaft ist, Väterchen, Euer Erlaucht? Wir sind bettelarm! Schlechteres als uns gibt es im ganzen Dorfe bei dir nicht: weder für uns selber noch für den Herrendienst Schmach! Aber alles hat er dahin gebracht! Wir gebaren ihn, nährten ihn, tränkten ihn, wir hofften gar nicht den Burschen zu erwarten. Nun, da haben wir ihn denn erwartet: Brot frißt er, Arbeit aber leistet er wie dieser faulende Holzklotz hier. Er weiß nur auf dem Ofen zu liegen, oder er steht gerade wie jetzt und kratzt sich seinen dummen Schädel«, sprach sie, indem sie ihn nachäffte. »Wenn du, Vater, ihn wenigstens durchprügeln würdest! Ich selber bitte schon darum: strafe du ihn um des Herrgotts willen, oder zu den Soldaten mit ihm! Das kommt auf dasselbe heraus. Ich habe mit ihm alle Kräfte verloren das ist es.«

»Nun, wie, ist es dir denn nicht sündhaft, Dawidka, deine Mutter soweit zu bringen?« sprach Nechljudow, indem er sich vorwurfsvoll an den Bauern wandte.

Dawidka rührte sich nicht.

»Ja, ein kränklicher Bauer ginge noch an,« fuhr Arina fort, mit derselben Lebhaftigkeit und denselben Bewegungen, »aber da braucht man ja nur auf ihn hinzublicken, er ist ja aufgebläht wie eine Müllersau. Er ist, scheint es, um zu arbeiten ein zu großer Fettkloß! Nein, da wird er auf dem Ofen als Taugenichts zugrunde gehen. Macht er sich hinter etwas, so kann ich es kaum mit ansehen: bis er sich erhebt, bis er sich vorwärts bewegt, bis er etwas anfaßt...« sprach sie, indem sie die Wörter hinzog und sich ungeschickt mit ihren eckigen Schultern von einer Seite zur anderen drehte. »Gerade heute ist der Greis selber nach Reisig in den Wald gefahren, ich aber habe ihm befohlen, einen Graben zu graben. Damit ist es also wieder nichts, er hat nicht einmal die Schaufel in die Hand genommen.« (Einen Augenblick schwieg sie.) »Zugrunde gerichtet hat er mich Waise«, kreischte sie plötzlich auf, indem sie die Arme schwang und mit drohender Miene auf den Sohn zuschritt. »Dein glattes Maul, dein nichtsnutziges, verzeih mir Gott!« (Sie wandte sich verächtlich und dabei verzweifelt von ihm ab.) Sie spuckte aus, drehte sich wiederum dem gnädigen Herrn zu und fuhr fort, mit derselben Lebhaftigkeit und unter Tränen die Arme zu schwingen. »Ich bin ja immer allein, Ernährer! Mein Alter ist ja krank, ja, und auch von ihm hat man nichts, ich aber habe immer alles allein zu tun, ja ganz allein. Ein Stein und der wird noch zerspringen. Wenn ich doch sterben könnte, es wäre mir leichter; es kommt auf dasselbe heraus. Er hat mich zu Tode gequält, der Schuft! Du, unser Vater! Ich habe schon keine Kraft mehr! Unsere Schwiegertochter hat sich zu Tode gearbeitet auch mit mir wird dasselbe sein.«

11

Wie denn zu Tode gearbeitet?« fragte ungläubig Nechljudow.

»Vor Überanstrengung ist sie gestorben, Ernährer; so wahr Gott heilig ist, sie hat sich zu Tode gearbeitet. Wir nahmen sie vorvoriges Jahr aus Baburino«, fuhr sie fort, wobei sich plötzlich ihr erzürnter Ausdruck in einen weinerlichen und traurigen verwandelte. »Nun, das Weib war jung, frisch, friedfertig, mein Lieber! Bei ihrem Vater zu Hause als Mädchen hatte sie es gut gehabt, keine Not gesehen, und als sie zu uns kam, als sie erfahren hatte, was unsere Arbeit ist für den Herrn und zu Hause und überall. Sie, ja, und ich weiter war niemand da. Mir macht das nichts! Ich bin an das alles gewöhnt, sie aber war in Umständen, du mein Vater, ja, Kummer begann sie zu erdulden, sie arbeitete aber über ihre Kräfte nun, und überanstrengte sich, die Liebe. Vergangenen Sommer zur Peter-Pauls-Zeit hat sie auch noch zum Unglück einen Knaben geboren; Brot gab es aber nicht, wir aßen irgend etwas, du mein Vater, die Arbeit war aber eilig, bei ihr ist denn auch die Brust vertrocknet. Das Kindchen war das erste, eine Kuh hatten wir nicht, ja, und unsere Sache ist eine bäuerliche: wie hätten wir schon aus der Flasche nähren können; nun, Weiberdummheit ist bekannt, sie begann damit, sich noch mehr zu grämen. Als aber das Kindchen gestorben war, da hat sie schon aus Gram geheult, geheult, geschrien, geschrien, ja die Not, ja die Arbeit, immer schlechter und schlechter ging es mit ihr: so erschöpfte sie ihre Kraft im Sommer, die Liebe, daß sie am Pokrowtag auch selber starb. Er hat sie zugrunde gerichtet, du, Bestie!« wandte sie sich von neuem mit verzweifelter Wut an den Sohn. »Um was ich dich bitten wollte, Euer Erlaucht«, fuhr sie fort nach einem kurzen Schweigen, indem sie leiser sprach und sich verneigte.

»Was denn?« fragte Nechljudow zerstreut, noch ganz aufgeregt von ihrer Erzählung.

»Er ist ja noch ein junger Bauer! Von mir, was kann man da noch für Arbeit erwarten: heute lebe ich, morgen bin ich tot. Warum soll er ohne Frau sein? Er wird dir ja dann kein Bauer sein. Hilf du uns ein wenig, du unser Vater.«

»Das heißt, du willst ihn verheiraten? Wie denn, das ist noch eine Sache!«

»Übe du göttliche Gnade! Ihr seid unser Vater und unsere Mutter!«

Und nachdem sie ihrem Sohn ein Zeichen gegeben hatte, fiel sie mit ihm gemeinsam dem gnädigen Herrn krachend zu Füßen.

»Weshalb fällst du mir denn zu Füßen?« sprach Nechljudow, indem er sie verdrießlich an den Schultern aufhob, »kann man das denn nicht so sagen? Du weißt, daß ich das nicht liebe. Verheirate deinen Sohn, bitte; ich bin sehr froh, wenn du eine Braut für ihn in Aussicht hast.«

Die Alte erhob sich und begann mit dem Ärmel ihre trockenen Augen zu reiben. Dawidka folgte ihrem Beispiel, und nachdem er sich mit seiner dicken Faust die Augen gerieben hatte, fuhr er in ganz derselben geduldig ergebenen Haltung fort, zu stehen und zu hören, was Arina sprach.

»Eine Braut ist da, wie sollte es keine geben! Da ist Wassjutka Micheikina, es ist nichts gegen das Mädchen zu sagen; ja, aber ohne deinen Willen wird sie ihn nicht nehmen.«

»Ist sie denn nicht einverstanden?«

»Nein, Ernährer, wenn sie nach eigenem Willen gehen darf, nicht.«

»Nun, was soll man da machen? Ich kann sie doch nicht zwingen; sucht eine andere, wenn nicht bei euch, so bei Fremden; ich werde sie loskaufen, wenn sie nur aus freiem Willen geht, gewaltsam verheiraten geht nicht an. Es gibt kein solches Gesetz, ja, und das ist auch große Sünde.«

»Eeech! Ernährer! Ist das denn möglich, wenn man auf unser Leben blickt, ja, auf unsere Armut, daß sie gern käme? Selbst eine Soldatenfrau sogar sie wird nicht eine solche Not auf sich nehmen wollen. Welcher Bauer wird denn sein Mädchen zu uns auf den Hof geben? Wir sind ja bettelarm. Eine, wird man sagen, haben sie durch Hunger zum Tode gebracht, so wird es auch der meinigen gehen. Wer wird seine Tochter geben?« fügte sie hinzu, indem sie ungläubig den Kopf schüttelte. »Überlege doch, Euer Erlaucht!«

»Was kann ich dann aber machen?«

»Hilf du uns irgendwie, Vater!« wiederholte mit Überzeugung Arina. »Was sollen wir denn anfangen?«

»Ja, was kann ich denn da helfen? Auch ich kann in diesem Falle nichts für euch tun.«

»Wer wird uns denn dann helfen, wenn nicht du?« sprach Arina. Sie hatte den Kopf gesenkt und rang die Hände mit dem Ausdruck ratloser Trauer.

»Ihr habt um Brot gebeten; ich werde also befehlen, euch welches abzulassen«, sprach der gnädige Herr nach einigem Schweigen, während Arina seufzte und Dawidka ihrem Beispiel folgte. »Weiter kann ich aber nichts tun.«

Nechljudow trat in den Vorraum, Mutter und Sohn folgten unter Verbeugungen dem gnädigen Herrn.

12

Oh, meine Verwaistheit!« sprach Arina mit schwerem Seufzer. Sie blieb stehen und schaute zornig auf den Sohn. Dawidka kehrte sich sogleich um, und nachdem er seinen dicken Fuß in dem gewaltigen schmutzigen Bastschuh schwer über die Schwelle gewälzt hatte, verschwand er durch die entgegengesetzte Tür.

»Was soll ich denn mit ihm anfangen, Vater?« fuhr Arina fort, indem sie sich zum gnädigen Herrn wandte. »Du siehst ja selber, was er für einer ist! Er ist ja kein schlechter Bauer, ein nüchterner und friedfertiger Bauer, er tut keinem kleinen Kinde etwas zuleide es ist Sünde, anders zu sagen; Schlechtes ist gar nichts an ihm, aber Gott allein weiß, was sich mit ihm zutrug, daß er sich selber zu einem Übeltäter wurde. Er ist ja auch selber nicht froh darüber. Glaubst du es wohl, Väterchen, das Herz blutet mir, wenn ich auf ihn schaue, was für eine Qual er auf sich nimmt. Was er auch immer für einer ist, mein Leib hat ihn doch getragen; ich bemitleide ihn, und er tut mir leid! Es ist ja nicht so, als ob er gegen mich oder den Vater oder gegen die Obrigkeit wäre oder auch nur irgend etwas täte; er ist ein furchtsamer Bauer, man möchte sagen, er ist wie ein kleines Kind. Warum soll er Witwer sein? Hilf du uns, Ernährer!« wiederholte sie, indem sie augenscheinlich den schlechten Eindruck wieder gutmachen wollte, den ihr Schimpfen auf den gnädigen Herrn hervorgerufen haben konnte. »Ich, Väterchen, Euer Erlaucht,« fuhr sie in zutraulichem Geflüster fort, »ich habe auch so hin und her gedacht: ich kann nicht daraus klug werden, weshalb er so ist. Es ist nicht anders, als ob ihn böse Leute verdorben hätten!«

Sie schwieg ein wenig.

»Wenn man nur einen Menschen finden könnte! Man kann ihn heilen.«

»Was du da für einen Unsinn sprichst, Arina! Wie kann man denn einen Menschen verderben?«

»So sehr kann man jemand verderben, du mein Vater, daß er in Ewigkeit kein Mensch mehr ist! Gibt es wohl wenig schlechte Menschen auf der Welt? Aus Bosheit nimmt einer Erde aus der Fußstapfe oder sonst was ... und auf ewig wird er kein Mensch mehr sein. Ist es weit bis zur Sünde? Ich denke nur so bei mir: soll ich nicht zu dem alten Dunduk gehen, der in Worobjewka wohnt? er weiß allerart Worte, auch die Kräuter kennt er, auch die Besessenheit zu heilen versteht er und vom Kreuz das Wasser herabfallen zu lassen; wird er denn nicht helfen?« sprach das Weib. »Vielleicht wird er ihn heilen.«

›So ist sie, die Armut und die Unbildung!‹ dachte der junge gnädige Herr, als er, traurig das Haupt geneigt, mit großen Schritten die Dorfstraße hinabschritt. Was soll ich mit ihm machen? Ihn in dieser Lage lassen ist unmöglich, sowohl für mich wie auch als Beispiel für die anderen und für ihn selber, sprach er bei sich selbst, wobei er diese Gründe an den Fingern herzählte. Ich kann ihn nicht in solcher Lage sehen; aber wodurch soll ich ihn da herausführen? Er zerstört alle meine besten Pläne hinsichtlich meiner Landwirtschaft. Wenn solche Bauern bleiben, werden meine Träume niemals erfüllt werden, dachte er, und er empfand Zorn und Verdruß gegen den Bauern, weil der seine Pläne zerstört habe. Soll ich ihn zur Ansiedlung schicken, wie Jakow sagt, wenn er schon selber nicht will, daß es ihm wohl sei, oder soll ich ihn unter die Soldaten stecken? So soll es werden; dadurch befreie ich mich wenigstens von ihm und erhalte noch einen guten Bauern dafür, überlegte er.

Er dachte mit Vergnügen daran; dabei sagte ihm aber irgendein unklares Bewußtsein, daß er hier nur mit einer Seite seines Verstandes denke und daß da irgend etwas nicht recht sei. Er blieb stehen. Halt, woran denke ich? sprach er zu sich selber. Ja, unter die Soldaten, zur Ansiedlung. Wozu? Er ist ein guter Mensch, besser als viele andere, ja, und woher weiß ich denn ... Ihn freilassen? dachte er, wobei er die Frage nicht mehr nur mit einer Seite seines Verstandes erörterte wie vordem. Ungerecht wäre das, ja, und auch unmöglich! Plötzlich kam ihm ein Gedanke, der ihn sehr erfreute; er lächelte mit dem Ausdruck eines Menschen, der eine schwere Aufgabe gelöst hat. Ihn zu mir auf den Hof nehmen, sagte er sich, selber auf ihn achtgeben und ihn durch Sanftmut und Ermahnungen, durch die Auswahl seiner Beschäftigung an die Arbeit gewöhnen und ihn bessern.

13

So werde ich es auch machen!‹ sprach Nechljudow zu sich selber in froher Selbstzufriedenheit; und da er sich erinnerte, daß er noch zu dem reichen Bauern Dutlow gehen müsse, wandte er sich einem hohen und geräumigen Bau mit zwei Schornsteinen zu, der in der Mitte des Dorfes stand. Auf dem Wege dahin begegnete er bei der Nachbarhütte einem hochgewachsenen, einfach gekleideten Weibe von vierzig Jahren, das ihm entgegenkam.

»Zum Feiertag, Väterchen!« sagte, nicht im geringsten schüchtern, das Weib, indem es neben ihm stehen blieb, froh lächelte und sich verneigte.

»Guten Tag, Amme!« antwortete er, »wie geht es dir? Ich gehe gerade zu deinem Nachbar.«

»So, Väterchen, Euer Erlaucht. Das ist eine gute Sache. Wie aber, werden Sie nicht auch zu uns kommen? Wie würde sich mein Alter freuen!«

»Natürlich werde ich kommen; wir wollen miteinander plaudern, Amme. Ist das deine Hütte?«

»Gerade diese, Väterchen.«

Und die Amme lief voraus. Nechljudow folgte ihr in den Vorraum, setzte sich auf ein Wasserfaß, nahm eine Zigarette heraus und zündete sie an.

»Dort ist es heiß, besser werden wir schon hier sitzen und plaudern«, antwortete er auf die Aufforderung der Amme, in die Hütte zu treten. Die Amme war ein noch frisches und hübsches Weib. In den Zügen ihres Gesichtes und besonders in ihren großen schwarzen Augen war eine große Ähnlichkeit mit dem Gesicht des gnädigen Herrn. Sie faltete die Hände unter ihrem Brustlatz, und indem sie keck dem gnädigen Herrn ins Gesicht schaute und unaufhörlich den Kopf bewegte, begann sie mit ihm zu sprechen.

»Was ist denn das, Väterchen, weshalb geruhen Sie zu Dutlow zu gehen?«

»Ja, ich will, daß er bei mir Land pachten soll, dreißig Dessjatinen, und seine eigene Wirtschaft einrichte, ja auch noch, daß er einen Wald mit mir gemeinsam kaufen soll. Geld hat er ja, was soll es denn bei ihm umsonst liegen? Wie denkst du darüber, Amme?«

»Ja, wie denn? Es ist bekannt, Väterchen, die Dutlows sind starke Leute, im ganzen Dorfe beinahe der erste Bauer«, antwortete die Amme, ihren Kopf hin und her bewegend. »Vergangenen Sommer hat er einen neuen Bau aus eigenem Holz errichtet, die Herrschaft hat er nicht bemüht. Pferde wird er außer den Füllen, ja, und den Halbgroßen, sechs Dreigespanne zusammenbringen. Sein Vieh aber, Kühe und Schafe, wenn man sie vom Felde treibt, ja, und die Weiber auf die Straße herauskommen, sie einzutreiben, dann drängen sie sich im Tor, daß es eine Not ist; ja, und auch Bienen hat er zweihundert Stöcke, wenn nicht mehr. Ein sehr starker Bauer, und Geld muß er auch haben.«

»Aber wie denkst du, hat er viel Geld?« fragte der gnädige Herr.

»Die Leute sagen, natürlich aus Ärger, der Greis habe nicht wenig Geld; nun ja, darüber wird er nicht sprechen, auch den Söhnen eröffnet er das nicht, es muß aber wohl welches da sein. Weshalb sollte er sich nicht mit dem Wald befassen? Er fürchtet wohl, das Gerücht von seinem Gelde zu verbreiten. Er wollte sich auch, es ist fünf Jahre her, mit dem Schkalik, dem Verwalter, mit einem kleinen Anteil an Wiesen beteiligen; ja, der hat ihn aber betrogen, der Schkalik, meine ich, so daß der Greis dreihundert Rubel verlor. Von da an hat er das aufgegeben. Ja, wie soll es ihm denn nicht ordentlich gehen, Väterchen, Euer Erlaucht?« fuhr die Amme fort. »Bei drei Landanteilen leben sie, eine große Familie, alles Arbeiter, ja, und von dem Greis was ist da Schlechtes zu sagen? sagt man, er sei der richtige Hauswirt. In allem, was er tut, ist Segen, so daß sogar das Volk sich wundert, sowohl in Hinsicht auf Brot wie Pferde, Vieh und Bienen. Auch mit seinen Kindern hat er Glück. Jetzt hat er alle verheiratet. Vorher hat er aus unserem Dorfe Mädchen genommen, jetzt aber hat er den Iljuschka an eine Freie verheiratet, selber hat er sie losgekauft. Und auch die wurde ein gutes Weib.«

»Und leben sie in Eintracht?« fragte der gnädige Herr.

»Wo im Hause ein wirkliches Haupt ist, da wird auch Eintracht sein. Wenn auch bei den Dutlows die Schwiegertöchter das ist nun einmal so bei Weibern sich schelten, sich hinter dem Ofen zanken, so leben aber gleichwohl unter dem Greise auch die Söhne in Eintracht.«

Die Amme schwieg ein wenig.

»Nun will der Greis seinen ältesten Sohn, Karp, so hört man, zum Herrn im Hause machen. Alt sei er schon geworden, so sagt er. Meine Sache, spricht er, ist bei den Bienen. Nun, auch Karp ist ein guter Bauer, ein ordentlicher Bauer, aber gleichwohl, gegen den Greis kommt er als Hauswirt nicht auf. Den Verstand hat er schon nicht!«

»So wird vielleicht Karp den Wunsch haben, sich mit Ackerland und Wäldern zu beschäftigen; was meinst du?« sprach der gnädige Herr, der von der Amme alles herausbekommen wollte, was sie von ihren Nachbarn wußte.

»Wohl kaum, Väterchen«, fuhr die Amme fort; »der Greis hat dem Sohne nichts von seinem Gelde gesagt. Solange er selber lebt, ja, und das Geld bei ihm im Hause ist, so bedeutet das, alles leitet der Verstand des Greises, ja, und sie beschäftigen sich auch mehr mit Fuhrgeschäft.«

»Wird der Greis aber nicht einverstanden sein?«

»Er wird Bedenken haben.«

»Was für Bedenken denn?«

»Ja, Väterchen, wie ist es denn einem Herrschaftsbauern möglich, einzugestehen, daß er Geld hat? Es kann so kommen, er wird alles Geld verlieren. Er hat sich ja schon einmal mit dem Verwalter in Geschäfte eingelassen, ja, und sich geirrt. Wo soll er denn mit ihm prozessieren! So ist denn auch das Geld verloren gegangen: mit dem Gutsbesitzer aber wird man schon überhaupt auf einmal quitt sein.«

»Ja, davor . . ;.« sprach Nechljudow, indem er errötete. »Leb wohl, Amme!«

»Leben Sie wohl, Väterchen, Euer Erlaucht! Wir danken ergebenst.«

14

Soll ich nicht lieber nach Hause gehen?‹ dachte Nechljudow, während er dem Tor der Dutlows zuschritt und irgendeine unbestimmte Betrübnis und ein moralisches Müdesein fühlte.

Da öffnete sich aber gerade vor ihm knarrend das neue Brettertor, und im Tore zeigte sich ein hübscher, rotbäckiger blonder Bursche von achtzehn Jahren in Fuhrmannstracht, der hinter sich ein Dreigespann starkfüßiger, noch schweißbedeckter, struppiger Pferde führte und, indem er mit kecker Bewegung sein weißblondes Haar zurechtrückte, sich vor dem gnädigen Herrn verneigte.

»Wie, ist der Vater zu Hause, Ilja?« fragte Nechljudow.

»Beim Bienenstand, hinter dem Hofe«, antwortete der Bursche, während er die Pferde, eines nach dem anderen, durch das halb geöffnete Tor führte.

›Nein, ich werde Charakter beweisen, ich werde ihm den Vorschlag machen und tun, was von mir abhängt, dachte Nechljudow, und nachdem er die Pferde vorbeigelassen hatte, betrat er den geräumigen Hof Dutlows. Man sah, daß eben erst Mist aus dem Hofe herausgefahren worden war: die Erde war noch schwarz, feucht, und an manchen Stellen, besonders in den Toren, lagen Spuren davon. Auf dem Hofe und hinter hohen Schirmdächern standen in guter Ordnung viele Karren, Pflüge, Schlitten, Holzstöcke, Kufen und jederart Bauerngut; Tauben flatterten umher und girrten im Schatten unter hohen, festen Dachsparren; es roch nach Mist und Teer. In einer Ecke legten Karp und Ignaz ein neues Kissen auf einen großen, mit Eisen beschlagenen, für ein Dreigespann eingerichteten Wagen. Alle drei Söhne Dutlows hatten fast dasselbe Gesicht. Der jüngste, Ilja, der Nechljudow im Toreingang begegnete, war fast bartlos, kleiner von Wuchs, rotbäckiger und schmucker angezogen als die älteren; der zweite, Ignaz, war etwas höher gewachsen, brünetter, trug ein Stutzbärtchen, und wenn er auch gleichfalls in Stiefeln, Fuhrmannshemd und Lammfellmütze war, so hatte er doch nicht das feiertägliche, sorglose Aussehen wie der jüngere Bruder. Der älteste, Karp, war noch höher von Wuchs, trug Bastschuhe, einen grauen Kaftan und ein Hemd ohne Achselzwickel. Er hatte einen breiten roten Bart und zeigte eine nicht nur ernste, sondern fast finstere Miene.

»Befehlen Sie, nach dem Väterchen zu schicken. Euer Erlaucht?« sprach er, indem er zum gnädigen Herrn heranschritt und sich ungeschickt ein wenig verneigte.

»Nein, ich werde selber zu ihm in den Bienenstand gehen ich will mir seine Einrichtung dort anschauen; ich habe aber mit dir zu sprechen«, sagte Nechljudow, während er nach der andern Seite des Hofes schritt, damit Ignaz nicht hören könne, was er mit Karp zu reden beabsichtigte.

Die Selbstsicherheit und ein gewisser Stolz, der in allen Äußerungen dieser beiden Bauern bemerkbar war, und das, was ihm die Amme gesagt hatte, verwirrten den jungen gnädigen Herrn derart, daß ihm der Entschluß schwer fiel, mit ihnen über die beabsichtigte Sache zu sprechen. Er kam sich wie schuldig vor, und es schien ihm leichter, mit dem einen Bruder so zu sprechen, daß der andere es nicht höre. Es schien, als sei Karp darüber erstaunt, daß ihn der gnädige Herr zur Seite führte, er folgte ihm aber.

»Darum handelt es sich,« begann Nechljudow stotternd, »ich wollte dich fragen: habt ihr viele Pferde?«

»Fünf Dreigespanne wird man zusammenbringen. Füllen sind gleichfalls da«, antwortete Karp ungezwungen, indem er sich den Rücken kratzte.

»Deine Brüder fahren für die Post?«

»Wir fahren für die Post nur mit drei Dreigespannen, sonst ist Iljuschka als Fuhrmann gegangen; er ist eben erst zurückgekehrt.«

»Ist denn das auch vorteilhaft? Wieviel verdient ihr damit?«

»Ja, was für ein Verdienst denn, Euer Erlaucht? Wenigstens füttern wir uns und die Pferde auch dafür sei Gott gedankt.«

»Weshalb beschäftigt ihr euch denn dann nicht mit irgend etwas anderem? Ihr könntet ja Wälder kaufen oder Land pachten.«

»Es ist natürlich, Euer Erlaucht; Land pachten kann man, wenn irgendwo welches zur Hand wäre.«

»Siehst du, das ist es, was ich euch vorschlagen will: Warum wollt ihr euch mit Fuhrgeschäft abgeben, um euch nur zu nähren? Pachtet lieber dreißig Dessjatinen Land bei mir. Den ganzen Streifen, der hinter den Sapows liegt, werde ich euch abgeben, ja, und führt eure eigene große Wirtschaft!«

Und Nechljudow, begeistert von seinem Plan eines Pachtgutes, den er mehr als einmal selber für sich wiederholt und überdacht hatte, begann, schon nicht mehr stotternd, dem Bauern seinen Vorschlag hinsichtlich dieses Pachtgutes auseinanderzusetzen. Karp lauschte sehr aufmerksam den Worten des gnädigen Herrn.

»Wir sind sehr zufrieden mit Euer Gnaden«, sprach er, als Nechljudow verstummt war und eine Antwort erwartend ihn anschaute. »Es ist bekannt, daß dabei nichts Schlechtes ist. Mit der Erde sich zu beschäftigen, ist für den Bauern besser, als mit der Knute zu fahren. Zu fremden Leuten zu gehen, jeder Art Volk zu sehen dabei wird unser Bruder verwöhnt. Die allerbeste Sache ist es, daß der Bauer sich mit der Erde beschäftigen muß.«

»Wie denkst du also?«

»Solange das Väterchen am Leben ist, was kann ich da denken, Euer Erlaucht? Dafür ist sein Wille da.«

»So geleite mich denn zum Bienenstand, ich werde mit ihm sprechen.«

»Bemühen Sie sich hierher!« sprach Karp, indem er sich langsam zum hinteren Schuppen bewegte. Er öffnete die niedrige Pforte, die in den Bienenstand führte, ließ den gnädigen Herrn ein, schloß sie, ging dann zu Ignaz und machte sich wiederum schweigend an die unterbrochene Arbeit.

15

Nechljudow schritt gebückt durch die niedrige Pforte unter dem schattigen Schirmdach hervor zu dem hinter dem Hofe befindlichen Bienenstand. Der mäßig große Raum, umgeben von Stroh und einem Zaun, durch den das Licht schimmerte und in dem in symmetrischer Ordnung mit Brettabfällen bedeckte Bienenstöcke standen, um die goldfarbige Bienen summend schwärmten, war ganz überströmt von den heißen, leuchtenden Strahlen der Junisonne. Von der Pforte aus führte ein gestampfter kleiner Pfad nach der Mitte, zu einem hölzernen Kreuz mit einem auf ihm stehenden metallenen Heiligenbild, das grell in der Sonne leuchtete. Einige junge Linden, die stattlichen Wuchses ihre krausen Wipfel über das Strohdach des Nachbarhofes erhoben hatten, bewegten kaum hörbar, unter dem Summen der Bienen, ihre dunkelgrünen frischen Blätter. Alle Schatten von dem gedeckten Zaun, von den Linden und den mit Brettern bedeckten Bienenständen fielen schwarz und kurz auf das niedrige krause Gras, das zwischen den Bienenstücken kümmerlich gedieh. Eine gebeugte, nicht große Greisengestalt, mit in der Sonne glänzendem weißem Haupte und einer Glatze zeigte sich bei der Tür einer aus Balken gezimmerten, mit frischem Stroh bedeckten und mit Moos ausgelegten Hütte, die zwischen den Linden stand. Als der Greis das Knarren der Tür hörte, ging er dem gnädigen Herrn entgegen, wobei er sich mit den Schößen seines Hemdes das schwitzende, gebräunte Gesicht abtrocknete und sanft und freudig lächelte.

Im Bienenstand war es so gemütlich, froh, still, sonnenhell, die Gestalt des grauhaarigen alten Männchens mit den vielen strahlenförmigen Runzeln um die Augen, der, die nackten Füße in eine Art weiter Schuhe gesteckt, watschelnd und gutmütig selbstzufrieden lächelnd den gnädigen Herrn in seinen ausschließlichen Besitztümern begrüßte, war so aufrichtig freundlich, daß Nechljudow augenblicklich die schweren Eindrücke des heutigen Morgens vergaß und ihm sein Lieblingsgedanke lebhaft vor die Augen trat. Er sah bereits alle seine Bauern ebenso reich und gutmütig, wie der Greis Dutlow war, und alle lächelten ihm freundlich und freudig zu, weil sie ihm allein ihren Reichtum und ihr Glück verdankten.

»Würden Sie nicht ein Netz befehlen, Euer Erlaucht? Jetzt ist die Biene böse, sie sticht«, sprach der Greis, wobei er einen nach Honig riechenden schmutzigen Leinwandsack, der an eine Rute genäht war, vom Zaune nahm und ihn dem gnädigen Herrn anbot. »Mich kennt die Biene, mich sticht sie nicht«, fügte er mit sanftem Lächeln hinzu, das fast gar nicht von seinem hübschen, gebräunten Gesicht wich.

»So ist es auch für mich nicht nötig. Wie, schwärmt sie schon?« sprach Nechljudow, und ohne selber zu wissen, weshalb, lächelte auch er.

»Ja, sie schwärmt, Väterchen, Dmitri Nikolajewitsch,« antwortete der Greis, indem er eine ganz besondere Freundlichkeit ausdrückte in dieser Benennung des gnädigen Herrn nach Namen und Vatersnamen, »nur eben, eben erst hat sie damit begonnen. Dies Jahr war das Frühjahr kalt, geruhen Sie zu wissen.«

»Ich habe aber in einem Buch gelesen,« begann Nechljudow, indem er sich der Bienen erwehrte, die sich in seine Haare verkrochen und ihm grade unter der Nase summten, »daß, wenn die Wabe gerade steht an den dünnen Stangen, dann die Biene früher schwärmt. Darum macht man auch solche Bienenstöcke aus Brettern ... mit Querhölzern...«

»Geruhen Sie nicht die Bienen abzuwehren, das macht es schlimmer«, sprach das alte Männchen; »oder befehlen Sie nicht doch, Ihnen das Netz zu geben?«

Nechljudow war es unbehaglich, aber aus irgendeiner kindlichen Selbstliebe wollte er das nicht eingestehen; er schlug noch einmal das Netz aus und fuhr fort, dem alten Männchen von der Einrichtung der Bienenstöcke zu erzählen, von der er im Maison rustique gelesen hatte und bei der seiner Meinung nach die Biene öfters zweimal schwärmen mußte. Eine Biene stach ihn aber in den Hals, und er verlor den Faden und begann zu stottern inmitten der Erörterung.

»Das ist richtig, Väterchen, Dmitri Nikolajewitsch,« sprach der Greis, indem er mit väterlicher Protektion auf den gnädigen Herrn schaute, »genau so schreibt man im Buch. Ja, vielleicht ist das so ... schlecht geschrieben, daß man es, so heißt das wohl, machen soll, wie wir schreiben, und wir lachen dann später darüber. Auch das kommt vor! Wie kann man aber die Biene lehren, woran sie ihre Wabe befestigen soll! Sie macht es so, wie es ihr im Stocke paßt, bald quer, bald gerade. Geruhen Sie hier zuzuschauen«, fügte er hinzu, indem er einen von den nächsten Stöcken aufmachte und in die Öffnung schaute, die in der Richtung der krummen Waben mit lärmenden und kriechenden Bienen bedeckt war. »Sehen Sie, das sind junge Bienen; sie sehen, daß die Königin über ihnen sitzt; so führen sie die Wabe gerade aus oder schräg, wie es ihnen im Bienenstock besser paßt«, sprach der Greis, der sich augenscheinlich an seinem Lieblingsgegenstand begeisterte und die Lage des gnädigen Herrn gar nicht bemerkte. »Sehen Sie, heute geht sie in Höschen, heute ist ein warmer Tag, alles kann man sehen«, fügte er hinzu, indem er den Bienenstock wieder zustopfte und mit einem Tuch die kriechenden Bienen andrückte und dann mit seiner rauhen Handfläche einige Bienen von seinem runzligen Nacken wegschob. Die Bienen stachen ihn nicht, dafür konnte aber Nechljudow schon kaum mehr den Wunsch unterdrücken, aus dem Bienenstand davonzulaufen. Die Bienen hatten ihn an drei Stellen gestochen und summten von allen Seiten um seinen Kopf und seinen Hals.

»Hast du denn viele Stöcke?« fragte er, während er zur Pforte zurückwich.

»Was Gott gab,« antwortete lächelnd Dutlow, »zählen soll man nicht, Väterchen, die Bienen lieben das nicht. Sehen Sie, Euer Erlaucht, ich wollte Euer Gnaden bitten,« fuhr er fort, auf die schmalen Bienenstöcke hinweisend, die beim Zaune standen, »wegen Ossip, dem Mann Ihrer Amme; wenn Sie ihm nur sagten: es sei nicht schön, sich so schlecht zu seinem Dorfnachbar zu benehmen.«

»Wie denn das? Au, sie stechen doch!« antwortete der gnädige Herr, der schon die Klinke der Pforte erfaßt hatte.

»Ja, sehen Sie, es gibt kein Jahr, wo er nicht seine Bienen auf meine jungen Bienen losläßt. Sie sollen sich erholen; die fremden Bienen ziehen aber bei ihnen die Wabe heraus, ja, und das verdirbt den ganzen Bienenstock«, sprach der Greis, ohne die Grimassen des gnädigen Herrn zu bemerken.

»Schön, nachher, sogleich...« murmelte Nechljudow, und außerstande, weiter auszuhalten, und mit beiden Händen abwehrend, lief er im Trab durch die Pforte hinaus.

»Man muß mit Erde reiben. Das macht nichts«, meinte der Greis, als er hinter dem gnädigen Herrn her den Hof betrat. Der rieb mit Erde die Stellen, wo er gestochen worden war; errötend schaute er sich dabei rasch nach Karp und Ignaz um, die gar nicht auf ihn hinsahen, und verzog zornig sein Gesicht.

16

Worum ich hinsichtlich meiner Kinder Euer Erlaucht bitten wollte . . .« sprach der Greis, wobei er entweder so tat, als ob er die drohende Miene des gnädigen Herrn gar nicht wahrnehme, oder sie tatsächlich nicht bemerkte.

»Worum denn?«

»Ja, sehen Sie, mit den Pferdchen sind wir, Gott sei Dank, in der Reihe, auch einen Knecht haben wir, so daß der Herrendienst von uns nicht versäumt wird.«

»Was denn dann?«

»Wenn Euer Erlaucht meine Kinder gegen Pachtzins frei lassen würde, so würden Iljuschka und Ignaz mit drei Dreigespannen für den ganzen Sommer fahren gehen; vielleicht, daß sie dann auch etwas erarbeiten würden.«

»Wohin werden sie denn gehen?«

»Ja, wie es gerade kommt«, mischte sich Iljuschka ein, der währenddessen die Pferde unter dem Schirmdach festgebunden hatte und zum Vater getreten war. »Die Kadminskischen Burschen sind mit acht Dreigespannen, so sagt man, nach Romen gefahren, haben sich selbst ernährt, ja, und bis zu drei Zehnrubelscheinen für jedes Dreigespann nach Hause gebracht; sonst aber auch nach Odest man sagt, dort ist das Futter billiger.«

»Siehst du, gerade darüber wollte ich auch mit dir sprechen«, bemerkte der gnädige Herr, indem er sich an den Greis wandte und ihn möglichst geschickt auf das Gespräch über den Pachthof bringen wollte. »Sag mir bitte, ist es vorteilhafter, Fuhrgeschäft zu betreiben, als sich zu Hause mit Ackerbau zu beschäftigen?«

»Was heißt vorteilhafter, Euer Erlaucht!« mischte sich wiederum Ilja ein, indem er keck sein Haar zurückwarf. »Zu Hause ist ja nicht einmal Futter für die Pferde da!«

»Nun, wieviel erarbeitest du denn im Sommer?«

»Ja, sehen Sie, vom Frühjahr an, obwohl das Futter teuer war, fuhr ich mit Waren nach Kiew, von Kursk wiederum bis Moskau fuhr ich Graupen, so daß wir uns selber nährten und die Pferde satt waren, ja, und fünfzehn Rubel Geld habe ich mitgebracht.«

»Es ist kein Unglück, sich mit einem ehrlichen Gewerbe zu beschäftigen, was es auch sei«, sprach der gnädige Herr, indem er sich von neuem an den Greis wandte; »mir scheint aber, daß man eine andere Beschäftigung finden könnte; ja, und die Arbeit ist auch so, daß der junge Bursche überall hinfährt, jederart Volk sieht, verwöhnt werden kann«, fügte er hinzu, die Worte Karps wiederholend.

»Womit soll sich denn unser Bruder, der Bauer, beschäftigen, wenn nicht mit Fuhrgeschäft?« entgegnete der Greis mit seinem sanften Lächeln. »Fährst du gut, so bist du selber satt, und die Pferde sind gesättigt; was aber das Verwöhnen anbetrifft, so fahren sie bei mir, Gott sei Dank, nicht das erste Jahr; ich selber bin auch gefahren, und Schlechtes habe ich von niemand gesehen, sondern nur Gutes.«

»Ist es denn zu wenig, womit ihr euch zu Hause beschäftigen könntet: mit Äckern, mit Wiesen...«

»Wie kann man das denn, Euer Erlaucht?« mischte sich Iljuschka mit Begeisterung ein. »Wir sind schon damit auf die Welt gekommen, alle diese Ordnungen sind uns bekannt, eine uns genehme Sache; die allerliebste Sache, Euer Erlaucht, ist es für unsereinen, Lasten zu fahren.«

»Wie aber, Euer Erlaucht, wir bitten um die Ehre, wollen Sie nicht in die Stube eintreten? In unserem neuen Hause sind Sie noch gar nicht gewesen«, sagte der Greis, indem er sich tief verneigte und dem Sohn winkte. Iljuschka lief im Trab in die Hütte, ihm folgte zugleich mit dem Greis auch Nechljudow.

17

Als er in die Hütte trat, verneigte sich der Greis nochmals, fegte mit seinem Rockschoß von der vorderen Ecke der Bank den Staub ab und fragte lächelnd:

»Was soll ich Ihnen anbieten. Euer Erlaucht?«

Die Hütte war geräumig, sie hatte einen Schornstein, Schlafgerüste und Schlafbänke. Die frischen Espenstämme, zwischen denen kaum verwelktes Moos herausschaute, waren noch nicht schwarz geworden; die neuen Bänke und Schlafstätten waren noch nicht glatt, und der Boden war noch nicht festgetreten. Ein junges, hageres Bauernweib mit länglichem, nachdenklichem Gesicht, die Frau Iljas, saß auf einer Pritsche und schaukelte mit dem Fuß eine Wiege, die an einer langen Stange an der Decke befestigt war. In der Wiege schlief kaum merklich atmend und die Äuglein geschlossen, lang ausgestreckt ein Brustkind; ein anderes, stämmiges, rotbäckiges Weib, Karps Frau, die Ärmel aufgeschlagen an ihren bis zum Ellenbogen gebräunten Armen, schnitt Zwiebeln in einer hölzernen Schüssel. Ein drittes, pockennarbiges, schwangeres Weib, das sich ihren Ärmel vor das Gesicht hielt, stand beim Ofen. In der Hütte war es außer von der Sommerhitze auch noch heiß vom Ofen, und es roch stark nach eben erst ausgebackenem Brot. Von der Schlafstätte her schauten neugierig auf den gnädigen Herrn die blonden Köpfchen von zwei Burschen und einem Mädchen herab, die in Erwartung des Mittagessens da hinaufgeklettert waren.

Nechljudow tat es gut, diesen Wohlstand zu sehen, und dabei war es ihm doch aus irgendeinem Grunde peinlich vor den Weibern und Kindern, die alle auf ihn hinschauten. Er setzte sich errötend auf die Bank.

»Gib mir ein Stückchen heißes Brot, ich liebe es...« sprach er und errötete noch mehr.

Karps Frau schnitt ein großes Stück Brot ab und reichte es auf einem Teller dem gnädigen Herrn. Nechljudow schwieg und wußte nicht, was er sagen sollte; die Weiber schwiegen ebenfalls; der Greis lächelte freundlich.

›Weshalb schäme ich mich denn eigentlich? Gleich als ob ich in irgend etwas schuldig wäre? dachte Nechljudow. Weshalb soll ich denn nicht den Vorschlag wegen des Pachthofes machen? Was für eine Dummheit! Aber gleichwohl schwieg er immer noch.

»Wie denn, Väterchen, Dmitri Nikolajewitsch, wie werden Sie hinsichtlich der Kinder befehlen?« fragte der Greis.

»Ja, ich würde dir raten, sie überhaupt nicht ziehen zu lassen, ihnen vielmehr hier Arbeit zu suchen«, sagte plötzlich Nechljudow, Mut fassend. »Ich, weißt du, was ich mir für dich ausdachte: Kaufe du mit mir zur Hälfte einen Wald im Staatsforst, ja, und auch noch Land...«

»Wie denn, Euer Erlaucht, mit welchem Gelde sollen wir denn kaufen?« unterbrach der Greis den gnädigen Herrn.

»Ja, siehst du, einen nicht eben großen Wald, für zweihundert Rubel...« bemerkte Nechljudow.

Der Greis lächelte grimmig.

»Schön, wenn Geld da wäre, weshalb nicht kaufen?« sagte er.

»Hast du denn dieses Geld schon nicht mehr?« fragte vorwurfsvoll der gnädige Herr.

»Ach, Väterchen, Euer Erlaucht!« antwortete mit kummervoller Stimme der Greis, indem er zur Tür schaute, »wenn es nur für die Familie ausreichte, so denken wir gar nicht daran, Wald zu kaufen.«

»Ja, aber du hast ja doch Geld; was soll es denn so liegen?«

Der Greis kam plötzlich in heftige Erregung, seine Augen funkelten, seine Schultern begannen zu zittern.

»Vielleicht haben böse Leute das von mir gesagt«, begann er mit zitternder Stimme. »So, glauben Sie Gott,« sprach er, indem er sich mehr und mehr erregte und die Augen auf das Heiligenbild richtete, »mögen jetzt gleich meine Augen platzen, möge ich auf der Stelle in die Erde versinken, wenn ich etwas habe außer den fünfzehn Rubeln, die Iljuschka brachte, und dann muß man doch Kopfsteuer zahlen. Sie selber geruhen zu wissen, eine Hütte haben wir gebaut...«

»Nun schön, schön!« sprach der gnädige Herr, indem er sich von der Bank erhob. »Lebt wohl, Wirte!«

18

Mein Gott! Mein Gott!‹ dachte Nechljudow, während er mit großen Schritten durch die schattigen Alleen des verwilderten Gartens seinem Hause zueilte und zerstreut Blätter und Zweige abbrach, die ihm unterwegs gerade unter die Hand kamen. Waren denn wirklich alle meine Gedanken über den Zweck und die Verpflichtungen meines Lebens Unsinn? Weshalb ist es mir denn so schwer, so kummervoll zumute, gleich als ob ich mit mir unzufrieden sei, während ich mir doch vorstellte, daß ich, einmal auf diesem Wege, beständig jene Fülle des sittlich befriedigten Gefühles empfinden werde, die ich zu der Zeit empfand, als mir zum ersten Male diese Gedanken kamen. Und er versetzte sich mit ungewöhnlicher Lebhaftigkeit und Klarheit in der Vorstellung um ein Jahr zurück, in eben jenen glücklichen Augenblick.

Früh am Morgen war er aufgestanden, vor allen anderen im Hause. Und qualvoll erregt von einem geheimnisvollen, nicht mit Worten zu nennenden Drängen seiner Jugend, war er ohne Ziel in den Garten gegangen, von dort in den Wald, und inmitten der maienhaften, starken, saftigen, aber ruhigen Natur schweifte er lange umher, allein, ohne irgendwelchen Gedanken, und er litt dabei an dem Übermaß eines Gefühls, für das er keinen Ausdruck zu finden vermochte. Bald wies ihm seine junge Vorstellungskraft im vollen Glanze des noch Unbekannten das wollüstige Bild des Weibes, und es schien ihm: Das ist es, das Verlangen, das ich nicht deuten kann! Aber irgendein anderes höchstes Gefühl sprach: Das ist es nicht! und zwang ihn, weiterzusuchen. Bald erhob sich sein unerfahrener, feuriger Geist höher und höher in die Sphären des Wesenlosen und eröffnete ihm, so kam es ihm vor, neue Gesetze des Seins. Und er verharrte in feurigem Entzücken bei diesen Gedanken. Wiederum aber sprach das höchste Gefühl: Das ist es nicht! Und wiederum zwang es ihn, zu suchen und unruhig zu sein. Ohne Gedanken und ohne Wünsche, wie es immer so ist nach übergroßer Anstrengung, legte er sich endlich auf den Rücken unter einen Baum und blickte auf die durchsichtigen Morgenwölkchen, die über ihm herliefen am tiefen, unendlichen Himmel. Plötzlich, ohne jede Ursache, traten ihm Tränen in die Augen und, Gott weiß auf welchem Wege, kam ihm ein klarer Gedanke und erfüllte seine ganze Seele, und er hielt sich mit Entzücken fest an ihm: der Gedanke, daß die Liebe und das Gute die Wahrheit ist und das Glück, und die einzige Wahrheit und das einzig mögliche Glück auf der Welt. Das höchste Gefühl sprach diesmal nicht mehr: Das ist es nicht! Er erhob sich und begann seinen Gedanken zu prüfen: Das ist es, das ist es! sprach er zu sich selber mit Begeisterung, indem er alle seine früheren Überzeugungen, alle ihm geworbenen Offenbarungen des Lebens auf diese neu entdeckte, wie es ihm schien, völlig neue Wahrheit hin prüfte. Was für eine Dummheit war doch alles, was ich wußte, woran ich glaubte und was ich liebte! sprach er zu sich selber. Die Liebe, die Aufopferung das ist das einzig wahre, vom Zufall unabhängige Glück! wiederholte er, und er lachte dabei und vermochte sich nicht ruhig zu halten. Indem er diesen Gedanken an allen Offenbarungen des Lebens nachprüfte und ihm eine Bestätigung fand sowohl im Leben wie in jener inneren Stimme, die ihm gesagt hatte, daß dies es sei, erlebte er ein neues Gefühl freudiger Erregung und Entzückung. Also muß ich das Gute tun, um glücklich zu sein, dachte er, und seine ganze Zukunft trat lebhaft vor ihn hin, schon nicht mehr nur in Gedanken, vielmehr in Bildern. Die wiesen ihm ein Leben als Gutsherr.

Er sah vor sich ein gewaltiges Arbeitsfeld für ein ganzes Leben, das er dem Guten widmete und in dem er folglich glücklich sein werde. Er braucht sich nicht eine Sphäre der Tätigkeit auszusuchen: sie liegt bereit, er hat eine unmittelbare Verpflichtung er hat Bauern ... Und was für eine erfreuliche und dankbare Tätigkeit stellt sich ihm vor: Einzuwirken auf diese einfache, empfängliche, unverdorbene Volksklasse, sie von der Armut zu befreien, ihnen Wohlstand zu geben, ihnen die Bildung zu übermitteln, die ich selber durch Glücksfall genieße, sie von ihren Lastern zu heilen, die geboren sind aus Unbildung und Aberglauben; ihre Sittlichkeit zu entwickeln, sie das Gute lieben zu lehren ... Was für eine glänzende, glückliche Zukunft! Und für dies alles werde ich, der ich dies für mein eigenes Glück tun werde, mich an ihrer Dankbarkeit erquicken, werde ich sehen, wie ich mit jedem Tag weiter und weiter gehen werde, dem erstrebten Ziele zu. Eine wundervolle Zukunft! Wie konnte ich das denn nicht vorher sehen?

›Und außerdem, dachte er zu jener Zeit, was hindert mich denn daran, selber glücklich zu sein in der Liebe zu einem Weibe, im Glück des Familienlebens? Und seine junge Phantasie zeichnete ihm eine noch bezauberndere Zukunft. Ich und meine Frau, die ich so liebe, wie noch niemand irgendwen auf der Welt liebte, wir werden immer leben inmitten dieser ruhigen, poetischen, ländlichen Natur, mit den Kindern, vielleicht mit der alten Tante; wir haben unsere Liebe zueinander, die Liebe zu den Kindern, und wir beide wissen, daß unsere Berufung das Gute ist. Wir werden einander beistehen im Streben nach diesem Ziele. Ich treffe die allgemeinen Anordnungen, gebe allgemeine, gerechte Hilfen, führe das Pachtgut ein, Sparkassen, Werkstätten; sie aber, mit ihrem hübschen Köpfchen, in einfachem weißem Kleide, es leicht aufhebend über ihren wohlgestalteten Füßchen, geht durch den Schmutz in die Bauernstube, ins Lazarett, zu dem unglücklichen Bauern, der eigentlich keine Hilfe verdient, überall tröstet sie, hilft sie ... Die Kinder, Greise, Weiber vergöttern sie und blicken auf sie wie auf einen Engel, wie auf die Vorsehung. Dann kehrt sie zurück und verheimlicht mir, daß sie zum unglücklichen Bauern ging und ihm Geld gab, ich aber weiß es und umarme sie fest und küsse fest und zärtlich ihre reizenden Augen, ihre schamhaft errötenden Wangen und lachenden roten Lippen...

19

Wo sind diese Träume? dachte jetzt der Jüngling, als er nach seinen Besuchen dem Hause zuschritt. Es ist nun schon mehr als ein Jahr her, daß ich Glück suche auf diesem Wege, und was habe ich denn gefunden? Freilich, bisweilen fühlte ich, daß ich mit mir zufrieden sein könne, das ist aber so eine trockene, vernünftige Zufriedenheit. Ja und nein, ich bin einfach unzufrieden, weil ich hier kein Glück kenne, das Glück aber ersehne, leidenschaftlich ersehne. Ich habe noch keine Genüsse der Welt erlebt, und schon habe ich mich von allem losgerissen, was sie gewährt. Weshalb? Wofür? Wem ward es dadurch leichter? Die Wahrheit schrieb mein Tantchen, als sie meinte, daß es leichter sei, für sich selber Glück zu finden, als es anderen zu geben. Sind denn meine Bauern etwa reicher geworden? Haben sie sich gebildet oder sittlich entwickelt? Nicht im geringsten! Mit ihnen wurde nichts besser, mir aber wird es mit jedem Tage schwerer. Wenn ich wenigstens einen Erfolg in meinem Unternehmen erschaut, wenn ich Dankbarkeit gesehen hätte! ... Aber nein, ich sehe verlogene Gewohnheit, Laster, Mißtrauen, Hilflosigkeit! Ich verbrauche umsonst die besten Jahre meines Lebens, dachte er, und ihm kam es irgendwie in Erinnerung, daß ihn die Nachbarn, wie er von seiner Wärterin gehört hatte, Grünspecht nannten, daß bei ihm im Kontor schon gar kein Geld mehr geblieben war, daß die von ihm ausgedachte neue Dreschmaschine zum allgemeinen Gelächter der Bauern nur gepfiffen, aber nicht gedroschen habe, als man sie zum ersten Male vor zahlreichem Publikum auf der Dreschtenne in Gang gesetzt hatte; daß man jeden Tag die Ankunft des Kreisrichters erwarten müsse zur Aufnahme des Gutes, da er den Zinszahlungstermin versäumt hatte, indem er sich von verschiedenen wirtschaftlichen Unternehmungen hatte fortreißen lassen. Und plötzlich trat ihm ebenso lebhaft wie vorher sein ländlicher Spaziergang im Walde und der Gedanke an das Gutsbesitzerleben, sein Moskauer Studentenzimmerchen vor den inneren Blick, wie er da spät in der Nacht saß bei einer Kerze mit seinem Kameraden und vergötterten sechzehnjährigen Freund. Sie hatten ununterbrochen fünf Stunden gelesen und wiederholten irgendwelche langweilige Paragraphen des bürgerlichen Rechts, und nachdem sie sie beendet hatten, hatten sie nach Abendessen geschickt, zu einer Flasche Sekt Geld zusammengelegt und von der Zukunft gesprochen, die sie erwarte. Wie völlig anders hatte sich der junge Student seine Zukunft vorgestellt! Damals war die Zukunft voll von Entzückungen, mannigfaltiger Tätigkeit, Glanz der Erfolge, und führte sie beide, wie es ihnen schien, zweifellos zum besten Gute der Welt zum Ruhm.

›Er schreitet schon und schreitet rasch auf diesem Pfade‹ dachte Nechljudow von seinem Freunde, ›aber ich . . .‹

Währenddessen war er zum Eingang des Hauses gelangt, wo zehn Bauern und Hofleibeigene standen, die mit verschiedenen Bitten den gnädigen Herrn erwartet hatten, und von Träumen mußte er sich der Wirklichkeit zuwenden.

Da war das abgerissene, zerzauste und blutende Bauernweib, das sich weinend beklagte über ihren Schwiegervater, der sie töten wolle. Da waren zwei Brüder, die schon vor Jahresfrist ihren Bauernhof unter sich geteilt hatten und nun mit mißtrauischer Wut aufeinander blickten. Da war auch der unrasierte, ergraute Hofleibeigene mit vor Trunkenheit zitternden Händen, den sein eigener Sohn, der Gärtner, zum gnädigen Herrn führte, um Klage zu führen über des Vaters haltloses Betragen. Da war der Bauer, der sein Weib aus dem Hause gejagt hatte, weil sie das ganze Frühjahr über nicht gearbeitet hatte. Und da war auch jenes kranke Weib selber: schluchzend und ohne ein Wort zu äußern saß sie auf dem Grase beim Eingang des Hauses und ließ ihr entzündetes, nachlässig mit irgendeinem schmutzigen Lappen verbundenes geschwollenes Bein sehen. Nechljudow hörte alle Bitten und Beschwerden an, riet den einen, versöhnte die anderen, versprach dem Dritten und empfand bei alledem ein seltsames Gefühl, das gemischt war aus Müdigkeit, Scham, Machtlosigkeit und Reue, und ging in sein Zimmer.

20

In dem mäßig großen Zimmer, das Nechljudow bewohnte, stand ein altes, mit kupfernen Nägeln beschlagenes Ledersofa, einige ebensolche Sessel, ein aufgeschlagener altertümlicher Bostontisch mit Inkrustationen, Vertiefungen und mit einem kupfernen Beschlag, auf dem Papiere lagen, und ein altes, gelbliches, geöffnetes englisches Klavier mit abgegriffenen, krumm gewordenen, schmalen Tasten. Zwischen den Fenstern hing ein großer Spiegel in einem alten, vergoldeten, geschnitzten Rahmen. Auf dem Boden neben dem Tisch lagen Haufen von Papieren, Büchern und Rechnungen, überhaupt hatte das ganze Zimmer ein charakterloses und unordentliches Aussehen; und diese lebendige Unordnung stand in scharfem Gegensatz zu der gezierten, altmodisch herrschaftlichen Einrichtung der übrigen Zimmer des großen Hauses. Als Nechljudow das Zimmer betrat, warf er zornig seinen Hut auf den Tisch, setzte sich auf den Stuhl, der vor dem Klavier stand, legte die Beine übereinander und ließ den Kopf hängen.

»Nun, werden Sie frühstücken, Euer Erlaucht? sagte, eben hereintretend, eine hohe, magere, rüstige Greisin, die ein Zitzkleid und eine Haube trug und ein großes Tuch umhatte.

Nechljudow sah sich nach ihr um und schwieg ein wenig, als ob er sich besinne.

»Nein, ich habe keine Lust, Wärterin«, sagte er und versank von neuem in Gedanken.

Die Wärterin schüttelte mißmutig den Kopf und seufzte.

»Ach, Väterchen, Dmitri Nikolajewitsch, was grämen Sie sich? Es gibt größeren Kummer als das alles wird vorübergehen, bei Gott...«

»Ja, und ich gräme mich doch gar nicht. Woraus schlossest du das denn, Mütterchen, Malanja Phinogenowna?« antwortete Nechljudow, und er bemühte sich zu lachen.

»Ja, wie sollten Sie nicht traurig sein? Sehe ich es denn nicht selber?« begann die Wärterin mit Eifer. »Tag für Tag mutterseelenallein, und alles nehmen Sie sich so zu Herzen, zu allen gehen Sie selber! Schon haben Sie fast ganz aufgehört zu essen. Ist das Vernunft? Wenn Sie wenigstens in die Stadt fahren würden oder zu den Nachbarn! ... Ihre Jahre sind junge Jahre! Und so über alles sich grämen! Du verzeihst mir, Väterchen, aber ich setze mich«, fuhr die Wärterin fort, indem sie sich neben der Tür niederließ. »Siehst du, du hast eine solche Nachsicht an den Tag gelegt, daß schon niemand mehr dich fürchtet. Ist das gehandelt wie ein Herr? Da ist auch gar nichts Gutes daran. Nur dich selber richtest du zugrunde, ja, und das Volk verwöhnst du nur. Du weißt ja, unser Volk ist so. Es empfindet das nicht. So ist es nun einmal. Wenn du zur Tante fahren würdest sie hat die Wahrheit geschrieben...« So beriet ihn die Wärterin.

Nechljudow wurde es immer trauriger zumute. Seine rechte Hand, die sich auf sein Knie stützte, berührte schlaff die Tasten. Es erklang ein Akkord, ein zweiter, ein dritter ... Nechljudow rückte näher heran, nahm seine andere Hand aus der Tasche und begann zu spielen. Die Akkorde, die er griff, waren bisweilen nicht vorbereitet, sogar nicht einmal durchaus richtig, häufig waren sie gewöhnlich bis zur Banalität und bewiesen, daß er keinerlei musikalisches Talent besaß, ihm bereitete aber diese Beschäftigung ein gewisses unbestimmtes, melancholisches Vergnügen. Bei jeder Veränderung der Harmonie erwartete er bebenden Herzens, was aus ihr herauskommen werde, und wenn irgend etwas herauskam, so ergänzte er verworren in der Vorstellung das, was fehlte. Es schien ihm, als höre er tausend Melodien, Chor und Orchester, entsprechend seiner Harmonie. Den Hauptgenuß bereitete ihm dabei die erhöhte Tätigkeit seiner Einbildungskraft, die ihm zusammenhanglos und abgerissen, aber mit erschütternder Deutlichkeit die allerverschiedensten, durcheinander geworfenen und albernen Symbole und Bilder aus Vergangenheit und Zukunft darbot. Bald stellte sich ihm die aufgeschwollene Gestalt des Dawidka Bjely vor, wie er erschreckt mit seinen weißen Wimpern zuckte beim Anblick der schwarzen sehnigen Faust seiner Mutter, und sein runder Rücken und die gewaltigen, mit weißen Haaren bedeckten Hände, die nur mit Geduld und Ergebenheit in das Schicksal auf alle Mißhandlungen und Entbehrungen antworteten. Bald sieht er die lebhafte, im Hofdienst kühn gewordene Amme und stellte sich aus irgendeinem Grunde vor, wie sie durch die Dörfer gehe und den Bauern predige, man müsse sein Geld vor den Gutsbesitzern verstecken, und er wiederholte unbewußt sich selber: Ja, vor den Gutsbesitzern muß man sein Geld verstecken ... Bald stellt sich ihm plötzlich das dunkelblonde Köpfchen seiner zukünftigen Gattin vor, die aus irgendeinem Grunde in Tränen ist und sich in tiefem Kummer ihm auf die Schulter neigt. Bald sieht er die guten blauen Augen von Tschuris, die mit Zärtlichkeit auf das einzige, dickbäuchige Söhnchen schauen. Ja, und er sieht in ihm außer dem Sohn den Gehilfen und Retter. »Siehst du, da ist einmal Liebe!« flüsterte er. Hierauf erinnert er sich an die Mutter des Juchwanka, an den Ausdruck der Geduld und des Allesverzeihens, den er, ungeachtet ihres hängenden Zahnes und ihrer verwitterten Züge, in ihrem Greisinnengesicht wahrgenommen hatte. Es muß wohl so sein: in den siebzig Jahren ihres Lebens habe ich als erster das wahrgenommen, dachte er und flüstert: »Seltsam!« wobei er unbewußt fortfährt, auf den Tasten herumzufahren und auf die Töne zu hören. Dann erinnert er sich lebhaft an seine Flucht aus dem Bienenstand und den Gesichtsausdruck von Ignaz und Karp, die augenscheinlich lachen wollten, aber so taten, als ob sie ihn gar nicht anschauten. Er errötet und schaut sich unwillkürlich nach seiner Wärterin um, die immer noch an der Tür sitzt und schweigend, durchdringend auf ihn blickt, wobei sie von Zeit zu Zeit ihr weißes Haupt schüttelt. Plötzlich tritt vor Nechljudows inneren Blick ein Dreigespann schweißtriefender Pferde und die kräftig schöne Gestalt Iljuschkas mit seinen blonden Locken, seinen froh glänzenden blauen Augen, seinem frisch geröteten Gesicht und dem Flaum, der kaum anfing, ihm Lippen und Kinn zu bedecken. Nechljudow denkt daran, wie Iljuschka in Angst geriet, man werde ihn nicht mehr zu den Fuhrleuten lassen, und wie feurig er eintrat für diese seine Lieblingstätigkeit. Und Nechljudow sieht: ein grauer, früher, nebliger Morgen, eine nasse, schlüpfrige Chaussee, eine lange Reihe hoch beladener Fuhren, mit Bastdecken bedeckt, denen große schwarze Buchstaben aufgedruckt sind. Die starkbeinigen, satten Pferde rasseln mit ihren Schellen und ziehen, den Rücken krümmend und die Zugriemen anspannend, mutig die Fuhre die Anhöhe hinauf, indem sie sich mit ihren mächtigen Hufeisen anklammern an den glatten, festen Boden. Dem Wagenzug entgegen, den Berg herunter, läuft rasch die Post, unter dem Läuten der kleinen Glöckchen, die von weit her zu vernehmen sind durch den dichten Wald, der sich zu beiden Seiten des Weges hinzieht. Ah, ah, ai! ruft laut mit kindlicher Stimme der vordere Fuhrmann er trägt ein Blechschild an der Lammfellmütze, indem er die Peitsche über den Kopf erhebt. Beim Vorderrad der ersten Fuhre schreitet schwer in gewaltigen Stiefeln Karp einher mit seinem roten Bart und seinem mürrischen Blick. Auf der zweiten Fuhre streckt seinen hübschen Kopf Iljuschka heraus, der sich unter der Bastdecke des vorderen Wagens schön erwärmt hat bei der Kühle des Morgens. Drei Dreigespanne, hoch mit Koffern beladen, fahren vorüber unter Räderknarren, Schellengeläut und lautem Rufen. Iljuschka verbirgt seinen Lockenkopf wieder unter der Bastdecke und schlummert ein ... Da, ein klarer, warmer Abend! Vor den ermüdeten, beim Gasthof sich drängenden Gespannen öffnet sich knirschend das schwere Brettertor, und eine nach der anderen, über die Schwelle hüpfend, verschwinden die hohen, mit Bastdecken bedeckten Fuhren unter dem weiten Wetterdach. Iljuschka begrüßt lustig die weißgesichtige, breitbrüstige Wirtin. Diese fragt: Woher kommt ihr, und werdet ihr viel zu Abend essen? und dabei blickt sie mit ihren glänzenden, freundlichen Augen voll Vergnügen auf den hübschen Burschen. Dann geht Iljuschka, nachdem er die Pferde versorgt hat, in die heiße, von Volk erfüllte Stube, bekreuzigt sich, setzt sich hinter die volle hölzerne Tasse und beginnt eine lustige Unterhaltung mit der Wirtin und den Kameraden. Und da ist auch sein Nachtlager unter dem freien Sternenhimmel, der unter das Schutzdach herabschaut, sein Nachtlager im duftenden Heu bei seinen Pferden, die stampfend und schnaufend das Futter in den hölzernen Krippen herumwühlen. Iljuschka schreitet zu seiner Schlafstätte, wendet sich nach Osten, und nachdem er wohl dreißigmal seine breite, starke Brust bekreuzigt hat, betet er das Vaterunser und wohl zwanzigmal Herr, erbarme dich!, hüllt sich dann mit dem Kopfe in die langen Schöße seines Rockes und schlummert den gesunden, sorglosen Schlaf des starken, frischen Menschen. Und da sieht er im Traume Städte, Kiew mit seinen Heiligen und Massen von Wallfahrern, Romen mit Kaufleuten und Waren, er erblickt Odest und das weite blaue Meer mit weißen Segeln; er erblickt mit goldenen Häusern und weißbrüstigen, schwarzbewimperten Türkinnen die Stadt Zaregrad, wohin er flog auf unsichtbaren Flügeln. Frei und leicht fliegt er dahin, immer weiter und weiter, und sieht unter sich goldene Städte, umgossen von strahlendem Sonnenglanz, und den blauen Himmel mit vielen, vielen Sternen und das azurne Meer mit weißen Segeln und es ist ihm froh und lustig zu fliegen, weiter und weiter!

»Herrlich!« murmelt Nechljudow für sich, und ihm kommt der Gedanke: Weshalb bin ich nicht Iljuschka?

 

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