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Polikei

Übertragen von Hermann Röhl

1

Wie Sie befehlen, gnädige Frau! Nur schade um die Dutlows. Sie sind sämtlich prächtige Burschen, einer wie der andere; aber wenn wir nicht wenigstens einen vom Gutsgesinde hingeben, so wird einer von den Dutlows dran glauben müssen«, sagte der Verwalter. »Es deuten so schon alle Leute im Dorfe auf sie hin. Indessen, ganz wie Sie belieben.«

Er legte die rechte Hand auf die linke, hielt beide Hände vor den Bauch, bog den Kopf auf die Seite, zog, beinah schmatzend, die schmalen Lippen ein, verdrehte die Augen und verstummte nun mit der offenbaren Absicht, lange zu schweigen und ohne Erwiderung all den Unsinn anzuhören, den ihm die gnädige Frau darauf entgegnen würde.

Der Redende war ein aus dem Gutsgesinde hervorgegangener Verwalter mit glattrasiertem Gesicht, in einem langen Rocke von der besonderen Fasson, wie die Verwalter sie zu tragen pflegen, und er stand an einem Herbstabend vor seiner Gutsherrin und erstattete ihr Bericht. Der Bericht bestand nach der Auffassung der gnädigen Frau darin, daß sie Meldungen über das in der Wirtschaft bereits Vorgenommene entgegennahm und Anordnungen für die Zukunft traf. Aber nach der Auffassung des Verwalters Jegor Michailowitsch war der Bericht eine Zeremonie, die darin bestand, gleichmäßig auf beiden nach außen gekehrten Füßen in einer Ecke zu stehen, das Gesicht nach dem Sofa hinzuwenden, allerlei unverständiges Geschwätz anzuhören und die gnädige Frau durch verschiedene Mittel dahin zu bringen, daß sie zu all seinen Vorschlägen schnell und ungeduldig »Gut, gut!« sagte.

Diesmal handelte es sich um die Rekrutierung. Das Dorf Pokrowskoje hatte drei Mann zu stellen. Zwei von ihnen waren durch das Zusammentreffen der Familienverhältnisse sowie der sittlichen und wirtschaftlichen Umstände in zweifelloser Weise vom Schicksal selbst dazu bestimmt. In bezug auf diese beiden war kein Schwanken und kein Streit denkbar, weder von seiten der Gemeinde, noch von seiten der Gutsherrin, noch von seiten der öffentlichen Meinung. Der dritte jedoch war strittig. Der Verwalter wollte von den drei Dutlows absehen und als Rekruten einen von den Gutsleuten, Polikei, einen verheirateten Mann, stellen, der in sehr schlechtem Rufe stand und schon mehrmals beim Diebstahl von Säcken, Zaumzeug und Heu betroffen worden war; aber die gnädige Frau, die Polikeis zerlumpte Kinder oft liebkoste und seine Moral durch christliche Ermahnungen zu bessern suchte, wollte ihn nicht hergeben. Gleichzeitig aber wünschte sie auch den Dutlows, die sie nicht kannte und nie gesehen hatte, nichts Übles. Merkwürdigerweise vermochte sie schlechterdings nicht zu begreifen (und der Verwalter konnte sich nicht dazu entschließen, ihr das geradeheraus zu sagen), daß, wenn Polikei nicht Soldat werde, dies notwendig einen Dutlow treffen müsse. »Aber ich will ja nicht das Unglück der Dutlows!« sagte sie gefühlvoll. Wenn Sie das nicht wollen, so bezahlen Sie doch dreihundert Rubel für einen Stellvertreter! das hätte die Antwort darauf sein müssen. Aber diese Antwort war durch die Klugheit ausgeschlossen.

So blieb denn also Jegor Michailowitsch ruhig stehen, lehnte sich sogar unmerklich an den Türpfosten, ohne daß jedoch sein Gesicht den Ausdruck unterwürfiger Ergebenheit verloren hätte, und begann zu betrachten, wie sich die Lippen der gnädigen Frau bewegten und wie die Rüsche ihrer Haube, und gleichzeitig deren Schatten an der Wand unter dem Bilde, auf und ab hüpfte. Aber in den Sinn ihrer Worte einzudringen, das hielt er für völlig unnötig. Die gnädige Frau sprach lange und viel. Er bekam einen Gähnkrampf hinter den Ohren; aber er verwandelte dieses Zittern geschickt in einen Husten, indem er den Mund mit der Hand bedeckte und ein Räuspern fingierte. Vor kurzem habe ich gesehen, wie Lord Palmerston mit dem Hute auf dem Kopfe dasaß, während ein Mitglied der Opposition gegen das Ministerium losdonnerte, und wie dann der Lord auf einmal aufstand und in einer dreistündigen Rede auf alle Punkte seines Gegners antwortete; ich habe das ohne Verwunderung gesehen, weil ich Ähnliches schon unzählige Male in dem Verkehr zwischen Jegor Michailowitsch und seiner gnädigen Frau gesehen hatte. Ob er nun einzuschlafen fürchtete oder der Meinung war, daß sie doch gar zu sehr ins Reden hineinkomme, genug, er übertrug das Gewicht seines Oberkörpers vom linken Bein auf das rechte und begann mit der feststehenden Eingangsformel, deren er sich immer bediente:

»Ganz wie Sie belieben, gnädige Frau . . . aber die Gemeindeversammlung steht jetzt bei mir vor dem Kontor, und wir müssen mit der Sache zum Ende kommen. In der Verfügung der Behörde heißt es, daß die Rekruten bis Mariä Fürbitte nach der Stadt gebracht werden müssen. Unter den Bauern weist die Gemeinde nur auf die Dutlows hin und sonst auf niemand. Aber die Gemeinde nimmt das Interesse der Gutsherrschaft nicht wahr; der ist es ganz egal, ob wir die Dutlows ruinieren. Ich weiß ja, wie diese Leute sich gequält haben. Die ganze Zeit über, seit ich Verwalter bin, haben sie ein ärmliches Leben geführt. Endlich ist nun ein Neffe des Alten herangewachsen, worauf der Alte mit Sehnsucht gewartet hatte: nun sollen wir sie wieder zugrunde richten. Ich aber, wie gnädige Frau wissen, sorge für Ihr Eigentum, als ob es das meinige wäre. Es ist jammerschade, gnädige Frau; aber wie es Ihnen belieben wird. Die Dutlows sind mit mir weder verwandt noch verschwägert, und Geld habe ich auch nicht von ihnen bekommen...«

»Das habe ich auch nicht gedacht, Jegor«, unterbrach ihn die gnädige Frau, dachte aber im stillen sofort, daß er von den Dutlows bestochen sei.

». . .aber es ist das beste Hauswesen in ganz Pokrowskoje. Es sind gottesfürchtige, arbeitsame Bauern. Der Alte ist seit dreißig Jahren Kirchenältester, trinkt keinen Branntwein, gebraucht kein häßliches Schimpfwort, geht regelmäßig in die Kirche.« (Der Verwalter wußte schon, was auf die Gutsherrin einen günstigen Eindruck machte.) »Und was die Hauptsache ist, so erlaube ich mir darauf hinzuweisen, daß er nur zwei Söhne hat; das andere sind Neffen. Die Gemeinde ist der Ansicht, daß es ihm zukomme, einen Rekruten zu stellen; aber eigentlich brauchte er nur mit den Zweisöhnigen zu losen. Andere, die sogar drei Söhne hatten, haben aus Unverträglichkeit den Besitz unter sie geteilt und haben jetzt bei der Rekrutierung Vorteil davon; diese aber müssen für ihre Bravheit leiden.«

Hier verstand nun die Gutsherrin gar nichts mehr: sie verstand nicht, was das bedeutete, mit den Zweisöhnigen losen und von was für einer Bravheit die Rede war; sie hörte nur Laute und betrachtete die Nankingknöpfe an dem Rocke des Verwalters: den obersten knöpfte er gewiß nur selten zu, daher saß er auch noch fest; aber der mittlere hatte sich schon ganz losgezogen und hing nur locker, so daß er schon längst hätte angenäht werden müssen. Aber wie jedermann weiß, braucht man bei einem Gespräch, und besonders bei einem geschäftlichen, gar nicht zu verstehen, was einem gesagt wird, sondern nur an das zu denken, was man selbst sagen will. So verfuhr auch die gnädige Frau.

»Daß du mich gar nicht verstehen willst, Jegor Michailowitsch!« sagte sie. »Ich wünsche durchaus nicht, daß ein Dutlow Soldat werde. Ich meine, du kennst mich soweit, um zu wissen, daß ich alles tue, was in meiner Macht steht, um meinen Bauern zu helfen, und daß ich nicht ihr Unglück will. Du weißt, daß ich bereit bin, alles zum Opfer zu bringen, um dieser traurigen Notwendigkeit überhoben zu sein und weder einen Dutlow noch Chorjuschkin hingeben zu müssen.« (Ich weiß nicht, ob dem Verwalter der Gedanke durch den Kopf ging, daß, um dieser traurigen Notwendigkeit überhoben zu sein, es nicht erforderlich war, alles zum Opfer zu bringen, sondern daß dazu dreihundert Rubel genügten; aber dieser Gedanke konnte ihm allerdings leicht kommen.) »Ich will dir nur das eine sagen, daß ich Polikei unter keinen Umständen hingebe. Als er nach der Geschichte mit der Uhr mir selbst ein Geständnis ablegte und weinte und schwur, daß er sich bessern werde, da habe ich lange mit ihm geredet und gesehen, daß er gerührt war und aufrichtig bereute.« (Na, nun ist sie in ihr richtiges Fahrwasser gekommen! dachte Jegor Michailowitsch und betrachtete das Gelee in dem vor ihr stehenden Glase Wasser, ob es wohl Apfelsinengelee oder Zitronengelee war. Wahrscheinlich etwas Herbes, dachte er.) »Das ist nun schon sieben Monate her, und er ist nicht ein einziges Mal betrunken gewesen und führt sich vortrefflich. Seine Frau hat mir gesagt, er sei ein ganz anderer Mensch geworden. Wie kannst du da verlangen, daß ich ihn jetzt bestrafen soll, wo er sich gebessert hat? Und wäre es nicht unmenschlich, einen Menschen unter die Soldaten zu geben, der fünf Kinder hat, für die er allein sorgen muß? Nein, davon rede mir nur lieber gar nicht, Jegor...«

Die gnädige Frau trank aus ihrem Glase.

Jegor Michailowitsch verfolgte mit den Augen, wie das Wasser durch die Kehle lief, und sagte dann kurz und trocken: »Also befehlen Sie, daß ein Dutlow zum Rekruten bestimmt werden soll?«

Die gnädige Frau schlug die Hände zusammen.

»Daß du mich gar nicht verstehen kannst! Will ich denn das Unglück eines der Dutlows, habe ich denn etwas gegen einen von ihnen? Gott ist mein Zeuge, daß ich bereit bin, alles für sie zu tun.« (Sie blickte nach dem Bilde in der Ecke, wurde sich aber bewußt, daß es nicht Gott darstellte. Nun, ganz egal; darauf kommt es nicht an, dachte sie. Es war wieder merkwürdig, daß sie nicht auf den Gedanken an die dreihundert Rubel kam.) »Aber was soll ich tun? Weiß ich etwa, was ich machen muß und wie ich es machen muß? Ich kann das unmöglich wissen. Nun, ich verlasse mich auf dich; du weißt, was ich will. Mach es so, daß alle zufrieden sind und es dem Gesetze entspricht! Was soll man machen? Sie sind nicht die einzigen auf der Welt, die ihren Kummer haben. Für jeden Menschen kommen schwere Augenblicke. Nur diesen Polikei kann ich nicht hingeben. Du mußt doch begreifen, daß das von mir grausam wäre.«

Sie hätte, da sie so in Eifer gekommen war, noch länger geredet, aber da trat das Stubenmädchen ins Zimmer.

»Was willst du, Dunjascha?«

»Es ist ein Bauer gekommen und läßt Jegor Michailowitsch fragen, ob die Gemeindeversammlung noch länger warten soll«, sagte Dunjascha und warf dem Verwalter einen ärgerlichen Blick zu. (Nein, dieser Verwalter! dachte sie; er hat die gnädige Frau aufgeregt; nun wird sie mich wieder vor zwei Uhr nicht schlafen lassen!)

»Nun, dann geh hin, Jegor,« sagte die Gutsherrin, »und mach alles recht gut!«

»Zu Befehl.« (Von den Dutlows sagte er kein Wort mehr.) »Und wen befehlen Sie mir zum Gärtner zu schicken, um das Geld zu holen?«

»Peter ist wohl noch nicht aus der Stadt zurückgekommen?«

»Nein, gnädige Frau.«

»Kann Nikolai nicht hinfahren?«

»Mein Vater hat Kreuzschmerzen und liegt im Bett,« sagte Dunjascha.

»Befehlen Sie nicht, daß ich selbst morgen hinfahre?« fragte der Verwalter.

»Nein, du bist hier nötig, Jegor.« (Die gnädige Frau dachte nach.) »Wie groß ist denn die Summe?«

»Sechzehnhundertsiebzehn Rubel.«

»Schicke Polikei!« sagte die Gutsherrin und blickte dem Verwalter mit entschlossener Miene ins Gesicht.

Jegor Michailowitsch zog, ohne die Zähne sichtbar werden zu lassen und ohne seinen Gesichtsausdruck zu ändern, die Lippen auseinander, als ob er lächeln wollte.

»Zu Befehl.«

»Schick ihn zu mir!«

»Zu Befehl.« Und Jegor Michailowitsch ging zum Kontor.

2

Polikei, als ein unbedeutender, übel beleumundeter Mensch, der noch dazu aus einem anderen Dorfe stammte, genoß keinerlei Protektion, weder von seiten der Haushälterin, noch von seiten des Büfettdieners, noch von seiten des Verwalters oder des Stubenmädchens, und sein Winkel war der schlechteste, obgleich er mit Frau und Kindern zu siebent darin hauste. Diese Winkel waren noch von dem seligen Gutsherrn eingerichtet, und zwar folgendermaßen: in einem steinernen Häuschen von zehn Ellen im Quadrat stand in der Mitte ein russischer Ofen, um diesen herum ging ein Kolidor, wie ihn die Gutsleute nannten, und in jeder Ecke war durch Bretter ein Winkel abgebuchtet. Raum war also nicht viel vorhanden, namentlich nicht in Polikeis Winkel, der dicht an der Tür lag. Das Ehebett und darin eine Steppdecke und Kopfkissen mit baumwollenen Bezügen, die Wiege mit dem kleinsten Kinde, ein dreibeiniges Tischchen, auf dem die Speisen zubereitet wurden, gewaschen wurde, allerlei Hausrat lag und an dem Polikei selbst arbeitete (er war Roßarzt), ferner ein paar Zuber, Kleidungsstücke, Hühner, ein Kalb und die sieben Menschen selbst füllten den ganzen Winkel aus und hätten sich nicht rühren können, wenn ihnen nicht noch ein Viertel des gemeinsamen Ofens zur Verfügung gestanden hätte, auf dem sowohl Sachen wie auch Menschen lagen, und wenn es nicht möglich gewesen wäre, auf die Freitreppe hinauszutreten. Letzteres war allerdings nicht immer möglich: im Oktober war es schon kalt, und an warmer Kleidung war für alle sieben nur ein einziger Schafpelz vorhanden; aber dafür konnten sich die Kinder durch Umherlaufen und die Erwachsenen durch Arbeit erwärmen; auch konnten die einen wie die andern auf den Ofen steigen, wo eine Wärme bis zu vierzig Grad war. Man könnte meinen, unter solchen Umständen zu leben sei schrecklich; aber all das machte ihnen nichts aus: sie konnten leben. Akulina wusch und nähte für die Kinder und den Mann, spann und webte und bleichte ihre Leinwand, kochte und buk in dem gemeinsamen Ofen und zankte sich und klatschte mit den Nachbarn. Ihr monatliches Deputat an Lebensmitteln reichte nicht nur für die Kinder, sondern auch die Kuh bekam davon ab. Holz hatten sie frei und Viehfutter ebenfalls. Auch ein bißchen Heu fiel aus dem herrschaftlichen Pferdestall ab. Ferner hatten sie einen Streifen Gemüseland. Die Kuh hatte gekalbt; sie hielten sich Hühner. Polikei war beim Pferdestall angestellt; er hatte die beiden Hengste zu besorgen und ließ den Pferden und dem Rindvieh zur Ader; auch reinigte er die Hufe, schnitt Gaumengeschwülste auf und rieb Salben eigener Komposition ein, was ihm etwas Geld und Viktualien einbrachte. Von dem herrschaftlichen Hafer blieb auch etwas übrig. Im Dorfe war ein Bauer, der regelmäßig allmonatlich für zwei Maß Hafer zwanzig Pfund Hammelfleisch gab. Sie hätten leben können, wenn sie nicht seeliches Leid gehabt hätten. An solchem aber fehlte es der Familie nicht. Polikei war in seiner Jugend in einem andern Dorfe bei einem Gestüt gewesen. Der Stallmeister, zu dem er gekommen, war der größte Spitzbube in der ganzen Umgegend; er wurde dann zur Ansiedlung nach Sibirien verschickt. Bei diesem Stallmeister ging Polikei in die Lehre und gewöhnte sich bei seiner Jugendlichkeit dermaßen an diese Kleinigkeiten, daß er später gern wieder davon gelassen hätte, es aber nicht konnte. Er war ein junger Mensch von schwachem Charakter und hatte weder Vater noch Mutter noch sonst jemand, der ihn Gutes gelehrt hätte. Polikei trank gern und konnte es nicht leiden, daß etwas irgendwo umherlag. Ob es nun ein Kumtriemen war oder ein Sattel oder ein Schloß oder ein Deichselnagel oder etwas Wertvolleres, alles fand bei Polikei Iljitsch seinen Platz. Überall fanden sich Leute, die solche Dinge annahmen und dafür, je nach Übereinkunft, mit Branntwein oder mit Geld bezahlten. Diese Art von Verdienst ist, wie das Volk sagt, die leichteste: weder Lehrzeit noch Arbeit ist dazu erforderlich, und wenn man das einmal kennen gelernt hat, hat man zu anderer Arbeit keine Lust mehr. Nur eines ist bei diesem Verdienste nicht gut: man erlangt zwar alles billig und ohne Mühe und kann angenehm leben; aber auf einmal wird einem von schlechten Menschen dieses Handwerk gelegt, und dann muß man für alles mit einemmal büßen und wird seines Lebens nicht mehr froh.

So ging es auch Polikei. Er heiratete, und Gott gab ihm Glück: die Frau, die ihm zuteil geworden war, die Tochter eines Viehknechtes, war ein gesundes, verständiges, arbeitsames Weib; sie gebar ihm Kinder, von denen immer eines besser war als das andere. Polikei gab sein Gewerbe immer noch nicht auf, und es ging immer noch alles gut. Auf einmal traf ihn ein Unglück, und er wurde ertappt, und zwar bei einer Kleinigkeit: er hatte einem Bauern einen ledernen Zügel weggenommen und bei sich versteckt. Man fand den Zügel bei ihm, prügelte ihn durch, führte ihn zur Gutsherrin und paßte seitdem auf ihn auf. Ein zweites, ein drittes Mal wurde er ertappt. Die Leute schimpften auf ihn; der Verwalter drohte, ihn unter die Soldaten zu stecken; die Gutsherrin erteilte ihm einen Verweis; seine Frau weinte und härmte sich; es ging alles verquer. Er war ein guter Mensch, gar nicht schlecht, nur schwach, zum Trinken geneigt, und diese Gewohnheit war bei ihm so stark geworden, daß er schlechterdings nicht davon lassen konnte. Manchmal schalt ihn seine Frau und schlug ihn sogar, wenn er betrunken nach Hause kam; er aber brach in Tränen aus. »Ach bin ein unglücklicher Mensch«, sagte er; »was soll ich nur anfangen? Und wenn mir die Zunge verdorrt, ich werde es lassen, ich werde es nicht mehr tun.« Aber siehe da, nach einem Monat ging er wieder von Hause fort, betrank sich und war ein paar Tage lang verschwunden. »Von irgendwoher muß er doch das Geld zum Trinken nehmen,« sagten sich die Leute. Seine letzte Affäre war die mit der Kontoruhr gewesen. Im Kontor war eine alte Wanduhr, die schon längst nicht mehr ging. Es traf sich, daß er einmal allein in das unverschlossene Kontor kam; die Uhr verlockte ihn, er nahm sie weg und machte sie schleunigst in der Stadt zu Gelde. Der Zufall wollte es, daß der Händler, dem er die Uhr verkauft hatte, mit einer Frau aus dem Gutsgesinde verschwägert war und an einem Feiertag auf das Dorf hinauskam und von der Uhr erzählte. Man ging der Sache nach, als ob irgend jemand ein Interesse daran gehabt hätte. Namentlich konnte der Verwalter unsern Polikei nicht leiden. Die Sache wurde klargelegt und der Gutsherrin berichtet. Diese ließ Polikei zu sich rufen. Er fiel ihr sofort zu Füßen und bekannte in gefühlvollen, rührenden Ausdrücken alles, so wie es ihn seine Frau gelehrt hatte. Er führte das alles sehr gut aus. Die gnädige Frau fing an, ihn zu ermahnen; sie redete und redete, predigte und predigte, von Gott und von der Tugend und vom zukünftigen Leben und von seiner Frau und von seinen Kindern, und brachte ihn dahin, daß er Tränen vergoß. Die gnädige Frau sagte: »Ich verzeihe dir; nur versprich mir, es in Zukunft nie wieder zu tun!«

»Mein Lebenlang nicht! Möge ich in die Erde versinken, möge mein Leib bersten!« rief Polikei und weinte dabei rührend.

Polikei kam nach Hause, brüllte dort eine ganze Stunde lang wie ein Kalb und lag auf dem Ofen. Seitdem war an ihm kein einziges Mal etwas zu tadeln gewesen. Aber sein Leben war unfroh geworden: die Leute betrachteten ihn als einen Dieb, und als die Zeit der Rekrutierung kam, wiesen alle auf ihn als auf einen Auszuhebenden hin.

Polikei war, wie schon gesagt, Roßarzt. Wie er auf einmal Roßarzt geworden war, das wußte niemand und er selbst am wenigsten. Auf dem Gestüt, bei dem Stallmeister, der dann nach Sibirien zur Ansiedelung verschickt wurde, hatte er keine anderen Obliegenheiten zu erfüllen gehabt, als den Mist aus den Pferdeständen zu entfernen, manchmal die Pferde selbst zu reinigen und Wasser zu holen. Dort konnte er die Roßarzneikunde nicht gelernt haben. Dann war er Weber gewesen; dann hatte er im Garten gearbeitet, die Steige gereinigt; dann hatte er zur Strafe Ziegel schlagen müssen; dann war er vom Gute auf Jahresabgabe beurlaubt worden und hatte sich bei einem Kaufmann als Hausknecht verdingt. Also auch dort hatte er keine medizinischen Kenntnisse erwerben können. Aber bei seiner letzten Anwesenheit zu Hause hatte sich merkwürdigerweise allmählich der Ruf von seiner außerordentlichen, ja sogar etwas übernatürlichen roßärztlichen Kunst verbreitet. Er ließ zur Ader, einmal und ein zweites Mal; dann warf er das Pferd zu Boden und stocherte ihm in der Lende herum; dann forderte er, daß das Pferd in das Zwangsgestell geführt werde, und schnitt ihm den Strahl bis aufs Blut, obwohl das Pferd um sich schlug und sogar winselte; er sagte dabei, dies bedeute das unter dem Huf steckende Blut entfernen. Dann erklärte er dem Bauern, es sei notwendig, zur größeren Erleichterung aus beiden Adern Blut abzulassen, und begann mit einem hölzernen Hammer auf eine stumpfe Lanzette zu schlagen; dann zog er unter dem Bauche eines dem Hausmeister gehörenden Pferdes die Kante von einem Frauenkopftuche hindurch. Endlich bestreute er jeden Schorf mit Vitriol, befeuchtete ihn aus einem Fläschchen und gab auch innerlich ein, was ihm gerade in den Sinn kam. Und je mehr er die Pferde quälte und zu Tode brachte, um so mehr Vertrauen schenkte man ihm und um so mehr Pferde führte man ihm zu.

Ich fühle, daß es uns Angehörigen der höheren Stände nicht wohl ansteht, uns über Polikei lustig zu machen. Die Manieren, deren er sich bediente, um Vertrauen zu erwecken, sind dieselben, die auf unsere Väter gewirkt haben, auf uns wirken und auf unsere Kinder wirken werden. Der Bauer, der sich mit dem Leibe auf den Kopf seiner einzigen Stute wirft, die nicht nur seinen ganzen Reichtum ausmacht, sondern beinahe ein Mitglied seiner Familie bildet, und der vertrauensvoll und ängstlich auf eines Polikei bedeutsam finstere Miene, auf seine aufgekrempelten Ärmel und auf seine schmalen Hände blickt, mit denen er absichtlich gerade die schmerzende Stelle drückt und dreist in den lebendigen Körper hineinschneidet, während er im geheimen denkt: Das Biest wirds schon aushalten! und ein Gesicht macht, als wisse er, wo das Blut und der Eiter und die Sehnen und die Adern seien, und das heilbringende Pflaster oder das Fläschchen mit Vitriol zwischen den Zähnen hält dieser Bauer kann sich nicht vorstellen, daß ein solcher Mann die Hand zum Schneiden ansetzen würde, wenn er die Sache nicht verstände. Er selbst wäre dazu nicht imstande. Und wenn der Schnitt ausgeführt ist, so macht er sich keine Vorwürfe darüber, daß er falsch daran getan habe, die Erlaubnis zum Schneiden zu geben. Ich weiß nicht, wie es in dieser Hinsicht anderen geht; aber ich habe bei einem Arzte, der auf meine Bitte liebe Angehörige von mir marterte, ganz genau dieselbe Empfindung gehabt. Polikeis Lanzette und sein geheimnisvolles weißliches Fläschchen mit ätzendem Sublimat und seine Ausdrücke: »Beulenkrankheit, Hämorrhoiden, zur Ader lassen, Eiter abziehen« usw., ist das nicht ganz dasselbe wie des Arztes »Nerven, Rheumatismus, Organismus« usw.? Der deutsche Vers: Wage du zu irren und zu träumen paßt auf die Ärzte und Roßärzte mindestens ebensogut wie auf die Dichter.

3

An jenem selben Abend, an dem die zur Auswahl der Rekruten veranstaltete Gemeindeversammlung beim Kontor in der kalten Dunkelheit der Oktobernacht lärmte, saß Polikei auf dem Bettrand am Tische und mischte auf diesem in einer Flasche eine Pferdearznei, die er selbst nicht kannte. Da war Sublimat, Schwefel, Glaubersalz und ein Kraut, das Polikei einmal gesammelt, weil er sich eingebildet hatte, es sei sehr nützlich gegen die Dämpfigkeit; und nun hielt er für zweckmäßig, es auch gegen andre Krankheiten zu geben. Die Kinder lagen bereits: zwei auf dem Ofen, zwei im Bett, eines in der Wiege, bei der Akulina saß und spann. Ein Lichtstümpfchen, das von herrschaftlichen umherliegenden Kerzen übrig geblieben war, stand in einem Holzleuchter auf dem Fensterbrett; und damit ihr Mann sich nicht in seiner wichtigen Beschäftigung zu unterbrechen brauchte, stand Akulina von Zeit zu Zeit auf und brachte den Docht mit den Fingern in Ordnung. Es gab respektlose Menschen, die Polikei für einen schlechten Roßarzt und für einen schlechten Menschen hielten. Andere, und zwar die Mehrzahl, hielten ihn für einen schlechten Menschen, aber für einen bedeutenden Meister in seinem Fache. Akulina aber, obwohl sie ihren Mann häufig ausschimpfte und sogar manchmal schlug, hielt ihn doch ohne jeden Zweifel für den besten Roßarzt und für den besten Menschen auf der Welt. Polikei schüttete sich irgendwelche Substanz in die hohle Hand. (Einer Waage bediente er sich nicht und äußerte sich ironisch über die Deutschen, die eine solche verwendeten. »Bei mir hier,« sagte er, »ist keine Apotheke!«) Polikei wog seine Substanz auf der Hand und schüttelte sie; aber es schien ihm zu wenig zu sein, und er schüttete das Zehnfache hinzu. »Ich werde sie ganz hineintun; dann wird es besser wirken,« sagte er vor sich hin. Akulina blickte sich auf die Stimme ihres Herrn und Gebieters schnell um, da sie einen Befehl erwartete; aber als sie sah, daß die Sache sie nichts anging, zog sie bewundernd die Achseln in die Höhe: Nein, was für ein kluger Mensch er ist! Wo er das nur her hat! dachte sie und spann wieder weiter. Das Papierchen, aus dem Polikei die Substanz ausgeschüttet hatte, war unter den Tisch gefallen. Akulina hatte dies bemerkt.

»Anjutka,« rief sie, »sieh mal, da hat der Vater etwas hinfallen lassen; heb es doch auf!«

Anjutka steckte die dünnen, nackten Beinchen unter dem Mantel hervor, unter dem sie lag, kroch wie ein Kätzchen unter den Tisch und holte das Papierchen.

»Da, Väterchen!« sagte sie und schlüpfte wieder mit den frierenden Beinchen ins Bett.

»Was s-töstu mich denn?« schalt ihre jüngere Schwester, die lispelte, mit weinerlicher, verschlafener Stimme.

»Wart, ich will euch . . .« sagte Akulina, und die beiden Köpfe verschwanden unter dem Mantel.

»Wenn er drei Rubel gibt,« sagte Polikei, indem er die Flasche zukorkte, »dann will ich ihm das Pferd kurieren. Und das ist noch billig,« fügte er hinzu. »Da mag sich mal einer den Kopf zerbrechen! Akulina, geh doch mal zu Nikita und bitte ihn um ein bißchen Tabak! Morgen werde ich es ihm wiedergeben.«

Er zog aus der Hosentasche eine kleine Pfeife aus Lindenholz, die ehemals angestrichen war und deren Mundstück jetzt aus Siegellack bestand, und begann sie zurechtzumachen.

Akulina verließ ihre Spindel und ging hinaus, ohne irgendwo anzustoßen, was ein großes Kunststück war. Polikei öffnete ein Schränkchen, stellte die Flasche hinein und setzte eine leere Branntweinflasche an den Mund; aber es war kein Tropfen mehr darin. Er runzelte die Stirn; aber als seine Frau ihm etwas Tabak brachte und er seine Pfeife gestopft, angeraucht und sich auf das Bett gesetzt hatte, da strahlte sein Gesicht in der Zufriedenheit und dem Stolz eines Mannes, der sein Tagewerk beendet hat. Ob er nun daran dachte, wie er am folgenden Tage die Zunge des Pferdes fassen und ihm diese wundervolle Mixtur ins Maul gießen werde, oder ob er darüber nachsann, daß einem Menschen, den man notwendig brauche, doch niemand eine abschlägige Antwort gebe und auch Nikita ihm soeben den Tabak geschickt habe: jedenfalls war ihm wohl zumute. Auf einmal wurde die Tür, die nur in einer Angel hing, zurückgeschlagen, und ein Mädchen von oben trat in den Winkel, nicht das zweite, sondern das dritte, das kleine, das als Laufmädchen verwendet wurde. Oben bedeutet, wie allgemein bekannt ist, das herrschaftliche Haus, auch wenn es unten gelegen ist. Axjutka (so hieß das Mädchen) flog immer wie eine Kanonenkugel, und dabei bogen sich ihre Arme nicht, sondern schaukelten wie ein Perpendikel, entsprechend der Geschwindigkeit ihrer Bewegung, und zwar nicht an den Seiten hin, sondern vorn vor dem Körper; ihre Backen waren stets röter als ihr rosa Kleid, ihre Zunge bewegte sich immer ebenso schnell wie ihre Füße. Sie kam ins Zimmer hereingeflogen, hielt sich aus nicht recht verständlichem Grunde am Ofen fest, schaukelte sich hin und her und stieß dann, sich zu Akulina wendend, atemlos folgendes heraus, wobei sie wie mit Absicht immer nur zwei, drei Worte hintereinander sprach:

»Die gnädige Frau hat befohlen, Polikei Iljitsch soll sofort nach oben kommen; so hat sie befohlen...« (Sie hielt inne und holte tief Atem.) »Jegor Michailowitsch war bei der gnädigen Frau; sie haben miteinander über die Rekruten gesprochen; dabei wurde Polikei Iljitsch erwähnt... Awdotja Von Awdotja ist Dunjascha, wie das Stubenmädchen oben genannt wurde, eine Koseform. Anmerkung des Übersetzers. Nikolajewna hat befohlen, er soll sofort kommen. Awdotja Nikolajewna hat befohlen...« (wieder ein Seufzer) »er soll sofort kommen.«

Dann blickte Axjutka eine kleine Weile Polikei und Akulina und die Kinder an, die unter ihrer Decke hervorschauten, ergriff eine Nußschale, die auf dem Ofen lag, warf damit nach Anjutka, und nachdem sie noch einmal gesagt hatte: »Er soll sofort kommen,« flog sie wie ein Wirbelwind aus dem Zimmer, und die Pendel bewegten sich mit der gewöhnlichen Geschwindigkeit quer zu der Richtung, in der sie lief.

Akulina stand wieder auf und reichte ihrem Manne die Stiefel. Es waren häßliche, zerrissene Soldatenstiefel. Sie nahm seinen Rock vom Ofen und gab ihn ihm; aber sie sah ihren Mann dabei nicht an.

»Polikei, willst du nicht das Hemd wechseln?«

»Nein«, antwortete Polikei.

Akulina blickte ihm kein einziges Mal ins Gesicht, während er sich die Stiefel und den Rock anzog, und sie tat gut daran, daß sie das vermied. Polikeis Gesicht war blaß; der Unterkiefer zitterte, und in seinen Augen lag jener weinerliche, ergebungsvolle, tief unglückliche Ausdruck, der nur bei gutmütigen, schwachen, schuldbewußten Menschen vorkommt. Er kämmte sich und wollte hinausgehen, aber seine Frau hielt ihn noch an und brachte ihm das Hemdbändchen in Ordnung, das auf den Rock hinaushing, auch setzte sie ihm seine Mütze auf.

»Nun, Polikei Iljitsch? Die gnädige Frau läßt Sie rufen?« ließ sich die Stimme der Tischlerfrau von der andern Seite her vernehmen.

Die Tischlerfrau hatte erst am Vormittag dieses selben Tages mit Akulina einen hitzigen Streit wegen eines Topfes mit Lauge gehabt, den Polikeis Kinder bei ihr umgestoßen hatten, und hatte nun sofort eine angenehme Empfindung, als sie hörte, daß Polikei zur gnädigen Frau gerufen wurde; denn etwas Gutes hatte das wahrscheinlich nicht zu bedeuten. Dabei war sie eine schlaue, gewandte, boshafte Dame. Niemand verstand es besser als sie, das Wort als Waffe zu verwenden; wenigstens glaubte sie das selbst von sich.

»Wahrscheinlich soll jemand zur Stadt geschickt werden, um Einkäufe zu machen,« fuhr sie fort. »Ich denke mir, die gnädige Frau sucht sich dazu einen zuverlässigen Menschen aus und schickt darum Sie hin. Da könnten Sie mir ein Viertelpfund Tee mitbringen, Polikei Iljitsch!«

Akulina hielt die Tränen zurück, und ihre Lippen zogen sich zu einem ingrimmigen Ausdruck zusammen. Wie gern hätte sie sich in die garstigen Haare dieser Kanaille von Tischlerfrau eingekrallt! Aber als sie einen Blick auf ihre Kinder warf und sich sagte, daß sie vaterlos zurückbleiben würden und sie selbst als Frau eines fernen Soldaten, sozusagen als Witwe, da dachte sie nicht mehr an die boshafte Tischlerfrau, bedeckte das Gesicht mit den Händen, setzte sich auf das Bett, und ihr Kopf sank auf die Kissen.

»Mamaßen, du drücks mich so!« murmelte das lispelnde kleine Mädchen und zog seinen Mantel unter dem Ellbogen der Mutter hervor.

»Wenn ihr doch alle tot wäret! Ich habe euch nur zu Kummer und Leid geboren!« rief Akulina und begann laut zu schluchzen, zur Freude der Tischlerfrau, die die Lauge vom Vormittage noch nicht vergessen hatte.

4

Eine halbe Stunde war vergangen. Das kleinste Kind fing an zu schreien; Akulina stand auf und gab ihm die Brust. Sie weinte nicht mehr; aber ihr immer noch hübsches, mageres Gesicht in die Hand stützend, starrte sie nach der heruntergebrannten Kerze und dachte darüber nach, warum sie geheiratet habe, und wozu so viele Soldaten nötig seien, und dann noch darüber, wie sie es der Tischlerfrau heimzahlen könne.

Die Schritte ihres Mannes ließen sich vernehmen; sie wischte die Tränenspuren weg und stand auf, um ihm Platz zu machen. Polikei trat in stolzer Haltung ein, warf die Mütze auf das Bett, atmete tief auf und band sich den Gürtel ab.

»Nun, wie ists? Warum hat sie dich rufen lassen?«

»Hm, man kennt das schon! Polikei ist der geringste, niedrigste Mensch; aber wenn ein wichtiges Geschäft besorgt werden muß, an wen wendet man sich da? An ihn.«

»Was denn für ein Geschäft?«

Polikei beeilte sich nicht mit der Antwort; er zündete sich die Pfeife an und spuckte aus.

»Sie hat mir befohlen, ich soll zum Kaufmann fahren und Geld holen.«

»Geld holen?« fragte Akulina.

Polikei wiegte lächelnd den Kopf hin und her.

»Wie geschickt sie zu reden versteht! Du standest in dem Rufe, sagte sie, ein unzuverlässiger Mensch zu sein; aber ich habe zu dir mehr Vertrauen als zu allen andern,« (Polikei sprach laut, damit es die Nachbarn hören möchten.) »Du hast mir versprochen, dich zu bessern, sagte sie; da will ich dir nun den ersten Beweis meines Vertrauens geben: fahre hin zum Kaufmann, sagte sie, nimm das Geld in Empfang und bring es her! Ich, sagte ich, gnädige Frau, wir alle, sagte ich, sind Ihre Diener und müssen Ihnen ebenso gehorchen wie dem lieben Gott; darum fühle ich, daß ich imstande bin, für Ihr Wohl alles zu tun, und daß ich mich keines Dienstes weigern darf; was Sie befehlen, das werde ich ausführen, denn ich bin Ihr Sklave.« (Er lächelte wieder in jener besonderen Art eines schwachen, gutmütigen, schuldbewußten Menschen.) »Also wirst du es getreulich ausführen? sagte sie. Du verstehst doch, sagte sie, daß dein Schicksal davon abhängt? Ich weiß bestimmt, sagte ich, daß ich alles ausführen kann. Wenn man mich verleumdet hat, so kann man Beschuldigungen gegen jeden vorbringen; aber niemals, meine ich, ist mir der Gedanke gekommen, irgend etwas gegen Ihr Wohl zu unternehmen. Ich redete so geschickt zu ihr, daß die gnädige Frau ganz weich wurde. Du wirst noch mein vertrautester Diener werden, sagte sie.« (Er schwieg ein Weilchen, und wieder erschien dasselbe Lächeln auf seinem Gesicht.) »Ich verstehe sehr gut, mit den Herrschaften zu reden. Als ich noch auf Jahresabgabe beurlaubt war, wie hat mich da mancher angefahren! Aber sobald ich nur mit ihm reden konnte, schmierte ich ihn so ein, daß er wie um den Finger zu wickeln wurde.«

»Ist es denn viel Geld?« fragte Akulina.

»Etwa fünfzehnhundert Rubel«, antwortete Polikei nachlässig.

Sie wiegte den Kopf hin und her.

»Wann sollst du fahren?«

»Morgen, hat sie befohlen. Nimm, welches Pferd du willst, sagte sie; geh aufs Kontor, und dann fahre mit Gott!«

»Gott sei Dank!« sagte Akulina, indem sie aufstand und sich bekreuzigte. »Gott steh dir bei, Polikei!« fügte sie flüsternd hinzu, damit es niemand hinter der Halbwand höre, und faßte ihren Mann am Hemdärmel. »Polikei, höre mich; um Christi willen bitte ich dich: wenn du fährst, so küsse das Kreuz, daß du keinen Tropfen Branntwein in den Mund nehmen wirst!«

»Wie werde ich denn trinken, wenn ich mit so viel Geld fahre!« schnaubte er sie an. »Nein, wie da jemand Klavier spielte, so geschickt, zum Erstaunen!« fügte er nach einer kleinen Pause lächelnd hinzu. »Gewiß war es das Fräulein. Ich stand so vor ihr, vor der gnädigen Frau, beim Glasschrank, und da, im andern Zimmer, spielte das Fräulein. Das ging mal flink, ganz flink, und es klang so gut und klappte alles, das muss ich sagen! Ich würde auch gern Klavier spielen. Ich würde es schon lernen. Sicherlich würde ich es lernen. In solchen Dingen bin ich geschickt. Gib mir doch morgen ein reines Hemd.«

Sie legten sich in glücklichster Stimmung zu Bett.

5

Inzwischen lärmte die Gemeindeversammlung beim Kontor. Es handelte sich um eine sehr ernste Sache. Die Bauern waren fast alle in der Gemeindeversammlung anwesend, und während Jegor Michailowitsch zu der gnädigen Frau gegangen war, hatten sie die Mützen aufgesetzt; es ließen sich mehr Stimmen in buntem Durcheinanderreden vernehmen, und die Stimmen wurden lauter. Das Gebrause der dumpfen Stimmen, mitunter von einer keuchenden, heiseren, schreienden Rede unterbrochen, erfüllte die Luft, und dieses Gebrause drang wie der Lärm eines rauschenden Meeres zu dem Fenster der gnädigen Frau, die dabei eine nervöse Unruhe empfand, ähnlich dem Gefühle, das durch ein starkes Gewitter hervorgerufen wird. Es war ihr teils ängstlich, teils unbehaglich zumute. Immer schien es ihr, die Stimmen würden im nächsten Augenblicke noch lauter und zahlreicher werden und es werde sich etwas Schreckliches ereignen. Als ließe sich das alles nicht still und friedlich, ohne Streit und Geschrei erledigen, dachte sie, in christlicher Bruderliebe und Sanftmut!

Es redeten viele Stimmen, aber am lautesten von allen schrie der Zimmermann Fjodor Rjesun. Er war ein Zweisöhniger und fiel nun über die Dutlows her. Der alte Dutlow verteidigte sich; er war ein wenig aus dem Haufen vorgetreten, während er ursprünglich hinten gestanden hatte; beim Reden verschluckte er die Endsilben, gestikulierte lebhaft mit den Armen, fasste mitunter an sein dünnes Bärtchen und näselte oft so stark, daß er selbst kaum verstehen konnte, was er sagte. Seine Söhne und Neffen, lauter stattliche Burschen, standen dicht gedrängt hinter ihm, und der alte Dutlow erinnerte an die Henne in dem Spiele Geier und Henne. Der Geier war dabei Rjesun und nicht Rjesun allein, sondern alle Zweisöhnigen und alle Einsöhnigen, fast die ganze Versammlung; alle traten sie gegen Dutlow auf. Die Sache war die, daß Dutlows Bruder vor ungefähr dreißig Jahren zu den Soldaten gegeben war; deshalb wollte Dutlow nicht mit den Dreisöhnigen auf eine Stufe gestellt werden, sondern wollte, daß man ihm den Militärdienst seines Bruders anrechne und ihn mit den Zweisöhnigen rangieren lasse, und daß dann aus diesen durch gemeinsames Losen der dritte Rekrut genommen werde. Dreisöhnige waren außer Dutlow noch vier vorhanden; aber einer war der Schulze, und den hatte die Gutsherrin von der Gestellungspflicht befreit; eine andere Familie hatte bei der vorigen Aushebung einen Rekruten abgeben müssen. Aus den übrigen beiden Familien waren zwei junge Leute in Aussicht genommen; einer von ihnen war gar nicht zur Gemeindeversammlung gekommen, nur seine Frau stand traurig hinter allen, in der unklaren Erwartung, daß sich das Rad irgendwie zu ihren Gunsten drehen werde; der Vater des andern der beiden in Aussicht genommenen, der rotköpfige Roman, stand in einem zerrissenen Kittel (obgleich er nicht arm war) an die Freitreppe gelehnt da, hielt den Kopf gesenkt und schwieg die ganze Zeit über; nur mitunter, wenn jemand besonders laut sprach, blickte er diesen aufmerksam an und ließ dann den Kopf wieder sinken. Seine ganze Gestalt machte einen höchst unglücklichen Eindruck. Der alte Semjon Dutlow war ein solcher Mensch, daß jeder, der ihn nur ein wenig kannte, ihm ohne weiteres Hunderte und Tausende von Rubeln zur Aufbewahrung anvertraut hätte. Er war ein solider, gottesfürchtiger, vermögender Mann, dazu noch Kirchenältester. Um so auffälliger war die starke Aufregung, in der er sich jetzt befand.

Dagegen war der Zimmermann Rjesun ein hochgewachsener, schwarzhaariger Mann, trunksüchtig, kühn und verwegen und besonders geschickt im Reden und Streiten, bei den Gemeindeversammlungen und auf den Märkten, mit Arbeitern, Kaufleuten, Bauern und Herrschaften. Jetzt war er ruhig und giftig und erdrückte mit der ganzen Höhe seiner Gestalt und mit der ganzen Kraft seiner voll tönenden Stimme und seines rednerischen Talentes den sich verschluckenden und völlig aus seinem ruhigen Geleise herausgeworfenen Kirchenältesten. Außerdem beteiligten sich an dem Streite noch: der jugendliche, stämmige Gerasim Kopylow, mit rundem Gesicht, viereckigem Kopf und krausem Bärtchen, einer der Redner der sich an Rjesun anschließenden jüngeren Generation, der sich stets durch seine scharfe Ausdrucksweise auszeichnete und sich schon ein gewisses Ansehen in der Gemeindeversammlung erworben hatte. Ferner Fjodor Melnitschny, ein gelber, hagerer, langer, sich gebückt haltender Bauer, ebenfalls noch jung, mit spärlichem Bartwuchs und kleinen Augen; er hatte immer etwas Galliges, Finsteres, fand bei allen Dingen die schlechte Seite heraus und verblüffte die Gemeindeversammlung oft durch seine unerwarteten, kurz hingeworfenen Fragen und Bemerkungen. Diese beiden Redner waren auf Rjesuns Seite. Außerdem mischten sich mitunter noch zwei Schwätzer hinein, erstens ein gewisser Chrapkow, der eine gutmütige Visage und einen breiten, dunkelblonden Bart hatte und immer die Anrede du mein lieber Freund einschaltete, und zweitens ein Bauer von kleiner Statur, mit einem Vogelgesicht, namens Schidkow, der zu allem, was er sagte, hinzufügte: »Das ist klar, ihr Brüder«, wobei er sich an alle wandte, aber nie etwas Vernünftiges vorbrachte. Beide waren bald für diese, bald für jene Partei, aber niemand hörte auf sie. Es waren auch noch andere von derselben Sorte da; aber diese beiden entwickelten unter der Menge die größte Geschäftigkeit, schrien zum Schrecken der gnädigen Frau mehr als die andern, wurden aber weniger als andere beachtet und überließen sich, von dem Lärm und Geschrei halb närrisch geworden, nach Herzenslust dem Vergnügen, die Zunge zu rühren. Es waren auch sonst noch vielerlei Typen unter den Mitgliedern der Gemeindeversammlung vertreten: finstere, anständige, gleichmütige, ängstliche; auch Weiber standen hinter den Bauern, aber von allen diesen werde ich, so Gott will, nachher erzählen. Die große Masse der Bauern aber stand in der Gemeindeversammlung da wie in der Kirche, und die hinten Stehenden unterhielten sich flüsternd über häusliche Angelegenheiten, etwa darüber, wann man im Walde das herausgehauene Holz aufladen müsse, oder warteten schweigend, ob das Gezänk nicht bald aufhören werde. Es waren auch einige Reiche darunter, denen die Gemeindeversammlung nichts zu ihrem Wohlstande hinzufügen oder davon abnehmen konnte. Von der Art war Jermil, mit breitem, glänzendem Gesicht, den die Bauern wegen seines Reichtums »Dickbauch« nannten. Von der Art war auch Starostin, auf dessen Gesicht sich ein selbstzufriedenes Machtbewußtsein ausprägte: »Redet, was ihr wollt; aber an mich wird sich niemand wagen. Ich habe vier Söhne, gebe aber keinen von ihnen her.« Mitunter suchten respektlose Menschen wie Kopylow und Rjesun auch mit ihnen anzubinden, und sie antworteten darauf, aber ruhig und fest, im Gefühl ihrer Unantastbarkeit. Wenn Dutlow der Henne in dem Geier-und-Henne-Spiele glich, so erinnerten doch seine jungen Burschen nicht sehr an Küchlein: sie liefen nicht ängstlich hin und her und piepten nicht, sondern standen ruhig hinter ihm. Der älteste, Ignat, war schon dreißig Jahre alt; der zweite, Wassili, war verheiratet und zum Rekruten nicht tauglich; der dritte, Ilja, der Neffe, der sich eben erst verheiratet hatte, mit einem Gesicht wie Milch und Blut, in einem eleganten Schafpelz (er fuhr als Postkutscher), stand da, sah die Volksmenge an und kratzte sich ab und zu unter dem Hute am Hinterkopf, als ob ihn die Sache gar nichts anginge; und doch wollten gerade ihn die Geier packen und wegführen.

»Na ja, dann werde ich mich auch weigern, mit zu losen, weil mein Großvater Soldat war«, sagte einer. »Nein, Bruder, so ein Gesetz gibt es nicht. Bei der vorigen Aushebung ist Micheitschew genommen worden, obwohl sein Oheim noch nicht wieder nach Hause gekommen war.«

»Weder dein Vater noch dein Oheim hat dem Zaren gedient«, sagte Dutlow gleichzeitig; »und auch du hast weder der Herrschaft noch der Gemeinde gedient, sondern immer nur gebummelt und gezecht, und deine Kinder haben sich von dir ihren Anteil herausgeben lassen. Weil niemand mit dir leben kann, möchtest du anderen Leuten schaden; aber mich hat die Gemeinde zehn Jahre lang zum Polizeikommissar gewählt, und auch Schulze bin ich gewesen, und zweimal bin ich abgebrannt, und kein Mensch hat mir geholfen; und dafür, daß es bei mir im Hause friedlich und ehrlich zugeht, dafür soll ich nun ruiniert werden? Gebt mir doch meinen Bruder zurück! Der ist gewiß dort schon gestorben. Rechtgläubige Gemeindeversammlung, entscheide nach Recht und Gerechtigkeit und nach Gottes Willen; aber höre nicht auf das, was ein Betrunkener zusammenschwatzt!«

Gleichzeitig sagte Gerasim zu Dutlow:

»Du berufst dich darauf, daß dein Bruder Soldat geworden ist; aber den hat nicht die Gemeinde dazu gemacht, sondern die Herrschaft, und zwar wegen seines liederlichen Lebenswandels. Also kannst du dich darauf nicht berufen.«

Noch hatte Gerasim nicht zu Ende gesprochen, als der gelbe, lange Fjodor Melnitschny vortrat und finster begann: »Das ist es eben: die Herrschaft gibt zu den Soldaten, wen es ihr beliebt, und dann mag die Gemeinde sehen, wie sie zurechtkommt. Die Gemeinde hat bestimmt, daß dein Sohn gehen soll; wenn du das nicht willst, dann bitte die gnädige Frau; vielleicht wird sie mir, einem einzigen Sohne, befehlen, Soldat zu werden. Ein schönes Gesetz!« sagte er gallig und trat mit einer wegwerfenden Handbewegung wieder auf seinen früheren Platz.

Der rothaarige Roman, dessen Sohn in Aussicht genommen war, hob den Kopf in die Höhe und sagte: »Ja, ja, so ist es!« und setzte sich vor Ärger sogar auf eine Stufe der Freitreppe.

Aber das waren noch nicht alle Stimmen, die auf einmal losredeten. Außer den hinten Stehenden, die von ihren Geschäften sprachen, vergaßen auch die Schwätzer ihre Pflicht und Schuldigkeit nicht.

»Ja, wirklich, rechtgläubige Gemeindeversammlung,« sagte der kleine Schidkow, Dutlows Worte wiederholend, »ihr müßt nach den Geboten des Christentums entscheiden. Nach den Geboten des Christentums müßt ihr entscheiden, liebe Brüder!«

»Man muß nach seinem Gewissen entscheiden, du mein lieber Freund«, sagte der gutmütige Chrapkow und zupfte den alten Dutlow am Schafpelz. Und das von Gerasim Kopylow Gesagte wiederholend, fuhr er fort: »Es war der Wille der Herrschaft und nicht ein Beschluß der Gemeindeversammlung.«

»Das ist richtig; so war es!« sagten andere.

»Wo ist hier ein Betrunkener, der etwas zusammenschwatzt?« erwiderte Rjesun. »Hast du mir vielleicht etwas zu trinken gegeben, oder will dein Sohn, den man betrunken auf der Landstraße aufgelesen hat, mir Trunksucht vorwerfen? Nun, Brüder, wir müssen zu einer Entscheidung kommen. Wenn ihr Dutlow verschonen wollt, so greift nicht nur auf die Zweisöhnigen, sondern auch auf die Einsöhnigen zurück; dann kann er uns auslachen.«

»Ein Dutlow muß Soldat werden; was ist da viel zu reden!«

»Selbstverständlich müssen zuerst die Dreisöhnigen losen«, riefen mehrere Stimmen.

»Wir müssen noch abwarten, was die gnädige Frau befiehlt; Jegor Michailowitsch hat gesagt, sie wolle einen vom Hofgesinde als Rekruten geben«, sagte jemand.

Diese Bemerkung hemmte den Streit eine kleine Weile; aber bald entbrannte er von neuem und ging wieder in persönliche Angriffe über.

Ignat, von dem Rjesun gesagt hatte, man habe ihn betrunken auf der Landstraße aufgelesen, suchte seinem Gegner nachzuweisen, daß dieser durchreisenden Zimmerleuten eine Säge gestohlen und sein Weib in betrunkenem Zustande beinah zu Tode geprügelt habe.

Rjesun erwiderte, er prügle sein Weib, wenn er nüchtern und wenn er betrunken sei, aber immer noch zu wenig, und brachte durch diese Bemerkung alle zum Lachen. Aber durch die Beschuldigung wegen der Säge fühlte er sich auf einmal beleidigt, ging näher auf Ignat zu und fragte ihn:

»Wer hat gestohlen?«

»Du hast gestohlen«, antwortete der kräftige Ignat dreist und trat seinerseits noch näher an ihn heran.

»Wer hat gestohlen? Ich meine, du!« schrie Rjesun.

»Nein, du!« schrie Ignat.

Nach der Säge kam die Rede auf ein gestohlenes Pferd, auf einen Sack Hafer, auf einen Streifen Gemüseland bei der Viehweide und auf einen Leichnam. Und die beiden Bauern warfen einander so schreckliche Dinge vor, daß, wenn auch nur der hundertste Teil dieser Beschuldigungen wahr war, sie nach dem Gesetze beide sofort hätten nach Sibirien verschickt werden müssen, wenigstens als Ansiedler.

Inzwischen hatte der alte Dutlow sich eine andere Methode der Verteidigung erwählt. Das Zanken und Schreien seines Sohnes mißfiel ihm; er hielt ihn zurück mit den Worten: »Schäme dich; hör auf, sag ich dir!« und suchte selbst zu beweisen, daß Dreisöhnige nicht nur diejenigen seien, bei denen drei Söhne zusammen lebten, sondern auch diejenigen, die schon die Besitzteilung vorgenommen hätten. Und er deutete dabei geradezu auf Starostin hin.

Starostin lächelte leise, räusperte sich, strich sich in der Manier eines reichen Bauern über den Bart und antwortete, daß das vom Willen der Herrschaft abhänge. Sein Sohn müsse es doch wohl verdient haben, wenn Befehl gegeben sei, von ihm abzusehen.

Hinsichtlich der geteilten Familien aber entkräftete auch Gerasim Dutlows Schlußfolgerungen, indem er bemerkte, die Teilung hätte verboten werden müssen, wie es unter dem alten Herrn gewesen sei; jetzt sei es zu spät, jetzt könne man nicht anfangen, Einzelstehende zum Militär zu geben.

»Haben sie die Besitzteilung etwa aus Übermut vorgenommen? Womit verdienen sie es, jetzt zugrunde gerichtet zu werden?« ließen sich mehrere solche Söhne vernehmen, die ihre Anteile bereits erhalten hatten, und die Schwätzer standen ihnen bei.

»Kauf dir doch einen Rekruten als Stellvertreter, wenn es dir nicht paßt, einen von deinen Angehörigen zu geben. Du kannst dir das ja leisten!« sagte Rjesun zu Dutlow.

Dutlow schlug ärgerlich seinen Rock zusammen und trat hinter die Bauern zurück.

»Du hast offenbar mein Geld nachgezählt«, sagte er ingrimmig. »Da ist Jegor Michailowitsch; wir wollen hören, was er uns von der gnädigen Frau bringt.«

6

In der Tat trat Jegor Michailowitsch in diesem Augenblicke aus dem Hause. Die Mützen hoben sich eine nach der andern von den Köpfen in die Höhe, und in dem Maße, in dem der Verwalter näher kam, entblößten sich einer nach dem andern graue, halb ergraute, rote, schwarze und blonde Köpfe sowie solche mit einer Glatze in der Mitte und vorn, und allmählich, ganz allmählich wurden die Stimmen stiller und schwiegen endlich ganz. Jegor Michailowitsch stand auf der Freitreppe und gab zu erkennen, daß er reden wolle. Wie Jegor Michailowitsch so mit gespreizten Beinen fest dastand, in seinem langen Rocke, die Hände etwas unbequem in dessen vordere Taschen gesteckt, die uniformartige Mütze nach vorn gerückt, und von seinem hohen Standpunkt aus auf diese zu ihm hingewandten, in die Höhe gehobenen, großenteils alten und großenteils hübschen bärtigen Köpfe hinblickte, hatte er ein ganz anderes Aussehen als vor der Gutsherrin. Er sah majestätisch aus.

»Also, Kinder, die gnädige Frau hat folgendermaßen entschieden: sie wünscht nicht, einen von den Gutsleuten hinzugeben, sondern wen ihr von euch dazu bestimmt, der soll Soldat werden. Wir müssen diesmal drei Rekruten stellen. Eigentlich nur zweieinhalb; aber den andern halben geben wir im voraus. Es ist ja ganz gleich: tun wirs jetzt nicht, so müssen wir es das nächste Mal tun.«

»Gewiß! So ist es!« sagten mehrere.

»Meiner Ansicht nach«, fuhr Jegor Michailowitsch fort, »müssen Chorjuschkin und Wassili Mitjuchin gehen; das hat schon Gott selbst so bestimmt.«

»Ganz richtig, gewiß!« wurde wieder gerufen.

»Als dritter muß entweder ein Dutlow gehen oder einer von den Zweisöhnigen. Wie denkt ihr darüber?«

»Ein Dutlow!« wurde geantwortet. »Die Dutlows sind Dreisöhnige.«

Und wieder erhob sich allmählich Zank und Geschrei, und wieder kam die Rede auf den Streifen Land an der Viehweide und auf gewisse vom herrschaftlichen Hofe gestohlene Säcke. Jegor Michailowitsch verwaltete das Gut schon seit zwanzig Jahren und war ein kluger, erfahrener Mann. Er blieb etwa eine Viertelstunde lang stehen und hörte zu; dann befahl er auf einmal, alle sollten schweigen und die Dutlows sollten losen, wer von ihnen dreien Rekrut werden müsse. Die Lose wurden aus einem Stöckchen geschnitten und in einem Hute geschüttelt; Chrapkow griff hinein und zog Iljas Los heraus. Alle wurden still.

»Ist es meins? Zeig mal her!« sagte Ilja mit stockender Stimme.

Alle schwiegen. Jegor Michailowitsch befahl, am folgenden Tage das Rekrutengeld zu bringen, sieben Kopeken von jeder Familie, erklärte, daß alles beendet sei, und entließ die Gemeindeversammlung. Die Menge setzte sich in Bewegung. Sobald die Leute um die Ecke herum waren, setzten sie die Mützen auf, und man hörte noch eine Weile das dumpfe Geräusch ihrer Stimmen und Schritte. Der Verwalter stand auf der Freitreppe und blickte den Fortgehenden nach. Als die jungen Dutlows hinter der Ecke verschwunden waren, rief er den Alten zu sich heran, der von selbst zurückgeblieben war, und ging mit ihm ins Kontor.

»Du tust mir leid, Alter,« sagte Jegor Michailowitsch, indem er sich in seinen Lehnstuhl am Tische setzte, »aber die Reihe war an dir. Wirst du einen Ersatzmann für deinen Neffen kaufen?«

Der Alte blickte, ohne zu antworten, Jegor Michailowitsch bedeutsam an.

»Es ist nicht zu ändern«, erwiderte der Verwalter auf diesen Blick.

»Ich würde gern einen kaufen, aber ich habe kein Geld dazu, Jegor Michailowitsch. Im Sommer habe ich zwei Pferde verloren. Meinen Neffen habe ich verheiratet. Es ist offenbar unser Schicksal so, zum Lohn dafür, daß wir ehrlich leben. Er hat gut reden.« (Er dachte an Rjesun.)

Jegor Michailowitsch wischte sich mit der Hand über das Gesicht und gähnte. Die Sache wurde ihm augenscheinlich bereits langweilig, auch war es Zeit zum Teetrinken.

»Ach, Alter, versündige dich nicht!« sagte er. »Sieh mal ein bißchen unter den Dielen nach; vielleicht findest du da so ein vierhundert alte Rubelchen. Ich werde dir einen wundervollen Vertreter kaufen. Es hat sich neulich einer gemeldet.«

»Im Gouvernement?« fragte Dutlow, wobei er unter »Gouvernement« die Hauptstadt des Gouvernements verstand.

»Nun, wie ists? Wirst du ihn kaufen?«

»Ich täte es gern, weiß Gott, aber . . .«

Jegor Michailowitsch unterbrach ihn in strengem Tone:

»Nun, dann höre, Alter, was ich dir sagen will: daß Ilja sich nur ja kein Leid antut! Sobald ich schicke, sei es heute, sei es morgen, bringst du ihn sofort hin. Du bringst ihn hin, und du haftest für ihn; und wenn ihm, was Gott verhüte, etwas passieren sollte, so gebe ich deinen ältesten Sohn zu den Soldaten. Hast du verstanden?«

»Aber kann nicht einer von den Zweisöhnigen genommen werden, Jegor Michailowitsch? Das ist doch unrecht«, sagte Dutlow nach kurzem Stillschweigen. »Nachdem mein Bruder bei den Soldaten gestorben ist, soll mir auch noch der Sohn genommen werden; womit habe ich soviel Leid verdient?« Er weinte beinah und machte Miene, dem Verwalter zu Füßen zu fallen.

»Na, nun geh, geh!« sagte Jegor Michailowitsch. »Es geht nun einmal nicht anders; die Ordnung verlangt es so. Auf Ilja paß auf; du haftest für ihn.«

Dutlow ging nach Hause und stieß dabei mit seinem Gehstocke, der aus einer geschälten jungen Linde gemacht nachdenklich auf die Höcker des Weges.

7

Am andern Tage frühmorgens stand vor der Freitreppe des Gesindehauses ein Reisewägelchen (in dem auch der Verwalter zu fahren pflegte), bespannt mit einem starkknochigen braunen Wallach, der aus irgendwelchem Grunde Baraban Baraban: Trommel. Anmerkung des Übersetzers. hieß. Anjutka, Polikeis älteste Tochter, stand trotz dem mit Schnee gemischten Regen und dem kalten Winde barfuß vor dem Kopfe des Wallachs und hielt, sichtlich in großer Angst, mit der einen Hand das Pferd von weitem am Zügel, während sie mit der andern auf ihrem Kopfe die grüngelbe Jacke festhielt, die in der Familie die Obliegenheit einer Bettdecke, eines Pelzes, einer Kopfbedeckung, eines Teppichs, eines Überziehers für Polikei und noch viele andere Obliegenheiten versah. Im »Winkel« herrschte lebhafte Tätigkeit. Es war noch dunkel; das Morgenlicht des regnerischen Tages drang erst ganz schwach durch das stellenweise mit Papier verklebte Fenster. Akulina hatte für eine Weile das Kochen im Ofen und die Wartung der Kinder unterbrochen (von denen die kleineren noch nicht aufgestanden waren und froren, da ihnen ihre Decke genommen war, um als Kleidungsstück zu dienen, und sie dafür nur das Kopftuch der Mutter bekommen hatten) und war damit beschäftigt, ihren Mann zur Reise auszurüsten. Er bekam ein reines Hemd. Die Stiefel, die, wie man sich ausdrückt, hungrig die Mäuler aufsperrten, machten ihr besondere Sorge. Zuerst zog sie sich ihre dicken, wollenen Strümpfe aus, das einzige Paar, das sie besaß, und gab sie ihrem Manne, und dann verfertigte sie aus einer Filzdecke, die im Pferdestall »umhergelegen« hatte und von Polikei vor zwei Tagen nach Hause gebracht worden war, geschickt ein Paar Einlegesohlen, um die Löcher zu verstopfen und Polikeis Füße vor der Nässe zu schützen. Polikei selbst saß mit den Beinen auf dem Bett und war damit beschäftigt, seine Leibbinde so zurechtzudrehen, daß sie nicht mehr das Aussehen eines schmutzigen Strickes hatte. Dem lispelnden Mädchen hatte die Mutter den Pelz angezogen, in dem es sich, obwohl er ihm hoch über den Kopf reichte, doch mit den Füßen verwickelte, und es so zu Nikita geschickt, mit der Bitte, er möchte doch Polikei seine Mütze leihen. Zur Vergrößerung der Unruhe trugen noch die Gutsleute bei, die herbeikamen und Polikei baten, ihnen in der Stadt dies und jenes zu kaufen: die eine wollte Nadeln, eine andere Tee, eine andere Baumöl, ein anderer ein bißchen Tabak und die Tischlerfrau Zucker. Diese hatte schon den Samowar aufgestellt und brachte, um Polikei freundlich zu stimmen, ihm in einem kleinen Krug ein Getränk, das sie Tee nannte. Obgleich Nikita seine Mütze nicht hergab und Polikei sich genötigt sah, seine eigene in Ordnung zu bringen, das heißt die hervorgedrungene, heraushängende Watte hineinzustopfen und das Loch mit der roßärztlichen Nadel zuzunähen, und obgleich die Stiefel mit den aus der Filzdecke hergestellten Einlegesohlen zuerst nicht an die Füße gehen wollten, und obgleich Anjutka ganz erfroren war und Baraban nicht mehr halten konnte und Maschka im Pelz an ihre Stelle treten mußte und dann Maschka den Pelz ausziehen und Akulina selbst hingehen und das Pferd halten mußte: so endete doch alles damit, daß Polikei die ganze Garderobe seiner Familie angezogen hatte und nur die Jacke und die Pantoffeln daließ. So ausgerüstet, stieg er auf den Wagen, schlug die Rockflügel übereinander, schob das Heu zurecht, schlug noch einmal die Rockflügel übereinander, brachte die Zügel in Ordnung, schlug die Rockflügel noch fester übereinander, wie das sehr solide Leute tun, und trieb das Pferd an.

Sein kleiner Sohn Michail kam auf die Freitreppe herausgelaufen und bat, ein Stückchen mitfahren zu dürfen. Auch die lispelnde Maschka wollte gern mit: es sei ihr auch ohne Pelz warm. So hielt denn Polikei den Wallach wieder an, lächelte in seiner schwächlichen Weise, und Akulina setzte ihm die Kinder hinauf. Dann bog sie sich zu ihm und flüsterte ihm zu, er solle an seinen Eid denken und unterwegs nichts trinken. Polikei nahm die Kinder bis zur Schmiede mit; dort setzte er sie ab, wickelte sich wieder ein, rückte sich die Mütze wieder zurecht und fuhr allein in einem kleinen, ruhigen Trabe weiter; bei jedem Stoße des Wagens zitterten seine Backen und klapperten seine Füße gegen den Wagenkasten. Maschka und Michail liefen mit solcher Schnelligkeit und mit solchem Gekreisch barfuß den glitschrigen Berg hinab nach Hause, daß ein Hund, der sich vom Dorfe nach dem Wirtschaftshofe verlaufen hatte, bei ihrem Anblick plötzlich den Schwanz zwischen die Beine nahm und mit Gebell nach Hause rannte, wodurch das Gekreisch der Sprößlinge Polikeis noch erheblich gesteigert wurde.

Das Wetter war garstig; der Wind schnitt ins Gesicht, und durcheinander peitschten Schnee und Regen und Graupeln Polikeis Gesicht und seine nackten Hände, die er mit den kalten Zügeln in den Ärmeln seines Rockes verbarg, und den Lederbezug des Kumtes und den alten Kopf Barabans, der die Ohren andrückte und mit den Augen blinzelte.

Dann hörte das schlechte Wetter auf einmal auf, und es wurde für eine Weile hell; die bläulichen Schneewolken wurden deutlich sichtbar, und es schien, als wolle die Sonne hindurchblicken, aber unschlüssig und unfroh wie Polikeis eigenes Lächeln. Trotzdem war Polikei in angenehme Gedanken versunken. Er, den man zur Ansiedlung hatte nach Sibirien verschicken wollen, er, den man unter die Soldaten zu stecken gedroht hatte, er, den jedermann schimpfte und schlug, wer nicht gerade zu faul dazu war, er, den man immer dahin stieß, wo es am schlechtesten war, er fuhr jetzt hin, um eine Geldsumme in Empfang zu nehmen, eine große Geldsumme, und die gnädige Frau schenkte ihm Vertrauen, und er fuhr mit dem Wägelchen des Verwalters und mit Baraban, mit dem die gnädige Frau selbst manchmal fuhr; und er fuhr wie so ein Hausmeister mit ledernen Kumtriemen und Zügeln. Und Polikei setzte sich gerader zurecht, brachte die Watte in seiner Mütze in Ordnung und schlug noch einmal seine Rockflügel übereinander. Wenn er übrigens dachte, daß er vollständig einem wohlhabenden Hausmeister gliche, so irrte er sich. Allerdings weiß jeder, daß auch Händler, die zehntausend Rubel schwer sind, in einem solchen Wägelchen mit ledernem Geschirr fahren; aber es ist dasselbe und doch auch etwas anderes. Da fährt so ein Mann mit großem Barte, in einem langen blauen oder schwarzen Rock, mit einem wohlgenährten Pferde und sitzt allein in seinem Wagen: man braucht nur einen Blick hinzuwerfen, ob das Pferd und er selbst wohlgenährt sind, und wie er dasitzt, und wie das Pferd angespannt und der Wagen beschient ist, und was er selbst für einen Gurt um hat, dann weiß man auch sofort, ob es sich bei seinen Geschäften um Tausende oder um Hunderte von Rubeln handelt. Sobald ein erfahrener Mann Polikei und seine Hände und sein Gesicht und den Bart, den er sich erst seit kurzem hatte stehen lassen, und seine Leibbinde und das ohne Sorgfalt in den Wagenkasten geworfene Heu und den mageren Baraban und die abgescheuerten Radschienen aus der Nähe betrachtete, mußte er sofort erkennen, daß da ein geringer Knecht fuhr und kein Kaufmann, kein Viehhändler, kein Hausmeister, niemand, der tausend oder hundert oder auch nur zehn Rubel hinter sich hatte. Aber Polikei war anderer Meinung; er war in einem Irrtum befangen, in einem angenehmen Irrtum. Er sagte sich: Bald werde ich anderthalbtausend Rubel an meiner Brust stecken haben. Wenn ich will, kann ich Baraban, statt nach Hause, nach Odessa zu wenden und fahren, wohin mich Gott führt. Aber ich werde das nicht tun, sondern das Geld getreulich der gnädigen Frau überbringen und dazu sagen, daß ich schon ganz andere Geldsummen transportiert habe. Als er zu einem Wirtshause kam, zog Baraban den linken Zügel an und wollte anhalten und einkehren; aber obgleich Polikei Geld bei sich hatte, das nämlich, das ihm zu den Einkäufen mitgegeben war, versetzte er dem Pferde einen klatschenden Hieb mit der Peitsche und fuhr vorbei. Dasselbe tat er auch beim zweiten Wirtshause, und um Mittag stieg er von seinem Wagen, öffnete das Tor des Kaufmannshauses, wo alle Leute der gnädigen Frau einzukehren pflegten, führte den Wagen hinein, spannte aus, brachte das Pferd an die Krippe mit Heu, aß mit den Leuten des Kaufmanns zu Mittag, wobei er nicht unterließ zu erzählen, in welch einer wichtigen Angelegenheit er gekommen sei, und ging dann, mit dem Brief in der Mütze, zum Gärtner. Der Gärtner, der Polikei kannte, las den Brief und fragte mit sichtlichem Zweifel, ob ihm wirklich befohlen sei, das Geld zu holen. Polikei wollte den Beleidigten spielen, brachte es aber nicht fertig, sondern lächelte nur in der ihm eigenen Art. Der Gärtner las den Brief noch einmal durch und händigte ihm das Geld ein. Nachdem Polikei das Geld empfangen hatte, steckte er es sich vorn an der Brust unter das Hemd und begab sich wieder nach seinem Ausspann. Kein Bierhaus und keine Branntweinschänke, nichts konnte ihn verführen. Er empfand in seinem ganzen Leibe eine angenehme Aufregung und blieb mehr als einmal vor den Läden mit verlockenden Waren, Stiefeln, Röcken, Mützen, Kattun und Viktualien stehen. Und wenn er so ein Weilchen gestanden hatte, so ging er weiter mit dem angenehmen Gefühl: ich kann das alles kaufen; aber ich tue es nicht. Er ging auf den Basar, um einzukaufen, wozu er Aufträge hatte, brachte alles zusammen und handelte nun um einen gegerbten Pelz, für den der Kaufmann fünfundzwanzig Rubel verlangte. Der Verkäufer, der seinen Kunden musterte, glaubte nicht recht, daß dieser imstande sei, den Pelz zu kaufen; aber Polikei deutete auf seine Brust und sagte, er könne seinen ganzen Laden kaufen, wenn er wolle; er verlangte, den Pelz anzuprobieren, drückte und streichelte ihn, blies in das Fell hinein und nahm sogar schon dessen Geruch an; endlich aber zog er ihn mit einem Seufzer wieder aus. »Der Preis sagt mir nicht zu; wenn Sie ihn für fünfzehn Rubel ließen...« sagte er. Der Kaufmann warf den Pelz ärgerlich über den Tisch, Polikei aber ging hinaus und begab sich in vergnügter Stimmung nach seinem Quartier. Nachdem er zu Abend gegessen, Baraban getränkt und mit Hafer versorgt hatte, stieg er auf den Ofen, zog den Brief heraus, betrachtete ihn lange und bat den des Lesens kundigen Hausknecht, ihm die Adresse und die Worte: Einliegend eintausendsechshundertundsiebzehn Rubel in Banknoten vorzulesen. Der Umschlag war aus gewöhnlichem Papier gemacht; die Siegel waren von braunem Siegellack und zeigten einen Anker, ein großes in der Mitte und vier an den Ecken; an der einen Seite war etwas Siegellack verträufelt. Polikei besah und studierte das alles und befühlte sogar die scharfen Kanten der Banknoten. Er empfand eine Art von kindlichem Vergnügen in dem Bewußtsein, daß er eine solche Geldsumme in den Händen habe. Er schob den Brief in das Loch seiner Mütze, legte die Mütze unter seinen Kopf und schlief ein; aber in der Nacht erwachte er mehrmals und fühlte nach dem Briefe. Und jedesmal, wenn er den Brief an seinem Platze fand, hatte er eine angenehme Empfindung bei dem Bewußtsein, daß er, der vielgeschmähte, vielgekränkte Polikei, da nun eine solche Geldsumme bringe und getreulich abliefern werde, so getreulich wie nicht einmal der Verwalter selbst.

8

Um Mitternacht wurden die Leute des Kaufmanns und Polikei durch ein Klopfen am Tore und durch das Geschrei von Bauern geweckt. Es waren die Rekruten, die aus Pokrowskoje gebracht wurden. Die Ankömmlinge waren im ganzen zehn: Chorjuschkin, Mitjuchin und Ilja (Dutlows Neffe), zwei Ersatzmänner, der Schulze, der alte Dutlow und drei andere Begleiter. In der Stube brannte ein Nachtlicht; die Köchin schlief auf der Bank unter den Heiligenbildern. Sie sprang auf und zündete eine Kerze an. Polikei war ebenfalls aufgewacht, beugte sich über den Rand des Ofens und betrachtete die eingetretenen Bauern. Alle bekreuzigten sich beim Eintreten und setzten sich dann auf die Bänke. Alle waren ganz ruhig, so daß es unmöglich war, zu erkennen, welches die Rekruten und welches die Begleiter waren. Sie begrüßten die Anwesenden, fingen an zu plaudern und verlangten etwas zu essen. Manche allerdings waren schweigsam und traurig; dafür waren andere außerordentlich heiter; sie hatten offenbar getrunken. Zu diesen gehörte auch Ilja, der bisher nie getrunken hatte.

»Nun, Kinder, wollt ihr noch Abendbrot essen oder euch gleich schlafen legen?« fragte der Schulze.

»Abendbrot essen«, antwortete Ilja, schlug seinen Pelz auseinander und setzte sich auf eine Bank. »Laß Branntwein holen!«

»Branntwein ist schon genug getrunken«, erwiderte der Schulze in leichtem Tone und wandte sich von neuem den andern zu. »Nun, dann eßt doch euer Brot, Kinder! Wozu sollen wir die Leute hier wecken?«

»Branntwein her!« sagte Ilja noch einmal, ohne jemand anzusehen, und in einem Tone, an dem man merken konnte, daß er von seinem Verlangen nicht so bald Abstand nehmen werde.

Die Bauern befolgten den Rat des Schulzen, holten sich Brot aus den Wagen, aßen, ließen sich Kwas dazu geben und legten sich hin, die einen auf den Fußboden, die andern auf den Ofen.

Ilja wiederholte immer noch von Zeit zu Zeit: »Branntwein her! Ich sage: Branntwein her!« Auf einmal erblickte er Polikei. »Polikei Iljitsch, ah! du bist hier, lieber Freund? Siehst du, ich muß Soldat werden; ich habe von meiner Mutter und von meinem Weibe für immer Abschied genommen ... Wie sie heulten! Unter die Soldaten steckt man mich. Laß doch Branntwein holen!«

»Ich habe kein Geld«, erwiderte Polikei. »Nun, so Gott will, wirst du noch für untauglich befunden,« fügte er tröstend hinzu.

»Nein, Bruder, ich bin so rein wie eine Birke; niemals habe ich eine Krankheit gehabt. Wie könnte ich untauglich sein? Einen bessern Soldaten kann der Zar gar nicht bekommen.«

Polikei erzählte ihm eine Geschichte, wie ein Bauer dem Arzte einen Fünfrubelschein gegeben hatte und dadurch freigekommen war.

Ilja rückte näher an den Ofen heran und wurde gesprächig.

»Nein, Polikei Iljitsch, jetzt ist alles zu Ende, und ich will auch selbst nicht mehr hierbleiben. Mein Onkel hat mich unter die Soldaten gesteckt. Hätte er nicht einen Ersatzmann für mich kaufen können? Aber nein, seinen Sohn mochte er nicht missen, und das Geld mochte er auch nicht missen. Da gibt er denn mich hin ... Jetzt will ich selbst nicht hierbleiben.« (Er sprach leise, vertraulich, unter der Einwirkung eines stillen Grames.) »Mir tut nur meine Mutter leid; wie hat die Gute gejammert! Und auch meine Frau tut mir leid; der haben sie nun um nichts und wieder nichts ihr Leben zerstört; jetzt wird sie zugrunde gehen: eine Soldatenfrau, das Wort sagt genug. Hätten sie mich lieber nicht verheiratet! Warum haben sie es getan? Morgen kommen meine Mutter und meine Frau her.«

»Warum hat man euch denn so früh hergebracht?« fragte Polikei. »Erst war nichts davon zu hören und nun auf einmal...«

»Siehst du, sie fürchten, daß ich mir ein Leid antue,« antwortete Ilja lächelnd. »Sie können unbesorgt sein; ich werde nichts Derartiges tun. Ich werde auch bei den Soldaten nicht zugrunde gehen; mir tut nur meine Mutter leid. Warum haben sie mir eine Frau gegeben?« sagte er leise und traurig.

Die Tür öffnete sich und wurde dann kräftig zugeschlagen; der alte Dutlow war hereingekommen und schüttelte die Feuchtigkeit von seiner Mütze. Er trug, wie immer, so große Bastschuhe, als ob er Kähne an den Füßen hätte.

»Afanasi,« sagte er, sich bekreuzigend und sich an den Hausknecht wendend, »ist nicht eine Laterne da, damit ich den Pferden Hafer aufschütten kann?«

Dutlow sah nicht nach Ilja hin und zündete ruhig das Lichtstümpfchen an. Seine Fausthandschuhe und seine Peitsche steckten in seinem Gürtel, und dieser war sorgfältig um den Kittel herumgelegt: es machte ganz den Eindruck, als sei er mit einer Frachtfuhre gekommen; so schlicht und gewöhnlich, friedlich und mit wirtschaftlichen Dingen beschäftigt sah sein von langjähriger Arbeit zeugendes Gesicht aus.

Als Ilja seinen Onkel erblickte, verstummte er, richtete wieder die niedergeschlagenen Augen auf irgendeine Stelle der Bank und sagte, zu dem Schulzen gewendet:

»Gib mir Branntwein, Jermil! Ich will Schnaps trinken.«

Seine Stimme klang ingrimmig und düster.

»Wie kannst du jetzt Schnaps wollen!« antwortete der Schulze, aus einer Schüssel löffelnd. »Du siehst doch, daß die Leute gegessen und sich hingelegt haben; was tobst du noch?«

Das Wort »toben« brachte den jungen Menschen offenbar auf den Gedanken, zu toben.

»Schulze, es gibt ein Unglück, wenn ich keinen Schnaps kriege!«

»Versuche du ihn doch zur Vernunft zu bringen!« wandte sich der Schulze an Dutlow, der bereits die Laterne angezündet hatte, aber noch stehen geblieben war, offenbar um zu hören, was noch weiter geschehen werde, und von der Seite mitleidig nach seinem Neffen hinblickte, als wenn er über dessen kindisches Benehmen erstaunt wäre.

Ilja sagte wieder mit gesenktem Kopfe:

»Gib Schnaps her, oder es gibt ein Unglück!«

»Laß das doch sein, Ilja!« sagte der Schulze in mildem Tone. »Wirklich, laß das sein! Es ist besser so!«

Aber kaum hatte er diese Worte gesprochen, als Ilja aufsprang, mit der Faust eine Fensterscheibe zerschlug und aus vollem Halse schrie:

»Ihr wollt nicht hören; da habt ihrs!« Und er stürzte zum andern Fenster hin, um es ebenfalls zu zerschlagen.

Polikei drehte sich in einem Augenblicke zweimal um sich selbst und verbarg sich in der hintersten Ecke des Ofens, so daß er dort alle Schaben aufstörte. Der Schulze warf seinen Löffel aus der Hand und lief auf Ilja zu. Dutlow stellte langsam die Laterne hin, band seinen Gurt ab, schnalzte mit der Zunge, wiegte den Kopf hin und her und trat zu Ilja, der sich bereits mit dem Schulzen und dem Hausknecht herumbalgte, die ihn nicht an das Fenster ließen. Sie hatten ihn an den Armen gepackt und schienen ihn in ihrer Gewalt zu haben, aber sowie Ilja seinen Onkel mit dem Gurt sah, verdoppelten sich seine Kräfte; er riß sich los und trat mit rollenden Augen und geballter Faust auf Dutlow zu.

»Ich schlage dich tot; komm mir nicht zunah, du Barbar! Du hast mich zugrunde gerichtet, du und deine räuberischen Söhne; du hast mich zugrunde gerichtet! Warum hast du mir eine Frau gegeben? Komm mir nicht zu nah; ich schlage dich tot!«

Ilja war schrecklich anzusehen. Sein Gesicht war dunkelrot; die Augen fuhren wild nach allen Seiten umher; sein ganzer gesunder, jugendlicher Körper zitterte wie im Fieber. Wie es schien, war er willens und imstande, die Männer, die auf ihn zukamen, alle drei totzuschlagen.

»Deines Bruders Blut trinkst du, du Blutsauger!«

In Dutlows sonst stets so ruhigem Gesicht blitzte etwas auf. Er trat einen Schritt vorwärts.

»In Gutem hast du nicht gewollt,« sagte er plötzlich, und mit einer schnellen Bewegung (wo er nur die Energie dazu hernahm?) ergriff er seinen Neffen, warf sich mit ihm auf die Erde und begann ihm mit Hilfe des Schulzen die Arme zusammenzuschnüren. Etwa fünf Minuten lang rangen sie miteinander; endlich stand Dutlow mit Hilfe der andern auf und riß Ilias Hände von seinem Pelze los, in dem dieser sich festgekrallt hatte; nachdem er selbst aufgestanden war, hob er Ilja auf, dem die Hände auf dem Rücken zusammengebunden waren, und setzte ihn auf eine Bank in die Ecke.

»Ich habe es dir ja gesagt, daß es dir schlecht bekommen werde,« sagte er, noch atemlos von dem Ringen, und rückte sich das Hemd in der Hüfte zurecht. »Warum versündigst du dich? Wir müssen alle sterben. Schieb ihm einen Kittel unter den Kopf,« fügte er, zum Hausknecht gewendet, hinzu, »sonst wird ihm der Kopf schwellen.« Dann nahm er die Laterne, band sich statt des Gurtes einen Strick um den Leib und ging wieder hinaus zu den Pferden.

Mit zerzaustem Haar, blassem Gesicht und hochgeschobenem Hemd sah sich Ilja nach allen Seiten im Zimmer um, als wenn er sich zu besinnen suchte, wo er eigentlich sei. Der Hausknecht sammelte die Glasscherben auf und stopfte eine Pelzjacke ins Fenster, damit es nicht ziehe. Der Schulze setzte sich wieder zu seiner Schüssel.

»Ach, lieber Ilja, lieber Ilja, du tust mir leid, wirklich. Aber was ist zu machen? Sieh mal Chorjuschkin an; der ist auch verheiratet. Es ist eben nicht zu ändern.«

»Wegen meines Onkels, des Bösewichtes, gehe ich zugrunde,« wiederholte Ilja mit verbissener Wut. »Ihm tuts um sein Geld leid. Meine Mutter hat gesagt, der Verwalter habe ihn aufgefordert, einen Rekruten als Stellvertreter zu kaufen. Aber er will nicht; er sagt, das könne er nicht leisten. Und dabei haben mein Bruder und ich ihm eine Menge Geld ins Haus gebracht. Ein Bösewicht ist er!«

Dutlow trat wieder ins Zimmer, betete vor den Heiligenbildern, zog sich aus und setzte sich zu dem Schulzen. Eine Magd brachte ihm Kwas und einen Löffel. Ilja schwieg und lehnte sich mit geschlossenen Augen gegen den Kittel. Der Schulze wies schweigend auf ihn hin und schüttelte den Kopf. Dutlow machte eine bedauernde Bewegung mit der Hand.

»Tut er mir denn nicht leid? Er ist ja doch der Sohn meines leiblichen Bruders. Und nicht genug, daß er mir leid tut, hat man mich ihm auch noch als einen Bösewicht dargestellt. Seine Frau, die trotz ihrer Jugend ein listiges Weib ist, hat ihm die Vorstellung in den Kopf gesetzt, wir hätten so viel Geld, daß wir einen Ersatzmann kaufen könnten. Und da macht er mir nun Vorwürfe. Aber wie leid mir der Junge tut!...«

»Ach ja, er ist ein braver Bursche!« sagte der Schulze.

»Aber ich vermag nichts über ihn. Morgen werde ich Ignat herschicken, und seine Frau wollte auch mit herkommen.«

»Schicke sie nur her; das ist gut,« erwiderte der Schulze, stand auf und stieg auf den Ofen. »Was ist das Geld? Das Geld ist Staub.«

»Wenn unsereiner nur Geld hätte, dann würde man es gern ausgeben,« sagte ein Knecht des Kaufmanns, indem er den Kopf in die Höhe hob.

»Ach, das Geld, das Geld! Von dem kommt viele Sünde her,« sagte Dutlow. »Von nichts in der Welt kommt so viel Sünde her wie vom Gelde; das steht schon in der Bibel.«

»Ja, es steht alles geschrieben,« stimmte der Hausknecht bei. »So erzählte mir einmal einer: Es war ein Kaufmann, der hatte viel Geld zusammengescharrt und wollte nichts zurücklassen; er liebte sein Geld so, daß er es mit in den Sarg nehmen wollte. Kurz vor seinem Tode befahl er, ihm sein Kopfkissen mit in den Sarg zu legen. Man ahnte nichts und tat es. Nachher suchten die Söhne nach dem Gelde, aber es war nichts zu finden. Da kam der eine Sohn auf den Gedanken, daß das Geld gewiß in dem Kissen gewesen sei. Die Sache kam vor den Zaren, und er erlaubte, den Sarg auszugraben. Und was glaubt ihr? Man öffnete den Sarg: in dem Kissen war nichts darin, aber der Sarg war voll Schlangen; da gruben sie ihn denn wieder ein. Da sieht man, was das Geld anrichtet.«

»Ja, das ist sicher, es ist an vieler Sünde schuld,« sagte Dutlow, stand auf und betete.

Als er gebetet hatte, betrachtete er seinen Neffen. Dieser schlief. Dutlow trat zu ihm, löste ihm den Gurt, mit dem seine Arme gebunden waren, und legte sich hin. Ein anderer Bauer ging in den Stall zu den Pferden, um dort zu schlafen.

9

Sobald es still geworden war, stieg Polikei verstohlen, als ob er etwas Schlimmes begangen hätte, vom Ofen herunter und machte sich reisefertig. Es war ihm aus einem unklaren Grunde peinlich, hier mit den Rekruten zusammen zu übernachten. Die Hähne fingen schon an häufiger zu krähen. Baraban hatte seinen ganzen Hafer verzehrt und streckte den Hals begierig nach dem Tränkeimer aus. Polikei spannte ihn an und führte ihn, an den Bauernwagen vorbei, hinaus. Die Mütze mit ihrem Inhalte war unversehrt, und die Räder des Wägelchens klapperten von neuem auf der ein wenig überfrorenen Landstraße nach Pokrowskoje. Polikei fühlte sich erst dann leichter, als er aus der Stadt heraus war. Bis dahin schien es ihm immer, als werde er im nächsten Augenblicke Verfolger hinter sich hören, die ihn anhalten, ihm an Iljas Stelle die Arme auf den Rücken binden und ihn am nächsten Tage zur Gestellung bringen würden. Halb vor Kälte, halb vor Angst lief ihm ein Frostschauer über den Rücken, und er trieb fortwährend Baraban zu schärferem Laufe an. Der erste Mensch, der ihm begegnete, war ein Pope Eine solche Begegnung gilt als übles Vorzeichen. Anmerkung des Übersetzers. mit einem gebückt gehenden Knechte. Es wurde ihm noch unbehaglicher zumute. Aber als er vor die Stadt gekommen war, verging diese Angst allmählich. Baraban ging nun im Schritt; der vor ihnen liegende Weg war jetzt besser zu sehen; Polikei nahm die Mütze ab und fühlte nach dem Gelde. Ob ich es vorn in die Brust stecke? dachte er; dazu müßte ich mir erst den Gurt aufmachen. Ich will noch den Abhang hinunterfahren; da will ich absteigen und mich zurechtmachen. Die Mütze ist oben fest zugenäht, und unten kann aus dem Futter nichts herausfallen. Und bis ich zu Hause bin, nehme ich dann die Mütze nicht mehr ab.« Als sie an die Senkung des Weges gekommen waren, jagte Baraban aus eigenem Antriebe schnell bergab, und Polikei, der, ebenso wie Baraban, so schnell wie möglich zu Hause zu sein wünschte, hinderte ihn daran nicht. Alles war in Ordnung; wenigstens meinte er es, und gab sich angenehmen Träumereien hin über die Dankbarkeit der Gutsherrin, über die fünf Rubel, die sie ihm geben werde, und über die Freude seiner Angehörigen. Er nahm die Mütze ab, fühlte noch einmal nach dem Briefe, zog sich die Mütze tiefer auf den Kopf und lächelte. Der Plüsch an der Mütze war mürbe, und gerade dadurch, daß Akulina ihn tags zuvor an der zerrissenen Stelle sorgsam zusammengenäht hatte, war er am andern Ende locker geworden, und gerade die Bewegung, durch die Polikei in der Dunkelheit, nachdem er die Mütze abgenommen hatte, den Brief tiefer unter die Watte zu schieben glaubte, gerade diese Bewegung brachte die Mütze zum Aufreißen und schob den Brief mit der einen Ecke aus dem Plüsch heraus.

Es begann hell zu werden, und Polikei, der die ganze Nacht nicht geschlafen hatte, schlummerte ein. Nachdem er die Mütze tief auf den Kopf gezogen und dadurch den Brief noch mehr herausgedrückt hatte, begann er im Schlafe mit dem Kopfe gegen die Seitenstange zu schlagen. Er erwachte erst, als er schon beinah zu Hause war. Seine erste Bewegung war, nach der Mütze zu greifen; sie saß fest auf dem Kopfe, und er nahm sie gar nicht ab, überzeugt, daß der Brief darin war. Er trieb Baraban an, brachte das Heu in Ordnung, nahm wieder das Aussehen eines Hausmeisters an und rasselte, mit wichtiger Miene um sich blickend, auf das Gutsgebäude zu.

Da war die Küche; da war das Gesindehaus; da trug die Tischlerfrau Leinwand; da war das Kontor; da war das herrschaftliche Haus. »Dort,« sagte er zu sich, »wird in wenigen Augenblicken Polikei zeigen, daß er ein zuverlässiger, ehrlicher Mensch ist, daß ungerechten Verleumdungen schließlich ein jeder ausgesetzt ist; und die gnädige Frau wird sagen: »Ich danke dir, Polikei; hier hast du drei...« vielleicht werden es auch fünf, vielleicht auch zehn Rubel, und sie läßt mir auch noch Tee bringen und vielleicht auch ein Schnäpschen. Das würde bei der Kälte nichts schaden. Für die zehn Rubel wollen wir uns morgen am Festtag etwas zugute tun, und Stiefel wollen wir kaufen, und meinetwegen will ich auch diesem Nikita seine fünftehalb Rubel zurückgeben; er fängt schon an sehr dringlich zu werden...« Als er nur noch hundert Schritte vom Hause entfernt war, schlug er noch einmal die Rockflügel übereinander, brachte seinen Gürtel und sein Halstuch in Ordnung, nahm die Mütze ab, strich sich das Haar zurecht und steckte ohne Eile die Hand unter das Futter. Die Hand bewegte sich in der Mütze hin und her, schneller, noch schneller; die andere schob sich ebenfalls hinein; das Gesicht wurde blaß, ganz blaß; die eine Hand war quer hindurchgefahren ... Polikei warf sich auf die Kniee, hielt das Pferd an, blickte im Wagen umher, in das Heu, zwischen die eingekauften Gegenstände; er befühlte seine Brust, seine Hosen: das Geld war nirgends zu finden.

»Gott im Himmel! Was ist das? Was wird daraus werden?« schrie er und griff sich in die Haare.

Aber sogleich fiel ihm ein, daß man ihn sehen könne; er wendete Baraban um, setzte die Mütze auf und jagte den erstaunten und unzufriedenen Wallach auf der Landstraße zurück.

»Nein, mit diesem Polikei zu fahren, das ist nicht zum Aushalten!« dachte Baraban jedenfalls. »Nun hat er mich ein einziges Mal im Leben rechtzeitig gefüttert und getränkt, nur um mich so unangenehm zu enttäuschen. Was habe ich mir bei der Rückfahrt nach Hause für Mühe gegeben und mich beeilt! Ich bin ganz müde geworden; aber kaum rieche ich unser Heu, da treibt er mich wieder zurück!«

»Zu, zu, du Satansvieh!« schrie Polikei unter Tränen, während er auf dem Wagen stand und Baraban mit den Zügeln im Maule riß und ihn mit der Peitsche schlug.

10

Diesen ganzen Tag über bekam niemand in Pokrowskoje Polikei zu sehen. Die Gutsherrin fragte nach dem Mittagessen mehrere Male nach ihm, und Axjutka lief zu Akulina. Aber Akulina erwiderte, er sei noch nicht gekommen; offenbar habe ihn der Kaufmann aufgehalten, oder es sei dem Pferde etwas passiert. »Es wird doch nicht lahm geworden sein?« sagte sie; »voriges Mal hat Maxim volle vierundzwanzig Stunden zur Rückfahrt gebraucht und ist den ganzen Weg zu Fuß gegangen!« Axjutka setzte sich mit pendelnden Armen wieder nach dem Hause zu in Bewegung; Akulina aber ersann immer neue Gründe für das Ausbleiben ihres Mannes und suchte sich zu beruhigen aber es gelang ihr nicht! Es war ihr schwer ums Herz, und keine Arbeit für den morgigen Festtag ging ihr recht von der Hand. Sie ängstigte sich um so mehr, da die Tischlerfrau versicherte, sie habe selbst gesehen, daß ein Mann, der gerade wie Polikei ausgesehen habe, bis nahe an das Gutshaus herangefahren sei und dann wieder umgewendet habe. Auch die Kinder warteten voll Unruhe und Ungeduld auf ihren Vater, aber aus anderen Gründen. Anjutka und Maschka waren ohne den Pelz und den Kittel zurückgeblieben, die ihnen sonst die Möglichkeit gewährt hatten, wenigstens abwechselnd auf die Straße hinauszugehen, und sahen sich daher genötigt, nur um das Haus herum bloß in ihren dünnen Kleidern mit gesteigerter Geschwindigkeit Rundläufe zu veranstalten, wodurch sie alle seine Bewohner, die hereinkamen oder hinausgingen, nicht wenig belästigten. Einmal rannte Maschka der Tischlerfrau, die Wasser trug, gegen die Beine, und obgleich sie schon im voraus losheulte, als sie an deren Knie anstieß, wurde sie doch tüchtig an den Haaren gerissen und weinte nun noch stärker. War sie aber auf ihrem Rundlauf mit niemand zusammengestoßen, so lief sie geradeswegs wieder in die Tür herein und kletterte mit Benutzung eines Zubers auf den Ofen. Nur die Gutsherrin und Akulina beunruhigten sich wirklich um Polikei selbst, die Kinder nur um das, was er auf dem Leibe hatte. Jegor Michailowitsch aber antwortete, als ihn die Gutsherrin fragte, ob Polikei noch nicht zurück sei und wo er wohl sein könne, lächelnd: »Ich weiß es nicht,« und war offenbar zufrieden damit, daß seine Vermutungen sich bestätigt hatten. »Er hätte schon zum Mittagessen wieder hier sein müssen,« fügte er bedeutsam hinzu. Diesen ganzen Tag über wußte in Pokrowskoje kein Mensch etwas von Polikei; erst später erfuhr man, daß ihn Bauern aus der Nachbarschaft gesehen hatten, wie er ohne Mütze auf der Landstraße dahinlief und jeden fragte, ob er nicht einen Brief gefunden habe. Ein anderer hatte ihn am Rande des Weges schlafend getroffen, neben dem angebundenen Pferde mit dem Wagen. »Ich dachte noch,« erzählte dieser, »es müsse wohl ein Betrunkener sein, und das Pferd müsse wohl zwei Tage lang nichts zu fressen und zu saufen bekommen haben; so eingefallen sahen seine Flanken aus.« Akulina schlief die ganze Nacht nicht, sondern horchte fortwährend; aber auch in der Nacht kam Polikei nicht. Wenn sie nicht allein gewesen wäre, sondern einen Koch und ein Dienstmädchen gehabt hätte, so würde sie noch unglücklicher gewesen sein; aber als die Hähne zum dritten Mal krähten und die Tischlerfrau sich erhoben hatte, da mußte auch Akulina aufstehen und sich an den Ofen machen. Es war Feiertag: ehe es Tag wurde, mußte sie das Brot herausnehmen, Kwas machen, Plätzchen backen, die Kuh melken, die Kleider und Hemden plätten, die Kinder waschen, Wasser holen und die Nachbarin hindern, den ganzen Ofen mit Beschlag zu belegen. Akulina nahm, ununterbrochen dazwischen horchend, diese Arbeiten in Angriff. Schon wurde es hell, schon läutete es von der Kirche, schon standen die Kinder auf, aber Polikei war immer noch nicht da. Am Abend vorher hatte der Winter seinen Einzug gehalten und die Felder, die Landstraße und die Dächer ungleichmäßig mit Schnee bedeckt; und heute war, gleichsam dem Festtage zu Ehren, schönes, sonniges, kaltes Wetter, so daß man weit sehen und hören konnte. Aber Akulina, die am Ofen stand und den Kopf in die Öffnung hineingesteckt hatte, war so mit dem Backen der Plätzchen beschäftigt, daß sie nicht hörte, wie Polikei angefahren kam, und erst durch das Geschrei der Kinder erfuhr, daß ihr Mann wieder da war. Anjutka, als die älteste, hatte sich selbst den Kopf mit Talg pomadisiert und sich selbst angezogen. Sie hatte ein neues, rosa, noch nicht zerknittertes Kattunkleid an, ein Geschenk der gnädigen Frau, das ihr wie Baumrinde vom Leibe abstand und den Nachbarn in die Augen stach; ihr Haar glänzte, sie hatte ein halbes Lichtstümpfchen daraufgeschmiert; die Schuhe waren zwar nicht neu, aber fein. Maschka steckte noch in der alten Jacke und im Schmutz, und Anjutka ließ sie nicht nahe an sich heran, um von ihr nicht beschmutzt zu werden. Maschka war draußen, als der Vater, mit einem kleinen Mattensack auf dem Wagen, angefahren kam. »Vater is sekommen!« kreischte sie und stürzte Hals über Kopf durch die Tür herein an Anjutka vorbei und beschmutzte diese. Anjutka begann sogleich, ohne sich vor weiterer Beschmutzung zu scheuen, Maschka zu prügeln, Akulina aber konnte im Augenblick nicht von ihrer Arbeit abkommen. Sie rief nur den Kindern zu: »Na wartet! Ich werde euch alle beide durchhauen!« und richtete die Augen nach der Tür hin. Polikei trat mit dem Mattensack in den Flur und ging sofort hindurch in seinen Winkel. Es kam seiner Frau so vor, als ob er blaß sei und sein Gesicht einen halb weinerlichen, halb lächelnden Ausdruck zeigte; aber sie hatte keine Zeit, das genauer festzustellen.

»Nun, Polikei, hast du alles glücklich erledigt?« fragte sie vom Ofen her.

Polikei murmelte etwas, was sie nicht verstand.

»Was sagst du?« rief sie. »Bist du schon bei der gnädigen Frau gewesen?«

Polikei saß in seinem Winkel auf dem Bette, blickte scheu rings um sich und lächelte in seiner schuldbewußten, tieftraurigen Art. Lange Zeit gab er keine Antwort.

»Nun, Polikei? Warum antwortest du nicht?« rief Akulina.

»Ich habe der gnädigen Frau das Geld eingehändigt, Akulina. Sie hat sich sehr bedankt,« erwiderte er nun schnell und begann sich noch unruhiger umzusehen und zu lächeln. Zwei Gegenstände zogen seine unruhigen, fieberhaft geöffneten Augen besonders auf sich: der an die Wiege gebundene Strick und das kleinste Kind. Er trat an die Wiege und band mit seinen schlanken Fingern hastig den Knoten des Strickes auf. Dann hafteten seine Augen auf dem Kinde; aber in diesem Augenblicke trat Akulina mit den Plätzchen auf einem Brett in den Winkel. Polikei verbarg den Strick schnell an der Brust unter dem Hemd und setzte sich auf das Bett.

»Was ist dir, Polikei? Du bist ja ganz verstört?« sagte Akulina.

»Ich habe nicht geschlafen,« antwortete er.

Auf einmal huschte etwas draußen vor dem Fenster vorbei, und einen Augenblick darauf kam Axjutka, das Mädchen von oben, wie ein Pfeil hereingeflogen.

»Die gnädige Frau hat befohlen, Polikei Iljitsch soll augenblicklich zu ihr kommen,« bestellte sie. »Augenblicklich, hat Awdotja Nikolajewna befohlen ... augenblicklich.«

Polikei sah zuerst Akulina und dann das Mädchen an.

»Ich komme sofort! Was will sie denn noch?« sagte er in so harmlosem Tone, daß Akulina sich in dem Gedanken beruhigte: Vielleicht will sie ihn belohnen. »Bestell nur, ich komme sofort.«

Er stand auf und ging hinaus; Akulina aber nahm eine Wanne, stellte sie auf die Bank, goß Wasser aus den an der Tür stehenden Eimer und aus dem im Ofen siedenden Kessel hinein, streifte die Ärmel auf und probierte das Wasser.

»Komm, Maschka, ich will dich baden!«

Das lispelnde Mädchen fing störrisch an zu brüllen.

»Komm her, du Schmutzliese, ich werde dir ein reines Hemd anziehen. Na, sträube dich nicht erst lange! Komm, ich muß deine Schwester auch noch baden.«

Unterdessen ging Polikei nicht hinter dem Mädchen von oben zur gnädigen Frau, sondern ganz woanders hin. Im Flur an der Wand war eine steile Leiter, die auf den Boden führte. Als Polikei auf den Flur hinauskam, sah er sich um, und als er niemand erblickte, stieg er, sich duckend und beinah laufend, behend und schnell diese Leiter hinauf.

»Was hat das nur zu bedeuten, daß Polikei nicht erscheint?« sagte die gnädige Frau ungeduldig zu Dunjascha, die ihr das Haar kämmte. »Wo bleibt er nur? Warum kommt er nicht?«

Axjutka flog wieder auf den Wirtschaftshof, stürmte wieder auf den Flur und bestellte, Polikei solle zur gnädigen Frau kommen.

»Er ist ja schon längst hingegangen,« antwortete Akulina, die inzwischen Maschka gebadet hatte und in diesem Augenblick gerade den Säugling, einen Knaben, in die Wanne setzte und ihm trotz seinem Schreien seine spärlichen Härchen benetzte. Der Knabe schrie, schnitt ein Gesicht und suchte mit seinen kraftlosen Ärmchen irgend etwas zu greifen. Akulina stützte mit der einen gespreizten Hand seinen rundlichen, ganz mit Grübchen übersäten, weichen Rücken und wusch das Kind mit der andern.

»Sieh doch mal zu, ob er nicht irgendwo eingeschlafen ist,« sagte sie, unruhig umherblickend.

Unterdessen stieg die Tischlerfrau ungekämmt, mit offenstehender Brust, ihre Röcke anhebend, auf den Boden hinauf, um ein ihr gehörendes, dort zum Trocknen aufgehängtes Kleidungsstück zu holen. Plötzlich erscholl auf dem Boden ein Schreckensschrei, und die Tischlerfrau kletterte wie eine Wahnsinnige mit geschlossenen Augen auf allen vieren rückwärts, schnell wie eine Katze, die Leiter hinab.

»Polikei!« schrie sie.

Akulina ließ das Kind aus den Händen fallen.

»Er hat sich aufgehängt!« heulte die Tischlerfrau.

Akulina lief auf den Flur hinaus, ohne zu beachten, daß das Kind wie ein kleines Knäuel hintenüber rollte und, die Beinchen in die Höhe streckend, mit dem Kopfe unter das Wasser tauchte.

»An einem Balken . . . hängt er . . .« schrie die Tischlerfrau, hielt aber inne, als sie Akulina erblickte.

Akulina stürzte zur Leiter, lief, ehe sie jemand zurückhalten konnte, hinauf, stürzte mit einem furchtbaren Aufschrei wie tot auf die Leiter und hätte sich zu Tode gefallen, wenn nicht die von allen Seiten herausstürzenden Leute sie noch rechtzeitig aufgefangen hätten.

11

Einige Minuten lang war es unmöglich, in dem allgemeinen Wirrwarr etwas zu verstehen. Eine Menge Menschen war zusammengelaufen; alle schrien, alle redeten, die Kinder und die alten Frauen weinten. Akulina lag ohne Bewußtsein. Endlich stiegen zwei Männer, der Tischler und der Verwalter, der herbeigelaufen war, hinauf, und die Tischlerfrau erzählte zum zwanzigsten Male: »Ohne an irgend etwas zu denken, ging ich hinauf, um meine Pelerine zu holen; da sehe ich mich so um und erblicke einen Mann; ich sehe näher hin: neben ihm liegt eine Mütze mit herausgestülptem Futter. Da sehe ich: seine Beine baumeln. Mich überlief es ganz kalt. Das ist ja doch keine Kleinigkeit: ein Mensch hat sich erhängt, und gerade ich muß das zuerst sehen! Wie ich wieder nach unten gekommen bin, dafür habe ich selbst keine Erinnerung. Es ist geradezu ein Wunder, wie mich Gott gerettet hat. Wirklich, Gott hat sich meiner erbarmt. Das ist ja doch keine Kleinigkeit! Eine so steile Leiter, und diese Höhe! Ich hätte mich können zu Tode fallen!«

Die Männer, die hinaufgestiegen waren, erzählten dasselbe. Polikei hing an einem Balken, nur in Hemd und Hosen, an demselben Strick, den er von der Wiege abgebunden hatte. Seine Mütze lag umgestülpt ebendort. Den Pelz und den Kittel hatte er ausgezogen und in guter Ordnung daneben zusammengelegt. Die Beine reichten bis zum Fußboden, Anzeichen des Lebens waren nicht mehr vorhanden. Akulina kam wieder zu sich und wollte wieder nach der Leiter hinstürzen, aber man ließ sie nicht hin.

»Mamaßen, uns tleiner Semjon hat sich versluckt!« rief auf einmal das lispelnde Mädchen aus dem Winkel mit ihrer kreischenden Stimme. Akulina riß sich wieder los und lief in den Winkel hinein. Das Kind lag, ohne sich zu rühren, rücklings in der Wanne, und seine Beinchen bewegten sich nicht. Akulina nahm es heraus; aber es atmete nicht und rührte sich nicht. Akulina warf es auf das Bett, stützte sich mit den Armen auf und brach in ein so lautes, helles, furchtbares Gelächter aus, daß Maschka, die zunächst ebenfalls losgelacht hatte, sich die Ohren zuhielt und weinend auf den Flur hinauslief. Die Leute drängten sich mit Geschrei und Geheul in den Winkel hinein. Sie trugen das Kind hinaus und begannen es zu reiben, aber alles war vergeblich. Akulina wälzte sich auf dem Bette umher und lachte, lachte so, daß es allen, die dieses Lachen hörten, unheimlich wurde. Erst jetzt, wenn man diesen buntscheckigen Haufen von Männern und Frauen, alten Leuten und Kindern sah, die sich im Flur drängten, konnte man sich eine Vorstellung davon machen, wie viele und wie vielerlei Leute in diesem Gesindehause wohnten. Alle waren in hastiger Bewegung, alle redeten, viele weinten, und niemand tat etwas. Die Tischlerfrau fand immer noch Leute, die ihre Geschichte noch nicht gehört hatten, und erzählte immer von neuem, wie ihr weiches Herz durch den unerwarteten Anblick erschüttert worden sei und wie Gott sie vor dem Fall die Leiter hinunter gerettet habe. Der alte Büfettdiener, der in einer Frauenjacke erschienen war, erzählte, wie zu Lebzeiten des seligen Herrn eine Frau sich im Teiche ertränkt hatte. Der Verwalter schickte Boten zum Landkommissar und zum Geistlichen und stellte eine Wache hin. Axjutka, das Mädchen von oben, blickte mit weit aufgerissenen Augen immer nach der Öffnung, die zum Boden führte, und konnte, obwohl sie da nichts sah, sich doch nicht davon losreißen und zur gnädigen Frau gehen. Agafja Michailowna, die bei der alten gnädigen Frau Stubenmädchen gewesen war, bat um Tee zur Beruhigung ihrer Nerven und weinte. Die alte Anna legte mit ihren erfahrenen, dicken, mit Baumöl befeuchteten Händen den kleinen Toten auf das Tischchen. Die Frauen standen um Akulina herum und sahen sie schweigend an. Die Kinder drückten sich in die Ecken, blickten nach ihrer Mutter hin und begannen zu heulen; dann verstummten sie, schauten sie wieder an und drückten sich noch tiefer hinein. Knaben und Männer drängten sich an der Freitreppe umher und blickten mit erschrockenen Gesichtern durch die Tür und das Fenster, ohne etwas zu sehen und zu verstehen, und fragten einander, was denn eigentlich los sei. Einer sagte, der Tischler habe seiner Frau mit dem Beil ein Bein abgehauen. Ein anderer erzählte, die Waschfrau habe Drillinge geboren. Ein dritter berichtete, die Katze des Kochs sei toll geworden und habe die Leute gebissen. Aber allmählich sickerte die Wahrheit durch und gelangte endlich auch zu den Ohren der gnädigen Frau. Und es scheint, daß man nicht einmal verstand, sie angemessen vorzubereiten: der gefühllose Jegor meldete es ihr geradezu und erschütterte das Nervensystem der gnädigen Frau dermaßen, daß sie sich lange Zeit nicht erholen konnte. Die Menge hatte schon begonnen sich zu beruhigen; die Tischlerfrau hatte den Samowar aufgestellt und kochte Tee; infolgedessen hielten die Hinzugekommenen, da sie keine Einladung erhielten, es für unpassend, länger dazubleiben. Die Jungen begannen sich an der Freitreppe zu balgen; alle Leute wußten schon, was vorgefallen war, und fingen schon an, sich zu bekreuzigen und auseinanderzugehen, als es auf einmal hieß: »Die gnädige Frau, die gnädige Frau!« und alle sich wieder zusammendrängten, um ihr Platz zu machen; zugleich aber wollten sie alle sehen, was sie tun werde. Blaß und verweint trat die gnädige Frau über die Schwelle in den Flur und ging in Akulinas Winkel. Kopf an Kopf drängte sich die Menge an der Tür zusammen und blickte herein. Eine schwangere Frau quetschten sie dabei so, daß sie aufkreischte; aber sogleich benutzte sie eben diesen Umstand dazu, einen Platz ganz vorn zu ergattern. Und wie hätte sich auch jemand das Vergnügen versagen können, die gnädige Frau in Akulinas Winkel zu beobachten? Das war für die Gutsleute ganz dasselbe wie das bengalische Feuer am Schluß einer Vorstellung. Ein schöner Anblick ist es, wenn das bengalische Feuer angezündet wird, und ein schöner Anblick war es auch, als die gnädige Frau in Seide und Spitzen in Akulinas Winkel kam. Sie trat zu Akulina heran und ergriff sie bei der Hand, aber Akulina entriß sie ihr. Die bejahrten Gutsleute schüttelten mißbilligend die Köpfe.

»Akulina!« sagte die gnädige Frau, »du hast Kinder; schone dich für sie!«

Akulina lachte und stand auf.

»Meine Kinder sind ganz von Silber, ganz von Silber ... Papiergeld nehme ich nicht«, murmelte sie hastig. »Ich habe zu Polikei gesagt: Nimm kein Papiergeld; sie schmieren dich damit an; mit Teer haben sie ihn beschmiert. Mit Teer und Seife, gnädige Frau. Jede Art Krätze wird dadurch sofort beseitigt.« Und sie lachte wieder, noch ärger als vorher.

Die gnädige Frau wandte sich um und befahl, den Heilgehilfen mit einem Senfpflaster zu rufen. »Gebt kaltes Wasser her!« sagte sie und sah sich selbst nach Wasser um; aber als sie das tote Kind erblickte, vor dem die alte Anna stand, wandte sich die gnädige Frau ab, und alle sahen, wie sie ihr Gesicht mit dem Taschentuch verhüllte und weinte. Die alte Anna aber (leider sah es die gnädige Frau nicht; sie hätte es zu schätzen gewußt, und für sie wurde das ja auch alles veranstaltet) bedeckte das Kind mit einem Stück Leinwand, legte ihm die Händchen mit ihrer dicken, geschickten Hand zurecht und schüttelte so mit dem Kopf, zog so die Lippen auseinander, kniff so gefühlvoll die Augen zusammen und seufzte so tief, daß jedermann sehen konnte, was sie für ein gutes Herz hatte. Aber die gnädige Frau sah das nicht und konnte überhaupt nichts sehen. Sie schluchzte, bekam einen nervösen Anfall, und man mußte sie unter die Arme fassen und auf den Flur und in derselben Weise nach Hause führen. »Viel haben wir von ihr nicht zu sehen bekommen«, dachten viele und begannen auseinanderzugehen. Akulina lachte immer noch und redete Unsinn. Man brachte sie in ein anderes Zimmer, ließ ihr zur Ader, legte ihr mehrere Senfpflaster auf und machte ihr Eisumschläge auf den Kopf; aber sie blieb in gleicher Weise verständnislos und weinte nicht, sondern lachte; und sie redete und tat dabei solche Dinge, daß die gutherzigen Menschen, die sie pflegten, sich nicht halten konnten und ebenfalls lachten.

12

Das war kein vergnügter Festtag auf dem Gute von Pokrowskoje. Trotz dem schönen Wetter gingen die Leute nicht spazieren; die Mädchen versammelten sich nicht, um Lieder zu singen; die jungen Fabrikarbeiter, die aus der Stadt gekommen waren, ließen weder die Harmonika noch die Balalaika erklingen und spielten keine Spiele mit den Mädchen. Alle saßen in ihren Wohnungen, und wenn sie miteinander redeten, so redeten sie leise, als wenn ein böser Geist zugegen wäre und sie hören könnte. Bei Tage ging das alles noch an; aber am Abend, als es dunkel wurde, fingen die Hunde an zu heulen, und zum Unglück erhob sich auch noch ein Wind und heulte in den Schornsteinen, und alle Insassen der Gesindewohnungen befiel eine solche Furcht, daß jeder, der Kerzen in seinem Besitz hatte, sie vor dem Heiligenbilde anzündete. Wer allein in seinem Winkel war, ging zu den Nachbarn und bat, bei ihnen in Gesellschaft von mehr Menschen die Nacht zubringen zu dürfen; wer aber hinausgehen mußte in den Viehstall, der tat das nicht und hatte kein Mitleid mit dem Vieh, das er diese Nacht ohne Futter ließ. Und das geweihte Wasser, das ein jeder in einem Arzneifläschchen aufbewahrte, wurde in dieser Nacht ganz und gar aufgebraucht. Viele hörten sogar, wie in dieser Nacht jemand immer mit schweren Schritten auf dem Dachboden umherging, und der Schmied sah, wie eine geflügelte Schlange geradeswegs auf den Dachboden flog. In Polikeis Winkel war niemand; die Kinder und die Irrsinnige waren in andere Wohnungen umquartiert worden. Dort lag nur das tote kleine Kind, und es saßen da zwei alte Frauen und eine Pilgerin, die mit gewohnter Inbrunst laut den Psalter las, nicht um des kleinen Kindes willen, sondern so im allgemeinen wegen dieses ganzen Unglücks. So hatte es die gnädige Frau gewünscht. Diese alten Frauen und die Pilgerin hörten mit eigenen Ohren, wie jedesmal, wenn die Vorlesung eines neuen Abschnittes begann, da oben ein Balken knisterte und jemand stöhnte. Wenn sie dann die Gebetsworte sprachen: »Christus möge auferstehen!«, dann wurde es wieder still. Die Tischlerfrau hatte ihre Gevatterin zu sich geladen und trank mit ihr in dieser Nacht, ohne zu schlafen, den ganzen Tee aus, mit dem sie eine ganze Woche hatte ausreichen wollen. Auch diese beiden Frauen hörten, wie da oben die Balken knisterten und als ob Säcke von oben herabfielen. Die wachehaltenden Bauern machten den Gutsleuten noch einigermaßen Mut, sonst wären diese in dieser Nacht vor Angst gestorben. Die Bauern lagen im Flur auf Heu und versicherten später, sie hätten ebenfalls wunderbare Dinge auf dem Dachboden gehört, obgleich sie während dieser Nacht selbst sehr ruhig miteinander über die Rekrutierung geredet, ihr Brot gekaut, sich gekratzt und namentlich den Flur dermaßen mit einem besonderen Bauerngeruch erfüllt hatten, daß die Tischlerfrau, als sie an ihnen vorbeiging, ausspuckte und sie »Bauernpack« schimpfte. Wie dem nun auch sein mochte, jedenfalls hing der Selbstmörder immer noch auf dem Boden, und es schien, als ob in dieser Nacht der böse Geist in eigener Person das Gesindehaus mit seinen gewaltigen Flügeln beschatte, seine Macht zeige und diesen Leuten näher trete als sonst jemals. Wenigstens hatten sie alle diese Empfindung. Ich weiß nicht, ob das richtig war. Ich glaube sogar, es war ganz unrichtig. Ich glaube, wenn ein beherzter Mann in dieser furchtbaren Nacht eine Kerze oder Laterne genommen, sich bekreuzigt ober auch nicht bekreuzigt hätte, auf den Boden gestiegen wäre, langsam vor sich her mit dem Lichte der Kerze die Schrecken der Nacht zerstreut, die Balken, den Sand, den mit Spinnweben bedeckten Querschornstein und die vergessene Pelerine der Tischlerfrau beleuchtet hätte und so bis zu Polikei vorgedrungen wäre; und wenn er, ohne sich von dem Gefühl der Angst überwältigen zu lassen, die Laterne bis zur Höhe des Gesichtes emporgehoben hätte, dann würde er den wohlbekannten, hageren Körper mit den auf der Erde stehenden Füßen (der Strick hatte sich langgezogen) gesehen haben, wie er sich leblos zur Seite neigte, und den aufgeknöpften Hemdkragen, unter dem kein Taufkreuz sichtbar war, den auf die Brust gesunkenen Kopf und das gutmütige Gesicht mit den offenstehenden, nichts mehr sehenden Augen und das sanfte, schuldbewußte Lächeln und die über alledem schwebende ernste Ruhe und Stille. Wahrlich, die Tischlerfrau, die sich mit zerzaustem Haar und angstvollen Augen in die Ecke ihres Bettes drückte und erzählte, daß sie gehört habe, wie Säcke heruntergefallen seien, bot einen weit schrecklicheren und furchtbareren Anblick als Polikei, obwohl dieser sein Kreuz abgenommen und auf den Balken gelegt hatte.

›Oben‹, das heißt bei der Gutsherrin, herrschte dasselbe Entsetzen wie im Gesindehause. Im Zimmer der gnädigen Frau roch es nach Eau de Cologne und Arznei. Dunjascha wärmte gelbes Wachs und bereitete eine Salbe. Wozu die Salbe eigentlich diente, das weiß ich nicht; aber ich weiß, daß die Salbe immer hergestellt wurde, wenn die gnädige Frau krank war. Jetzt aber war sie so angegriffen, daß ihr Zustand einer wirklichen Krankheit nahe kam. Zu Dunjascha war, um ihr Mut zu machen, ihre Tante gekommen und wollte bei ihr übernachten. So saßen sie mit dem zweiten Stubenmädchen und mit Axjutka zu vieren im Mädchenzimmer zusammen und redeten leise miteinander.

»Wer wird denn Öl holen gehen?« fragte Dunjascha.

»Ich gehe um keinen Preis, Awdotja Nikolajewna!« erklärte das zweite Stubenmädchen in entschiedenem Tone.

»Nun gut, dann geh mit Axjutka zusammen!«

»Ich will allein hinlaufen; ich fürchte mich vor nichts,« sagte Axjutka, bekam es aber in demselben Augenblick mit der Angst.

»Na, dann geh hin, du bist ein verständiges Mädchen, und bitte die alte Anna, dir Öl in einem Glase zu geben, und brings her; aber schülpere nicht über!« sagte Dunjascha zu ihr.

Axjutka nahm mit der einen Hand den Saum ihres Kleides in die Höhe; und obgleich sie infolgedessen nicht mehr mit beiden Armen schlenkern konnte, schlenkerte sie mit dem einen um so stärker quer zur Richtung ihres Laufes und eilte davon. Sie hatte Furcht und fühlte, daß, wenn sie jetzt etwas sähe oder hörte, und wenn es selbst ihre eigene lebende Mutter wäre, sie vor Angst umkommen würde. Die Augen zukneifend, flog sie auf dem wohlbekannten Wege dahin.

13

Schläft die gnädige Frau, oder ist sie noch auf?« fragte plötzlich neben Axjutka eine tiefe Bauernstimme. Sie öffnete die Augen, die sie vorher zugekniffen hatte, und erblickte eine Gestalt, die, wie es ihr vorkam, höher war als das Gesinde-Haus; sie kreischte auf und rannte so schnell zurück, daß ihr Rock Mühe hatte, ihr nachzuflattern. Mit einem Sprunge war sie auf der Freitreppe, mit dem zweiten im Mädchenzimmer und warf sich mit wildem Geheul aufs Bett. Dunjascha, ihre Tante und das andere Stubenmädchen waren starr vor Schreck; aber noch ehe sie hatten wieder zu sich kommen können, ließen sich schwere, langsame, unentschlossene Schritte im Flur und an der Tür vernehmen. Dunjascha ließ die Salbe hinfallen und stürzte zur gnädigen Frau; das zweite Stubenmädchen versteckte sich hinter den an der Wand hängenden Frauenkleidern; die Tante, die mutiger war, wollte die Tür zuhalten; aber die Tür öffnete sich schon, und ein Bauer trat ins Zimmer. Es war Dutlow in seinen Kähnen. Ohne auf die Angst der Frauenzimmer zu achten, suchte er mit den Augen das Heiligenbild, und da er das kleine in der linken Ecke hängende Bildchen nicht fand, so bekreuzigte er sich nach dem Tassenschrank hin, legte seine Mütze auf das Fensterbrett, steckte die Hand tief in seinen Halbpelz hinein, als wenn er sich in der Achselhöhle kratzen wollte, und holte einen Brief mit fünf braunen Siegeln hervor, die einen Anker darstellten. Dunjaschas Tante griff sich nach der Brust. Sie konnte nur mit Mühe sprechen.

»Nein, wie du mich erschreckt hast, Semjon Naumowitsch! Ich kann wirklich ... kein Wort herausbringen. Ich dachte schon, mein Ende wäre da.«

»Wie kann man sich nur so benehmen!« sagte das zweite Stubenmädchen, hinter den Röcken hervorkommend.

»Auch der gnädigen Frau hast du einen Schreck eingejagt,« bemerkte Dunjascha, die wieder in die Tür trat. »Wie kannst du unaufgefordert ins Mädchenzimmer kommen! Der richtige Bauer!«

Ohne sich zu entschuldigen, wiederholte Dutlow, daß er die gnädige Frau sprechen müsse.

»Sie ist krank« erwiderte Dunjascha.

In diesem Augenblick prustete Axjutka mit einem so unanständigen, lauten Lachen heraus, daß sie ihren Kopf wieder in den Kissen des Bettes verbergen mußte, aus denen sie ihn trotz den Drohungen Dunjaschas und der Tante noch lange Zeit nicht herausziehen konnte, ohne von neuem loszuplatzen, gerade als ob in ihrer rosigen Brust und in ihren roten Backen etwas zersprungen wäre. Es kam ihr gar zu komisch vor, daß sie sich alle so geängstigt hatten, und sie versteckte wieder ihren Kopf, zuckte wie in Krämpfen mit dem Schuh und hüpfte mit dem ganzen Körper auf und ab.

Dutlow hielt inne, betrachtete sie aufmerksam, als wolle er darüber ins klare kommen, was eigentlich mit ihr vorgehe; aber als er nicht daraus klug wurde, wandte er sich ab und sprach weiter.

»Nämlich es ist wirklich eine sehr wichtige Sache,« sagte er. »Melden Sie nur, ein Bauer habe einen Brief mit Geld gefunden.«

»Was ist das für Geld?«

Ehe Dunjascha hinging, um es der gnädigen Frau zu melden, las sie die Adresse und fragte Dutlow, wo und wie er dieses Geld gefunden habe, das Polikei aus der Stadt habe holen sollen. Nachdem sie alles genau in Erfahrung gebracht und das Laufmädchen, das immer noch nicht aufhörte zu prusten, auf den Flur hinausgetrieben hatte, begab sich Dunjascha zur gnädigen Frau; aber zu Dutlows Erstaunen wollte diese ihn dennoch nicht empfangen und hatte auch zu Dunjascha nichts gesagt, womit etwas anzufangen war.

»Ich weiß nicht und will nicht wissen,« hatte die gnädige Frau gesagt, »was das für ein Bauer und was das für Geld ist. Ich kann und will niemand sehen. Er soll mich in Ruhe lassen.«

»Was soll ich tun?« sagte Dutlow, den Brief hin und her drehend. »Es ist eine bedeutende Geldsumme. Steht auch wirklich darauf, daß es an die gnädige Frau ist?« fragte er Dunjascha, die ihm nun noch einmal die Adresse vorlas.

Er hatte es vorher noch immer nicht recht geglaubt, sondern gedacht, das Geld gehöre der gnädigen Frau vielleicht nicht und man habe ihm die Adresse falsch vorgelesen. Aber nun bestätigte es ihm Dunjascha. Er seufzte, schob den Brief in die Brust und schickte sich an, fortzugehen.

»Dann muß ich ihn wohl beim Landkommissar abgeben,« sagte er.

»Warte, ich will es noch einmal versuchen und der gnädigen Frau alles sagen,« hielt ihn Dunjascha zurück, die aufmerksam das Verschwinden des Briefes an der Brust des Bauern verfolgte. »Gib den Brief her!«

Dutlow holte ihn wieder hervor, legte ihn aber nicht sogleich in Dunjaschas ausgestreckte Hand.

»Sagen Sie nur, Semjon Dutlow habe ihn auf der Landstraße gefunden.«

»So gib ihn doch her!«

»Ich dachte zuerst, es wäre nur so ein gewöhnlicher Brief; aber ein Soldat las mir vor, daß es ein Brief mit Geld sei.«

»Aber nun gib ihn doch her!«

»Ich habe darum gar nicht gewagt, erst zu mir nach Hause zu gehen...« sagte Dutlow wieder, ohne sich von dem kostbaren Briefe trennen zu können. »Melden Sie das nur so!«

Dunjascha nahm den Brief und ging noch einmal zur gnädigen Frau.

»Ach, mein Gott, Dunjascha,« sagte die gnädige Frau in vorwurfsvollem Ton, »rede mir doch nicht von diesem Gelde! Wenn ich nur an den kleinen Knaben denke...«

»Gnädige Frau, der Bauer weiß nicht, an wen Sie es abzugeben befehlen,« sagte Dunjascha wieder.

Die gnädige Frau öffnete den Brief, fuhr, sobald sie das Geld erblickte, zusammen und versank in Gedanken.

»Das schreckliche Geld! Wieviel Unheil es anrichtet!« sagte sie.

»Es ist Dutlow, der es gebracht hat, gnädige Frau. Befehlen Sie, daß er weggehen soll, oder belieben Sie, zu ihm ins Empfangszimmer zu kommen? Ist das Geld noch vollzählig?« fragte Dunjascha.

»Ich will dieses Geld nicht. Es ist schreckliches Geld. Was hat es angerichtet! Sag ihm, er soll es für sich behalten, wenn er will«, sagte die gnädige Frau plötzlich und suchte dabei nach Dunjaschas Hand. »Ja, ja, ja,« wiederholte sie, als das Mädchen sie erstaunt ansah; »mag er es ganz für sich nehmen und damit tun, was er will!«

»Anderthalbtausend Rubel,« bemerkte Dunjascha, leise lächelnd, als ob sie ein Kind vor sich hätte.

»Mag er es ganz nehmen!« wiederholte die gnädige Frau ungeduldig. »Verstehst du mich denn nicht? Dieses Geld ist Unglücksgeld; rede nie wieder mit mir davon! Mag dieser Bauer das, was er gefunden hat, für sich behalten! Geh; so geh doch!«

Dunjascha ging wieder in das Mädchenzimmer.

»Ist es vollzählig?« fragte Dutlow.

»Zähle es doch selbst nach!« erwiderte Dunjascha und übergab ihm den Brief. »Ich soll es dir zurückgeben.«

Dutlow nahm seine Mütze unter den Arm und begann in gebückter Haltung das Geld durchzuzählen.

»Ist kein Rechenbrett da?«

Er meinte, die gnädige Frau verstehe in ihrer Dummheit nicht zu zählen und habe es ihm daher aufgetragen.

»Das Nachzählen kannst du zu Hause besorgen! Das Geld gehört dir!« sagte Dunjascha ärgerlich. »Die gnädige Frau sagt: Ich will es nicht mehr sehen; gib es dem wieder, der es gebracht hat.«

Dutlow blickte, ohne sich aufzurichten, Dunjascha starr an.

Dunjaschas Tante schlug vor Erstaunen die Hände zusammen.

»All ihr lieben Heiligen! Dem hat Gott einmal Glück gegeben! All ihr lieben Heiligen!«

Das zweite Stubenmädchen konnte es nicht glauben.

»Was reden Sie, Awdotja Nikolajewna? Sie machen wohl Scherz?«

»Wieso Scherz? Sie hat mir befohlen, das Geld dem Bauern zurückzugeben ... Na, nun nimm dein Geld und mach, daß du fortkommst!« sagte Dunjascha, ohne ihren Ärger zu verbergen. »Des einen Leid ist des andern Freud.«

»Das ist kein Spaß, anderthalbtausend Rubel!« sagte die Tante.

»Noch mehr!« bestätigte Dunjascha. »Na, nun wirst du wohl dem heiligen Nikolaus eine Kerze für zehn Kopeken aufstellen,« fuhr sie spöttisch fort. »Du kannst wohl gar nicht zu dir kommen? Und wenn es noch einem Armen zugefallen wäre; aber der hat so schon genug.«

Dutlow begriff endlich, daß es kein Scherz war, und begann das Geld, das er, um es zu zählen, auseinandergelegt hatte, zusammenzunehmen und in den Umschlag zu stecken; aber die Hände zitterten ihm, und er sah immer die Mädchen an, um sich zu vergewissern, daß es keine Neckerei sei.

»Seht nur, er kann gar nicht zu sich kommen, so freut er sich,« sagte Dunjascha, die zu verstehen geben wollte, daß sie sowohl den Bauern wie auch das Geld verachte. »Zeig her, ich werde es dir hineintun!«

Sie wollte das Geld nehmen; aber Dutlow gab es nicht her; er knitterte die Banknoten zusammen, schob sie noch tiefer hinein und griff nach seiner Mütze.

»Freust du dich?«

»Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Das ist ja gerade, als ob...«

Er sprach den Satz nicht zu Ende, sondern machte nur mit der Hand eine Bewegung des Staunens, schmunzelte, weinte beinahe und ging hinaus.

Die Klingel im Zimmer der gnädigen Frau ertönte.

»Nun, hast du es ihm zurückgegeben?«

»Jawohl.«

»Wie ists? Hat er sich sehr gefreut?«

»Er war ganz wie ein Irrsinniger.«

»Ach, rufe ihn doch einmal her! Ich möchte ihn fragen, wie er es gefunden hat. Rufe ihn hierher; ich kann dieses Zimmer nicht verlassen.«

Dunjascha lief und traf den Bauer noch auf dem Flur. Er hatte, ohne die Mütze aufzusetzen, seinen Beutel herausgezogen und band ihn, gebückt dastehend, auf; das Geld hielt er zwischen den Zähnen. Er schien die Vorstellung zu haben, solange das Geld nicht in seinem Beutel sei, gehöre es ihm nicht. Als Dunjascha ihn rief, erschrak er.

»Was ist, Awdotja . . . Awdotja Nikolajewna? Will sie es zurück haben? Legen Sie doch für mich ein gutes Wort ein; ich bringe Ihnen auch Honig, wahrhaftig!«

»Ja, du bist mir der Rechte!«

Sie machte die Tür wieder auf und führte den Bauern zur gnädigen Frau. Es war ihm trüb zumute. »Oweh, sie nimmt ihr Geschenk zurück!« dachte er, während er, die Beine wie in hohem Grase hoch aufhebend und bemüht, mit seinen Bastschuhen nicht zu poltern, durch die Zimmer ging. Er begriff nichts und sah nichts von dem, was ihn umgab. Er kam an einem Spiegel vorbei; er sah: da waren irgendwelche Blumen, ein Bauer in Bastschuhen, der die Beine sehr hoch hob, das Porträt eines Herrn mit einem Augenglase, ein grüner Kübel und etwas Weißes ... Und siehe da, dieses Weiße fing an zu sprechen; es war die gnädige Frau. Er verstand nichts; er machte nur die Augen weit auf. Er wußte nicht, wo er war; alles lag wie in einem Nebel vor ihm.

»Du bist es, Dutlow?«

»Jawohl, gnädige Frau. So, wie es war, habe ich es unangerührt gelassen,« sagte er. »Ich will meines Lebens nie wieder froh werden; ich schwöre es bei Gott! Ich habe das Pferd zuschanden gejagt, um schnell herzukommen...«

»Nun, da hast du Glück gehabt,« sagte sie mit einem geringschätzigen, aber gutmütigen Lächeln. »Behalte es für dich!«

Er konnte nur die Augen noch weiter aufreißen.

»Ich freue mich, daß es dir zugefallen ist; gebe Gott, daß es dir zum Segen gereicht! Nun, freust du dich?«

»Wie sollte ich mich nicht freuen? So sehr freue ich mich, Mütterchen! Ich werde auch immer für Sie beten. Ich bin so froh darüber, daß unsere gnädige Frau Gott sei Dank am Leben ist. Aber ich habe auch das meinige dazu getan.«

»Wie hast du es denn gefunden?«

»Ich meine, ich habe mir zum Vorteil der gnädigen Frau immer ehrlich alle Mühe gegeben, geschweige denn, daß ich...«

»Er ist ganz wirr im Kopfe geworden, gnädige Frau,« sagte Dunjascha.

»Ich hatte meinen Neffen als Rekruten weggebracht, und als ich zurückfuhr, da fand ich es auf der Landstraße. Polikei muß es zufällig verloren haben.«

»Nun, dann geh, geh, lieber Mann! Ich freue mich.«

»Ich freue mich so, Mütterchen . . .!« sagte der Bauer.

Dann fiel ihm ein, daß er sich noch nicht bedankt und sich nicht so zu benehmen verstanden hatte, wie es schicklich gewesen wäre. Die gnädige Frau und Dunjascha lächelten; er aber ging wieder wie in hohem Grase und mußte sich Gewalt antun, um nicht Trab zu laufen. Denn er hatte immer noch die Vorstellung, man werde ihn im nächsten Augenblick noch einmal anhalten und ihm das Geld wieder abnehmen.

14

Als Dutlow ins Freie gekommen war, ging er von dem Wege ab nach den Linden hin, band sich sogar den Gurt ab, um bequemer zu seinem Geldbeutel kommen zu können, und begann das Geld hineinzustecken. Seine Lippen bewegten sich lebhaft, indem sie sich in die Breite und auseinander zogen, obgleich er nicht den geringsten Laut von sich gab. Nachdem er das Geld hineingetan und sich wieder umgürtet hatte, bekreuzigte er sich und ging wie ein Betrunkener hin und her taumelnd auf dem Wege dahin, so sehr war er mit den Gedanken beschäftigt, die plötzlich seinen Kopf erfüllten. Auf einmal erblickte er vor sich die Gestalt eines Bauern, der ihm entgegenkam. Er rief ihn an; es war Jefim, der mit einem Knüttel als Wächter beim Gesindehause auf und ab ging.

»Ah, Onkel Semjon,« rief Jefim erfreut und trat näher; es war ihm unheimlich so allein. »Nun, habt ihr die Rekruten hingebracht, Onkelchen?«

»Ja. Was machst du denn hier?«

»Ich bin hier als Wächter für Polikei aufgestellt, der sich erhängt hat.«

»Wo ist er denn?«

»Da, auf dem Boden soll er hängen,« antwortete Jefim und zeigte mit seinem Knüttel im Dunkeln nach dem Dache des Gesindehauses.

Dutlow blickte in die Richtung, die Jefims Arm wies, und obgleich er nichts sah, runzelte er doch die Stirn, kniff die Augen zusammen und wiegte den Kopf hin und her.

»Der Landkommissar ist gekommen,« fuhr Jefim fort, »der Kutscher hat es gesagt. Gleich werden sie ihn abnehmen. Angst und bange wird einem bei Nacht, Onkelchen. Um keinen Preis gehe ich in der Nacht hinauf, wenn sie es mir befehlen sollten. Und wenn mich Jegor Michailowitsch zu Tode prügelt, ich gehe nicht hin.«

»So eine Sünde, so eine Sünde!« erwiderte Dutlow, offenbar nur anstandshalber; in Wirklichkeit dachte er gar nicht an das, was er sagte, und wollte seines Weges weitergehen. Aber die Stimme Jegor Michailowitschs hielt ihn zurück.

»Heda, Wächter, komm mal her!« rief Jegor Michailowitsch von der Freitreppe des Kontors aus.

Jefim antwortete.

»Was stand denn da bei dir noch für ein Bauer?«

»Dutlow.«

»Komm du auch mal her, Semjon!«

Als Dutlow näher gekommen war, erblickte er beim Scheine einer Laterne, die der Kutscher trug, Jegor Michailowitsch und einen Beamten von kleiner Statur, in einem Mantel, auf dem Kopfe eine Uniformmütze mit einer Kokarde: das war der Landkommissar.

»Der Alte hier kann auch mit uns gehen,« sagte Jegor Michailowitsch, als er ihn sah.

Der Alte ließ den Kopf hängen, aber es war nichts dagegen zu machen.

»Und du, Jefim, junger Kerl, lauf mal auf den Boden, wo der sich aufgehängt hat, und bring die Leiter in Ordnung, damit Seine Wohlgeboren hinaufsteigen können.«

Jefim, der um keinen Preis hatte hinaufgehen wollen, lief eilig nach dem Gesindehause hin, wobei er mit seinen Bastschuhen polterte, als ob es Holzklötze wären.

Der Landkommissar schlug Feuer und rauchte seine Pfeife an. Er wohnte zwei Werst entfernt, hatte eben erst vom Bezirkshauptmann einen gehörigen Rüffel wegen Trunkenheit bekommen und befand sich daher jetzt in einem Anfall von Diensteifer: nachdem er um zehn Uhr abends angekommen war, wollte er sofort den Selbstmörder besichtigen. Der Verwalter fragte Dutlow, warum er hier sei. Am Gehen erzählte ihm Dutlow von dem gefundenen Gelde und was die gnädige Frau getan habe, und sagte, er sei gekommen, um Jegor Michailowitsch um Erlaubnis zu bitten. Zu Dutlows Schrecken ließ sich der Verwalter von ihm den Geldbrief geben und besah ihn sich. Der Landkommissar nahm den Brief ebenfalls in die Hände und fragte kurz und in trockenem Tone nach den Einzelheiten des Vorfalls.

›Nun ist das Geld für mich verloren! dachte Dutlow und wollte schon Entschuldigungen vorbringen. Aber der Landkommissar gab ihm das Geld zurück.

»Was hat der Tölpel für ein Glück gehabt!« bemerkte er dabei.

»Es kommt ihm gut zupaß,« erwiderte Jegor Michailowitsch; »er hat soeben seinen Neffen zur Gestellung gebracht; jetzt kann er ihn loskaufen.«

»Soso!« sagte der Landkommissar und ging voran.

»Wirst du nun deinen Ilja loskaufen?« fragte Jegor Michailowitsch.

»Werde ich ihn auch loskaufen können? Wird das Geld auch reichen? Vielleicht ist es auch schon zu spät dazu.«

»Wie du willst,« erwiderte der Verwalter, und beide gingen hinter dem Landkommissar her.

Sie gelangten zu dem Gesindehause, in dessen Flur die übelriechenden Wächter mit einer Laterne warteten. Dutlow ging hinter den übrigen. Die Wächter hatten eine schuldbewußte Miene, die sich höchstens auf den von ihnen ausströmenden Geruch beziehen konnte, da sie sonst nichts Übles getan hatten. Alle schwiegen.

»Wo ist er?« fragte der Landkommissar.

»Hier!« erwiderte Jegor Michailowitsch flüsternd. »Jefim,« fügte er hinzu, »du bist ein junger Bursche, geh mit der Laterne voraus!«

Jefim hatte schon oben ein verschobenes Dielenbrett zurechtgelegt und, wie es schien, alle Furcht verloren. Immer ein paar Sprossen auslassend, stieg er mit heiterem Gesicht allen voran hinauf und wandte sich nur um, um dem Landkommissar mit der Laterne zu leuchten. Hinter dem Landkommissar stieg Jegor Michailowitsch hinauf. Als sie verschwunden waren, setzte Dutlow schon den einen Fuß auf die unterste Sprosse, hielt dann aber seufzend inne. Es vergingen etwa zwei Minuten; die Schritte auf dem Dachboden waren still geworden; offenbar waren die Männer an den Leichnam herangetreten.

»Onkel, du möchtest heraufkommen!« rief Jefim durch die Öffnung.

Dutlow stieg hinauf. Der Landkommissar und Jegor Michailowitsch waren bei dem Lichte der Laterne nur mit ihrem Oberkörper hinter einem Balken sichtbar; hinter ihnen stand noch jemand, der ihnen den Rücken zuwendete. Das war Polikei. Dutlow stieg über den Balken hinüber, bekreuzigte sich und blieb stehen.

»Dreht ihn mal um, Kinder!« befahl der Landkommissar. Niemand rührte sich.

»Jefim, du bist ein junger Bursche,« sagte Jegor Michailowitsch.

Der junge Bursche stieg über den Balken, drehte Polikei um, stellte sich neben ihn und sah mit dem vergnügtesten Gesichte bald den Toten, bald den Beamten an, wie der Besitzer einer Schaubude mit einem Albino oder einer Julia Pastrana bald das Publikum, bald sein Schaustück ansieht und bereit ist, alle Wünsche seiner Zuschauer zu erfüllen.

»Dreh ihn noch einmal um!«

Polikei wurde noch einmal umgedreht, schlenkerte dabei leise mit den Armen und schleifte mit dem einen Fuße im Sande.

»Nun zu! Nimm ihn ab!«

»Befehlen Sie, ihn abzuschneiden, Wassili Borisowitsch?« fragte Jegor Michailowitsch. »Gebt ein Beil her, Leute!«

Den Wächtern und dem alten Dutlow mußte zweimal befohlen werden, heranzutreten, ehe sie es wirklich taten. Der junge Bursche Jefim aber ging mit Polikei um wie mit einem geschlachteten Hammel. Endlich war der Strick durchhauen, und der Leichnam wurde abgenommen und zugedeckt. Der Landkommissar sagte, morgen werde der Arzt kommen, und entließ die Leute.

15

Dutlow ging, eifrig die Lippen bewegend, nach Hause. Anfangs war ihm noch unheimlich zumute, aber je näher er dem Dorfe kam, um so mehr verschwand dieses Gefühl und um so mächtiger wurde in seiner Seele das Gefühl der Freude. Im Dorfe hörte man Lieder singen und das Gerede Betrunkener. Dutlow trank niemals und ging auch jetzt geradeswegs heim. Es war schon spät, als er in sein Haus trat. Seine bejahrte Frau schlief. Der älteste Sohn und die Enkelkinder schliefen auf dem Ofen, der zweite Sohn in der Kammer. Nur Iljas Frau schlief nicht, sondern saß in einem schmutzigen, nicht festtäglichen Hemd mit aufgelöstem Haar auf der Bank und heulte. Sie ging nicht hinaus, um dem Onkel aufzumachen, sondern begann, als er in die Stube trat, nur noch ärger zu heulen und dazu zu reden. Nach dem Urteil der alten Frau vollführte sie diese Klagelieder sehr geschickt und gut, obgleich sie bei ihrer Jugend darin noch keine Übung haben konnte.

Die Alte war aufgestanden und machte ihrem Manne das Abendessen zurecht. Dutlow jagte Iljas Frau vom Tische weg. »Nun ists genug, nun ists genug!« sagte er. Axinja stand auf und legte sich auf die Bank, heulte aber weiter. Die Alte trug schweigend das Essen auf und räumte, nachdem ihr Mann gegessen hatte, wieder ab. Der Alte sagte ebenfalls keine Silbe. Nachdem er gebetet hatte, rülpste er, wusch sich die Hände, nahm das Rechenbrett vom Nagel und ging damit in die Kammer. Dort flüsterte er zuerst mit der Alten; dann ging die Alte hinaus, und er begann mit dem Rechenbrett zu klappern; zuletzt klappte er den Deckel eines Kastens zu und stieg in den Keller hinunter. Seine geschäftige Tätigkeit in der Kammer und im Keller dauerte lange. Als er wieder in die Stube kam, war es dort bereits dunkel; der Leuchtspan brannte nicht mehr. Die Alte, die bei Tage gewöhnlich so still war, daß man sie gar nicht hörte, hatte sich schon auf die Pritsche gelegt und schnarchte laut. Iljas Frau, die vorher soviel Lärm gemacht hatte, schlief ebenfalls und atmete ganz leise. Sie schlief auf der Bank, unausgekleidet, wie sie gewesen war, und ohne sich etwas unter den Kopf gelegt zu haben. Dutlow betete, dann betrachtete er Iljas Frau, wiegte den Kopf hin und her, löschte den Leuchtspan, den er wieder angezündet gehabt hatte, aus, rülpste noch einmal, stieg auf den Ofen und legte sich neben einen seiner Enkel. Im Dunkeln warf er von oben seine Bastschuhe hinunter, legte sich auf den Rücken, blickte nach der Querstange über dem Ofen, die über seinem Kopfe kaum sichtbar war, und horchte auf die an der Wand raschelnden Schaben, auf das Geräusch der Schlafenden, wenn sie seufzten, schnarchten und ein Bein am andern rieben, und auf die Laute des Viehs auf dem Hofe. Er konnte lange nicht einschlafen; der Mond ging auf; es wurde heller im Zimmer; er konnte in der Ecke Axinja sehen sowie etwas, was er nicht recht erkennen konnte: hatte einer der Söhne da einen Kittel vergessen, oder hatten die Weiber da einen Zuber stehen lassen, oder stand da jemand? In seinem Zustande des Halbschlafs blickte er immer wieder hin. Es war offenbar: jener finstere Geist, der Polikei zu seiner furchtbaren Tat getrieben hatte und dessen Nähe die Gutsleute in dieser Nacht empfunden hatten, dieser furchtbare Geist reichte mit seinen Schwingen auch bis zum Dorfe, bis zu Dutlows Hause, wo das Geld lag, dessen er sich zu Polikeis Verderben bedient hatte. Wenigstens glaubte Dutlow seine Anwesenheit zu empfinden und hatte ein unheimliches Gefühl. Er konnte nicht schlafen und vermochte doch auch nicht aufzustehen. Bei dem Anblick des Gegenstandes, über den er nicht ins klare kommen konnte, dachte er unwillkürlich an Ilja mit den gebundenen Armen und an Axinjas Gesicht und ihr geschicktes Wehklagen und an Polikei mit den schlenkernden Händen. Auf einmal schien es dem Alten, als gehe jemand am Fenster vorbei. Was ist das? Geht etwa schon der Schulze umher, um etwas anzukündigen? dachte er. Und wie hat er denn die Haustür aufbekommen? dachte er weiter, als er Schritte auf dem Flur hörte; hat etwa die Alte nicht zugemacht, als sie ins Vorhaus ging? Der Hund heulte auf dem Hinterhofe; er aber ging über den Flur (so erzählte der Alte später), wie wenn er die Tür suchte, ging daran vorbei, begann wieder an der Wand umherzutasten und stieß an einen Zuber, so daß dieser dröhnte. Und wieder fing er an umherzutasten, als ob er die Klinke suchte. Und jetzt, jetzt faßte er die Klinke an. Dem Alten lief ein Zittern über den Leib. Jetzt machte er die Klinke auf und trat in menschlicher Gestalt ein. Dutlow wußte schon, daß er es war. Er wollte das Zeichen des Kreuzes machen, war aber nicht dazu imstande. Er trat an den Tisch, auf dem eine Decke lag, zog sie herunter, warf sie auf den Fußboden und machte sich daran, auf den Ofen zu steigen. Der Alte erkannte, daß er Polikeis Gestalt hatte. Er fletschte die Zähne und schlenkerte mit den Armen. Nun war er auf den Ofen heraufgestiegen und legte sich gerade auf den Alten, als wenn er ihn ersticken wollte.

»Mein Geld!« sagte Polikei.

»Laß mich los; ich will es nicht behalten...,« wollte Semjon sagen, vermochte es aber nicht.

Polikei lastete auf seiner Brust mit dem Gewicht eines steinernen Berges. Dutlow wußte, daß, wenn er ein Gebet sprechen würde, er von ihm ablassen werde, und wußte auch, welches Gebet er sprechen mußte; aber dieses Gebet zu sprechen, war er nicht imstande. Einer der Enkel schlief neben ihm. Der Knabe schrie laut auf und fing an zu weinen: der Großvater hatte ihn gegen die Wand gedrückt. Das Geschrei des Kindes löste den Bann von den Lippen des alten Mannes. »Christus möge auferstehen!« sprach Dutlow. Er ließ ihm ein wenig Luft. »Und die Feinde mögen zerstreuet werden...« stammelte Dutlow. Er stieg vom Ofen hinab. Dutlow hörte, wie er mit beiden Füßen auf den Fußboden aufstieß. Dutlow sprach immer noch Gebete, alle, die er nur kannte, der Reihe nach. Er ging zur Tür, am Tisch vorbei, und schlug die Tür so heftig zu, daß das Haus zitterte. Jedoch schliefen alle weiter, außer dem Großvater und dem Enkel. Der Großvater sagte laut seine Gebete her und zitterte am ganzen Leibe; der Enkel weinte, während er wieder einschlief, und schmiegte sich an den Großvater. Alles war wieder still geworden. Der Großvater lag da, ohne sich zu rühren. Der Hahn krähte auf der anderen Seite der Wand dicht an Dutlows Ohr. Er hörte, wie die Hühner munter wurden und wie ein junges Hähnchen dem alten das Krähen nachzumachen versuchte, es aber nicht vermochte. Bei den Füßen des alten Mannes bewegte sich etwas. Es war die Katze: sie sprang vom Ofen auf den Fußboden auf ihre weichen Pfoten und begann an der Tür zu miauen. Der Großvater stand auf und schob das Fenster in die Höhe; auf der Straße war es dunkel und schmutzig; unmittelbar unter dem Fenster stand das Vorderteil eines Wagens. Sich bekreuzigend, ging er barfuß auf den Hof zu den Pferden; und da konnte man sehen, daß der Hausherr wieder angekommen war. Die Stute, die unter dem Schuppendach am Mauerabsatz stand, hatte sich mit dem einen Fuß in den Zügel verwickelt, den Häcksel verschüttet und wartete nun mit aufgehobenem Fuß und seitwärts gewendetem Kopf auf den Hausherrn. Das Füllen war in die Düngergrube gefallen. Der alte Dutlow brachte es wieder auf die Beine, machte die Stute von der Verschlingung frei, schüttete Futter auf und ging wieder in die Stube zurück. Die Alte war aufgestanden und hatte den Leuchtspan angezündet. »Wecke die Kinder auf; ich will in die Stadt fahren,« sagte er, und nachdem er vor den Heiligenbildern eine Wachskerze angezündet hatte, stieg er mit seiner Frau in den Keller hinunter. Als er von dort wieder heraufkam, war bereits nicht nur bei ihm, sondern auch bei allen Nachbarn Licht angezündet. Die Söhne Dutlows waren aufgestanden und schon in eifriger Tätigkeit. Die Frauen gingen mit Eimern und Milchkannen ein und aus. Ignat spannte den einen Wagen an; der zweite Sohn schmierte den andern. Die junge Frau heulte nicht mehr; sie hatte sich geputzt, sich ein Tuch um den Kopf gebunden, saß in der Stube auf der Bank und wartete auf den Zeitpunkt, wo sie nach der Stadt fahren würde, um von ihrem Manne Abschied zu nehmen.

Der Alte schien heute besonders ernst und streng zu sein. Zu niemandem sprach er auch nur ein Wort; er zog seinen neuen Rock an, band sich den Gurt um und begab sich, mit Polikeis ganzem Gelde auf der Brust unter dem Hemd, zu Jegor Michailowitsch.

»Spute dich mal ein bißchen!« rief er seinem zweiten Sohne zu, der die eine Achse nach dem Schmieren angehoben hatte und die Räder an ihr drehte. »Ich komme gleich wieder. Daß dann alles fertig ist!«

Der Verwalter war soeben aufgestanden, trank seinen Tee und machte sich selbst zur Fahrt nach der Stadt fertig, um die Rekruten zu übergeben.

»Was willst du?« fragte er.

»Ich will den Jungen loskaufen, Jegor Michailowitsch. Sie sagten neulich, Sie wüßten in der Stadt einen Freiwilligen; haben Sie schon die Güte und belehren Sie mich! Unsereiner versteht davon nichts.«

»Also bist du anderen Sinnes geworden?«

»Ja, Jegor Michailowitsch; er tut mir leid; er ist doch der Sohn meines Bruders. Mag er auch sein, wie er will; er tut mir doch leid. Es kommt doch gar zuviel Sünde davon her, von diesem Gelde. Haben Sie schon die Güte und belehren Sie mich!« sagte er und verbeugte sich dabei tief.

Wie immer in solchen Fällen schmatzte Jegor Michailowitsch lange tiefsinnig und schweigend mit den Lippen; nachdem er sich die Sache überlegt hatte, schrieb er zwei Briefe und setzte dem alten Dutlow auseinander, was er in der Stadt tun müsse.

Als Dutlow nach Hause zurückkam, war die junge Frau schon mit Ignat abgefahren, und die grauscheckige, dickbäuchige Stute stand, fertig angespannt, im Tor. Er brach sich eine Rute aus der Hecke, schlug seinen Rock übereinander, setzte sich auf den Wagen und trieb das Pferd an. Er trieb die Stute so stark, daß ihr ganzer Bauch sofort einfiel und er sie nicht ohne Mitleid ansehen konnte. Ihn quälte der Gedanke, er könne bei der Gestellung zu spät kommen, Ilja müsse Soldat werden, und das Teufelsgeld werde in seinen Händen bleiben.

Ich will nicht im einzelnen alle Erlebnisse Dutlows an diesem Morgen vortragen; ich sage nur, daß es ihm besonders gut glückte. Bei dem Wirte, für den Jegor Michailowitsch ihm einen Brief mitgegeben hatte, stand ein Freiwilliger vollständig bereit, der schon dreiundzwanzig Rubel verpraßt hatte und von der Militärbehörde bereits als tauglich befunden war. Der Wirt wollte vierhundert Rubel für ihn haben, und ein Reflektant, ein Kleinbürger, der schon seit drei Wochen um ihn handelte, bot immer noch nur dreihundert. Dutlow erledigte das Handelsgeschäft mit wenigen Worten. »Nimm dreihundertfünfundzwanzig!« sagte er, die Hand ausstreckend; aber in solchem Ton, daß man sogleich merkte, er sei bereit, noch etwas zuzulegen. Der Wirt zog seine Hand zurück und verharrte bei seiner Forderung von vierhundert Rubeln. »Na, willst du nicht dreihundertfünfundzwanzig nehmen?« fragte Dutlow wieder, indem er mit seiner linken Hand die rechte des Wirtes ergriff und Miene machte, mit seiner rechten in sie einzuschlagen. »Willst du nicht? Na, in Gottes Namen!« sagte er plötzlich, indem er mit seiner Hand in die des Wirtes schlug und mit einem Schwunge sich von ihm mit dem ganzen Leibe abwandte. »Dann muß es wohl sein! Nimm dreihundertfünfzig! Stell mir eine Quittung aus! Bring den Burschen her! Und jetzt eine Anzahlung. Zwanzig Rubel werden wohl genug sein, wie?«

Und Dutlow band sich den Gurt ab und holte das Geld hervor.

Der Wirt hatte zwar seine Hand nicht weggezogen, schien aber immer noch nicht ganz einverstanden zu sein und redete, ohne die Anzahlung anzunehmen, von einem Douceur für den Freiwilligen und von dessen Bewirtung.

»Versündige dich nicht, versündige dich nicht!« sagte Dutlow und schob ihm das Geld hin. »Wir müssen alle sterben, wir müssen alle sterben,« fuhr er in so sanftem, belehrendem, überzeugtem Tone fort, daß der Wirt sagte: »Na, wenns nicht anders ist,« noch einmal einschlug und betete. »Gott möge es zum Besten wenden!« sagte er.

Der Freiwillige, der noch von dem gestrigen Trinkgelage her schlief, wurde geweckt; Dutlow besah ihn sich, und alle zusammen begaben sich zur Rekrutierungskommission. Der Freiwillige war vergnügt; er verlangte Rum, um sich den Katzenjammer zu vertreiben, wozu ihm Dutlow auch Geld gab, und wurde erst in dem Augenblick kleinmütig, als sie in den Flur des Amtsgebäudes eintraten. Lange standen sie dort im Flur, der alte Wirt im blauen Kaftan und der Freiwillige im kurzen Halbpelz, mit heraufgezogenen Augenbrauen und weit aufgerissenen Augen; lange flüsterten sie dort miteinander, fragten, wohin sie sich zu wenden hätten, suchten jemand, nahmen vor jedem Schreiber mit tiefen Verbeugungen die Mützen ab und hörten andächtig die Mitteilungen an, die ihnen ein dem Wirte bekannter Schreiber aus dem Amtslokal herausbrachte. Schon hatten sie alle Hoffnung verloren, daß die Sache sich noch an diesem Tage werde erledigen lassen, und der Freiwillige wurde schon wieder munterer und vergnügter, als Dutlow den Verwalter Jegor Michailowitsch erblickte, sich sogleich an diesen klammerte und ihn demütig um seinen Beistand bat. Und Jegor Michailowitsch half ihnen so gut, daß zwischen zwei und drei Uhr nachmittags der Freiwillige zu seinem großen Erstaunen und Mißvergnügen in das Amtslokal hineingeführt und vor die Kommission hingestellt wurde. Unter allgemeiner Heiterkeit, die sein Benehmen bei den Amtspersonen vom Amtsdiener bis zum Vorsitzenden hervorrief, mußte er sich entkleiden, wurde kurz geschoren, eingekleidet und wieder zur Tür hinausgeschickt. Fünf Minuten darauf bezahlte Dutlow das Geld, empfing die Quittung und begab sich, nachdem er sich von dem Wirt und dem Freiwilligen verabschiedet hatte, nach der Wohnung des Kaufmanns, wo die Rekruten aus Pokrowskoje abgestiegen waren. Ilja saß mit seiner jungen Frau in der Küche in einer Ecke; beim Eintritt des Alten hörten sie auf zu sprechen und blickten ihn ergebungsvoll, aber unfreundlich an. Wie immer verrichtete der Alte zunächst ein Gebet; dann band er sich den Gurt auf, holte ein Blatt Papier hervor und rief seinen ältesten Sohn Ignat und Alias Mutter, die auf dem Hofe war, ins Zimmer.

»Versündige dich nicht, Ilja!« sagte er, indem er an seinen Neffen herantrat. »Du hast gestern zu mir ein arges Wort gesagt. Glaubst du denn, daß du mir nicht leid tatest? Ich denke daran, wie mein Bruder dich mir ans Herz legte. Wenn es in meiner Macht gestanden hätte, es zu ändern, würde ich dich dann wohl hingegeben haben? Aber nun hat mir Gott Glück gegeben, und ich habe mir das Geld nicht leid sein lassen. Hier, sieh dieses Papier!« sagte er, legte die Quittung auf den Tisch und faltete sie behutsam mit seinen krummen, steifen Fingern auseinander.

Von draußen kamen alle Bauern aus Pokrowskoje, die Leute des Kaufmanns und sogar fremdes Volk ins Zimmer herein. Alle errieten, worum es sich handelte, aber keiner unterbrach die feierliche Rede des Alten.

»Da ist das Papier! Vierhundert Rubel habe ich dafür gegeben. Nun mache deinem Onkel aber auch keine Vorwürfe mehr!«

Ilja stand auf; aber er schwieg, da er nicht wußte, was er sagen sollte. Seine Lippen zitterten vor Aufregung; seine alte Mutter wollte schluchzend zu ihm treten und ihm um den Hals fallen, aber der Alte führte sie langsam und gebieterisch zurück und redete weiter.

»Du hast gestern zu mir ein arges Wort gesagt,« entgegnete der Alte noch einmal; »du hast mich mit diesem Wort wie mit einem Messer ins Herz gestochen. Dein Vater hat dich mir sterbend anempfohlen; du bist von mir wie ein leiblicher Sohn behandelt worden, und wenn ich dich mit irgend etwas gekränkt habe, so muß man bedenken, daß wir allzumal Sünder sind. Nicht wahr, ihr rechtgläubigen Leute?« wandte er sich an die herumstehenden Bauern. »Da ist auch deine leibliche Mutter und deine junge Frau, und da ist die Quittung. Mag das Geld dahinfahren, in Gottes Namen! Mir aber verzeiht um Christi willen!«

Er schlug die Rockflügel zurück, ließ sich langsam auf die Kniee nieder und verbeugte sich tief vor Ilja und seiner Frau. Vergeblich suchten die jungen Eheleute ihn zurückzuhalten; er stand nicht eher auf, als bis er mit dem Kopfe die Erde berührt hatte; dann schüttelte er den Staub ab und setzte sich auf die Bank. Iljas Mutter und seine junge Frau heulten vor Freude; in der Menge wurden Äußerungen des Beifalls laut. »Das heißt nach der Gerechtigkeit und nach Gottes Willen handeln, ja wirklich!« sagte einer. »Was liegt am Gelde? Für Geld kann man einen solchen Burschen nicht kaufen,« bemerkte ein anderer. »Nein, die Freude!« sagte ein dritter. »Ein rechtschaffener Mensch, das muß man sagen!« Nur die Bauern, die zu Rekruten bestimmt waren, sagten nichts und gingen leise auf den Hof hinaus.

Zwei Stunden darauf fuhren die beiden Wagen Dutlows aus der Vorstadt hinaus. In dem ersten, vor den die grauscheckige Stute mit dem eingesunkenen Bauche und dem schweißbedeckten Halse gespannt war, saßen der Alte und Ignat. Im Hinterteil des Wagens wurden einige Bunde Kringel und Brezeln hin und her geschüttelt. In dem zweiten Wagen, den niemand lenkte, saßen ehrbar und glücklich die junge Frau und ihre Schwiegermutter, beide mit Kopftüchern. Die junge Frau hielt eine Branntweinflasche unter der Schürze. Ilja saß gebückt auf dem rüttelnden Vorderteil, den Pferden den Rücken zuwendend, mit gerötetem Gesicht, aß eine Brezel und redete unaufhörlich. Die Stimmen und das Rasseln der Wagen auf dem Pflaster und das Schnauben der Pferde, alles floß zu einem einzigen heiteren Tone zusammen. Die Pferde, die merkten, daß es nach Hause ging, schlugen mit den Schwänzen und verstärkten ihren Trab. Die Vorübergehenden und Vorüberfahrenden sahen sich unwillkürlich nach der vergnügten Familie um.

Gerade am Rande der Stadt kam die Familie Dutlow an einer Gruppe von Rekruten vorbei. Diese standen vor einer Schenke im Kreise umher. Ein Rekrut mit jenem unnatürlichen Ausdruck, den ein kahlgeschorener Schädel dem Menschen verleiht, hatte sich die graue Uniformmütze in den Nacken zurückgeschoben und spielte flott die Balalaika; ein anderer, ohne Mütze, mit einer Branntweinflasche in der einen Hand, tanzte in der Mitte des Kreises. Ignat hielt das Pferd an und stieg ab, um die Femerstränge festzubinden. Alle Dutlows schauten mit lebhaftem Interesse, beifällig und vergnügt, dem Tänzer zu. Der Rekrut sah, wie es schien, niemand, fühlte aber, daß das ihn bewundernde Publikum immer zahlreicher wurde, und das verlieh ihm noch mehr Kraft und Geschicklichkeit. Er tanzte sehr gewandt. Seine Augenbrauen waren zusammengezogen, sein gerötetes Gesicht unbeweglich; auf seinen Lippen war ein Lächeln zurückgeblieben, das schon längst jede Bedeutung verloren hatte. Alle Kräfte seiner Seele schienen darauf gerichtet zu sein, möglichst schnell einen Fuß nach dem andern bald auf den Hacken, bald auf die Spitze zu stellen. Manchmal hielt er plötzlich inne, gab dem Balalaikaspieler mit den Augen einen Wink, und dieser ließ dann alle Saiten noch flinker erklirren und klopfte sogar mit den Knöcheln auf die Decke des Instrumentes. Der Rekrut hielt inne; aber auch wenn er regungslos dastand, schien er doch zu tanzen. Auf einmal begann er sich langsam zu bewegen, indem er mit den Schultern zuckte, und schnellte sich dann plötzlich in die Höhe, kauerte beim Herunterfallen nieder und stieß in dieser Haltung mit wildem Kreischen die Beine abwechselnd nach vorn. Die Knaben lachten; die Frauen wiegten die Köpfe hin und her; die Männer lächelten beifällig. Ein alter Unteroffizier stand ruhig neben dem Tänzer, mit einer Miene, die besagte: »Euch kommt das wunderlich vor; aber unsereiner kennt das alles schon ganz genau.« Der Balalaikaspieler war sichtlich müde geworden, blickte träge um sich, griff einen falschen Akkord und klopfte auf einmal mit den Fingern auf die Decke des Instruments. Der Tanz war zu Ende.

»Sieh mal, Alexei!« sagte der Balalaikaspieler zu dem Tänzer, indem er auf Dutlow zeigte: »Da ist dein Pate!«

»Wo? Ah, du mein lieber Freund!« rief Alexei, eben jener Rekrut, den Dutlow gekauft hatte, und mit müden Beinen vorwärts taumelnd und die Branntweinflasche über den Kopf hebend, kam er auf den Wagen zu. »Michail! Ein Glas!« schrie er. »Du mein lieber Freund! Das ist einmal eine Freude, wirklich!...« rief er, sank mit seinem benommenen Kopfe in den Wagen und wollte die Bauern und die Frauen mit Schnaps traktieren. Die Bauern tranken; die Frauen lehnten ab. »Ihr lieben Leute, womit kann ich euch beschenken?« schrie Alexei und umarmte die Alten.

In dem Menschenschwarm stand eine Händlerin mit Eßwaren; Alexei erblickte sie, nahm ihr ihre Mulde aus den Händen und schüttete den ganzen Inhalt in den Wagen.

»Sei unbesorgt; ich bezahle alles; hols der Teufel!« rief er mit weinerlicher Stimme, zog sogleich einen Tabaksbeutel mit Geld aus der Hose und warf ihn dem Schankwirte zu.

Er stand da, mit den Ellbogen auf den Wagen gestützt, und blickte die Darinsitzenden mit feuchten Augen an.

»Welche ist die Mutter?« fragte er. »Du doch wohl? Der muß ich auch etwas schenken.«

Er überlegte einen Augenblick, griff dann in die Tasche, holte ein neues, zusammengefaltetes Taschentuch heraus, band sich das Handtuch ab, das er unter dem Mantel als Gurt trug, löste hastig das rote Tuch von seinem Halse, ballte alles zusammen und legte es der alten Frau auf die Kniee.

»Da! Das schenke ich dir!« sagte er mit immer leiser werdender Stimme.

»Aber warum denn? Ich danke dir, mein Lieber! Sieh mal, was ist das für ein netter junger Mensch!« sagte die alte Frau, sich zu dem alten Dutlow wendend, der zu ihrem Wagen herantrat.

Alexei war verstummt und ließ ganz betäubt, als wenn er einschlafen wollte, den Kopf immer tiefer sinken.

»Für euch werde ich Soldat, für euch gehe ich zugrunde!« sagte er. »Darum beschenke ich euch auch.«

»Er hat gewiß ebenfalls eine Mutter,« sagte einer aus der Menge. »Was für ein gutherziger Bursche! Schade um ihn!« Alexei hob den Kopf in die Höhe.

»Eine Mutter habe ich,« sagte er. »Auch einen Vater. Alle haben sie sich von mir losgesagt. Höre, Alte,« fuhr er fort und faßte Iljas Mutter bei der Hand, »ich habe dich beschenkt. So höre denn um Christi willen, was ich dir sagen will. Geh in das Dorf Wodnoje und frage da nach der alten Nikonowa; das ist meine Mutter, weißt du, und sage dieser alten Frau, der alten Frau Nikonowa ... es ist das dritte Haus vom Rande des Dorfes, und es ist da ein neuer Ziehbrunnen ... sage ihr, daß ihr Sohn Alexei ... das heißt ... Musikant, spiele!« schrie er.

Und er begann wieder zu tanzen und dabei zu reden und schleuderte die Flasche mit dem darin übriggebliebenen Branntwein auf die Erde.

Ignat stieg auf den Wagen und wollte weiterfahren.

»Leb wohl! Gott lasse es dir gut gehen!« sagte die alte Frau und schlug ihren Pelz zusammen.

Alexei hielt plötzlich inne.

»Fahrt zum Teufel!« schrie er und drohte mit den geballten Fäusten. »Die Pest über deine Mutter!«

»O Gott!« sagte Iljas Mutter und bekreuzigte sich.

Ignat trieb die Stute an, und die Wagen rasselten wieder weiter. Der Rekrut Alexei stand mitten auf der Landstraße und schimpfte mit geballten Fäusten und mit dem Ausdruck der ärgsten Wut im Gesicht aus Leibeskräften auf die Bauern.

»Warum habt ihr angehalten? Macht, daß ihr fortkommt! Ihr Teufel, ihr Menschenfresser!« schrie er. »Ihr sollt mir nicht entgehen! Ihr Kanaillen! Ihr elenden Lümmel!«

Hier versagte ihm die Stimme, und er fiel, so wie er dastand, lang zu Boden.

Die Dutlows gelangten bald ins freie Feld und konnten, als sie sich umblickten, den Rekrutenhaufen nicht mehr sehen. Nachdem sie etwa fünf Werst im Schritt gefahren waren, stieg Ignat vom Wagen seines Vaters, der eingeschlafen war, ab und ging neben Iljas Wagen her.

Sie tranken zu zweit die aus der Stadt mitgenommene Flasche Branntwein aus. Nach einem kleinen Weilchen stimmte Ilja ein Lied an, und die Frauen sangen mit. Ignat schrie vergnügt dazu im Takte des Liedes. In schneller Fahrt kam ihnen eine lustige Postkutsche entgegen. Der Postknecht schrie, als sie an den beiden vergnügten Bauernwagen vorbeikamen, munter auf seine Pferde ein; der Kondukteur sah sich um und deutete durch Blinzeln mit den Augen nach den roten Gesichtern der Bauern und der Weiber, die mit fröhlichem Gesange auf ihrem stoßenden Wagen dahinfuhren.

*


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