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XI.

[Die Kirche hindert die Befolgung der Gebote Christi. Russisches Gebetbuch. Rassischer Katechismus. Zeremonien und Metaphysik verdrängen die Sittenlehre.
Daher allgemeiner Abfall von der Kirche.
Selbständiger Fortschritt der Welt.
Es ist Zeit, die von der Kirche so lange verhüllten Gebote Christi anzunehmen, sie sind mit jeder theoretischen Anschauung vereinbar.]

 

Die Lehre Christi stellt das Reich Gottes auf Erden her. Es ist nicht wahr, dass die Erfüllung dieser Lehre schwer ist; nicht nur dass sie nicht schwer ist, sondern sie ist unumgänglich für denjenigen, der sie erkannt hat. Diese Lehre zeigt die einzige mögliche Errettung von dem unvermeidlich bevorstehenden Untergange des persönlichen Lebens, und die Erfüllung dieser Lehre, weit entfernt, zu Leiden und Entbehrungen in diesem Leben zu berufen, befreit vielmehr von neun Zehnteln jener Leiden, die wir im Namen der Lehre der Welt erdulden.

Und nachdem ich dies begriffen, fragte ich mich: weshalb habe ich denn bisher diese Lehre nicht erfüllt, die mir Heil, Erlösung und Freude verleiht, und habe im Gegentheil gerade das gethan, was mich unglücklich gemacht hat? Und es gab darauf nur eine Antwort: ich hatte die Wahrheit nicht gekannt – sie war mir verborgen geblieben.

Als mir zum erstenmale der Sinn der Lehre Christi offenbar wurde, glaubte ich nicht im mindesten, dass die Erkenntniss dieses Sinnes mich zur Verwerfung der Lehre der Kirche führen würde. Mir schien blos, die Kirche sei nicht zu jenen Schlüssen gelangt, die der Lehre Christi entspringen; ich war aber weit entfernt zu denken, dass der neue mir offenbar gewordene Sinn der Lehre Christi und dessen Folgerungen mich von der Lehre der Kirche unbedingt trennen würden. Indessen ich fürchtete dies. Und deshalb vermied ich nicht nur die Fehler der kirchlichen Lehre aufzusuchen, sondern ich schloss sogar absichtlich die Augen über jene Einrichtungen, die mir zwecklos und sonderbar erschienen, aber dem, was ich für das Wesen der christlichen Lehre hielt, nicht geradezu widersprachen.

Je weiter ich jedoch in dem Studium der Evangelien vorschritt, um so klarer that sich mir der Sinn der Lehre Christi kund, um so unvermeidlicher wurde für mich die Wahl zwischen der Lehre Christi – vernünftig, klar, mit meinem Gewissen übereinstimmend, mir Rettung bringend – oder jener durchaus entgegengesetzten, mit meiner Vernunft und meinem Gewissen nicht übereinstimmenden Lehre, die mir nichts gab als das Bewusstsein meines Untergangs mitsammt allen andern. Und ich konnte nicht umhin die Gesetze der Kirche eines nach dem andern zu verwerfen. Ich that dies gegen meinen Willen, kämpfend und mit dem Wunsche meine Uneinigkeit mit der Kirche möglichst zu mildern, mich nicht von ihr zu trennen, um mich nicht der tröstlichsten Stütze des Glaubens, der Gemeinschaft mit vielen zu berauben. Als ich aber meine Arbeit beendet hatte, sah ich, dass trotz meiner Bemühungen sei es auch nur ein geringes von der kirchlichen Lehre zu erhalten, nichts von ihr übrig geblieben war. Mehr als das: ich hatte mich davon überzeugt, dass nichts übrig bleiben konnte.

Als ich bereits am Schluss der Arbeit angelangt war, geschah folgendes: mein kleiner Sohn erzählte mir, dass zwischen zweien unserer Dienstleute, die kaum zu lesen verstanden, ein Streit ausgebrochen war über ein Kapitel eines gewissen geistlichen Buches, in welchem gesagt sei, es sei keine Sünde, Menschen im Kriege, oder Verbrecher zu tödten. Ich glaubte nicht, dass solches gedruckt sein könnte, und bat mir das Buch zu zeigen. Das Buch, das diesen Streit hervorgerufen hatte, hiess: Erläuterndes Gebetbuch, dritte Ausgabe (das achtzigste Tausend), Moskau 1879. Auf Seite 163 dieses Buches ist gesagt:

Fr.: Welches ist das sechste Gebot Gottes?

A.: Tödte nicht. – Du sollst nicht tödten.

Fr.: Was verbietet Gott durch dieses Gebot?

A.: Er verbietet zu tödten, d. h. einen Menschen seines Lebens zu berauben.

Fr.: Ist es eine Sünde den Verbrecher nach dem Gesetze mit dem Tode zu bestrafen und den Feind im Kriege zu tödten?

A.: Das ist keine Sünde. Man nimmt dem Verbrecher das Leben um dem grösseren Uebel, das er anrichtet, Einhalt zu thun; den Feind tödtet man im Kriege, weil man im Kriege für Kaiser und Vaterland kämpft.

Und auf diese Worte beschränkt sich die Erklärung, weshalb man Gottes Gebot umstösst.

Ich traute meinen Augen nicht.

Die Streitenden fragten um meine Meinung. Ich sagte dem, der die Richtigkeit des Gedruckten anerkannte, dass diese Erklärung falsch sei.

»Wie druckt man denn das, was falsch ist, gegen das Gesetz?« fragte er. Ich konnte ihm nichts erwidern. Ich behielt das Buch und sah es aufmerksam durch. Das Buch enthält: 1) 31 Gebete mit Belehrungen über Kniebeugungen und Zusammenlegen der Finger; 2) Erklärungen zum Symbol des Glaubens; 3) durch nichts erläuterte Auszüge aus dem 5. Kap. Matth., die, Gott weiss weshalb, »Gebote zur Erlangung der Seligkeit« genannt werden; 4) die 10 Gebote Mosis mit Erläuterungen, die sie grösstentheils umstossen, und 5) kurze Lobgesänge für die Feiertage.

Wie gesagt, ich suchte nicht blos das Tadeln des kirchlichen Glaubens zu vermeiden, sondern ich bemühte mich auch ihn von seiner besten Seite zu betrachten, und deshalb war ich, den Schwächen der Kirche aus dem Wege gehend, obgleich mit ihrer akademischen Literatur wohl vertraut, doch vollkommen unbekannt mit ihren belehrenden Volks-Schriften. Die Verbreitung solch' einer ungeheuren Quantität von Exemplaren, bereits im Jahre 1879, eines Gebetbuchs, das die Zweifel des einfachsten Mannes wachruft, machte mich stutzig.

Ich konnte nicht glauben, dass der rein heidnische, alles Christlichen baare Inhalt des Gebetbuchs mit Bewusstsein im Volke als eine kirchliche Lehre verbreitet würde. Um mich davon zu überzeugen, kaufte ich alle von der Synode oder »unter ihrem Segen« herausgegebenen Bücher, Bücher welche kurze Auseinandersetzungen des kirchlichen Glaubens für Kinder und für das Volk enthalten, und las sie durch.

Der Inhalt dieser Bücher war für mich fast neu. Zu der Zeit, als ich in der Religion unterrichtet wurde, gab es derartiges noch nicht, es gab, so viel ich mich erinnere, keine Gebote der Glückseligkeit, es gab auch keine Belehrung, dass der Todtschlag keine Sünde sei. In den alten russischen Katechismen steht das nicht, weder im Katechismus von Peter Mogila, noch von Plato, noch von Beljakow, noch in den kurzen katholischen Katechismen. Die Neuerung ist vom Metropoliten Philaret eingeführt, der auch einen Katechismus für den Militärstand herausgegeben hat. Das »erläuternde Gebetbuch« ist auf Grundlage dieses Katechismus zusammengesetzt. Das zur Haupt-Grundlage dienende Buch ist ein umfangreicher christlicher Katechismus der orthodoxen Kirche zum Gebrauche aller orthodoxen Christen, herausgegeben auf Allerhöchsten Befehl Seiner kaiserlichen Majestät.

Das Buch besteht aus drei Theilen: Glaube – Hoffnung – und Liebe. Im ersten Theile befindet sich die Analyse des nicäischen Symbols des Glaubens. Im zweiten die Analyse des Gebetes Gottes und 8 Verse aus dem 5. Kap. Matth., welche die Einleitung zur Bergpredigt bilden und, wer weiss weshalb, »Gebote zur Erlangung der Glückseligkeit« betitelt werden. (In beiden Theilen handelt es sich um die Dogmen der Kirche, um ihre Gebete und Sakramente, nirgends aber findet man eine Lehre über das Leben.) Im dritten Theile werden die Pflichten des Christen auseinandergesetzt. In diesem Theile, betitelt »über die Liebe«, werden nicht Christ Gebote erörtert, sondern die 10 Gebote Mosis. Und die Gebote Mosis werden gleichsam nur deshalb dargelegt um die Menschen zu lehren wie sie dieselben nicht zu erfüllen brauchen und ihnen zuwider handeln sollen: auf jedes Gebot folgt eine Klausel, die das Gebot aufhebt. Bezüglich des ersten Gebotes, welches befiehlt Gott allein zu ehren, lehrt der Katechismus Engel und Heilige zu ehren, gar nicht zu sprechen von der Mutter Gottes und den drei Personen der Dreieinigkeit (ausf. Katechismus, S. 107-108). Bezüglich des zweiten Gebotes, sich kein Ebenbild Gottes, keine Götzen zu schaffen, lehrt der Katechismus die Anbetung der Heiligenbilder (das. S. 108). Bezüglich des dritten Gebotes, nicht unnütz zu schwören, lehrt der Katechismus die Menschen bei jeder Forderung der gesetzlichen Obrigkeit zu schwören (das. S. 111). Bezüglich des vierten Gebotes über das Heiligen des Sabbaths lehrt der Katechismus, nicht den Sabbath, sondern den Sonntag, ausserdem 13 grosse und eine Unzahl kleiner Feiertage zu heiligen und alle Fasten, Mittwoche und Freitage einzuhalten (das. S. 112-115). Bezüglich des fünften Gebotes, Vater und Mutter zu ehren, lehrt der Katechismus den Kaiser, das Vaterland, die Geistlichkeit, die verschiedenartigen (sic) Obrigkeiten zu ehren; über das Ehren der Obrigkeiten sind drei Seiten geschrieben, mit Aufzählung aller Arten von Vorgesetzten: Schul-Obrigkeit, Staats-Obrigkeit, Richter, Militär-Obrigkeit, »Herren« (sic) in Bezug auf die, welche ihnen dienen und von ihnen beherrscht werden (sic) (das. S. 116–119). Ich zitire aus dem Katechismus der 64. Ausgabe 1880. Zwanzig Jahre sind seit der Aufhebung der Leibeigenschaft vergangen und niemand hat sich auch nur die Mühe genommen jene Phrase zu entfernen, welche bei Gelegenheit des Gebotes Gottes, die Eltern zu ehren, in den Katechismus aufgenommen war zur Aufrechterhaltung und Rechtfertigung der Sklaverei.

Was das sechste Gebot »tödte nicht« anlangt, so wird den Menschen von der ersten Zeile an das Tödten gelehrt.

Fr. Was verbietet das sechste Gebot?

A. Es verbietet zu tödten, d. h. den Nächsten auf irgend eine Weise seines Lebens zu berauben.

Fr. Ist jede Beraubung des Lebens eine gesetzwidrige Tödtung?

A. Es ist keine gesetzwidrige Tödtung, wenn man seinem Berufe nach tödtet, als wie:

1) Wenn man den Verbrecher nach dem Gesetze mit dem Tode bestraft.

2) Wenn man den Feind tödtet im Kriege für Kaiser und Vaterland (kursiv im Original).

Und ferner:

Fr. Welche Fälle können sich auf gesetzwidrige Tödtung beziehen?

A. Wenn jemand einen Mörder verbirgt oder befreit.

Und das alles wird gedruckt und mit Gewalt in hunderttausenden von Exemplaren, und unter Furcht, Drohungen und Strafen allen Russen unter dem Schein einer christlichen Lehre eingeflösst; das wird dem russischen Volke gelehrt Das lernen alle unschuldigen Engel – die Kinder –, jene Kinder, von denen Christus sagt, man solle sie zu ihm kommen lassen, denn ihnen sei das Reich Gottes; jene Kinder, denen wir gleich sein sollen um in das Reich Gottes einzugehen, ihnen gleich im Nichtwissen solcher Dinge; jene Kinder, von denen Christus, indem er sie beschützte, sprach: wehe dem, der einen dieser kleinsten verführet. Diesen Kindern wird gewaltsam diese Lehre eingeflösst und es wird ihnen beigebracht, dass dies das heilige Gesetz Gottes ist!

Das sind keine Proklamationen, die im geheimen, unter Furcht vor Zwangsarbeit verbreitet werden, sondern es sind Proklamationen, deren Nichtannahme mit Zwangsarbeit bestraft wird. Ich schreibe das jetzt und fühle mich beängstigt, blos weil ich mir erlaube zu sagen, dass man das erste aller Gesetze, das allen Herzen eingeprägte Hauptgebot Gottes nicht mit Worten wie »dem Berufe nach« und »für Kaiser und Vaterland« umstossen kann und dass man die Menschen solches nicht lehren soll.

Ja, es ist das geschehen, was Christus den Menschen prophezeit hat (Matth. 23, 13-15. 23-35; Luk. 11, 35. 42-52), indem er sprach: »Siehe zu, dass nicht das Licht in dir Finsterniss werde; wenn das Licht, das in dir ist, Finsterniss ist: wie gross wird dann die Finsterniss selber sein!«

Das Licht, das in uns ist, ist zur Finsterniss geworden. Und die Finsterniss, in der wir leben, ist furchtbar geworden.

»Wehe euch – sprach Christus – wehe euch, ihr Schriftgelehrten und Pharisäer, ihr Heuchler, die ihr das Himmelreich vor den Menschen verschlossen habt. Selbst kommet ihr nicht hinein und lasset auch andere nicht hinein. Wehe euch, ihr Schriftgelehrten und Pharisäer, ihr Heuchler, dass ihr der Wittwen Häuser verschlinget und Götzen anbetet vor aller Angesicht. Darum habt ihr um so grössere Schuld. Wehe euch, ihr Schriftgelehrten und Pharisäer, ihr Heuchler, dass ihr Erde und Meere umwandelt um zu eurem Glauben zu bekehren, und den ihr bekehret, machet ihr noch schlimmer als er war. Wehe euch, ihr blinden Führer!

»Wehe euch, ihr Schriftgelehrten und Pharisäer, ihr Heuchler, dass ihr Grabmäler bauet den Propheten und schmücket die Denkmäler der Gerechten. Und ihr meinet, wenn ihr in jenen Zeiten gelebt hättet, da die Propheten zu Tode gemartert wurden, so hättet ihr nicht theil an ihrem Blute? So zeuget ihr selbst gegen euch dahin, dass ihr ebenso seid wie jene, die die Propheten getödtet So füllet denn das Maass, das euresgleichen begonnen! Und ich werde euch schicken weise Propheten und Schriftgelehrte; und die einen werdet ihr tödten und kreuzigen, und andre werdet ihr schlagen in euren Versammlungen und werdet sie fortschicken von Stadt zu Stadt. Und es soll über euch kommen alles Blut, das vergossen ward auf Erden seit Abel!« –

Jede Verleumdung wird den Menschen vergeben werden die Verleumdung aber des heiligen Geistes kann nicht vergeben werden.

Es ist als ob das alles erst gestern geschrieben wäre, nicht gegen Leute, die jetzt nicht mehr Erde und Meer umwandeln, sondern gegen die, welche heute den heiligen Geist verleumden und die Menschen zu einem Glauben fuhren, der sie noch schlimmer macht, die sogar durch Gewalt die Menschen zu diesem Glauben zwingen und alle jene Propheten und Gerechten verfolgen und zu Grunde richten, die ihren Betrug zu zerstören suchen.

Und ich überzeugte mich, dass die kirchliche Lehre, ungeachtet sie sich selbst »christlich« nennt, dieselbe Finsterniss ist, gegen die Christus kämpfte und die zu bekämpfen er allen seinen Jüngern gebot.

*

Die Lehre Christi hat, wie jede religiöse Lehre, zwei Theile: 1) die Lehre über das Leben der Menschen, wie jeder Mensch einzeln und in Gemeinschaft mit andern leben soll: die ethische Lehre, und 2) die Erklärung, weshalb die Menschen gerade so und nicht anders leben sollen: die metaphysische Lehre. Eines ist zugleich Ursache und Folge des andern. Der Mensch soll so leben, weil es seine Bestimmung ist, oder: das ist die Bestimmung des Menschen und deshalb soll er so leben. Diese zwei Seiten der Lehre finden sich in allen Religionen der Welt. So sind die Religionen des Konfuzius, der Brahminen, Buddhas und Mosis; so ist auch die Religion Christi. Er lehrt das Leben; er lehrt wie man leben soll und giebt eine Erklärung, weshalb man gerade so leben soll. Wie es jedoch mit allen Lehren der Fall war: mit dem Brahmanismus, dem Buddhismus, dem Judenthum, so war es auch mit der Lehre Christi. Die Menschen fallen von der Lehre über das Leben ab, und es finden sich eine Menge Lehrer, die diese Abtrünnigkeit rechtfertigen. Diese Leute, die sich, nach Christi Ausspruch, auf den Stuhl Mosis setzen, erläutern die metaphysische Seite der Lehre derart, dass die ethischen Forderungen der Lehre aufhören bindend zu sein und durch äusserliche Gottesverehrung und Zeremonien ersetzt werden. Diese Erscheinung ist allen Religionen gemein; aber nie, scheint mir, ist diese Erscheinung so grell hervorgetreten wie im Christenthum. Sie trat schon deshalb besonders auffällig hervor, weil die Lehre Christi die erhabenste Lehre ist; und sie ist die erhabenste, weil die Metaphysik und die Ethik der Lehre Christi derart mit einander verschmolzen und eine durch die andere bedingt sind, dass man sie unmöglich von einander trennen kann, ohne die ganze Lehre ihres Inhalts und ihrer Bedeutung zu berauben, und weil Christi Lehre bereits an sich ein Protestantismus ist, d. h. die Verleugnung nicht nur der zeremoniellen Gebräuche des Judenthums, sondern auch jeder äusserlichen Gottesverehrung.

Dieser Zwiespalt im Christenthum musste nothwendig die Lehre Christi vollständig umstossen und sie jeglichen Sinnes berauben. So war es auch. Der Zwiespalt zwischen der Lehre über das Leben und der Erklärung des Lebens begann von der Predigt des Apostels Paulus, der die in dem Evangelium Matthäi ausgeprägte ethische Lehre nicht kannte und eine Christus fremde, metaphysisch-kabbalistische Theorie verkündete; endgiltig jedoch wurde dieser Bruch zur Zeit des Kaisers Konstantin, als man für möglich fand den ganzen heidnischen Inhalt des Lebens unverändert in christliche Gewänder zu hüllen und ihn darum als Christenthum anzuerkennen. Von der Zeit Konstantins an, dieses Heiden unter Heiden, den die orthodoxe Kirche um all' seiner Verbrechen und Laster willen der Schaar der christlichen Heiligen beizählt, beginnen die Konzilien, und der Schwerpunkt des Christenthums wird allein auf die metaphysische Seite der Lehre verlegt; und diese metaphysische Lehre, sich mehr und mehr von seiner Grundidee entfernend, kommt schliesslich dahin, wo sie jetzt ist: zu einer Lehre, welche die für die Vernunft unfasslichen Geheimnisse des himmlischen Lebens erklärt, die komplizirtesten kirchlichen Zeremonien anordnet, aber durchaus keine religiöse Lehre über das irdische Leben giebt.

Alle Religionen, mit Ausnahme der kirchlich-christlichen, verlangen von ihren Bekennern ausser der Einhaltung ihrer Gebräuche noch das Ausüben gewisser guter und das Vermeiden gewisser schlechter Thaten. Das Judenthum verlangt die Beschneidung, die Beobachtung des Sabbaths, des Jubeljahrs, das Almosenspenden und manches andere. Der Muhamedanismus verlangt die Beschneidung, tägliche fünfmalige Gebete, den Zehnten für die Armen, Wallfahrten zum Grabe des Propheten und vieles andre. Gleiches thun alle Religionen. Mögen diese Forderungen gut oder schlecht sein – immerhin sind sie Forderungen von gewissen Handlungen. Das Pseudo-Christenthum allein verlangt nichts. Es giebt nichts, was der Christ durchaus verpflichtet wäre zu thun und was er durchaus verpflichtet wäre zu unterlassen, wenn man nicht die Fasten und die Gebete rechnet, die von der Kirche selbst nicht als bindend betrachtet werden. Alles, was für den Pseudo-Christen nothwendig ist, sind die Sakramente. Die Sakramente aber verrichtet nicht der Gläubige selbst, sondern, sie werden über ihm von andern vollzogen. Der Pseudo-Christ ist nicht verpflichtet irgend etwas zu thun oder zu unterlassen um erlöst zu werden; über ihm aber verrichtet die Kirche alles, was nothwendig ist; sie tauft und salbt ihn, reicht ihm das Abendmahl und giebt ihm die letzte Oelung; selbst in der Beichte genügen Zeichen für Worte (sogen. »taube Beichte«): die Kirche betet für ihn und er ist gerettet. Die christliche Kirche hat seit Konstantins Zeiten gar keine Thaten von ihren Mitgliedern verlangt; sie hat auch gar keine Forderungen der Enthaltung, wovon es auch sei, aufgestellt. Die christliche Kirche hat alles anerkannt und geheiligt, was im Heidenthum bestanden hat. Sie hat Ehescheidung, Sklaverei, Gerichte und alle Obrigkeiten anerkannt, die bereits bestanden; hat Kriege und Todesstrafen anerkannt und verlangte bei der Taufe blos ein wörtliches Sichlossagen vom Bösen; auch das war nur im Anfange, später, bei der Taufe Neugeborener, wurde selbst diese Forderung eingestellt.

Die Kirche, indem sie die Lehre Christi in Worten anerkennt, hat sie im Leben stets verleugnet.

Anstatt die Welt in ihrem Leben zu lenken, hat die Kirche, der Welt zu Gefallen, die metaphysische Lehre Christi derart umgewandelt, dass keinerlei Forderungen des Lebens aus ihr entsprossen und sie die Menschen nicht verhinderte so zu leben wie sie bisher gelebt hatten. Die Kirche gab der Welt nach; und nachdem sie ihr nachgegeben, folgte sie ihr. Die Welt that alles was sie wollte und überliess es der Kirche ihr in ihren Erklärungen des Sinnes des Lebens nachzufolgen, wie sie es verstände. Die Welt führte ihr in allem der Lehre Christi entgegengesetztes Leben und die Kirche erdachte Spitzfindigkeiten, nach denen es sich erweisen sollte, dass die Menschen, indem sie dem Gesetze Christi entgegen lebten, mit ihm im Einklang lebten. Und es endete damit, dass die Welt ein Leben zu führen begann, welches schlechter war als das Leben der Heiden, und die Kirche begann nicht nur dies Leben zu rechtfertigen, sondern sogar zu behaupten, dass darin gerade die Lehre Christi bestehe.

Es kam aber eine Zeit, wo das Licht der wahren Lehre Christi, das im Evangelium verschlossen war, durch sogenannte »Sektirer« und sogar durch die Freigeister der Welt in das Volk drang, ungeachtet die Kirche, im Gefühle ihrer Heuchelei und Unwahrheit, es zu verbergen suchte (indem sie z. B. das Uebersetzen der Bibel verbot); es kam die Zeit, wo die Unrichtigkeit der Lehre der Kirche den Menschen offenbar wurde und sie begannen ihr früheres, von der Kirche gerechtfertigtes Leben zu verändern auf Grundlage der gegen den Willen der Kirche zu ihnen gelangten Lehre Christi.

So haben die Menschen selbst, ohne die Hilfe der Kirche, die von ihr gerechtfertigte Sklaverei aufgehoben, die Standesunterschiede vernichtet und die von der Kirche gebilligten Todesstrafen; so haben sie die von der Kirche geheiligte Macht der Kaiser und Päpste umgestossen und haben jetzt die an der Reihe befindlichen Fragen der Aufhebung des Eigenthums und der Vernichtung des Staates angeregt. Und die Kirche hat nichts beschützt und kann nichts beschützen, weil die Zerstörung dieser Unwahrheiten des Lebens auf derselben Grundlage der christlichen Lehre begann, die noch heute von der Kirche gepredigt wird, obgleich sie sieh bemüht hat deren Sinn zu fälschen.

Die Lehre über das Leben der Menschen hat sich von der Kirche befreit und hat sich unabhängig von ihr entwickelt.

Der Kirche sind die Erklärungen geblieben; was aber hat sie zu erklären? Die metaphysische Erklärung der Lehre hat nur dann Bedeutung, wenn es eine Lehre des Lebens, die sie erklärt, wirklich giebt. Der Kirche ist aber keine Lehre über das Leben geblieben. Sie besass nur eine Erklärung des Lebens, das sie dereinst gegründet und das nicht mehr besteht. Wenn der Kirche noch Erklärungen jenes Lebens, das dereinst bestand, wie Erklärungen des Katechismus darüber z. B, dass man seinem Berufe nach tödten muss, geblieben sind, so glaubt doch niemand mehr daran. Und der Kirche ist nichts geblieben, als: Kirchen, Heiligenbilder, Gewänder und Worte.

Die Kirche hat das Licht christlicher Lehre und christlichen Lebens 18 Jahrhunderte hindurch getragen, und in dem Wunsche, es unter ihren Gewändern zu verbergen, ist sie selbst an diesem Lichte verbrannt. Die Welt mit ihren von der Kirche geheiligten Einrichtungen hat, kraft jener Grundideen des Christenthums, welche die Kirche wider Willen selbst verbreitet hat, die Kirche verworfen und glaubt nicht mehr an sie. Das Faktum ist da und lässt sich nicht mehr verbergen. Alles was lebt und nicht muthlos sich sorgt, sich und andere am Leben verhindernd, alles Lebende in unserer europäischen Welt ist von der Kirche und von allen Kirchen abgefallen und lebt sein eigenes, von der Kirche unabhängiges Leben. Und man möge nicht sagen, dass es nur im »faulen« Westen Europas so ist; Russland mit seinen Millionen gebildeter und ungebildeter Vernunft-Christen, die die kirchliche Lehre verworfen haben, beweist unstreitig, dass es, in Hinsicht des Abfalles von der Kirche, Gott sei dank, noch viel »fauler« ist als Europa. Alles Lebende ist von der Kirche unabhängig. Die Macht des Staates beruht auf Tradition, auf Wissenschaft, auf Volkswahlen, auf roher Kraft, auf allem was ihr wollt, – nur nicht auf der Kirche. Der Krieg, die Beziehungen der Staaten zu einander gründen sich auf das Prinzip der Nationalität, auf das Gleichgewicht, worauf ihr wollt, – nur nicht auf kirchliche Grundlagen. Die Einrichtungen des Staates ignoriren die Kirche geradezu. Der Gedanke, dass die Kirche die Basis des Gerichts, des Eigenthums sein könnte, ist in unserer Zeit einfach lächerlich. Die Wissenschaft trägt nicht nur nichts zur Lehre der Kirche bei, sondern ist stets zufällig und unwillkürlich in ihrer Entwickelung der Kirche feindlich. Die Kunst, die früher nur der Kirche diente, hat sich jetzt ganz von ihr abgewandt. Nicht genug dass sich, das ganze Leben von der Kirche emanzipirt hat und dieses Leben keine andere Beziehung zur Kirche als eine gewisse Verachtung gegen sie hat, sondern die Kirche mischt sich auch nicht in Sachen des Lebens und es entsteht nichts als Hass, sobald die Kirche versucht die Welt an ihre früheren Rechte zu erinnern. Wenn die Form, die wir »Kirche« nennen, noch besteht, so ist es blos deshalb, weil die Menschen das Gefäss, das dereinst kostbaren Inhalt besessen, zu zerschlagen sich scheuen; denn nur dadurch lässt sich das Bestehen der orthodoxen, katholischen und der verschiedenen protestantischen Kirchen in unserem Jahrhundert erklären.

Alle Kirchen, protestantische, katholische und orthodoxe, sind Wächtern gleich, die sorgfaltig einen Gefangenen bewachen, wenn dieser Gefangene bereits längst fortgegangen ist und mitten unter den Wächtern selbst umhergeht und mit ihnen kämpft. Alles, wodurch jetzt die Welt wahrhaft lebt: der Sozialismus, der Kommunismus, die politisch-ökonomischen Theorien, der Utilitarismus, die Freiheit und Gleichheit der Menschen, die Emanzipation der Frauen – alle sittlichen Begriffe der Menschen: die Heiligkeit der Arbeit, die Heiligkeit der Vernunft, der Wissenschaft, der Kunst – alles was die Welt bewegt und der Kirche feindselig erscheint: das alles sind Theile jener Lehre, welche die Kirche selbst, ohne es zu wissen, durch die von ihr verborgen gehaltene wahre Lehre Christi verbreitet hat.

In unsrer Zeit geht das Leben der Welt seinen Gang vollständig unabhängig von der Lehre der Kirche. Diese Lehre ist so weit zurückgeblieben, dass die Menschen der Welt die Stimme der Lehrer der Kirche nicht mehr hören. Es giebt auch nichts zu hören, denn die Kirche giebt nur Erklärungen jener Einrichtungen des Lebens, aus denen die Welt bereits herausgewachsen ist und die entweder gar nicht mehr existiren oder im unaufhaltsamen Verfalle begriffen sind.

Es fuhren Menschen im Boote und ruderten, und der Steuermann lenkte das Fahrzeug. Die Menschen vertrauten dem Steuermann und dieser steuerte gut und sicher; es kam aber eine Zeit, wo der gute Steuermann von einem andern ersetzt wurde, der gar nicht steuerte. Das Boot ging rasch und leicht. Anfangs bemerkten die Menschen nicht, dass der neue Steuermann unthätig sass, und freuten sich über das leichte Schwimmen des Bootes; dann aber, die Nutzlosigkeit des neuen Steuermanns einsehend, lachten sie ihn aus und jagten ihn fort.

Das alles wäre nichts; das Böse liegt nur darin, dass die Menschen unter dem Einflüsse der Unzufriedenheit mit dem neuen Steuermann vergassen, dass man ohne Steuermann nicht weiss wohin man fährt. Das gleiche geschah mit unserer christlichen Gesellschaft. Die Kirche führt nicht das Steuer und es rudert sich leicht und wir sind vorwärtsgekommen und alle Erfindungen und Kenntnisse, auf die unser 19. Jahrhundert so stolz ist, sind nur die Folge davon, dass wir ohne Steuer schiffen. Wir rudern ohne selbst zu wissen wohin. Wir leben und schaffen und wissen entschieden nicht wozu. Man kann aber nicht auf dem Meere fahren ohne zu wissen wohin, und ebensowenig kann man leben und schaffen ohne zu wissen: wozu?

Wenn noch die Menschen selbst nichts gethan hätten, sondern durch eine äussere Macht in die Lage gebracht wären, in der sie sich befinden, so könnten sie auf die Frage: warum seid ihr in dieser Lage? vollständig vernünftig antworten: wir wissen es nicht, wir haben uns plötzlich in dieser Lage befunden und befinden uns noch in derselben. Die Menschen aber schaffen sich ihre Lage selbst, für sich und für andere, namentlich für ihre Kinder, und deshalb können alle die Fragen nicht unbeantwortet bleiben: wozu sammelt ihr tausend Heere und gehet selbst darunter, um euch gegenseitig zu tödten und zu verstümmeln? wozu verschwendet ihr so fruchtbare menschliche Kräfte, die in Milliarden sich ausprägen, zum Baue unnützer und für euch schädlicher Städte? wozu setzt ihr eure komödienhaften Gerichte ein und schickt die Menschen, die ihr für Verbrecher haltet, aus Frankreich nach Cayenne, aus Russland nach Sibirien, aus England nach Australien, wenn ihr doch selbst wisst, dass es gar keinen Sinn hat? warum verlasst ihr euren geliebten Ackerbau und mühet euch ab in Fabriken und Hüttenwerken, die euch selbst verhasst sind? warum erzieht ihr eure Kinder so, dass sie dieses Leben, das ihr selbst nicht gutheisset, ebenso fortsetzen? wozu thut ihr das alles? – Alle diese Fragen könnt ihr nicht unbeantwortet lassen. Selbst wenn alle diese Beschäftigungen euch lieb und angenehm wären, selbst dann müsstet ihr sagen können, weshalb ihr alles das thut. Wenn es nun aber furchtbar schwere Arbeiten sind, die ihr mit Anstrengung und unter Murren vollbringt, so könnt ihr doch nicht umhin daran zu denken, weshalb ihr alles das thut? – Wir sollen aufhören alles dieses zu thun, oder antworten, weshalb wir es thun. Nie haben Menschen ohne Antwort auf diese Frage gelebt; sie können es nicht. Und die Menschen hatten stets eine Antwort.

Der Jude lebte so wie er lebte, d. h. er kämpfte, ernährte sich, baute Synagogen, richtete sein ganzes Leben so und nicht anders ein, weil alles das in einem Gesetze vorgeschrieben war, welches seiner Ueberzeugung nach ihm von Gott selbst gegeben war. Dasselbe gilt für den Inder, den Chinesen; dasselbe für den Römer und den Muhamedaner; dasselbe galt auch für den Christen vor hundert Jahren und gilt auch heute für den rohen Haufen. Der unwissende Christ von heutzutage antwortet auf diese Fragen: »Das Soldatenthum, der Krieg, die Gerichte, die Todesstrafen – alles das besteht nach einem Gesetze Gottes, das uns die Kirche übergiebt. Diese Welt ist eine Welt der Verderbtheit. Alles Böse, was in der Welt ist, besteht nach dem Willen Gottes, als Strafe für die Sünden des Menschen, und deshalb können wir das Böse nicht bessern. Wir können blos unsre Seele retten durch den Glauben, durch die Sakramente, durch Gebete und durch unsre Ergebenheit in den Willen Gottes, wie es die Kirche uns lehrt. Die Kirche aber lehrt uns, dass jeder Christ sich ohne Widerrede den Herrschern, als den Gesalbten Gottes, sowie den von ihnen angestellten Vorgesetzten unterwerfen, dass er sein und fremdes Eigenthum mit Gewalt beschützen, dafür kämpfen, tödten und die von den nach Gottes Willen eingesetzten Obrigkeiten verhängten Strafen erleiden muss.«

Ob diese Erklärungen gut oder schlecht sind, für den gläubigen Christen wie für den Juden, den Buddhisten und Muhamedaner haben sie alle Eigenheiten des Lebens erklärt und der Mensch verleugnete nicht seine Vernunft, wenn er nach einem Gesetze, das er für göttlich hielt, lebte. Jetzt aber ist eine Zeit gekommen, Wo nur die allerunwissendsten Leute an diese Erklärungen glauben, und die Anzahl dieser Leute verringert sich von Tag zu Tag, von Stunde zu Stunde. Diese Bewegung aufzuhalten ist eine Unmöglichkeit. Alle Menschen folgen unaufhaltsam denen die voraus wandern, und alle gehen dorthin wo die Vordersten stehen. Die Vordersten aber stehen über einem Abgrunde. Und die Vordersten sind in einer furchtbaren Lage; sie schaffen das Leben für sich, bereiten das Leben vor für diejenigen die ihnen folgen – und befinden sich in völliger Unwissenheit darüber, wozu sie alles das thun. Nicht ein einziger zivilisirter, voranschreitender Mensch ist im Stande heutzutage die einfache Frage zu beantworten: wozu lebst du ein Leben, wie du es lebst? warum thust du alles, was du thust? – Ich habe diese Frage an hunderte von Menschen zu stellen versucht und habe nie eine gerade Antwort erhalten. Anstatt einer geraden Antwort auf die persönliche Frage: warum lebst und warum handelst du so? erhielt ich eine Antwort nicht auf meine Frage, sondern auf eine Frage, die ich nicht gestellt hatte.

Der gläubige Katholik, der Protestant, der Rechtgläubige, alle, statt direkt zu antworten auf die Frage: warum er so lebt, wie er lebt, d. h. gegen die Lehre Gott-Christi, zu der er sich bekennt? – beginnen stets über den traurigen Zustand der Ungläubigkeit der heutigen Generation zu sprechen, über schlechte Menschen, die solchen Unglauben hervorrufen, und über die Bedeutung und Zukunft der wahren Kirche. Weshalb aber er selbst nicht thut was sein Glaube ihm gebietet, – darauf antwortet er nicht; anstatt einer Antwort über sich selbst spricht er über den allgemeinen Zustand der Menschheit und über die Kirche, als hätte sein eigenes Leben für ihn gar keine Bedeutung und als wäre er nur um die Errettung der ganzen Menschheit und dessen, was er »die Kirche« nennt, besorgt.

Ein Philosoph, gleichviel welcher Richtung, ob Idealist, Spiritualist, Materialist, Pessimist, Positivist, wird stets, statt einer direkten Antwort auf die Frage: warum er so lebt wie er lebt, d. h. nicht im Einklange mit seiner philosophischen Lehre, – anfangen über den Fortschritt der Menschheit, über das historische Gesetz, das er zu diesem Fortschritt gefunden und laut welchem die Menschheit dem Heile zustrebt, zu sprechen. Nie aber wird er gerade die Frage beantworten: weshalb er selbst in seinem Leben nicht das thut, was er für vernünftig hält? Der Philosoph wie der Gläubige ist gleichsam nicht um sein eignes, persönliches Leben besorgt, sondern nur mit der Beobachtung der allgemeinen Gesetze der ganzen Menschheit beschäftigt.

Der Durchschnitts-Mensch, die ungeheure Mehrzahl der halb-gläubigen und halb-ungläubigen zivilisirten Menschen, die stets ohne Ausnahme über ihr Leben und die Einrichtungen ihres Lebens klagen und den Untergang der Welt voraussehen, dieser Durchschnitts-Mensch ward stets auf die Frage: weshalb er selbst dieses von ihm selbst verdammte Leben lebt und nichts thut um es zu verbessern, – an Stelle einer geraden Antwort, nicht über sich, sondern über irgend etwas allgemeines zu sprechen anfangen: über Gerechtigkeitspflege, über den Handel, über den Staat, über die Zivilisation. Wenn er Polizist oder Prokuror ist, wird er sagen: »Auf welche Weise wird denn das Staatsleben bestehen, wenn ich, um mein Leben zu verbessern, aufhören werde mich an demselben zu betheiligen?« – Wenn er Kaufmann ist, wird er sagen: »Und die Zivilisation? was wird mit der geschehen, wenn ich, um mein Leben zu verbessern, nichts dazu beitragen werde?« – Er wird immer so sprechen, als läge die Aufgabe seines Lebens nicht darin, jenes Gute zu thun, zu dem er stets strebt, sondern darin: dem Staate, dem Handel und der Zivilisation zu dienen. Der Durchschnitts-Mensch antwortet genau dasselbe wie der Gläubige und der Philosoph. An Stelle der persönlichen Frage stellt er eine allgemeine; und der Gläubige, der Philosoph und der Durchschnitts-Mensch stellen eine solche Frage, weil sie auf eine persönliche Frage des Lebens keine Antwort, d. h. weil sie keine wahrhafte Lehre über das Leben haben. Und sie schämen sich dessen.

Sie schämen sich, weil sie sich in der erniedrigenden Lage eines Menschen fühlen, der gar keine Lehre über das Leben besitzt, wo doch ein Mensch nie ohne eine Lehre über das Leben gelebt hat und leben kann. In unsrer christlichen Welt allein wurde an Stelle der Lehre über das Leben und der Erklärung, weshalb das Leben so und nicht anders sein müsse, d. i. an Stelle der Religion, blos die Erklärung dessen aufgestellt, weshalb das Leben so sein muss, wie es dereinst gewesen ist, und von der Religion wurde das bekannt, was niemandem zu etwas nutze ist; das Leben aber selbst war unabhängig von jeglicher Lehre, d. h. es blieb ohne alle Bestimmung. Nicht genug: wie immer nahm die Wissenschaft gerade diesen zufälligen, krüppelhaften Zustand unserer Gesellschaft für ein Gesetz der ganzen Menschheit an. Gelehrte wie Thiele, Spencer u. a. behandeln höchst ernsthaft die Religion, indem sie darunter die metaphysische Lehre über den Ursprung der Dinge verstehen, ohne zu ahnen, dass sie nicht über die Religion überhaupt, sondern nur über einen Theil derselben sprechen.

Daraus ist jene merkwürdige Erscheinung entstanden, dass wir in unserem Zeitalter kluge und gelehrte Menschen sehen, die die vollkommen naive Ueberzeugung hegen von jeder Religion frei zu sein, blos weil sie jene metaphysischen Erklärungen über den »Ursprung der Dinge« nicht anerkennen, die jemandem einst als Erklärung des Lebens dienten. Es kommt ihnen gar nicht in den Sinn, dass sie ja irgendwie leben müssen, und dass eben die Grundlage, nach welcher sie gerade so und nicht anders leben, ihre Religion ist. Diese Leute bilden sich ein sehr erhabene Ueberzeugungen, aber gar keinen Glauben zu haben. Welcher Art ihre Reden auch sein mögen, sie haben jedenfalls eine Religion, einen Glauben, sobald sie irgendwelche vernünftige Handlung vollbringen, denn die vernünftigen Handlungen werden stets durch den Glauben bedingt. Und die Handlungen dieser Menschen werden nur durch den Glauben bestimmt, dass man das thun muss, was von der Obrigkeit verlangt wird. Die Religion derer, die keine Religion anerkennen, ist die Religion der Unterwerfung unter alles, was die mächtige Mehrzahl thut, d. i. in wenig Worten: die Religion der Unterwerfung unter die bestehende Macht.

Man kann nach der Lehre der Welt leben, d. h. ein thierisches Leben führen, indem man nichts höheres und bindenderes anerkennt als die Vorschriften der bestehenden Macht. Wer jedoch so lebt, kann nicht mehr behaupten vernünftig zu leben. Bevor wir behaupten vernünftig zu leben, müssen wir die Frage beantworten: Welche Lehre über das Leben halten wir für vernünftig? Wir Unglücklichen haben aber nicht allein keine derartige Lehre, sondern wir haben sogar das Bewusstsein der Nothwendigkeit irgend einer vernünftigen Lehre des Lebens verloren.

Fraget die Menschen unserer Zeit, Gläubige oder Ungläubige, welche Lehre sie im Leben befolgen? Sie werden eingestehen müssen, dass sie nur eine Lehre befolgen – die Gesetze, die von den Beamten der zweiten Abtheilung oder von der gesetzgebenden Versammlung geschrieben und von der Polizei ausgeführt werden. Dies ist die einzige Lehre, die unsre europäischen Menschen anerkennen; sie wissen, dass diese Lehre nicht vom Himmel, auch nicht von den Propheten oder den Weisen kommt, sie tadeln fortwährend die Verordnungen dieser Beamten oder der gesetzgebenden Versammlungen; dennoch erkennen sie diese Lehre an und unterwerfen sich den Vollstreckern derselben, der Polizei, unterwerfen sich ohne Murren ihren schrecklichen Forderungen. Beamte oder gesetzgebende Versammlungen haben geschrieben, dass jeder junge Mann zu Schimpf, Tod und Tödtung anderer bereit sein muss, – und alle Väter und Mütter, die ihre Söhne grossgezogen haben, unterwerfen sich einem solchen, von einem Beamten oder einer Versammlung heute geschriebenen Gesetz, das morgen wieder umgestossen werden kann.

Unsere Gesellschaft hat den Begriff eines unzweifelhaft vernünftigen und nach dem innern Bewusstsein für alle bindenden Gesetzes derart verloren, dass das Bestehen eines Gesetzes, das, wie bei dem hebräischen Volk, über das ganze Leben verfügt, eines Gesetzes, welches bindend wäre ohne Zwang, nur durch die innere Ueberzeugung eines jeden, als ausschliessliche Eigenthümlichkeit des hebräischen Volkes angesehen wird. Dass die Hebräer sich nur dem unterwarfen, was sie in der Tiefe ihrer Seele als das wahre, unmittelbar von Gott erhaltene Gesetz anerkannten, was mit ihrem Gewissen übereinstimmte, wird als eine Besonderheit der Hebräer angesehen. Als der normale Zustand aber, wie er gebildeten Menschen entspricht, wird es angesehen, dass man sich dem unterwirft, was, wie sie wissen, von verächtlichen Leuten geschrieben und von Polizisten mit der Pistole in der Hand in Ausführung gebracht wird, und was von jedem oder mindestens von der Mehrzahl dieser Leute für ungerecht, d. h. ihrem Gewissen widersprechend betrachtet wird.

Vergebens habe ich in unserer zivilisirten Welt irgend welche klar ausgedrückte sittliche Grundsätze für das Leben gesucht. Es giebt keine. Es fehlt sogar das Bewusstsein ihrer Notwendigkeit.

Es besteht sogar die eigenthümliche Ueberzeugung, dass sie gar nicht nothwendig sind; dass die Religion nur in gewissen Worten über das zukünftige Leben, über Gott, über gewisse Gebräuche besteht, die nach der Meinung der einen höchst nothwendig für die Errettung der Seele, nach der Meinung anderer vollkommen nutzlos sind; dass das Leben von selbst geht und dass es dafür keinerlei Grundsätze und Regeln bedarf: man braucht nur zu thun was befohlen wird. Von dem, was das Wesen des Glaubens ausmacht, d. i. von der Lehre des Lebens und der Erklärung des Sinnes desselben, gilt das erste für unwichtig und nicht zum Glauben gehörig und das zweite, d. i. die Erklärung des einst dagewesenen Lebens, oder die Betrachtungen und Vermuthungen über den historischen Gang des Lebens gelten als das Wichtigste und Ernsthafteste. In allem, was das Leben des Menschen ausmacht: ob er hingehen soll um Menschen zu tödten oder nicht; ob er hingehen soll um Menschen zu richten oder nicht; ob er seine Kinder so oder anders erziehen soll – in alledem überlassen sich die Menschen unserer Welt ohne Murren andern Menschen, welche ebensowenig wie sie selbst wissen wozu sie leben und wozu sie andere so und nicht anders zu leben veranlassen.

Und ein solches Leben halten die Menschen für vernünftig und schämen sich seiner nicht!

Der Zwiespalt zwischen der Erklärung jenes Glaubens, der »Glaube« genannt wird, und des wirklichen Glaubens, der das »gemeinschaftliche Staatsleben« genannt wird, hat jetzt seinen Höhepunkt erreicht und die ungeheure Mehrzahl der zivilisirten Menschen hat für das Leben allein den Glauben an den Polizisten behalten.

Diese Lage wäre entsetzlich, wenn ohne Ausnahme alle so dächten. Zum Glück giebt es auch in unserer Zeit Menschen, die besten Menschen unserer Zeit, die sich nicht mit einem solchen Glauben begnügen und ihren eigenen Glauben haben darüber, wie die Menschen leben sollen. Das sind die Nihilisten, Revolutionäre, Sozialisten, Kommunisten, Anarchisten, Internationalisten – alles Leute, die ihrer Ueberzeugung nach leben und das Leben der andern danach einrichten wollen.

Diese Leute gelten für die bösartigsten, gefährlichsten und namentlich ungläubigsten Menschen, während sie doch die einzigen gläubigen Menschen unserer Zeit sind und nicht nur gläubig im allgemeinen, sondern gerade gläubig in Bezug auf die Lehre Christi, und wenn nicht auf die Gesammtheit derselben, so doch gläubig in Bezug auf einen geringen Theil.

Diesen Leuten ist oft die Lehre Christi vollkommen unbekannt; sie begreifen sie nicht und verwerfen oft, gleich ihren Feinden, die Grundlage derselben, die Lehre über das Nichtwiderstreben dem Uebel, oft sogar hassen sie Christus; und dennoch ist ihr ganzer Glaube wie das Leben sein muss, aus der Lehre Christi geschöpft. Wie man diese Leute auch verfolgen, wie man sie auch verleumden mag, sie sind dennoch die einzigen Menschen, die sieh nicht ohne Murren allem unterwerfen, was befohlen wird, und darum sind sie die einzigen Menschen unserer Welt, die kein thierisches, sondern ein vernünftiges Leben leben, – die einzigen Menschen, die da glauben. –

Die Schnur, die die Welt mit der Kirche verband, welche wiederum der Welt Sinn verlieh, wurde immer schwächer und schwächer in dem Maasse, wie der Inhalt, die Säfte des Lebens immer mehr und mehr in die Welt hinüberflossen, und jetzt, wo die Säfte alle hinübergegangen, ist für sie die verbindende Schnur nur ein Hinderniss geworden.

Dies ist der geheimnissvolle Prozess der Geburt, der vor unsern Augen sich vollzieht. Zu ein und derselben Zeit reisst das letzte Band mit der Kirche und es entsteht der Prozess des selbständigen Lebens.

Die Lehre der Kirche mit ihren Dogmen, Tempeln und ihrer Hierarchie ist mit der Lehre Christi unzweifelhaft verbunden, diese Verbindung ist ebenso augenscheinlich wie die Verbindung der neugebornen Frucht mit dem Mutterleibe. Gleichwie aber Nabelschnur und Nachgeburt nach der Geburt zu unnützen Fleischstücken werden, welche aus Achtung für dasjenige, was in ihnen geborgen lag, sorgsam in die Erde vergraben werden müssen, so ist auch die Kirche zu einem nutzlosen, abgelebten Organ geworden, welches man aus Achtung für das, was sie früher barg, irgendwo, recht weit, verbergen muss. Sobald die Athmung und der Umlauf des Bluts eintreten, wird das Band, welches bisher der Quell der Ernährung gewesen, zu einem Hinderniss. Und thöricht sind die Bemühungen dieses Band aufrechtzuerhalten und das in die Welt eingetretene Kind zu veranlassen sich durch den Nabel und nicht durch Mund und Lungen zu ernähren.

Die Loslösung des Kindes jedoch vom Mutterleibe ist noch nicht das Leben. Das Leben des Kindes hängt von der Herstellung eines neuen Bandes der Ernährung zwischen Mutter und Kind ab. Dasselbe ist der Fall mit dem Leben unserer christlichen Welt. Die Lehre Christi hat unsere Welt in sich getragen und hat sie geboren. Die Kirche, eines der Organe der Lehre Christi, hat das ihrige gethan und ist unnütz, ist zum Hinderniss geworden. Die Welt kann sich nicht nach der Kirche richten, aber auch die Loslösung der Welt von der Kirche ist noch nicht das Leben. Ihr Leben wird dann eintreten, wenn die Welt sich ihrer Hilflosigkeit bewusst wird und die Notwendigkeit neuer Nahrung empfindet. Und dies muss in unserer christlichen Welt eintreten, sie muss aufschreien im Bewusstsein ihrer Hilflosigkeit; dies Bewusstsein allein, das Bewusstsein der Unmöglichkeit der früheren und jeder andern Ernährung ausser der Muttermilch, wird sie zu den vollen Brüsten der Mutter führen.

Mit unserer äusserlich so selbstbewußten, kühnen, entschiedenen und im tiefsten Innern erschreckten und zerfahrenen europäischen Welt geschieht dasselbe wie mit dem soeben zur Welt gekommenen Kinde: es wirft und schiebt sich, es schreit und stösst, als ob es sich ärgere und nicht wisse was es thun solle. Es fühlt, dass sein bisheriger Nahrungsquell verschwunden ist und weiss noch nicht wo es einen neuen zu suchen hat. Das kaum geborene Lämmchen bewegt Augen und Ohren und schüttelt den Schwanz und springt und schlägt aus. Uns scheint bei seiner Entschiedenheit, als ob es alles wissen müsse; das ärmste aber weiss nichts. Diese ganze Entschiedenheit und Energie sind die Fracht der mütterlichen Säfte, deren Uebergabe soeben aufgehört hat und nicht mehr erneuert werden kann. Es befindet sich in einer glückseligen und zugleich verzweifelten Lage: es ist voll Frische und Kraft, ist aber verloren, wenn es nicht die Brust der Mutter nimmt.

Dasselbe geschieht mit unserer europäischen Welt. Seht, welch' ein komplizirtes, scheinbar vernünftiges, energisches Leben in der europäischen Welt sich regt! Als wüssten diese Menschen alles was sie thun und wozu sie es thun. Seht, wie entschieden, frisch und herzhaft die Leute unserer Welt alles thun! Künste, Wissenschaften, gemeinnützige Thätigkeit des Staats, alles ist voll Leben. Aber alles das ist nur deshalb lebendig, weil es noch unlängst durch die Nabelschnur von den Säften der Mutter ernährt wurde. Es gab eine Kirche, welche die vernünftige Lehre Christi in das Leben der Welt einführte. Jedes Organ der Welt wurde durch sie ernährt und wuchs und gedieh. Die Kirche aber hat ihre Pflicht erfüllt und ist abgestorben. Alle Organe der Welt leben; ihr früherer Nahrungsquell ist versiegt, einen neuen aber haben sie noch nicht gefunden; und sie suchen ihn überall, nur nicht bei der Mutter, von der sie sich kaum befreit. Gleich dem Lämmchen zehren sie noch an der bisherigen Nahrung, sind aber noch nicht dazu gelangt zu begreifen, dass diese Nahrung doch wieder nur bei der Mutter ist und ihnen nur in einer andern Weise übergeben werden kann.

Die Aufgabe, die jetzt der Welt zukommt, besteht im Begreifen, dass der Prozess der früheren unbewussten Ernährung überlebt ist und dass ein neuer bewusster Ernährungsprozess beginnen muss.

Dieser neue Prozess besteht in der bewussten Annahme jener Wahrheiten der christlichen Lehre, die früher unbewusst der Menschheit durch das Organ der Kirche eingeflösst wurden und durch die jetzt die Menschheit lebt. Die Menschen müssen von neuem jenes Licht erheben, durch welches sie lebten, das aber vor ihnen verborgen war, und müssen es hoch vor sich hinstellen und mit Bewusstsein durch dieses Licht leben.

Die Lehre Christi, als eine Religion, die das Leben bestimmt und eine Erklärung des Lebens der Menschen giebt, besteht jetzt ebenso, wie sie seit mehr denn 1800 Jahren vor der Welt bestanden hat. Früher jedoch hatte die Welt Erklärungen der Kirche, welche, die Lehre vor ihr verhüllend, ihr dennoch genügend für ihr früheres Leben erschienen; jetzt aber ist eine Zeit gekommen, wo die Kirche ausgelebt hat, wo die Welt keinerlei Erklärungen ihres neuen Lebens hat und nicht umhin kann ihre Hilflosigkeit zu fühlen, und deshalb kann sie jetzt nicht umhin die Lehre Christi anzunehmen.

Christus lehrt vor allen Dingen, dass die Menschen an das Licht glauben sollen, so lange das Licht in ihnen ist. Christus lehrt, dass die Menschen dieses Licht der Vernunft höher stellen als alles, entsprechend leben und das nicht thun sollen, was sie selbst für unvernünftig halten. – Haltet ihr es für unvernünftig hinzugehen und Deutsche oder Türken zu tödten – so gehet nicht; haltet ihr es für unvernünftig die Arbeit armer Leute mit Gewalt auszubeuten um einen Zylinder aufzusetzen und euch in ein Korsett zu schnüren oder ein euch lästiges prachtvolles Kabinett einzurichten – so thut es nicht; haltet ihr es für unvernünftig die durch Müssiggang auf Abwege gerathenen und für die Gemeinschaft der Menschen schädlichen Leute ins Gefängniss zu sperren, d. i. in die allerschädlichste Gemeinschaft und den gänzlichen Müssiggang – so thut es nicht; haltet ihr es für unvernünftig in ungesunder Stadtluft zu leben, wenn ihr in freier Luft leben könnt, haltet ihr es für unvernünftig die Kinder hauptsächlich und am meisten in der Grammatik todter Sprachen zu unterrichten – so thut es nicht. Kurz, thut nicht das, was heutzutage unsere ganze europäische Welt thut: ein Leben führen, das man nicht für vernünftig hält, handeln und seine Handlungen nicht für vernünftig halten, mit einem Wort: an seine Vernunft nicht glauben und im Widerspruche mit ihr leben.

Christi Lehre ist das Licht. Das Licht leuchtet, und die Finsterniss verschwindet. Man kann nicht umhin das Licht anzunehmen, wenn es leuchtet. Mit dem Lichte lässt sich nicht streiten: man muss sich mit ihm einverstanden erklären. So muss man sich mit Christi Lehre einverstanden erklären, denn sie umfasst alle Verirrungen, in denen die Menschen leben, und durchdringt sie dem Aether gleich, von dem die Physiker sprechen. Christi Lehre ist gleich unentbehrlich für jeden Menschen unserer Welt, welchen Standes er auch sei. Christi Lehre kann nicht umhin von den Menschen angenommen zu werden, nicht weil sich jene metaphysische Erklärung des Lebens, die sie giebt, nicht ableugnen liesse (ableugnen lässt sich alles), sondern weil sie allein jene Regeln des Lebens giebt, ohne welche die Menschheit weder gelebt hat, noch leben kann, ohne die kein einziger Mensch gelebt hat, noch zu leben vermag, wenn er als Mensch, d. h. mit Vernunft leben will. Die Macht der Lehre Christi liegt nicht in ihrer Erklärung der Bedeutung des Lebens, sondern in dem, was daraus entspringt: in der Lehre über das Leben. Die metaphysische Lehre Christi ist nicht neu. Es ist immer ein und dieselbe Lehre der Menschheit, die in den Herzen der Menschen geschrieben steht und die von allen wahrhaften Weisen der Welt verkündet worden ist. Aber die Macht der Lehre Christi liegt in der Anwendung dieser metaphysischen Lehre auf das Leben.

Die metaphysische Grundlage der alten Lehre der Hebräer und der Lehre Christi ist dieselbe: die Liebe zu Gott und zum Nächsten. Die Anwendung jedoch dieser Lehre auf das Leben nach Moses und nach dem Gesetze Christi ist äusserst verschieden. Nach dem Gesetze Mosis, wie die Hebräer es auffassten, bestand die Anwendung jener Lehre auf das Leben in der Erfüllung von 613, oft sinnlosen, grausamen Geboten, die sich sämmtlich auf die Autorität der Schrift stützten. Nach dem Gesetze Christi ist die, derselben metaphysischen Grundlage entsprossene Lehre in blos fünf vernünftigen, gütigen Geboten ausgedrückt, die in sich selbst ihre Bedeutung und ihre Rechtfertigung tragen und das ganze Leben des Menschen umfassen.

Die Lehre Christi kann nicht umhin von jenen gläubigen Juden, Buddhisten, Muhamedanern u. a., die an der Wahrhaftigkeit ihres eigenen Gesetzes zweifeln sollten, angenommen zu werden; noch weniger kann sie von jenen Leuten unsrer christlichen Welt nicht angenommen werden, die augenblicklich gar kein sittliches Gesetz haben.

Die Lehre Christi streitet nicht mit den Leuten unserer Welt über ihre Weltanschauung; sie erklärt sich im voraus mit derselben einverstanden, und indem sie diese in sich aufnimmt, giebt sie ihnen das, was ihnen fehlt, was ihnen nothwendig ist und wonach sie suchen: sie weist ihnen den Weg des Lebens, und zwar nicht einen neuen, sondern einen längst ihnen allen wohl bekannten Weg.

Ihr seid ein gläubiger Christ einer beliebigen Religion; ihr glaubt an die Erschaffung der Welt, an die Dreieinigkeit, an den Sündenfall und die Erlösung der Menschen, an die Sakramente, an die Gebete, an die Kirche. Christi Lehre, weit entfernt mit euch zu streiten, ist mit eurer Weltanschauung vollkommen einverstanden; sie giebt euch nur was euch fehlt. Festhaltend an eurem gegenwärtigen Glauben fühlt ihr, dass in dem Leben der Welt wie in dem euren das Böse herrscht, und ihr wisset nicht, wie ihr es vermeiden sollt; die Lehre Christi (zu der ihr verpflichtet seid, als zu der Lehre eures Gottes) giebt euch einfache, ausführbare Lebensregeln, die euch und andere von jenem Uebel befreien werden, das euch quält. Glaubt an den Sonntag, an das Paradies, an die Hölle, an den Papst, an die Kirche, an die Sakramente, an die Erlösung; betet, wie eure Religion es verlangt, fastet, singt Psalmen – alles das hindert euch nicht das zu erfüllen, was durch Christus zu eurem Heile verkündet ward: zürnet nicht, ehebrechet nicht, schwöret nicht, vertheidigt euch nicht durch Gewalt, führet keine Kriege.

Es kann geschehen, dass ihr irgend eine dieser Regeln nicht erfüllt. Ihr werdet euch hinreissen lassen und in einem Momente der Leidenschaft eine oder die andre dieser Regeln übertreten, wie ihr jetzt die Gesetze eurer Religion, Staatsgesetze oder Anstandsregeln verletzt. In ruhigen Momenten aber thuet nicht das, was ihr jetzt thut; richtet euch nicht ein Leben ein, bei dem es schwer fällt sich des Zornes, des Ehebruchs, des Schwures, der Selbstverteidigung, des Krieges zu enthalten, sondern ein Leben, bei dem es schwer wäre alles das zu thun: ihr könnt nicht umhin das anzuerkennen, weil Gott es euch also befohlen hat.

Ihr seid ein ungläubiger Philosoph einer beliebigen Schule. Ihr sagt, dass alles in der Welt nach einem Gesetze entsteht, das ihr entdeckt habt. Christi Lehre streitet nicht mit euch und erkennt das von euch entdeckte Gesetz bereitwillig an. Ausser diesem eurem Gesetze jedoch, laut welchem nach Jahrtausenden jene Glückseligkeit eintreten wird, die ihr wünschet und für die Menschheit vorbereitet, habt ihr noch euer persönliches Leben, das ihr entweder im Einklange mit eurer Vernunft oder im Widerspruch mit ihr verbringen könnt; und eben für dieses euer persönliches Leben habt ihr jetzt keine Regeln, ausser denen, die von Leuten geschrieben, die ihr verachtet, und von Polizisten in Ausführung gebracht werden. Die Lehre Christi giebt euch solche Regeln, die sicher mit eurem Gesetze übereinstimmen, denn eure Gesetze des Altruismus oder des Egoismus sind nichts anderes als schlechte Umschreibungen derselben Lehre Christi.

Ihr seid ein Durchschnitts-Mensch, halb-gläubig und halb-ungläubig, der keine Zeit hat sich in die Bedeutung des menschlichen Lebens zu vertiefen; ihr habt keine bestimmte Weltanschauung und ihr thut alles, was die andern thun. Christi Lehre streitet nicht mit euch. Sie sagt: gut, ihr seid unfähig zu überlegen und die Wahrhaftigkeit der euch eingeprägten Lehre zu prüfen; es ist auch leichter den Fussstapfen andrer zu folgen; wie bescheiden ihr aber auch sein mögt, ihr fühlet dennoch in euch einen innern Richter, der eure mit allen übereinstimmenden Handlungen mitunter gutheisst und mitunter tadelt. Wie bescheiden euer Loos auch sein mag, es trifft sich dennoch, dass ihr manchmal nachdenkt und euch fragt: soll ich thun wie alle, oder nach meinem Gutdünken? Namentlich in solchen Fällen, wenn die Nothwendigkeit der Lösung einer derartigen Frage an euch herantritt, werden die Regeln Christi in ihrer ganzen Kraft vor euch erstehen. Und diese Regeln werden euch sicher Antwort auf eure Frage geben, denn sie umfassen euer ganzes Leben und antworten auch in Uebereinstimmung mit eurer Vernunft und eurem Gewissen. Wenn ihr mehr zum Glauben als zum Unglauben neigt, so handelt ihr, wenn ihr so thut, nach dem Willen Gottes; neigt ihr mehr zur Freigeisterei, so handelt ihr nach den vernünftigsten Regeln, die in der Welt existiren, wovon ihr euch selbst überzeugen werdet, – denn die Regeln Christi tragen ihre Bedeutung und ihre Rechtfertigung in sich.

Christus hat gesagt (Joh. 12, 31): »Jetzt gehet das Gericht über die Welt, nun wird der Fürst dieser Welt ausgestossen werden.«

Er hat noch gesagt (Joh. 16, 33): »Solches habe ich mit euch geredet, dass ihr in mir Frieden habt. In der Welt habt ihr Angst: aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden.«

Und in der That ist die Welt, d. h. das Böse in ihr überwunden.

Wenn noch eine Welt des Bösen besteht, so besteht sie nur als etwas Todtes; sie lebt nur noch in Agonie, ihr fehlt bereits die Grundlage des Lebens. Sie existirt nicht für den, der an Christi Gebote glaubt, sie ist besiegt von der vernünftigen Erkenntniss des Menschen-Sohnes. Der im Gange befindliche Eisenbahnzug läuft noch in gerader Richtung fort, aber jede vernünftige Thätigkeit der Fahrenden ist längst auf den Rücklauf gerichtet.

1. Ep. Joh. 5, 4: »Denn alles was von Gott geboren ist, überwindet die Welt, und unser Glaube ist der Sieg, der die Welt überwunden hat.«

Der Glaube, der die Welt überwindet, ist der Glaube an die Lehre Christi.


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