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Wo Liebe ist, da ist auch Gott.

In einer Stadt lebte ein Schuster, der hieß Martin Awdjeitsch. Er wohnte im Keller in einem einfenstrigen Stübchen. Das Fenster ging auf die Straße. Durch das Fenster konnte man die Leute vorübergehen sehen. Es waren zwar nur die Füße zu sehen, aber Martin erkannte die Leute an den Stiefeln. Er lebte schon lange am selben Ort und hatte viele Bekannte. Es gab kaum ein Paar Stiefel in diesem Teil der Vorstadt, das er nicht ein- oder zweimal in seinen Händen gehabt hätte. Das eine Paar hatte er besohlt, das zweite geflickt, das dritte frisch benäht oder gar mit neuen Kappen versehen. Und oft sah er durch das Fenster seiner Hände Werk. An Arbeit fehlte es ihm nicht, denn er arbeitete solide, verwendete gutes Leder, ließ sich nicht übermäßig teuer bezahlen und hielt sein Wort. Wenn er zur rechten Zeit fertig werden konnte, so nahm er die Bestellung an; wenn nicht, so machte er keine leeren Versprechungen, sondern sagte gleich Bescheid. Und alle kannten seine Art, und die Arbeit hörte nie auf. – Martin war immer ein guter Mensch gewesen, auf seine alten Tage aber begann er noch mehr als früher an sein Seelenheil zu denken und sich Gott zuzuwenden. Als er noch beim Meister gearbeitet hatte, war sein Weib gestorben und hatte ihm ein dreijähriges Bübchen hinterlassen. Die älteren Kinder waren alle früh gestorben. Anfangs dachte Martin daran, sein Söhnchen zu seiner Schwester aufs Land zu schicken, dann aber tat es ihm leid; er dachte: »Es wird meinem kleinen Kapiton schwer fallen, in einer fremden Sippe aufzuwachsen; ich will ihn lieber bei mir behalten!«

Und Martin trennte sich von seinem Meister und lebte mit dem Kleinen in einer Mietswohnung. Aber Gott gab ihm in seinen Kindern kein Glück: kaum war der Knabe so weit herangewachsen, daß er dem Vater tüchtig helfen konnte, da erkrankte er, legte sich zu Bett, fieberte etwa eine Woche lang und starb. Martin begrub den Sohn und war in Verzweiflung. In so großer Verzweiflung, daß er gegen Gott zu murren begann. Es überfiel ihn ein solcher Lebensüberdruß, daß er Gott mehr als einmal um den Tod bat und dem Herrn Vorwürfe machte, weil er nicht ihn, den alten Mann, zu sich genommen, sondern den geliebten einzigen Sohn. Martin hörte sogar auf, die Kirche zu besuchen.

Eines Tages kam zu Martin ein Landsmann, ein alter Mann aus dem Troltzki-Kloster Eines der berühmtesten und reichsten russischen Klöster, im Gouvernement Moskau gelegen, gegründet 1337. (Anm. d. Übers.) der schon seit acht Jahren pilgerte. Martin geriet mit ihm ins Gespräch und klagte ihm sein Leid.

»Und ich hab' keine Freude mehr am Leben, Mann Gottes,« sagt er, »ich möchte sterben. Um das allein nur bete ich zu Gott. Ein Mann ohne allen Trost, ohne jede Hoffnung bin ich!«

Der Greis aber entgegnete: »Du tust nicht recht, Martin. Wir dürfen das, was Gott tut, nicht verurteilen. Nicht unser Verstand, aber Gottes Hand! Deinem Sohne hat der Herr den Tod bestimmt, dir aber das Leben. Folglich muß es so wohl besser sein. Daß du aber so verzweifelst, das kommt daher, daß du zu deiner eigenen Freude leben willst.«

»Ja wozu soll ich denn sonst leben?« fragte Martin, und der Alte antwortete:

»Für Gott müssen wir leben, Martin. Er gibt dir das Leben, daher mußt du es ihm weihen. Wenn du das tust, wirst du dich um nichts mehr grämen und alles wird dir leicht erscheinen.«

Martin schwieg eine Weile und fragte dann: »Und wie kann man denn für Gott leben?«

Und der Alte erwiderte: »Wie man für Gott lebt, das hat uns Christus gezeigt. Kannst du lesen? Dann kauf' dir das Evangelium und lies: da wirst du erfahren, wie man für Gott lebt. Da ist alles das gesagt.«

Und diese Worte fielen in Martins Herz, und noch am selben Tage ging er hin, kaufte sich ein Neues Testament in großem Druck und begann zu lesen.

Martin wollte nur an Feiertagen lesen, aber als er zu lesen anfing, wurde ihm das Herz so leicht, daß er von nun an jeden Tag las. Manchmal vergaß er alles über dem Lesen: das Öl in der Lampe brannte zu Ende, er aber konnte sich noch immer nicht von dem Buche losreißen. Und so las Martin denn jeden Abend. Und je mehr er las, um so besser verstand er, was Gott von ihm wollte und wie er für Gott leben müßte. und es wurde ihm leichter und leichter ums Herz. Früher hatte er abends vor dem Einschlafen gestöhnt und gejammert und um den verstorbenen Sohn getrauert, jetzt aber flüsterte er nur: »Preis sei dir, o Herr, Preis sei dir! Dein Wille geschehe!«

Martins ganze Lebensweise veränderte sich. Früher war er manchmal am Feierabend ins Wirtshaus gegangen, ein Glas Tee zu trinken, und hatte auch ein Schnäpschen nicht verschmäht. Zuweilen hatte er mit Bekannten beisammen gesessen und getrunken, und wenn er sich auch nicht grade einen Rausch angelegt hatte, so war er doch beim Verlassen des Wirtshauses angeheitert gewesen, hatte Unsinn geschwätzt, gescholten, über seine Nebenmenschen losgezogen. Jetzt war das alles ganz von selbst anders geworden. Sein Leben wurde still und freudig. Frühmorgens setzt er sich an die Arbeit, nach vollbrachtem Tagewerk aber nimmt er das Wandlämpchen vom Haken, stellt es auf den Tisch, holt das Buch vom Wandbrett, schlägt es auf und setzt sich zum Lesen nieder. Und je mehr er liest, um so mehr versteht er, und um so klarer und heiterer wird es in seinem Herzen.

Einst geschah es, daß Martin wieder bis spät in die Nacht über dem Buche saß. Er war gerade beim Evangelium des Lukas; er las im 6. Kapitel die Verse: »Und wer dich auf die Wange schlägt, dem reiche auch die andere dar; und dem, der dir den Mantel nimmt, verweigere auch den Rock nicht! Gib jedem, der dich bittet; und wer das Deine nimmt, von dem fordere es nicht zurück. Und wie ihr wollt, daß euch die Leute tun, so tut auch ihr ihnen desgleichen.« Und er las weiter die Verse, in denen der Herr spricht: »Was aber ruft ihr mich: Herr! Herr! und tut nicht, was ich sage? Jeder, der zu mir kommt und meine Rede hört und sie tut, wem dieser gleich ist, das will ich euch zeigen. Er ist gleich einem Mann, der ein Haus baute, der tief grub und den Grund auf den Felsen legte. Als nun eine Überschwemmung kam, stieß der Strom an jenes Haus und konnte es nicht erschüttern; denn es war auf den Felsen gegründet. Wer aber hört und nicht tut, der ist gleich einem Menschen, der sein Haus ohne Untergrund auf die Erde hinbaute; an dieses Haus stieß der Strom und sogleich fiel es zusammen und der Zusammensturz dieses Hauses ward groß.«

Martin las diese Worte und es wurde ihm fröhlich ums Herz. Er nahm die Brille ab, legte sie auf das Buch, stützte die Ellenbogen auf den Tisch und dachte nach. Er begann sein Leben mit diesen Worten zu vergleichen, und fragte sich: »Steht mein Haus auf dem Felsen oder auf dem Sande? Gut, wenn's auf dem Felsen steht. Es ist so leicht, wenn man allein dasitzt: es scheint einem, man habe alles so gemacht, wie Gott es befohlen hat; sobald man sich aber zerstreut, sündigt man wieder. Dennoch – ich will immer nach dem Besten streben. Das ist gar so schön. Hilf mir, Herr!«

Mit diesem Gedanken wollte er sich schlafen legen, aber es fiel ihm schwer, sich von dem Buche loszureißen, und er begann noch das 7. Kapitel zu lesen. Er las vom Hauptmann zu Kapharnaum, vom Sohn der Witwe, las die Antwort, die den Jüngern des Johannes zuteil ward, und kam bis zu der Stelle, wo der reiche Pharisäer den Herrn zu sich zu Gaste bat, und las, wie die arme Sünderin ihm die Füße salbte und sie mit ihren Tränen wusch, und wie er sie rechtfertigte. Und er kam bis zum 44. Verse und las: »Dann wandte er sich zu dem Weibe und sprach zu Simon: Siehst du dieses Weib? Ich kam in dein Haus und du hast mir kein Wasser für die Füße gegeben, diese aber hat meine Füße mit Tränen benetzt und sie mit ihren Haaren getrocknet. Du hast mir keinen Kuß gegeben, diese aber hat, seit sie hereingekommen ist, nicht aufgehört, meine Füße zu küssen. Du hast mein Haupt nicht mit Öl gesalbt, diese aber hat meine Füße mit Salböl gesalbt.«

Martin las diese Verse und dachte: »Kein Wasser für die Füße gereicht, keinen Kuß gegeben, das Haupt nicht mit Öl gesalbt ...« Und er nahm wieder die Brille ab, legte sie aufs Buch und verfiel in tiefes Sinnen. »Offenbar war der Pharisäer so einer wie ich,« dachte er; »auch ich habe nur an mich selbst gedacht: daß ich mein Gläschen Tee trinken, im Warmen sitzen und es mir gut sein lassen kann. An einen Gast aber habe ich nicht gedacht. Mich vergesse ich nicht, um einen Gast jedoch kümmere ich mich nicht. Wer aber ist der Gast? Der Herr selbst! Wenn er zu mir käme, würde ich wohl so handeln?«

Und Martin stützte den Kopf auf beide Hände und merkte nicht, daß er einschlummerte.

»Martin!« klang es plötzlich wie ein Hauch an sein Ohr. Martin fuhr auf und fragte:

»Wer ist da?«

Er wandte sich um und blickte nach der Tür, – niemand war da. Da schlummerte er wieder ein. Plötzlich hört er ganz deutlich:

»Martin! aber Martin! Sieh morgen auf die Straße hinaus, ich werde kommen.«

Martin erwachte, stand auf, rieb sich die Augen. Er wußte selbst nicht, ob er jene Worte im Wachen oder im Traume gehört hatte. Er drehte die Lampe aus und legte sich schlafen.

Am andern Morgen erhob sich Martin vor Tagesanbruch, betete, heizte den Ofen an, setzte Sauerkrautsuppe und Buchweizengrütze ans Feuer, richtete den Ssamowar, band seine Schürze um und setzte sich ans Fenster zur Arbeit. So sitzt er da und arbeitet und denkt unaufhörlich an das, was gestern abend geschehen ist. Bald glaubt er, er habe nur geträumt, bald, daß er die Stimme wirklich gehört habe.

»Warum nicht?« sagt er sich, »auch so was ist schon vorgekommen!«

Martin sitzt am Fenster und schaut mehr hinaus, als daß er arbeitet. Sobald jemand in Stiefeln vorübergeht, die er nicht kennt, beugt er sich vor und schaut zum Fenster hinaus, um nicht nur die Füße, sondern auch das Gesicht zu sehen. Es ging der Hausknecht in neuen Filzstiefeln vorüber, dann der Wasserträger, dann erschien vor dem Fenster der alte Soldat, der unter Kaiser Nikolaus gedient hatte; er hatte alte, geflickte Filzstiefel an und hielt eine Schneeschaufel in der Hand. Martin erkannte ihn an den Filzstiefeln. Der Alte hieß Stepanitsch und wohnte bei dem benachbarten Kaufmann, der ihm aus Barmherzigkeit Obdach gewährte. Er hatte die Pflicht, dem Hausknecht zu helfen. Stepanitsch begann, grade vor Martins Fenster den Schnee wegzuschaffen. Martin sah ihm eine Weile zu und nahm dann wieder seine Arbeit auf.

»Mir scheint, ich bin vor Alter närrisch geworden,« spottete er über sich selbst; »Stepanitsch schaufelt den Schnee fort, ich aber bilde mir ein, Christus komme zu mir! Ganz närrisch bin ich geworden, ich alter Graukopf!«

Aber kaum hatte er zehn Stiche gemacht, so zog es ihn schon wieder ans Fenster. Er schaut abermals hinaus und sieht, Stepanitsch hat die Schaufel an die Mauer gelehnt und steht da, sich wärmend oder erholend.

»Es ist ein alter, hinfälliger Mann,« denkt Martin, »hat nicht einmal Kraft genug zum Schneeschaufeln. Sollte ich ihm nicht ein Gläschen Tee geben? Der Ssamowar kocht so schon über.«

Martin steckte die Ahle ein, stellte den Ssamowar auf den Tisch, goß heißes Wasser über den Tee in der Teekanne und klopfte mit dem Finger an die Scheibe. Stepanitsch drehte sich um und trat ans Fenster. Martin winkte ihm und ging die Tür zu öffnen.

»Komm' herein und wärm' dich ein bißchen,« sagt er; »bist wohl ganz erfroren, was?«

»Gott steh' mir bei,« antwortet Stepanitsch, »alle Knochen tun mir weh.«

Dabei trat er ein, schüttelte den Schnee ab und begann die Stiefel abzureiben, um auf dem Fußboden keine Spuren zu hinterlassen; er wankte vor Müdigkeit.

»Laß doch,« sagte Martin, »ich werd's schon aufwischen, das ist meine Sache. Komm', setz' dich an den Tisch, trink ein Gläschen Tee.«

Und Martin füllte zwei Gläser, schob eines dem Gast hin, schüttete seinen Tee auf die Untertasse und begann zu blasen, um das heiße Getränk zu kühlen. Stepanitsch leerte sein Glas, drehte es um, mit dem Boden nach oben, legte das Stückchen Zucker, von dem er abgebissen hatte Der russische Bauer trinkt seinen Tee »mit Zubitz«, d.h. er wirft den Zucker nicht ins Glas, sondern hält ihn in der Hand und beißt von Zeit zu Zeit ein Bröckelchen ab; auf diese Weise reicht ein einziges Stückchen Zucker für mehrere Glas Tee. (Anm. d. Übers.), oben darauf und fing an sich zu bedanken. Man merkte es ihm aber an, daß er gern noch mehr getrunken hätte.

»Trink doch noch!« sagt Martin und schenkt sich und dem Gast noch ein Glas ein. Er trinkt seinen Tee, blickt dabei aber immer wieder auf die Straße.

»Erwartest du jemand?« fragt der andere.

»Ob ich jemand erwarte? Ich schäme mich fast zu sagen, wen ich erwarte! Ich warte und warte auch wieder nicht; mir ist da ein Wort ins Herz gedrungen. Vielleicht war's eine Vision oder so was, – ich weiß es selbst nicht. Siehst du, Brüderchen, ich las gestern das Evangelium von Väterchen Christus, wie er gelitten hat, wie er auf Erden gewandelt ist. Hast doch davon gehört, was?«

»Freilich, freilich!« erwiderte Stepanitsch, »gehört wohl, aber unsereins ist ungebildet und kann nicht lesen.«

»Na also, ich las grade, wie er auf Erden gewandelt ist, las, weißt du, wie er zum Pharisäer gekommen ist und wie der ihm keinen rechten Empfang bereitet hat. Das alles las ich also, Brüderchen, und dachte gestern abend so: wie wenig Ehren hat der Pharisäer doch unserm Väterchen Christus erwiesen! Passierte das z. B. mir oder sonst wem, – dacht' ich so, – wir wüßten gar nicht was tun, um ihn würdig zu empfangen. Der aber hat ihm gar keinen Empfang bereitet! So dachte ich und schlummerte dabei ein. Ich schlummerte also ein, Brüderchen, und hör' plötzlich, es ruft mich jemand beim Namen; ich richt' mich auf und hör' jemand flüstern: Warte auf mich, morgen komm ich zu dir! Und so war's zweimal. Nun und daher – ob du mir's glaubst oder nicht – hab' ich mir das in den Kopf gesetzt; ich schelte mich selber, und warte doch immer wieder auf ihn, auf unser Väterchen!«

Stepanitsch wiegte den Kopf hin und her und sagte nichts, leerte sein Glas und drehte es um, aber Martin stellte es wieder auf und füllte es von neuem.

»Trink zur Gesundheit! – Ich denk' so: als der Herr noch auf Erden wandelte, verachtete er doch niemand und verkehrte zumeist mit schlichten Leuten. Er besuchte das einfache Volk und wählte seine Jünger meistenteils unter solchen Leuten, wie wir Sünder es sind, unter Arbeitern. Wer sich selbst erhöht, sprach er, wird erniedrigt werden. Ihr nennt mich Herr, sprach er, ich aber will euch die Füße waschen. Wer der Erste sein will, sprach er, der diene den andern. Denn selig, sprach er, sind die Armen, die Sanftmütigen und Friedliebenden und Barmherzigen.«

Stepanitsch vergaß seinen Tee; er war ein alter und weichherziger Mann. Er sitzt da und hört zu und über seine Wangen rollen die Tränen.

»Nun, trink doch noch!« sagte Martin.

Aber Stepanitsch bekreuzigte sich, dankte, schob das Glas zurück und stand auf.

»Hab' Dank, Martin Awdjeitsch,« sagte er, »du hast mich bewirtet und hast mir Leib und Seele erquickt.«

»Bitte! Du bist immer willkommen!« erwiderte Martin, »komm bald wieder einmal herein, ich freue mich deines Besuches.«

Stepanitsch ging fort, Martin aber goß den Rest des Tees in sein Glas, trank aus, räumte das Geschirr fort und setzte sich wieder ans Fenster zu seiner Arbeit, einen Absatz zu steppen. Er steppt und blickt dabei immer wieder zum Fenster hinaus: er wartet auf den Heiland, denkt nur an ihn und an seine Werke. Und allerhand Reden des Herrn gehen ihm im Kopf herum.

Zwei Soldaten gingen vorüber, der eine in Dienststiefeln, der andere in seinen eigenen; dann kam der Hausherr von nebenan in sauberen Galoschen; dann der Bäcker mit einem Korbe in der Hand. Alle gingen vorüber. Jetzt erschien vor dem Fenster eine Frau in wollenen Strümpfen und Bauernschuhen. Sie ging vorbei und blieb an der Mauer zwischen den Fenstern stehen. Martin beugte sich vor und blickte durchs Fenster zu ihr hinauf; es war eine fremde, schlechtgekleidete Frau mit einem Kinde auf dem Arm; sie stand an der Mauer mit dem Rücken gegen den Wind und bemühte sich, das Kind einzuhüllen, hatte aber nichts Rechtes dazu. Ihre Kleidung ist dünn und schlecht. Und Martin hört durchs Fenster, wie das Kind schreit und wie die Mutter es vergebens zu beschwichtigen sucht. Er steht auf, geht hinaus auf die Stiege und ruft:

»Frau! hör' mal, liebe Frau!«

Die Frau wandte sich um.

»Was stehst du so in der Kälte mit dem Kindchen? Komm herein in die Stube, in der Wärme wirst du besser mit ihm fertig werden. Hier herein!«

Die Frau wundert sich. Ein alter Mann in einer Arbeitsschürze, mit einer Brille auf der Nase, ruft sie zu sich! Sie folgt ihm die Stiege hinab und ins Zimmer.

»Setz dich hierher, nah an den Ofen,« sagt der Alte und zeigt auf die Lagerstatt; »wärm' dich und nähr' dein Kleinchen.«

»Ich hab' keine Milch, hab' selbst seit der Früh nichts gegessen,« antwortet das Weib, legt das Kind aber doch an die Brust.

Martin schüttelte den Kopf, ging an den Tisch, holte Brot und einen Teller, öffnete die Ofentür, schöpfte Sauerkrautsuppe auf den Teller und nahm auch den Topf mit Buchweizengrütze heraus, doch die Grütze war noch nicht genug gedünstet, so stellte er denn nur die Suppe auf den Tisch. Dann nahm er das Handtuch vom Nagel und breitete es auf dem Tische aus.

»Setz' dich, gute Frau,« sagte er, »und iß, ich warte unterdessen das Kind. Hab' ja selbst Kinder gehabt – versteh' mit ihnen umzugehen.«

Die Frau bekreuzigte sich, setzte sich an den Tisch und fing an zu essen, Martin aber setzte sich zum Kinde aufs Bett. Er schnalzte mit den Lippen, aber es ging nicht recht, weil ihm die Zähne fehlten. Das Kindchen schrie fortwährend. Da kam Martin auf den Gedanken, mit ihm zu spielen: er fuhr mit dem Finger auf das kleine Mündchen los und zog die Hand dann schnell wieder zurück. In den Mund steckte er den Finger nicht, weil seine Hand schmutzig und voller Pech war. Und das Kindchen sah den Finger aufmerksam an, wurde still und begann schließlich zu lachen. Und Martin freut sich darüber. Die Frau aber ißt und erzählt dabei, wer sie ist und wohin sie will.

»Ich bin ein Soldatenweib,« sagt sie; »mein Mann ist vor bald acht Monaten weit fortgeschickt worden und ich hab' seither nichts mehr von ihm gehört. Ich war Köchin, – da kam das Kleine. Mit dem Kinde wollte man mich nicht behalten. So bin ich denn schon im dritten Monat ohne Stelle. Hab' alles verzehrt, was ich hatte. Ich wollte als Amme gehen – man nimmt mich aber nicht – ich sei zu mager, sagt man. Nun war ich bei einer Kaufmannsfrau, bei der eine Verwandte von uns lebt, dort versprach man, mich zu nehmen. Ich rechnete fest darauf, aber die Frau sagte, ich solle erst nächste Woche kommen. Und sie wohnt so weit! Ich bin todmüde, und hab' auch den Kleinen, mein Herzenskind, müde gequält. Gott sei Dank, die Wirtin erbarmt sich unser und behält uns um Christi willen in der Wohnung. Sonst wüßte ich wirklich nicht, wie ich weiterleben sollte.«

Martin seufzte tief auf und fragte: »Und warme Kleidung hast du wohl auch nicht?«

»Wo sollte ich sie wohl herhaben, mein Lieber? Gestern hab' ich mein letztes Tuch für zwanzig Kopeken verpfändet.«

Die Frau trat ans Bett und nahm das Kind wieder auf, Martin aber erhob sich, ging zur Wand, wo seine Kleider hingen, suchte ein Weilchen und brachte eine alte Unterjacke zum Vorschein.

»Nimm,« sprach er, »wenn's auch ein schlechtes Stück ist, zum Einwickeln des Kleinen wird's noch zu brauchen sein.«

Die Frau sah die Jacke an, sie sah den Alten an, nahm die Jacke und begann zu weinen. Martin wandte sich ab, kroch unter das Bett, zog einen kleinen Koffer hervor, wühlte darin herum und setzte sich dann wieder der Frau gegenüber.

Und die Frau sprach: »Der Heiland segne dich, Großväterchen! Er ist's offenbar gewesen, der mich vor dein Fenster geschickt hat. Sonst wär' mir das Kindchen erfroren. Als ich ausging, war es warm, aber jetzt bläst so ein kalter Wind. Und er, der Herr, hat dich geheißen, durchs Fenster zu blicken und mit mir Elenden Mitleid zu haben.«

Martin lächelte und sagte: »Wirklich, er hat mich's geheißen. Nicht ohne Grund schaue ich zum Fenster hinaus, gute Frau!«

Und er erzählte der Frau seinen Traum und wie er eine Stimme gehört, die ihm für heute den Besuch des Herrn versprochen.

»Alles ist möglich,« sprach die Frau, stand auf, warf die Unterjacke über die Schulter, hüllte das Kind darin ein, verneigte sich zu wiederholten Malen und dankte dem Alten nochmals.

»Nimm dies um Christi willen!« sagte Martin und gab ihr ein Zwanzigkopekenstück, »kannst dein Tuch damit einlösen.«

Das Weib bekreuzigte sich, Martin tat dasselbe und begleitete die Frau dann hinaus.

Die Frau war fort. Martin aß von der Sauerkrautsuppe, räumte den Tisch ab und setzte sich wieder an seine Arbeit. Er arbeitet fleißig, vergißt aber das Fenster nicht. Sobald sich ein Schatten vor dem Fenster zeigt, blickt er sofort hinaus. Es gingen Bekannte vorbei und Fremde, und nichts Besonderes geschah.

Jetzt sieht Martin, daß grade vor seinem Fenster ein altes Höckerweib stehen bleibt. Sie trägt einen Korb aus Birkenrinde mit Äpfeln. Nur wenige sind noch übrig, die andern hat sie jedenfalls schon verkauft. Auf der Schulter hat sie einen Sack mit Spänen. Wahrscheinlich hat sie die irgendwo auf einem Bauplatz gesammelt und geht nun nach Hause. Man sieht, wie der Sack ihre Schulter herunterzieht; sie will ihn auf die andere Schulter legen, setzt ihn aufs Trottoir, stellt den Korb mit den Äpfeln auf einen kleinen Pfosten und beginnt die Späne im Sack zusammenzuschütteln. Unterdessen kommt – hast du nicht gesehen – ein Junge in zerrissener Mütze angerannt, ergreift einen Apfel und will weiterlaufen. Die Alte aber hat's bemerkt, dreht sich schnell um und packt den Jungen am Ärmel. Der Bengel stößt um sich und will sich losreißen, doch die Alte hält ihn mit beiden Händen, schlägt ihm die Mütze vom Kopf und faßt ihn an den Haaren. Der Junge schreit, die Alte schimpft.

Martin nahm sich nicht einmal die Zeit, seine Ahle ins Leder zu stecken, warf sie auf den Fußboden, sprang zur Tür hinaus und die Stiege hinauf, stolperte und verlor sogar seine Brille. Als er auf die Straße gelaufen kam, zauste dis Alte den Jungen grade an den Haaren und drohte, ihn zum Schutzmann zu führen. Der Junge wehrte sich und schrie:

»Ich hab' nichts genommen! Warum schlägst du mich? Laß mich los!«

Martin trennte die beiden, nahm den Jungen bei der Hand und sagte:

»Gib ihn frei, Großmütterchen, verzeih ihm um Christi willen!«

»Ja freilich!« rief das Höckerweib, »ich werd' ihm so verzeihen, daß er ein ganzes Jahr dran denken soll! Auf die Polizei führ' ich den Taugenichts!«

Martin begann zu bitten: »Laß ihn, Großmütterchen, er wird's nicht wieder tun. Laß ihn laufen, um Christi willen!«

Die Alte gab den Jungen frei. Der wollte gleich davonlaufen, Martin aber hielt ihn zurück.

»Bitt' die Frau um Verzeihung,« sprach er, »und tu nie wieder so etwas; ich hab' gesehen, wie du den Apfel genommen hast.«

Der Knabe begann zu weinen und bat um Verzeihung.

»So ist's recht!« sagte Martin, »und da hast du jetzt einen Apfel, – nimm!« Und er hielt dem Knaben einen Apfel aus dem Korbe hin, indem er der Alten sagte: »Ich bezahl's, Großmutter.«

»So verwöhnst du die Spitzbuben,« brummte das Höckerweib, »Prügel sollte er kriegen, daß er eine ganze Woche nicht sitzen kann!«

»Ach Mütterchen, Großmütterchen!« antwortete Martin, »so meinen wir es wohl, Gott aber meint es anders. Wenn man den Jungen für den Apfel durchprügeln soll, was soll dann mit uns wegen unserer Sünden geschehen?«

Die Alte schwieg. Und Martin erzählte ihr das Gleichnis von dem Herrn, der seinem Knecht die ganze Schuld erließ, der Knecht aber ging hin und begann seinen Mitknecht wegen der kleinen Schuld zu würgen. Die Alte hörte aufmerksam zu, und auch der Junge hörte zu.

»Gott hat uns befohlen, zu verzeihen,« fuhr Martin fort, »sonst wird auch uns nicht verziehen werden. Allen müssen wir verzeihen, am meisten aber den Unvernünftigen.«

Die Alte wiegte den Kopf hin und her und seufzte:

»Ja, ja, das ist wohl so, – wenn sie nur nicht gar so ausgelassen wären.«

»Daher sollen wir Alten sie belehren,« erwiderte Martin.

»Das sage ich auch,« sprach das Weib, »ich hab' selbst sieben Kinder gehabt, – eine einzige Tochter ist mir geblieben.« Und sie begann zu erzählen, wo und wie sie bei der Tochter lebte und wieviel Enkel sie hatte. »Meine Kraft ist nicht mehr groß,« sprach sie, »aber ich plage mich so gut es geht. Die Enkel tun mir leid, und es sind so gute Kinder! Niemand begrüßt mich so freundlich wie sie. Und die Kleine – die geht zu niemand, wenn sie bei mir sein kann. Großmutter, liebes Großmütterchen, Herzensgroßmütterchen! heißt's da ...«

Und die Alte wurde ganz gerührt. »Na ja, Kinder sind Kinder!« sagte sie dann, auf den Jungen deutend, »mag er laufen, in Gottes Namen!«

Und als sie nun den Sack auf die Schulter heben wollte, sprang der Knabe herzu und rief:

»Laß mich ihn tragen, Großmutter, ich hab' denselben Weg.«

Die Alte nickte mit dem Kopfe und lud dem Knaben den Sack auf. Und sie schritten miteinander die Straße hinab. Die Alte hatte sogar vergessen, Martin an das Geld für den Apfel zu erinnern. Martin stand da und blickte ihnen nach und hörte, wie sie im Gehen miteinander plauderten. Er begleitete sie so eine Weile mit den Augen und ging dann zurück ins Haus, fand auf der Stiege die Brille, die nicht einmal zerbrochen war, hob die Ahle auf und setzte sich wieder an seine Arbeit. Als er ein wenig gearbeitet hatte, wurde es schon zu dunkel zum Einfädeln und er sah auch schon den Laternenmann vorübergehen, um die Straßenlaternen anzuzünden.

»Man muß wohl Licht machen,« dachte Martin, – richtete das Lämpchen her, hing es auf und begann wieder zu arbeiten. Er beendete den einen Stiefel, drehte ihn hin und her, betrachtete ihn von allen Seiten, – er war gut. Nun legte er sein Werkzeug fort, räumte Borsten, Stifte und Pfriemen beiseite, nahm die Lampe, stellte sie auf den Tisch und holte das Neue Testament vom Wandbrett. Er wollte das Buch da aufschlagen, wo er gestern ein Stückchen Saffianleder als Zeichen eingelegt hatte, aber es öffnete sich an einer andern Stelle. Und im selben Augenblick erinnerte sich Martin an seinen gestrigen Traum. Kaum aber hatte er daran gedacht, da war es ihm, als rühre sich etwas hinter ihm, als gehe jemand hin und her. Er dreht sich um und sieht: dort in der dunklen Ecke stehen wirklich Leute; es stehen Leute da, er kann aber nicht erkennen, wer sie sind. Und eine Stimme flüstert ihm ins Ohr:

»Martin, ach Martin, hast du mich denn nicht erkannt?«

»Wen denn?« fragt Martin.

»Mich,« erwidert die Stimme, »sieh', das bin ich!«

Und aus der dunklen Ecke trat Stepanitsch hervor, lächelte und verging wie eine Wolke. Die Stimme an Martins Ohr aber flüsterte:

»Auch das bin ich!«

Und aus der dunklen Ecke trat das arme Weib mit dem Säugling; das Weib lächelte, das Kindchen lachte – und beide verschwanden.

»Auch das bin ich!« sprach die Stimme.

Und aus der dunklen Ecke trat das alte Höckerweib und der Junge mit dem Apfel; beide lächelten Martin an und verschwanden.

Da wurde es Martin so fröhlich ums Herz. Er bekreuzigte sich, setzte die Brille auf und begann zu lesen, da, wo das Buch sich geöffnet hatte. Gleich oben auf der Seite stand: »Ich war hungrig, und ihr habt mich gespeist, ich war durstig, und ihr habt mich getränkt, ich war fremd, und ihr habt mich beherbergt ...« Und unten auf der Seite las er: »Wahrlich, ich sage euch: soweit ihr es einem dieser meiner geringsten Brüder getan habt, habt ihr es mir getan.« (Matth. 25, 35 und 40.)

Und Martin begriff, daß der Traum ihn nicht getäuscht hatte, daß sein Erlöser heute wirklich zu ihm gekommen war, und daß er den Herrn empfangen hatte.


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