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X.

Im Morgengrauen erwachte Nikita; die seinen Körper durchrieselnde Kälte weckte ihn. Ihm war, als käme er mit einem Wagen voll Mehlsäcke aus der Mühle, und als er bei Ljapino an der Brücke vorüberfuhr, blieb der Wagen im Schmutz stecken. Er kroch also darunter und stemmte sich mit dem Rücken dagegen, um ihn zu heben. Sonderbarerweise aber konnte er das Fahrzeug nicht bewegen, sondern es klebte an seinem Rücken fest, so daß er nicht einmal wieder darunter vorkriechen konnte. Sein ganzer Rücken fühlte sich wie zerquetscht, und wie ein Eisklumpen lastete es auf ihm.

Nein, darunter kann er nicht länger bleiben.

»Ich muß heraus!« rief er dem zu, der mit dem Wagen auf seinen Rücken drückte. »Ladet doch die Säcke ab!«

Doch der Wagen drückt immer schwerer und wird kälter und kälter. Da plötzlich klopft etwas und nun erst wird Nikita vollends wach und besinnt sich auf seine Umgebung. Der kalte Wagen ist sein toter, erfrorener Herr, der auf ihm liegt; das Klopfen aber rührt von Gelbmaul her, der mit den Hufen gegen den Schlitten schlug.

»Wassilij Andrejitsch! Wassilij Andrejitsch!« ruft Nikita ganz leise und ahnt doch schon die schreckliche Wahrheit.

Nein, es erfolgt keine Antwort; Körper und Füße des Erfrorenen sind starr und kalt und drücken wie Bleigewichte.

»Er ist wirklich tot, der arme Herr! Gott schenke ihm ewigen Frieden!«

Nun dreht Nikita ein wenig den Kopf und befreit sein Gesicht mühsam und so gut es gehen mag, vom Schnee. Dann erst schlägt er die Augen auf und sieht, daß es zwar hell ist, daß aber der Schnee immer noch hernieder wirbelt und lautlos Schlitten und Pferd höher und höher einhüllt. Die Bewegungen und das Schnauben des Tieres aber hört man nicht mehr.

»Der gute Braune muß auch erfroren sein!« sagt Nikita, und ein Gefühl des Bedauerns durchzieht sein Herz.

Und so war es auch. Die Hufschläge gegen den Schlitten waren die letzten Bemühungen des ganz erstarrten und verendenden Tieres gewesen, sich aufrecht zu erhalten.

»O, mein Herr und Gott, nun rufst Du auch wohl mich selbst!« rief Nikita aus. »Nun, Dein Wille geschehe! Der Gedanke daran ist freilich nicht schön, aber – einmal muß man sterben, und zweimal kann es einem nicht passieren. Wenn es nur wenigstens schnell geht!«

Ganz ergeben und vollständig überzeugt, daß er nun sterben werde, verwahrte er seine Hand wieder in seinem Burnus, schloß die Augen und wehrte allen schlimmen Gedanken.

 

Um die Mittagsstunde des folgenden Tages fand man Wassilij Andrejitsch und Nikita etwa dreißig Faden vom Wege und eine halbe Werst vom Dorfe entfernt und grub sie aus. Ohne die emporragenden Deichselstangen und das daran befestigte Tuch hätte man die Verschneiten garnicht bemerkt, denn der Schlitten war vollständig vom Schnee bedeckt. Das Pferd stand bis zum Bauch im Schnee und war auch auf dem Rücken ganz damit bedeckt. Sein toter Kopf war auf die Brust gesunken; von den Nüstern hingen Eiszapfen herunter, und Eiszäpfchen umgaben seine Augen wie gefrorene Tränen. In dieser einen furchtbaren Nacht war das Tier so abgemagert, daß es nur noch Haut und Knochen zu sein schien.

Wassilij Andrejitsch wälzte man von Nikita herab wie ein geschlachtetes und gefrorenes Schwein. Seine weitvorstehenden Habichtsaugen waren ganz vereist, und der offenstehende Mund lag voll Schnee.

Nikita lebte, obwohl er völlig erstarrt war. Als man ihn aus seiner Bewußtlosigkeit erweckte, meinte er, er sei gestorben, und alles, was um ihn her vorging, geschähe nicht in dieser, sondern in jener Welt. Anfangs verwunderte er sich, als er das Schreien der Bauern hörte, die Wassilij Andrejitsch von ihm abwälzten und ihn ausgruben, das in jener Welt die Bauern auch so schreien könnten; nach und nach aber wurde es ihm doch klar, daß er sich noch hier in diesem Erdenthal befand, und diese Erkenntnis bereitete ihm mehr Verdruß als Freude, besonders da es sich herausstellte, daß er die Zehen an beiden Füßen erfroren hatte.

Einige Monate mußte Nikita im Krankenhaus liegen, wo ihm drei Zehen abgenommen wurden. Da die anderen wieder heilten, wurde er glücklicherweise wieder zur Arbeit fähig.

Er lebte noch zwanzig Jahre, von denen er einen großen Teil als Knecht verbrachte, die anderen als Nachtwächter.

Erst in diesem Jahre ist er gestorben, und zwar ganz so, wie er es sich gewünscht hatte: unter den Heiligenbildern in seinem Hause, eine brennende Wachskerze in der Hand. Auf seinem Sterbebett hat er seine Frau um Verzeihung gebeten und ihr auch seinerseits alles, insbesondere den Böttcher, vergeben. Darnach nahm er Abschied von seinen Kindern und Enkeln und verschied in dem fröhlichen Bewußtsein, daß nun Sohn und Schwiegertochter von einem unnützen Esser befreit waren, und daß er selbst nun endlich aus diesem Leben, dessen er schon längst überdrüssig war, eingehe in ein anderes, das ihm seit jener Sturmnacht mit jeder Stunde begreiflicher und wünschenswerter geworden war.

Ob es ihm im Jenseits besser oder schlechter erging als hier, ob er sich enttäuscht fühlte, oder ob er dort fand, was er erhofft und erwünscht hatte?

Wir alle werden das einst im Lichte erkennen.

*

 


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