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X.

[Die Gebote Christi sind für Jedermann ausführbar, ihre Ausführung ist leicht und glückbringend.
Das Leben der Welt fordert viel grössere Opfer als Christi Gebote.
Aufzahlung der Bedingungen eines glücklich zu nennenden Lebens.
Märtyrer der Welt.
Arbeit im Dienste Andrer sichert stets die Erhaltung unsres Lebens. Speisung der fünftausend Mann.]

 

Wir sagen: es ist schwer nach Christi Lehre zu leben. Wie sollte es auch nicht schwer sein, wenn wir selbst durch unser ganzes Leben unsre Lage sorgfältig vor uns selbst verbergen und sorgfältig in uns das Zutrauen bestärken, dass unsre Lage durchaus keine solche ist, wie sie ist, sondern eine ganz andere. Und dieses Zutrauen, das wir »Glaube« nennen, erheben wir zu einem Heiligthum und mit allen Mitteln, mit Gewalt, durch Einwirkungen auf das Gemüth, durch Drohungen, Schmeicheleien, Täuschungen suchen wir zu diesem falschen Zutrauen heranzulocken. In diesem Fordern des Vertrauens auf das Unmögliche und Unvernünftige gelangen wir so weit, dass wir die Unvernunft selbst dessen, wozu wir Zutrauen verlangen, als ein Zeichen der Wahrhaftigkeit ansehen. Es fand sich ein Christ, welcher sagte: credo quia absurdum, und die andern Christen wiederholen das mit Entzücken, voraussetzend, dass der Unsinn das beste Mittel ist um die Menschen die Wahrheit zu lehren. In einem Gespräche mit mir äusserte unlängst ein gelehrter und kluger Mann, dass die christliche Lehre, als Sittenlehre, nicht viel werth sei. »Alles das, sagte er, kann man bei den Stoikern, bei den Brahminen und im Talmud finden. Das Wesen der christlichen Lehre liegt nicht darin, sondern in der theosophischen Lehre, die in den Dogmen ausgedrückt ist.« Das heisst: nicht das ist theuer in der christlichen Lehre, was ewig und allgemein menschlich, was zum Leben notwendig und vernünftig ist, sondern im Christenthum ist das wichtig und werthvoll, was durchaus unverständlich und darum unnütz ist und das, im Namen dessen Millionen von Menschen getödtet worden sind.

Wir haben uns eine, auf nichts als auf unsre Bosheit und unsre persönlichen Begierden gegründete, falsche Vorstellung von unsrem und von dem Leben der Welt gemacht und halten den Glauben an diese falsche, äusserlich mit Christi Lehre verbundene Vorstellung für das Nothwendigste und Wichtigste für unser Leben. Wäre nicht dieses, durch Jahrhunderte von den Menschen aufrecht erhaltene Vertrauen in die Lüge, so hätte sich die Unwahrheit unsrer Vorstellung vom Leben und die Wahrheit der Lehre Christi offenbart.

Es ist furchtbar zu sagen, mir scheint es jedoch zuweilen so: wenn Christi Lehre mit der aus ihr erwachsenen kirchlichen Lehre gar nicht existirte, so ständen diejenigen, die sich jetzt Christen nennen, der Lehre Christi, d. h. der vernünftigen Lehre über das Heil des Lebens, viel näher als sie jetzt stehen. Ihnen wären die sittlichen Lehren der Propheten der ganzen Menschheit nicht verschlossen. Sie hätten ihre eigenen Verkünder der Wahrheit und hätten ihnen geglaubt. Jetzt aber ist die ganze Wahrheit offenbar und die ganze Wahrheit ist denen, deren Werke böse waren, so furchtbar erschienen, dass sie die Wahrheit in Lüge umgewandelt haben; – und die Menschen haben das Zutrauen zu der Wahrheit verloren. In unserer europäischen Gesellschaft haben längst alle auf die Verkündigung Christi, dass er in die Welt gekommen ist »um von der Wahrheit zu zeugen, und dass deshalb jeder, der von der Wahrheit ist, ihn höret«, sich selbst mit den Worten des Pilatus geantwortet: »Was ist Wahrheit?« – Diese Worte, die eine so traurige und tiefe Ironie über einen einzelnen Römer ausdrücken, haben wir für Ernst genommen und haben sie zu unsrem Glauben gemacht. In unserer Welt leben alle nicht nur ohne Wahrheit und ohne Wunsch sie zu erkennen, sondern auch in der festen Ueberzeugung, dass von allen müssigen Beschäftigungen die müssigste das Suchen der Wahrheit ist, welche das menschliche Leben lenkt.

Die Lehre des Lebens, von dem, was bei allen Völkern vor unserer europäischen Gesellschaft stets für das Wichtigste gehalten worden, von dem, wovon Christus sprach, es sei »das eine was noth thut«, – diese, und diese allein, ist aus unserem Leben und aus der ganzen menschlichen Thätigkeit ausgeschlossen. Das ist es, womit sich die Einrichtung beschäftigt, die sich Kirche nennt und an die schon längst keiner mehr glaubt, selbst diejenigen nicht, die diese Einrichtung gegründet haben und festhalten.

Das einzige Fenster zum Lichte, auf das die Blicke aller Denkenden und Leidenden gerichtet sind, ist verdeckt. Auf die Fragen: »was bin ich? was soll ich? kann ich nicht mein Leben erleichtern nach der Lehre jenes Gottes, der euren Worten nach gekommen ist um uns zu erlösen?« antwortet man mir: »erfülle die Vorschriften der Obrigkeiten und glaube an die Kirche.« »Weshalb aber leben wir so schlecht auf dieser Welt?« fragt die verzweifelte Stimme des Suchenden, »wozu ist all' das Böse? ist es mir wirklich nicht möglich mich mit meinem Leben von diesem Uebel fern zu halten? ist es wirklich nicht möglich dies Uebel zu erleichtern?« Man antwortet: »Es ist nicht möglich. Dein Wunsch ein gutes Leben zu führen und dadurch den andern zu helfen – ist Stolz und Hochmuth. Das einzige, was möglich ist, ist: sich selbst, d. i. seine Seele für ein zukünftiges Leben zu retten. Wenn du aber an dem Bösen der Welt nicht theilnehmen willst, so verlasse die Welt. Dieser Weg steht jedem offen (spricht die Lehre der Kirche): wisse jedoch, dass du, wenn du diesen Weg wählest, nicht mehr an dem Leben der Welt theilnehmen darfst, dass du aufhören sollst zu leben und dich selbst langsam tödten sollst.« – »Es giebt nur zwei Wege, sagen unsere Lehrer: glauben, uns der Macht unterwerfen und uns an jenem Uebel betheiligen, das wir geschaffen haben, oder die Welt verlassen um ins Kloster zu gehen, nicht essen und nicht trinken, sein Fleisch und Blut am Pfahle faulen lassen, sich beugen und aufrichten und – nichts für die Menschen thun.«

Das heisst: entweder die Lehre Christi als unausführbar und damit die von der Religion geheiligte Gesetzlosigkeit des Lebens anerkennen; oder dem Leben entsagen, was einem langsamen Selbstmorde gleichkommt.

Wie merkwürdig demjenigen, der Christi Lehre begriffen hat, die Verirrung erscheinen mag, laut welcher zugestanden wird, dass diese Lehre sehr gut, für die Menschen aber unausführbar sei; so ist doch jene Verirrung, laut welcher festgestellt wird, dass ein Mensch, der nicht in Worten, sondern in der That Christi Lehre befolgen will, aus der Welt gehen soll, noch merkwürdiger.

Der Irrthum, dass es für einen Menschen besser ist sich von der Welt zurückzuziehen, als sich ihren Versuchungen auszusetzen, ist ein alter, den Hebräern längst bekannter Irrthum, aber nicht nur dem Geiste des Christenthums, sondern auch der jüdischen Religion vollkommen fremd. Gegen diese Verirrung ist, noch lange vor Christus, die Erzählung über den Propheten Jonas geschrieben worden, die Christus liebte und die oft von ihm angeführt wurde. Die Idee der Erzählung ist von Anfang bis zum Ende die eine: der Prophet Jonas will allein gerecht sein und zieht sich von den verderbten Menschen zurück. Gott aber zeigt ihm, dass er, ein Prophet, nur dazu da ist um den verirrten Menschen seine Kenntniss der Wahrheit mitzutheilen und dass er deshalb nicht die verirrten Menschen fliehen, sondern in Gemeinschaft mit ihnen leben soll. Jonas verachtet die verderbten Niniver und meidet sie. Wie aber auch Jonas seiner Bestimmung zu entrinnen sucht, Gott führt ihn dennoch mit Hilfe des Wallfisches zu den Ninivern zurück, und es geschieht das was Gott will, d. h. die Niniver nehmen durch Jonas' Vermittelung die Lehre Gottes an und ihr Leben wird ein besseres. Jonas aber, weit entfernt sich darüber zu freuen das Werkzeug des Willens Gottes gewesen zu sein, ist unzufrieden und eifersüchtig auf die Niniver; er möchte allein vernünftig und gut sein. Er entfernt sich in die Wüste, beweint sein Schicksal und rechtet mit Gott. Und da wächst über seinem Haupte in einer Nacht ein Kürbiss, der ihn vor der Sonne beschützt, und in einer andern Nacht frisst der Wurm den Kürbiss auf. Jonas macht Gott noch verzweifeltere Vorwürfe darüber, dass der ihm theure Kürbiss umgekommen ist. Da spricht Gott zu ihm: du trauerst um den Kürbiss, den du dein eigen nennest; er ist in einer Nacht entstanden und in einer Nacht vergangen; soll ich aber nicht trauern um das grosse Volk, das dem Verderben entgegenging, weil es lebte wie das Vieh und die rechte Hand nicht von der linken zu unterscheiden vermochte? Deine Erkenntniss der Wahrheit war nur dazu nutze um weiter gegeben zu werden denen, die sie nicht besassen.

Christus kannte diese Erzählung und brachte sie oft vor; ausserdem wird aber in den Evangelien erzählt, wie Christus selbst, nach dem Besuche des in der Wüste lebenden Johannes des Täufers, vor dem Beginne seiner Predigten, derselben Versuchung verfiel und vom Satan (Betrug) in die Wüste geführt wurde zur Versuchung; wie Christus diesen Betrug besiegte, wie er in der Macht des Geistes nach Galiläa heimkehrte und seitdem, keinerlei noch so verderbte Menschen verabscheuend, sein Leben unter Zöllnern, Pharisäern und Sündern zubrachte und ihnen die Wahrheit predigte Luk. 4, 1 u. 2. Christus wird von der »Täuschung« in die Wüste geführt um dort versucht zu werden, Matth. 4, 3 u. 4. Die Täuschung spricht zu Christus: er sei nicht der Sohn Gottes, wenn er nicht Steine in Brod verwandeln könne. Christus antwortet: ich kann ohne Brod leben, denn ich lebe durch das, was Gott mir eingeflösst hat. 5-7. Darauf spricht die Täuschung: wenn du durch das lebst, was Gott dir eingeflösst hat, dann wirf dich hinab; du wirst dein Fleisch tödten, aber der dir von Gott eingeflösste Geist wird nicht umkommen. Christus antwortet: mein Leben im Fleische ist Gottes Wille. Sein Fleisch tödten heisst gegen den Willen Gottes handeln – Gott versuchen. 8–10. Darauf spricht die Täuschung: wenn es so ist, so diene dem Fleische wie alle Menschen und das Fleisch wird dich belohnen. Christus antwortet: ich habe keine Macht über das Fleisch, mein Leben ist im Geiste; das Fleisch vernichten aber kann ich nicht, denn der Geist ist durch den Willen Gottes in mein Fleisch gelegt und deshalb kann ich, im Fleische lebend, nur dem Vater, meinem Gotte dienen. – Und Christus geht aus der Wüste hinaus in die Welt..

Nach der kirchlichen Lehre jedoch hat Christus, der Gott-Mensch, uns das Beispiel des Lebens gegeben. Sein ganzes uns von ihm bekanntes Leben verbringt Christus im Strudel des Lebens selbst: mit Zöllnern, Buhlerinnen und mit den Pharisäern in Jerusalem. Christi Hauptgebote sind: die Liebe zum Nächsten und das Verbreiten seiner Lehre durch das lebendige Wort. Das eine wie das andere verlangt eine fortwährende Gemeinschaft mit der Welt. Und plötzlich wird der Schluss gezogen, dass man nach Christi Lehre von allen fortgehen, mit niemandem zu thun haben und – sich an den Pfahl stecken soll. Es erweist sich, dass man, um Christi Beispiel zu folgen, gerade das Gegentheil von dem thun soll, was er gelehrt und was er gethan hat.

Die Lehre Christi nach den kirchlichen Erklärungen erscheint den weltlichen, wie den im Mönchsstande lebenden Menschen nicht als eine Lehre über das Leben, wie man dieses besser für sich und für andere einrichten solle, sondern für die weltlichen Menschen als eine Lehre über das, woran sie glauben sollen um, schlecht lebend, dennoch im zukünftigen Leben erlöst zu werden, und für die im Mönchsstande Lebenden wie sie dieses Leben für sich noch schlechter machen sollen als es ist.

Christus aber lehrt nicht das.

Christus lehrt die Wahrheit, und wenn eine abstrakte Wahrheit Wahrheit ist, so wird sie auch in der Wirklichkeit Wahrheit sein. Wenn ein Leben in Gott das allein wahre und glückselige ist an sich selbst, so ist es wahr und glückselig auch hier auf Erden, bei allen Zufälligkeiten des Lebens. Wenn das Leben hier die Lehre Christi über das Leben nicht bestätigen würde, so würde diese Lehre keine wahre sein.

Christus beruft nicht vom Guten zum Schlimmeren, sondern im Gegentheil vom Schlimmeren zum Guten. Er bemitleidet die Menschen, die ihm wie verlorene, ohne Hirten zu Grunde gehende Schafe vorkommen, und verspricht ihnen einen Hirten und eine gute Weide. Er sagt, dass seine Jünger um seiner Lehre willen verfolgt werden, und ermahnt sie die Verfolgungen der Welt zu dulden und mit Standhaftigkeit zu ertragen. Er sagt aber nicht, dass sie mehr leiden werden, wenn sie seiner Lehre, als wenn sie der Lehre der Welt folgen werden; im Gegentheil: er sagt, dass diejenigen, die der Lehre der Welt folgen, unglücklich sein, die aber seiner Lehre folgen, glückselig sein werden.

Christus lehrt nicht die Erlösung durch den Glauben oder das Asketenthum, d. i. den Betrug der Einbildung oder das freiwillige Märtyrerthum in diesem Leben; er lehrt ein Leben, in welchem der Mensch, ausser der Errettung des persönlichen Lebens vom Untergange, bereits hier, in dieser Welt, weniger Leiden und mehr Freuden empfindet, als im persönlichen Leben.

Christus sagt den Menschen, dass sie, selbst wenn sie allein seine Lehre befolgen inmitten derer, die sie nicht befolgen, dennoch dadurch nicht unglücklicher, sondern im Gegentheil glücklicher sein werden, als diejenigen, die seine Lehre nicht befolgen, Christus sagt, es sei eine sichere weltliche Berechnung um das persönliche Leben nicht zu sorgen.

Mark. 10, 28-31. »Da sagte Petrus zu ihm: Siehe, wir haben alles verlassen und sind dir nachgefolgt (28). Jesus antwortete und sprach: Wahrlich, ich sage euch: es ist niemand, so er verlässt Haus, oder Brüder, oder Schwestern, oder Vater, oder Mutter, oder Weib, oder Kinder, oder Aecker, um meinetwillen und um des Evangelii willen (29); Der nicht hundertfältig empfange, jetzt in dieser Zeit, Häuser und Brüder, und Schwestern, und Mütter, und Kinder, und Aecker, mit Verfolgungen, und in der zukünftigen Welt das ewige Leben (30). Viele aber werden die letzten sein, die die ersten sind; und die ersten sein, die die letzten sind (31).« (Matth. 19, 27-30; Luk. 18, 28-30.)

Es ist wahr: Christus erwähnt, dass denen, die ihm folgen werden, die Verfolgungen derer bevorstehen, die ihm nicht folgen werden; er sagt aber nicht, dass seine Jünger dadurch etwas verlieren werden. Im Gegentheil, er sagt: seine Jünger werden hier, in dieser Welt, mehr Freuden haben als die, so nicht seine Jünger sind.

Dass Christus dies sagt und denkt, daran kann kein Zweifel bestehen, nach der Deutlichkeit seiner Worte sowohl wie nach dem Sinne der ganzen Lehre; nach dem, wie er gelebt hat und wie seine Jünger lebten. – Ist das aber wahr?

Wenn wir die Frage: wessen Lage besser sei, die der Befolger der Lehre Christi oder die der Befolger der weltlichen Lehre, abstrakt erörtern, können wir nicht umhin zu sehen, dass die Lage der Jünger Christi schon darum besser sein muss, weil die Jünger Christi, indem sie allen Gutes thun, keinen Hass in den Menschen erwecken werden. Indem die Jünger Christi keinem Böses zufügen, können sie nur durch böse Menschen verfolgt werden; die Befolger der weltlichen Lehre dagegen müssen von allen verfolgt werden, da das Gesetz der weltlichen Lehre ein Gesetz des »Kampfes« ist, d. h. der gegenseitigen Verfolgung. Die Zufälligkeiten der Leiden aber sind dieselben für die einen wie für die andern, blos mit dem Unterschiede, dass die Jünger Christi vorbereitet sein werden sie entgegenzunehmen, die Jünger der Welt dagegen alle ihre Seelenkräfte darauf verwenden, werden ihnen zu entgehen; indem sie leiden, werden die Jünger Christi denken, dass ihre Leiden für die Welt nothwendig sind; die Jünger der Welt aber werden, wenn sie leiden, nicht wissen, wozu sie leiden. Aus alledem müssen wir schliessen, dass die Lage der Jünger Christi eine vortheilhaftere sein wird, als die der Jünger der Welt. Ist sie es aber auch in Wirklichkeit?

Um sich davon zu überzeugen möge jeder von uns sich die schweren Momente seines Lebens, die Körper- und Seelenleiden, die er erduldet hat und noch erduldet, ins Gedächtniss zurückrufen und sich fragen: warum habe ich alle diese Leiden erduldet, um Christi willen oder um der Welt willen? Möge jeder aufrichtige Mensch sich genau sein ganzes Leben vergegenwärtigen, und er wird sehen, dass er nie, nicht ein einziges Mal durch die Erfüllung der Lehre Christi gelitten hat, sondern dass die meisten Trübsale seines Lebens nur dadurch entstanden sind, dass er gegen seine Neigung der ihn bindenden Lehre der Welt gefolgt ist.

In meinem, ausschliesslich im weltlichen Sinne glücklichen Leben kann ich so viele Leiden aufzählen, die ich um der Lehre der Welt willen ertragen, dass sie für einen guten Märtyrer um Christi willen genügen würden. Alle schwersten Momente meines Lebens, von den Gelagen und Ausschweifungen der Studentenzeit ab bis zum Duelle, zum Kriege und jenen ungesunden, unnatürlichen und quälenden Lebensbedingungen, in denen ich jetzt lebe, das alles ist ein Märtyrerthum um der Lehre der Welt willen. So spreche ich über mein, im weltlichen Sinne ausnahmsweise glückliches Leben. Wie viele Märtyrer aber giebt es, die gelitten haben und leiden um der Lehre der Welt willen, deren Leiden ich mir nicht einmal lebhaft vorzustellen vermag!

Wir sehen blos deshalb nicht die ganze Schwierigkeit und Gefahr der Erfüllung der Lehre der Welt, weil wir annehmen, dass alles, was wir um ihretwillen ertragen, unumgänglich nothwendig ist.

Wir halten uns davon überzeugt, dass alle Trübsale, die wir uns selbst bereiten, unvermeidliche Bedingungen unsres Lebens sind, und können deshalb nicht begreifen, dass Christus gerade lehrt, wie wir uns von unseren Trübsalen befreien und glücklich leben sollen.

Um im Stande zu sein die Frage zu entscheiden, welches Leben das glücklichere ist, müssen wir uns mindestens in Gedanken von dieser falschen Vorstellung befreien und ohne Vorurtheil in und um uns schauen.

Gehet heran an einen Menschenhaufen, namentlich städtischer Leute, und blicket in diese erschöpften, erregten und kranken Gesichter und gedenket dann eures eigenen Lebens und des Lebens derjenigen Leute, aus deren Vergangenheit euch zufällig einige Einzelheiten bekannt geworden sind; erinnert euch jener gewaltsamen Todesfälle, erinnert euch der Selbstmorde, über die ihr vernommen, und fragt euch: weshalb alle diese Qualen des Todes, woher diese Verzweiflung, die zum Selbstmorde geführt? Und ihr werdet sehen – wie sonderbar dies anfangs erscheinen mag –, dass neun Zehntel der menschlichen Leiden um der Lehre der Welt willen erduldet werden, dass alle diese Leiden unnütz sind und gar nicht zu sein brauchten – dass die Mehrzahl der Menschen Märtyrer der Lehre der Welt sind.

Unlängst fuhr ich an einem regnerischen Herbstsonntage auf der Pferdebahn über den Marktplatz am Sucharewo-Thurm. Auf einer Strecke von einer halben Werst schob der Wagen einen dichten Menschenknäuel auseinander, der sich sofort hinter ihm wieder schloss. Vom Morgen bis zum Abend drängen sich hier im Schmutze Tausende von Menschen, von denen die meisten hungrig und zerlumpt sind, und stossen, schimpfen, betrügen und hassen einander. Dasselbe geschieht auf allen Märkten, namentlich in grossen Städten. Den Abend verbringen diese Leute in der Schenke und im Wirthshaus, die Nacht in ihren Winkeln und Löchern. Der Sonntag ist der beste Tag ihrer Woche. Am Montag erwachen sie aus ihrem Rausch in ihren verpesteten Kammern, stärken sich durch neuen Rausch und gehen dann an ihre ihnen überdrüssig gewordene Arbeit.

Versetzt euch in das Leben dieser Leute, in den Zustand, den sie verlassen haben um denjenigen zu wählen, in dem sie sich jetzt befinden; denkt euch hinein in die unaufhörlichen Mühseligkeiten, die diese Leute, Männer und Weiber, freiwillig ertragen, – und ihr werdet sehen, dass sie wahrhafte Märtyrer sind.

Alle diese Leute haben Haus, Acker, Vater, Brüder, oft Weib und Kind verlassen, haben allem, selbst dem Leben entsagt und sind in die Stadt gekommen um das zu erringen, was nach der Lehre der Welt jedem von ihnen für unentbehrlich gilt. Und sie alle – gar nicht zu sprechen von jenen Tausenden Unglücklicher, die alles verloren haben und sich nur noch mit Gekröse und Branntwein in den Nachtherbergen durchschlagen – alle, vom Fabrikarbeiter, Fuhrmann, von der Näherin und dem Freudenmädchen an bis zum reichen Kaufmann und bis zum Minister und ihren Frauen, alle ertragen das schwerste, unnatürlichste Leben und haben dennoch das, was ihnen nach der Lehre der Welt für das Nothwendigste gilt, nicht errungen.

Suchet unter diesen Leuten, vom Armen bis zum Reichen, und findet einen Menschen, dem das, was er erwirbt, hinreicht zu dem, was er für nothwendig, für unentbehrlich hält nach der Lehre der Welt, und ihr werdet sehen, dass ihr nicht einen unter Tausenden finden werdet. Jeder plagt sich aus allen Kräften um das zu erringen, was er nicht braucht, was aber die Lehre der Welt von ihm verlangt und dessen Nichtbesitz sein Unglück ausmacht. Und sobald er das Verlangte errungen hat, wird von ihm wieder anderes verlangt, und so geht diese Sisyphus-Arbeit, die das Leben der Menschen vernichtet, fort ohne Ende. Nehmet eine Abstufung der Vermögensverhältnisse der Menschen an, die von 300 bis 50 000 Rubel jährlich verleben, und ihr werdet selten einen Menschen finden, der sich nicht abquälte und erschöpfte bei der Arbeit, um 400 Rubel zu verdienen, wenn er 300 hat, und 500 zu erwerben, wenn er 400 besitzt, und so ohne Ende. Und es giebt nicht einen, der 500 hätte und freiwillig zu dem Leben desjenigen überginge, der 400 hat. Und wenn es auch solche Beispiele giebt, so geschieht dieser Uebergang nicht darum, um das Leben zu erleichtern, sondern um Geld zu sammeln und es bei Seite zu legen. Alle Massen mehr und mehr ihr ohnehin belastetes Leben durch neue Mühen beschweren und ihre Seele vollständig der Lehre der Welt hingeben. Heute hat er Rock und Galoschen erworben, morgen Uhr und Kette, übermorgen eine Wohnung mit Sopha und Lampe, darauf Teppiche in vier Gastzimmer und Sammetkleider, dann ein Haus, Pferde und Bilder in Goldrahmen, dann – erkrankt er aus Ueberanstrengung seiner Kräfte und stirbt. Ein anderer setzt dieselbe Arbeit fort und opfert sein Leben demselben Moloch und weiss gleichfalls selbst nicht wozu er das alles gethan. Vielleicht aber ist dieses Leben, im Verlaufe dessen der Mensch das alles thut, an sich selbst ein glückliches?

Wägt dieses Leben nach dem Gewichte dessen, was alle Menschen stets »Glück« genannt haben, und ihr werdet sehen, dass dies Leben ein entsetzlich unglückliches ist. In der That: welches sind die Hauptbedingungen eines irdischen Glücks, die Bedingungen, über die niemand streiten würde?

Eine der ersten und von allen anerkannten Bedingungen zum Glücke ist ein Leben, in welchem die Beziehungen des Menschen zu der Natur aufrecht erhalten bleiben, d. i. ein Leben unter freiem Himmel, bei Sonnenlicht und freier Luft; Gemeinschaft mit der Erde, mit Pflanzen und Thieren. Alle Menschen haben stets die Entbehrung alles dessen für ein grosses Unglück angesehen. Die im Kerker Schmachtenden empfinden diese Entbehrung am heftigsten. – Betrachtet nun das Leben der Menschen, die nach der Lehre der Welt leben. Je grössere Erfolge sie, nach der Lehre der Welt, erzielt, umsomehr wird ihnen diese Bedingung zum Glück entzogen. Je höher das weltliche Glück steht, das sie errungen, umsoweniger sehen sie das Licht der Sonne, Wiesen und Wälder, wilde und Haus-Thiere. Viele von ihnen, fast alle Frauen erreichen das Greisenalter ohne mehr als ein- oder zweimal im Leben den Sonnenaufgang und Morgen und ohne je die Wiesen und Wälder anders gesehen zu haben, als von der Kalesche oder vom Waggon aus, und nicht nur ohne je etwas gesäet oder gepflanzt, oder eine Kuh, ein Pferd, ein Huhn aufgefüttert und aufgezogen, sondern auch ohne einen Begriff davon zu haben, wie die Thiere zur Welt kommen, wie sie aufwachsen und leben. Diese Menschen sehen nur Gewebe, Steine und Holz, das durch menschliche Mühe verarbeitet ist, und auch das sehen sie nicht bei Sonnenlicht, sondern bei künstlicher Beleuchtung; sie hören nur Laute von Maschinen, Equipagen, Kanonen und musikalischen Instrumenten, sie riechen nur spirituöse Gerüche und Tabakrauch; zu Händen und Füssen sind sie umringt von Gewebe, Stein und Holz; ihres schwachen Magens wegen gemessen sie grösstentheils Verdorbenes und Uebelriechendes. Ihr Herumziehen von Ort zu Ort rettet sie nicht von diesen Entbehrungen. Sie fahren in geschlossenen Kasten, im Dorfe sowohl wie im Auslande; wohin sie auch kommen mögen, überall haben sie dieselben Steine und dasselbe Holz unter den Füssen, dieselben Vorhänge, die ihnen das Licht der Sonne verhüllen, dieselben Lakaien, Kutscher und Hausknechte, die sie nicht zur Gemeinschaft mit der Erde, den Pflanzen und Thieren zulassen. Wo sie auch sein mögen, überall entbehren sie, Gefangenen gleich, diese Bedingung des Glücks. Und wie der Gefangene sich mit dem auf dem Gefängnisshofe hervorgesprossenen Grase, mit einer Spinne, einer Maus tröstet, so trösten sich auch diese Menschen mitunter mit siechen Stubenpflanzen, mit einem Papageien, einem Hündchen, einem Affen, die sie auch noch nicht selbst füttern und aufziehen.

Eine andere unzweifelhafte Bedingung zum Glücke ist – Arbeit: erstens angenehme und freie Arbeit; zweitens physische Arbeit, die Appetit und festen, beruhigenden Schlaf giebt. Auch hier: ein je grösseres Glück, ihren Begriffen der Lehre der Welt nach, die Menschen errungen haben, umsomehr entbehren sie auch diese zweite Bedingung des Glücks. Alle Glücklichen der Welt, Würdenträger und Millionäre entbehren, Gefangenen gleich, entweder gänzlich die Arbeit und kämpfen erfolglos gegen Krankheiten, die von Mangel an physischer Anstrengung herrühren, und kämpfen noch erfolgloser gegen die sie überwältigende Langeweile (ich sage »erfolglos«, weil die Arbeit nur dann eine freudige ist, wenn sie unzweifelhaft nothwendig ist; sie aber haben nichts nöthig), oder sie thun eine ihnen verhasste Arbeit, wie die Banquiers, die Prokurore, Gouverneure und Minister mit ihren Frauen, die Salons einrichten und Prachtgeschirre und Putz für sich und ihre Kinder anschaffen. (Ich sage »verhasste«, weil ich noch nie unter ihnen einem Menschen begegnet bin, der seine Arbeit gepriesen und sie mindestens mit dem gleichen Vergnügen verrichtet hätte, wie mancher Hausknecht den Schnee vor dem Hause wegfegt.) Alle diese Glücklichen, entbehren entweder der Arbeit oder sind zu einer unliebsamen Arbeit gezwungen, d. h. sie befinden sich beinahe in derselben Lage wie die Galeerensträflinge.

Die dritte zweifellose Bedingung zum Glück ist die Familie. Und abermals, je weiter die Menschen im weltlichen Erfolge vorgeschritten sind, umsoweniger ist ihnen dieses Glück zugänglich. Die Mehrzahl sind Ehebrecher und entsagen vollkommen bewusst den Freuden der Familie, sich nur deren Unbequemlichkeiten unterwerfend. Wenn sie aber auch nicht Ehebrecher sind, so sind doch die Kinder für sie keine Freude, sondern eine Last, der sie sich selbst entziehen, indem sie oft durch alle möglichen, selbst die qualvollsten Mittel sich bemühen ihre Ehe unfruchtbar zu machen. Wenn sie aber Kinder haben, so entbehren sie die Freude der Gemeinschaft mit ihnen. Ihren Gesetzen nach müssen sie ihre Kinder Fremden, grösstentheils ganz Fremden weggeben, zuerst Ausländern, dann Staatserziehern, sodass sie von der Familie nur Kummer haben, d. h. Kinder, die von Jugend auf ebenso unglücklich werden wie die Eltern und in Beziehung auf die Eltern nur ein Gefühl haben – den Wunsch ihres Todes, um sie zu beerben Merkwürdig ist die Rechtfertigung eines solchen Lebens, die man oft von den Eltern vernimmt: »Ich brauche nichts, sagt der Vater, nur fällt dieses Leben schwer, aber aus Liebe zu den Kindern führe ich es für sie.« D. h. ich weiss unzweifelhaft aus Erfahrung, dass unser Leben ein unglückliches ist, und deshalb – erziehe ich meine Kinder so, dass sie ebenso unglücklich werden wie ich. Und deshalb, aus Liebe zu ihnen, gebe ich sie fort in eine Stadt, die voll physischer und sittlicher Verderbtheit ist, in die Hände fremder Leute, die in der Erziehung blos einen eigennützigen Zweck verfolgen, und auf diese Weise verderbe ich sorgfältig meine Kinder körperlich, sittlich und geistig. – Und diese Betrachtung soll zur Rechtfertigung des unvernünftigen Lebens der Eltern selbst dienen?!. Sie sind nicht in einen Kerker eingesperrt, aber die Folgen ihres Lebens in Beziehung auf ihre Familie sind qualvoller als jenes Entbehren der Familie, dem die Gefangenen unterworfen sind.

Die vierte Bedingung zum Glücke ist eine freie, liebevolle Gemeinschaft mit allen verschiedenartigen Menschen der Welt. Und abermals: eine je höhere Stufe die Menschen in der Welt erreicht haben, um so mehr entbehren sie diese Hauptbedingung des Glücks. Je höher, um so enger, beschränkter ist jener Kreis von Menschen, mit denen eine Gemeinschaft möglich ist, und umso niedriger ihrer geistigen und sittlichen Entwickelung nach stehen jene wenigen Menschen, die diesen Zauberkreis bilden, aus dem es keinen Ausweg giebt. Dem Bauer und seinem Weibe steht die Gemeinschaft mit der ganzen Welt offen, und wenn eine Million Menschen mit ihnen nicht in Gemeinschaft treten will, so bleiben ihm noch 80 Millionen ebensolcher arbeitender Menschen wie er, mit denen er von Archangelsk bis Astrachan, ohne Visiten und Vorstellungen abzuwarten, sofort in die nächste, brüderliche Gemeinschaft tritt. Für den Beamten, für den Kaufmann und ihre Frauen giebt es hunderte von ihresgleichen; die Höheren aber lassen sie nicht zu sich heran und die Niedrigeren sind alle von ihnen abgeschnitten. Für den reichen Weltmann und seine Frau giebt es einige zehn, zwanzig, fünfzig weltliche Familien; alles übrige ist von ihnen abgeschnitten. Für den Minister und den Millionär mit ihren Familien giebt es vielleicht zehn ebenso hochgestellte oder reiche Leute wie sie. Für Kaiser und Könige wird der Kreis noch enger. – Ist denn das nicht eine Kerkerhaft, bei welcher der Gefangene die Möglichkeit der Gemeinschaft nur mit zwei, drei Gefangenen hat?

Die fünfte Bedingung zum Glücke ist endlich: Gesundheit und ein schmerzloser Tod. Und wiederum: je höher die gesellschaftliche Stufe ist, auf der die Menschen stehen, umsomehr entbehren sie diese Bedingung des Glücks. Nehmet im Durchschnitt einen Mann aus dem wohlhabenden Stande und einen Bauern mit seinem Weibe: ungeachtet all' des Hungers und der übermässigen Arbeit, die der Bauernstand, nicht durch eigne Schuld, sondern durch menschliche Grausamkeit erträgt – vergleichet die beiden mit einander und ihr werdet sehen, dass Mann und Weib, je niedriger sie stehen, um so gesunder, und je höher, um so kränklicher sind. – Ruft euch jene Reichen und ihre Frauen ins Gedächtniss, die ihr gekannt habt und kennt, und ihr werdet sehen, dass die Mehrzahl von ihnen krank sind. Ein gesunder Mensch, der sich nicht fortwährend oder periodisch – den Sommer hindurch – behandelt, ist eine ebensolche Ausnahme, wie ein Kranker im Arbeiterstande. Alle diese Glücklichen beginnen ohne Ausnahme mit dem Onanismus, der in ihrem Dasein zu einer natürlichen Bedingung der Entwickelung geworden ist; alle Zahnlosen, alle Ergrauten oder Kahlköpfigen werden es in den Jahren, wenn der arbeitende Mensch anfängt in volle Kraft zu treten. Fast alle sind von Nerven-, Magen- und Geschlechtskrankheiten heimgesucht, die durch Unmässigkeit, Trunksucht, Ausschweifung und Kuren entstanden, und diejenigen, die nicht jung sterben, verbringen die Hälfte ihres Lebens mit Morphium-Einspritzungen u. dergl. oder sterben als verkommene Krüppel, unfähig von eignen Mitteln zu leben und nur den Parasiten jener Ameisen gleich zu leben im Stande, die durch Sklaven gefüttert werden. Erinnert euch, wie sie gestorben sind: der eine hat sich erschossen, der andere ist an der Syphilis verfault, der dritte ist als Greis an Konfortativen gestorben, der vierte als Jüngling an Peitschenhieben, denen er sich selbst zur Erregung des Sinnenreizes unterworfen; einer ist bei lebendigem Leibe von Läusen, ein anderer von Würmern aufgezehrt worden; der eine hat sich zu Tode getrunken, der andere zu Tode gegessen; der ist an Morphium und die am künstlichen Abort gestorben. Einer nach dem andern geht zu Grunde um der Lehre der Welt willen. Und haufenweise folgen ihnen die Menschen und suchen, Märtyrern gleich, Qualen und Untergang.

Ein Leben nach dem andern wirft sich unter den Wagen dieses Gottes, und der Wagen geht über sie hin, ihr Leben zerfetzend – und neue, immer neue Opfer werfen sich stöhnend und schluchzend unter das todbringende Rad!

»Die Erfüllung der Lehre Christi ist schwer.« Christus spricht: wer mir folgen will, der soll Haus und Acker und Brüder verlassen und mir, seinem Gotte, folgen und er wird in dieser Welt hundertfach wiederempfangen Häuser, Aecker, Brüder und ausser alledem das ewige Leben. – Und niemand folgt – Die Lehre der Welt sagt: verlasse Haus, Acker und Brüder, verlasse dein Dorf und gehe in die verderbte Stadt, lebe dein Leben lang als Bader, nackt, im Dampfe die Rücken andrer einseifend, oder als Krämer, dein Leben lang fremde Kopeken im Keller zählend, oder als Richter und Prokuror, dein ganzes Leben im Gerichte und über Papieren verbringend, damit beschäftigt das Leben der Unglücklichen zu verschlimmern, oder als Minister, dein Leben lang geschäftig unnütze Papiere unterschreibend, oder als Militär, dein Leben lang Menschen tödtend – lebe dies abscheuliche Leben, das stets im qualvollen Tode endet, und du wirst nichts erringen in diesem Leben und auch kein ewiges Leben erhalten. – Und alle folgen. – Christus hat gesagt: »nimm dein Kreuz auf dich und folge mir«, d. h. trage geduldig das Loos, das dir beschieden, und gehorche mir, deinem Gotte – und niemand folgt. Aber dem ersten besten, verlorenen, zu nichts als zum Todtschlage tauglichen Menschen in Epauletten, dem es einfällt zu sagen: Nimm – nicht das Kreuz, sondern den Ranzen und ein Gewehr und folge mir zu allen erdenklichen Qualen und zum sicheren Tode – dem folgen alle.

Familie, Eltern, Weib und Kind verlassend, in Narrenkleider gehüllt und sich der Macht des ersten besten Menschen mit hohem Titel unterwerfend, durchfroren, hungrig, erschöpft durch übermässige Märsche, gehen sie gleichviel wohin, wie eine Heerde Ochsen zur Schlachtbank«, sie sind aber nicht Ochsen, sondern Menschen. Sie können nicht umhin zu wissen, dass sie zur Schlachtbank getrieben werden; mit der unlösbaren Frage: wozu? und mit Verzweiflung im Herzen gehen sie und sterben vor Kälte und Hunger und ansteckenden Krankheiten, so lange bis sie unter die Kugeln kommen und ihnen befohlen wird unbekannte Menschen zu tödten. Sie tödten und sie werden getödtet. Und niemand von den Tödtenden weiss: warum und weshalb? – Die Türken braten sie lebendig am Feuer, reissen ihnen die Haut herunter, zerfetzen ihre Eingeweide ... Und morgen pfeift wieder irgend jemand und wieder gehen alle zu entsetzlichen Qualen, zum Tode und zum offenbaren Bösen. Und keiner findet das schwer. Nicht nur die, welche leiden, sondern selbst Väter und Mütter finden nicht, dass dies schwer sei; sie rathen selbst ihren Söhnen zu gehen. Ihnen erscheint das nicht allein nothwendig und unumgänglich, sondern sogar gut und sittlich.

Man könnte glauben, die Erfüllung der Lehre Christi sei schwer, furchtbar und qualvoll, wenn die Erfüllung der Lehre der Welt sehr leicht, gefahrlos und angenehm wäre. Die Erfüllung der Lehre der Welt jedoch ist viel schwerer, gefährlicher und qualvoller als die Erfüllung der Lehre Christi.

Es gab dereinst, sagt man, Märtyrer Christi, dies waren aber Ausnahmen: man zählt ihrer bei uns 380 Tausend freiwillige und unfreiwillige im Verlauf von 1800 Jahren; zählet aber die Märtyrer der Welt und auf einen Märtyrer Christi kommen tausend Märtyrer der Lehre der Welt, deren Leiden hundertfach schrecklicher sind. Der allein im heutigen Jahrhundert im Kriege Getödteten zählt man bis 30 Millionen Menschen.

Das alles sind Märtyrer der Lehre der Welt, die, ohne Christi Lehre zu befolgen, nur der Lehre der Welt nicht zu folgen brauchten, um den Leiden und dem Tode zu entgehen.

Der Mensch braucht nur das zu thun was er möchte, z. B. sich vom Kriege loszusagen, so wird man ihn schicken um Kanäle zu graben oder etwas anderes zu thun und wird ihn nicht bei Sebastopol oder Plewna in den Tod jagen. Der Mensch braucht nur an die Lehre der Welt nicht zu glauben: dass es nothwendig sei Galoschen und eine Kette zu tragen und ein für ihn unnöthiges »Gastzimmer« zu besitzen; er braucht nur alle jene Albernheiten, welche die Lehre der Welt von ihm verlangt, nicht zu thun und er wird keine übermässige Arbeit und Qual, keine fortwährende Sorge und Mühe ohne Erholung und ohne Zweck kennen; er wird nicht der Gemeinschaft mit der Natur entzogen, wird nicht seiner Lieblingsarbeit, seiner Familie und seiner Gesundheit beraubt und wird nicht ein sinnloses Leben in einem qualvollen Tode endigen.

Nicht Märtyrer soll man sein im Namen Christi; nicht das lehrt uns Christus. Er lehrt, dass man aufhören soll sich zu quälen im Namen der falschen Lehre derzeit.

Die Lehre Christi hat eine tiefe metaphysische Bedeutung; die Lehre Christi hat einen allgemein menschlichen Sinn; die Lehre Christi hat auch den einfachsten, klarsten, praktischen Sinn für das Leben jedes einzelnen Menschen. Dieser Sinn lässt sich sogar auch folgendermaassen ausdrücken: Christus lehrt die Menschen keine Thorheiten zu begehen. Darin besteht der durchaus einfache, allen zugängliche Sinn der Lehre Christi.

Christus sagt: zürne nicht, halte keinen für geringer als dich selbst, das ist thöricht; wenn du zürnen, wenn du Menschen kränken wirst, wird es schlimmer für dich sein. Christus sagt ferner: lauf nicht allen Weibern nach, sondern verbinde dich mit einem Weibe und lebe mit ihm – es wird besser für dich sein. Er sagt: versprich keinem dies oder jenes zu thun, sonst wird man dich zwingen Thorheiten und Verbrechen zu begehen. Noch sagt er: vergilt nicht Böses mit Bösem, da sonst das Böse noch schlimmer auf dich zurückfällt, wie der über den Honig aufgehängte Klotz, von dem Bären zurückgestossen, auf denselben zurückfällt und endlich ihn todtschlägt. Und noch sagt er: achte nicht die Menschen fremd, blos weil sie in einem andern Lande leben und eine andere Sprache sprechen als du. Wenn du sie für Feinde hältst, werden sie auch dich für ihren Feind halten und es wird schlimmer für dich sein. Also: begehe nicht alle diese Thorheiten, und es wird besser für dich sein.

»Ja – antwortet man darauf –, aber die Welt ist so eingerichtet, dass es noch qualvoller ist sich ihren Einrichtungen zu widersetzen als mit ihnen im Einklang zu leben. Sage sich ein Mensch vom Kriegsdienste los, so wird er in die Festung gesperrt, möglicherweise erschossen. Sichere einer nicht sein Leben durch den Erwerb dessen, was er und seine Familie braucht, so wird er und seine Familie Hungers sterben.« – So sprechen die Menschen, indem sie die Einrichtungen der Welt zu vertheidigen suchen, selbst aber denken sie anders. Sie sprechen so, blos weil sie die Gerechtigkeit der Lehre Christi, an die sie anscheinend nicht glauben, nicht ableugnen können und sich irgendwie rechtfertigen müssen, dass sie diese Lehre nicht erfüllen. Nicht genug aber, dass sie nicht so denken, sondern sie haben überhaupt nie daran gedacht. Sie glauben an die Lehre der Welt und benutzen blos eine Ausrede, die ihnen von der Kirche gelehrt worden: dass sie, Christi Lehre befolgend, viel leiden müssten, und deshalb haben sie auch nie versucht Christi Lehre zu erfüllen. Wir sehen zahllose Leiden, die von den Menschen im Namen der Lehre der Welt erduldet werden, Leiden aber im Namen der Lehre Christi sehen wir heutzutage niemals. Dreissig Millionen Menschen sind um der Lehre der Welt willen in blutigen Schlachten umgekommen; tausende von Millionen sind umgekommen im qualvollen Leben um der Lehre der Welt willen, aber nicht nur keine Millionen, selbst keine tausende, keine hunderte, ja keinen einzigen Menschen kenne ich, der eines qualvollen Todes vor Kälte oder Hunger um der Lehre Christi willen gestorben wäre. Dies ist nur eine lächerliche Ausrede, die beweist wie vollständig unbekannt uns die Lehre Christi ist. Nicht nur, dass wir mit ihr nicht einverstanden wären, sondern wir haben sie auch nie ernstlich angenommen. Die Kirche hat sich bemüht uns die Lehre Christi derart vorzustellen, dass sie uns nicht als eine Lehre des Lebens, sondern als ein Schreckbild erscheint.

Christus ruft die Menschen heran zum Quell, der hier, neben ihnen ist. Die Menschen sind von Durst geplagt, sie essen Koth und trinken einer des andern Blut, ihre Lehrer aber haben ihnen gesagt, dass sie umkommen werden, wenn sie zu jenem Quell gehen, zu dem Christus sie ruft. Und die Menschen glauben das und quälen sich und verschmachten vor Durst, zwei Schritte vom Wasser, ohne sich heranzuwagen. Man braucht jedoch nur Christus zu glauben, dass er die Glückseligkeit auf die Erde gebracht hat, zu glauben, dass er uns die wir schmachten, den Quell des lebendigen Wassers giebt und zu ihm zu kommen, um zu erkennen wie arglistig uns die Kirche hintergeht und wie thöricht unsre Leiden sind, wenn die Rettung uns so nahe liegt. Man braucht nur Christi Lehre gerade und einfach aufzunehmen, auf dass jene entsetzliche Täuschung offenbar werde, in der wir alle und jeder einzelne von uns leben. –

Von Geschlecht zu Geschlecht mühen wir uns um Sicherung unseres Lebens und Eigenthums durch Gewalt. Das Glück unseres Lebens erscheint uns in der grössten Macht und im grössten Reichthum. Wir haben uns derart an diese Anschauung gewöhnt, dass Christi Lehre darüber, dass des Menschen Glück nicht abhängig sein könne von Macht und Reichthum, dass der Reiche nicht glücklich sein könne, – uns als die Forderung eines Opfers im Namen der zukünftigen Glückseligkeit erscheint. Christus jedoch denkt nicht daran uns zum Opfer aufzurufen; er lehrt uns, im Gegentheil, das zu unterlassen was schlimmer ist und das zu thun was für uns hier in diesem Leben besser ist. Christus, in seiner Liebe zu den Menschen, lehrt sie Enthaltung von der Sicherung ihrer selbst und ihres Eigenthumes durch Gewalt, ebenso wie man, aus Liebe zu den Menschen, die Enthaltung von Prügeleien und Trunkenheit lehrt. Er sagt, dass die Menschen glücklicher wären, wenn sie ohne Widerstand und ohne Eigenthum lebten, und bestätigt dies durch das Beispiel seines Lebens. Er sagt, ein Mensch der nach seiner Lehre lebt, müsse jeden Augenblick bereit sein durch die Gewalt eines anderen, durch Kälte und Hunger zu sterben und könne nicht auf eine einzige Stunde seines Lebens rechnen. Uns erscheint das als eine schreckliche Forderung irgend welcher Opfer, es ist aber blos die Bestätigung jener Bedingungen, in denen jeder Mensch nothwendig lebt. Ein Jünger Christi muss jeden Augenblick zu Leiden und zum Tode bereit sein. Befindet sich aber der Jünger der Welt nicht in derselben Lage? Wir sind derart an unsre Täuschung gewöhnt, dass alles was wir zur vermeintlichen Sicherung unseres Lebens thun: unsere Kriegsheere, Festungen, Vorräthe, Kleidungen, Kuren, unser ganzer Besitz, unser Geld – alles uns als etwas Wirkliches, das unser Leben ernstlich sichert, erscheint. Wir vergessen was unvermeidlich ist, vergessen was mit jenem geschah, dem es einfiel Speicher zu bauen um sich auf lange Zeit zu sichern: er starb in derselben Nacht. Alles, was wir zur Sicherung unseres Lebens thun, ist genau dasselbe, was der Vogel Strauss thut, wenn er stehen bleibt und den Kopf verbirgt um nicht zu sehen wie man ihn tödtet. Wir thun schlimmer als der Strauss: um einer zweifelhaften Sicherung unseres zweifelhaften Lebens willen in einer zweifelhaften Zukunft geben wir unser sicheres Leben in einer sicheren Gegenwart dem sicheren Verderben preis.

Die Täuschung besteht in der irrthümlichen Ueberzeugung, dass unser Leben durch unsern Kampf mit andern Menschen gesichert werden kann. Wir sind derartig an diese Täuschung einer scheinbaren Sicherung unseres Lebens und Eigenthums gewöhnt, dass wir gar nicht bemerken was wir alles dadurch verlieren. Und wir verlieren alles – das ganze Leben. Das ganze Leben wird von der Sorge um diese Sicherung des Lebens und den Vorbereitungen dazu verschlungen, sodass nichts von ihm übrig bleibt.

Man braucht ja nur auf einen Augenblick seiner Gewohnheit zu entsagen und das Leben unparteiisch zu betrachten um zu sehen, dass alles, was wir für die scheinbare Sicherung unseres Lebens thun, wir gar nicht deshalb thun um unser Leben zu sichern, sondern nur um über der Beschäftigung damit zu vergessen, dass das Leben nie gesichert ist und nie gesichert sein kann. Nicht genug aber, dass wir uns selbst betrügen und unser wirkliches Leben um eines eingebildeten willen zu Grunde richten, sondern in diesem Streben nach Sicherung zerstören wir auch am häufigsten gerade das, was wir sichern wollen. Die Franzosen begannen im Jahre 70 den Angriff »um ihr Leben zu sichern«, und durch dieses Sichsichernwollen kamen hunderttausende von Franzosen ums Leben. Dasselbe geschieht mit allen Völkern, die sich zu einem Kriege rüsten. Der Reiche sichert sein Leben dadurch, dass er Geld sammelt. Und gerade dieses Geld lockt den Räuber heran, der ihn todtschlägt. Der ängstliche Mensch sichert sein Leben durch ärztliche Behandlung und diese selbst ist es, die ihn langsam ums Leben bringt, und wenn sie ihn auch nicht gerade tödtet, so macht sie ihm doch sein Leben verkümmern, wie jenem Kranken, welcher 38 Jahre lang nicht lebte, sondern auf den Engel am Teiche Bethesda wartete.

Die Lehre Christi darüber, dass man sein Leben nicht sichern könne, sondern immer, jeden Augenblick bereit sein müsse zu sterben, ist unzweifelhaft besser als die Lehre der Welt, dass man sein Leben sichern müsse; nicht nur deshalb besser, weil die Unvermeidlichkeit des Todes und die Unsicherheit des Lebens bei der Lehre der Welt sowohl wie bei der Lehre Christi bestehen bleiben, sondern auch deshalb, weil das Leben selbst, nach Christi Lehre, nicht gänzlich von der müssigen zwecklosen Beschäftigung der scheinbaren Sicherstellung des Lebens verschlungen wird, sondern frei bleibt und dem einzigen, ihm angemessenen Ziel, dem eigenen Heile und dem Heile der Menschen gewidmet werden kann.

Der Jünger Christi wird arm sein, gewiss; d. h. er wird immer alle jene Güter benutzen, die Gott ihm verliehen hat. Er wird nicht sein Leben zu Grunde richten. Wir haben mit einem Worte, welches Unglück und Elend bedeutet, das bezeichnet, was Glück ist; das Wesen aber bleibt deshalb unverändert. Arm das heisst: er wird nicht in der Stadt, sondern auf dem Lande leben; er wird nicht zu Hause sitzen, sondern er wird arbeiten, im Wald, im Felde, wird das Licht der Sonne, Erde, Himmel und Thiere sehen; wird nicht darüber grübeln was er essen soll um seinen Appetit zu reizen und was er thun soll um seine Verdauung zu befördern, sondern er wird dreimal am Tage hungrig sein; er wird sich nicht auf weichen Kissen wälzen und nachsinnen wie er sich von der Schlaflosigkeit retten solle, sondern wird schlafen; wird Kinder haben, wird mit ihnen leben, wird in freier Gemeinschaft mit allen Menschen stehen, und was die Hauptsache ist, er wird nichts thun was er nicht thun mag; wird nicht Furcht haben vor dem, was mit ihm geschehen kann. Krank sein, leiden, sterben wird er ebenso wie alle (danach zu urtheilen wie Arme krank sind und sterben, haben sie es leichter als Reiche), aber ohne Zweifel wird er glücklicher leben. Arm sein ist das, was Christus gelehrt hat. Er hat gesagt dass es nur den Armen möglich sei in das Reich Gottes einzutreten und auf Erden glücklich zu sein.

»Niemand aber wird dich speisen und du wirst Hungers sterben«, entgegnet man darauf. Auf den Einwand, dass der Mensch, wenn er nach der Lehre Christi lebt, Hungers sterben würde, antwortete Christus durch einen kurzen Spruch, denselben, der so ausgelegt wird, dass er den Müssiggang der Geistlichkeit rechtfertigt: Matth. 10, 10; Luk. 10, 7.

10. Er sprach: »Ihr sollt nicht nehmen: keine Tasche zur Wallfahrt, auch nicht zween Röcke, keine Schuhe, auch keinen Stecken. Denn ein Arbeiter ist seiner Speise werth.« 7: »In demselbigen Hause aber bleibet, esset und trinket, was sie haben. Denn ein Arbeiter ist seines Lohnes werth.«

Der Arbeiter ist ἄξιος τῆς τροφῆς (τοῦ μισϑοῦ) αὑτοῦ, d. h.: er kann und soll Nahrung haben. Dies ist ein sehr kurzer Spruch; für den aber, der ihn so versteht wie Christus ihn verstanden hat, kann nicht mehr die Auffassung bestehen, dass ein Mensch, der kein Eigenthum hat, Hungers sterben muss. Um dieses Wort in seiner wahren Bedeutung zu begreifen, muss man vor allem sich ganz von jener, in Folge des Dogmas der Erlösung entstandenen, uns so überaus gewohnten Vorstellung, dass die Glückseligkeit des Menschen im Müssiggange bestehe, lossagen. Man muss jene, allen unverdorbenen Menschen eigene Vorstellung wiederherstellen, dass die unumgängliche Bedingung zum Glücke des Menschen nicht der Müssiggang, sondern die Arbeit ist; dass der Mensch nicht umhin kann zu arbeiten, dass es ihm langweilig ist und schwer fällt nicht zu arbeiten, gleichwie der Ameise, dem Pferde im Stalle und jedem Thiere das Nichtsthun langweilig ist und schwer fällt. Wir müssen uns des seltsamen Aberglaubens entschlagen, dass der Zustand eines Menschen, der wie im Märchen einen unwechselbaren Thaler d. i. eine Kronsstelle oder das Anrecht an ein Land oder Papiere mit Coupons hat, die ihm das Nichtsthun ermöglichen, ein natürlicher und glücklicher Zustand ist. Man muss in seiner Vorstellung jene Ansicht über die Arbeit wiederherstellen, wie sie allen vernünftigen unverdorbenen Menschen eigen ist und wie Christus sie hatte, als er sagte, der Arbeiter sei seines Lohnes werth. Christus konnte sich keine Menschen vorstellen, denen die Arbeit als ein Fluch erschienen wäre, und konnte sich deshalb keinen nicht arbeitenden oder nicht arbeitenwollenden Menschen vorstellen. Er setzt immer voraus, dass sein Jünger arbeitet und arbeiten will. Und deshalb sagt er: wenn der Mensch arbeitet, so nährt ihn die Arbeit. Und wenn ein anderer die Arbeit dieses Menschen für sich benutzt, so wird dieser andere auch den ernähren, der für ihn arbeitet, eben weil er seine Arbeit benutzt. Und deshalb wird der Arbeitende immer seine Nahrung haben. Eigenthum wird er nicht besitzen; die Nahrung hingegen kann ihm nie fehlen.

Der Unterschied zwischen der Lehre Christi und der Lehre unserer Welt über die Arbeit besteht darin, dass nach der Lehre der Welt die Arbeit ein besonderes Verdienst des Menschen ist, worüber er mit andern rechnet und voraussetzt ein Anrecht auf umso grösseren Unterhalt zu besitzen, je grösser oder vortheilhafter seine Arbeit ist; nach der Lehre Christi hingegen ist die Arbeit eine nothwendige Bedingung des Lebens des Menschen und die Nahrung ist deren nothwendige Folge. Arbeit erzeugt Nahrung und Nahrung erzeugt Arbeit – das ist ein ewiger Kreislauf; das eine ist Ursache und Folge des andern. Wie böse auch der Hausherr sein mag, er wird dennoch den Arbeiter ernähren, gleichwie er das Pferd ernähren wird, welches für ihn arbeitet, und wird ihn so ernähren, dass der Arbeiter möglichst viel zu leisten im Stande sein wird, d. h. er wird eben zu dem beitragen, was für das Leben des Menschen nothwendig ist.

»Des Menschen Sohn ist nicht gekommen, dass man ihm diene, sondern dass er diene und sein Leben hingebe zur Errettung für viele.« Nach der Lehre Christi wird jeder einzelne Mensch, unabhängig davon wie die Welt ist, das beste Leben haben, wenn er seine Bestimmung begreift: keine Arbeit von andern zu verlangen, sondern selbst sein ganzes Leben der Arbeit für andre zu weihen, sein Leben hinzugeben zur Errettung für viele. Der Mensch, der so thut, sagt Christus, ist der Nahrung werth, d. h. er wird gewiss Nahrung erhalten. Mit den Worten: »der Mensch lebt nicht, damit man ihn bediene, sondern damit er diene den andern« – stellt Christus den Grundsatz auf, der unzweifelhaft die materielle Existenz des Menschen sichert, und mit den Worten: »der Arbeiter ist seines Lohnes werth« beseitigt Christus jene so allgemeine Einwendung gegen die Möglichkeit der Erfüllung seiner Lehre, nämlich: dass der Mensch, der Christi Lehre befolgt inmitten derer, die sie nicht befolgen, vor Hunger und Kälte umkommen müsse. Christus zeigt, dass der Mensch nicht dadurch seinen Unterhalt sichert, dass er ihn den andern fortnimmt, sondern dadurch, dass er sich andern nützlich und nothwendig macht. Je notwendiger er andern ist, um so gesicherter wird seine Existenz sein.

Bei der jetzigen Einrichtung der Welt sterben nicht Menschen, die kein Eigenthum haben, vor Hunger und Kälte, wenn sie Christi Lehre nicht erfüllen, aber für andere arbeiten. Wie ist also der Einwand gegen Christi Lehre möglich, dass Menschen, die seine Lehre erfüllen, d. i. für den Nächsten arbeiten, verhungern müssen? Ein Mensch kann nicht verhungern, wenn der Reiche Brod hat. In allen Ländern der Welt, in jedem gegebenen Momente giebt es stets Millionen Menschen, die ohne jegliches Eigenthum, nur von ihrer Arbeit leben. Unter Heiden wird der Christ ebenso gesichert sein wie unter Christen. Er arbeitet für andere; folglich ist er ihnen nothwendig und deshalb wird man ihn ernähren. Selbst einen Hund, den man nöthig hat, ernährt und pflegt man; wie sollte man nicht einen Menschen ernähren und pflegen, der andern nothwendig ist?

Aber ein kranker Mensch, ein Mensch mit Familie, mit Kindern, ist nicht nothwendig; er kann nicht arbeiten und man hört auf ihn zu ernähren – werden diejenigen sagen, die durchaus die Gerechtigkeit des thierischen Lebens beweisen wollen. Sie sagen das und sehen nicht, dass sie selbst, obgleich sie auch so handeln möchten, es doch nicht können und ganz anders handeln. Diese selben Menschen, welche die Anwendung der Lehre Christi auf das Leben ableugnen, erfüllen diese Lehre: sie hören nicht auf das erkrankte Vieh zu ernähren, sie tödten nicht einmal einen alten Gaul, sondern geben ihm eine seinen Kräften angemessene Arbeit; sie ernähren ganze Familien junger Lämmer, Ferkel und Hunde, weil sie von ihnen Nutzen erwarten; wie sollten sie also nicht den erkrankten Menschen ernähren, der ihnen nothwendig ist? wie sollten sie nicht für alt und jung angemessene Arbeit finden und Menschen grossziehen, die doch wiederum für sie arbeiten werden?

Das thun sie auch. Neun Zehntel Menschen gehören zum »Volk«, und dieses wird gleich dem Arbeitsvieh von einem Zehntel reicher und gewaltgebrauchender Leute gefüttert. Und wie finster auch die Verirrung sein mag, in welcher dieses eine Zehntel lebt, wie sehr sie auch jene übrigen neun Zehntel verachten mögen, dieses eine Zehntel entzieht den neun Zehnteln dennoch nie die nöthige Nahrung, obgleich es so thun könnte. Diese Menschen entziehen dem gemeinen Volke nicht die Nahrung, weil sie dies Volk brauchen, damit es sich fortpflanze und für sie arbeite. In der letzten Zeit müht sich dies eine Zehntel mit Bewusstsein darum, dass die neun Zehntel richtig ernährt werden, d. i. dass also möglichst viel Arbeit hervorgebracht werde, auf dass neue Arbeiter erzeugt und aufgefüttert werden. Selbst die Ameisen sorgen für die Fortpflanzung und das Aufziehen ihrer Milchkühe; wie sollten die Menschen nicht dasselbe thun: Menschen fortpflanzen, die für sie arbeiten? Arbeiter sind nothwendig; und die, denen die Arbeit zu nutze kommt, werden stete darum besorgt sein, dass diese Arbeiter nicht aussterben.

Der Einwand gegen die Erfüllung der Lehre Christi, dass, wenn ich nicht für mich erwerben und das Erworbene festhalten werde, niemand meine Familie ernähren wird – ist ein gerechter, jedoch nur in Beziehung auf müssige, unnütze und darum schädliche Menschen, wie die Mehrzahl der Leute des reichen Standes. Müssige Menschen wird, ausser unvernünftigen Eltern, niemand aufziehen, denn müssige Menschen sind für niemand nothwendig, nicht einmal für sich selbst; Arbeiter hingegen werden selbst von den schlechtesten Menschen ernährt und aufgezogen werden. – Werden doch Kälber aufgezogen; der Mensch ist aber ein viel nützlicheres Arbeitsvieh als der Ochs, wie er auch stets auf allen Sklavenmärkten höher geschätzt wurde. Darum können also auch Kinder nie ohne Fürsorge bleiben.

Der Mensch lebt nicht darum, dass man für ihn arbeite, sondern dass er arbeite für andere. Wer arbeiten wird, den wird man ernähren.

Dies sind durch das Leben der ganzen Welt bestätigte Wahrheiten.

Bis jetzt hat der Mensch immer und überall wo er arbeitete, Nahrung erhalten, wie jedes Pferd Futter bekommt. Und diese Nahrung empfing der Mensch wider Willen, mit Unlust, weil der Arbeitende nur den einen Wunsch hatte, sich von der Arbeit zu befreien, möglichst viel zu erwerben und sich dem auf den Hals zu setzen, der ihm auf dem Halse sass. Auch solch' ein widerwillig und mit Unlust sich mühender, neidischer und böser Arbeiter blieb nicht ohne Nahrung und erwies sich sogar glücklicher als der andere, der nicht arbeitete und von fremder Mühe lebte. Um wie viel glücklicher aber wird der sein, der nach der Lehre Christi sich mühen und dessen Zweck es sein wird möglichst viel zu schaffen und möglichst wenig zu bekommen? Und um wie viel glücklicher noch wird seine Lage sein, wenn um ihn herum wenigstens noch einige, vielleicht auch viele seinesgleichen sein werden, die ihm dienen werden?

Die Lehre Christi über die Arbeit und ihre Früchte ist in der Erzählung über die Speisung der Fünf- und der Siebentausend mit zwei Fischen und fünf Broden ausgedrückt. Die Menschen werden das höchste ihnen zugängliche Glück auf Erden besitzen, wenn sie nicht danach streben werden, jeder für sich alles zu verschlingen und zu verbrauchen, sondern wenn sie so thun werden, wie Christus am Ufer des galiläischen Sees sie gelehrt (Matth. 14, 15–21; Mark. 6, 35–44; Luk. 9, 12–17).

Es sollten tausende von Menschen gespeist werden, die um der Predigt Christi willen herbeigeströmt waren, während die Jünger erklärten, es seien nur ein paar Fische und etliche Brode da. Christus setzte voraus, dass von den Leuten, die weither kamen, manche Nahrungsmittel bei sich hatten, manche nicht. Dass viele mit Vorräthen versehen waren, erweist sich daraus, dass, wie es in allen Evangelien heisst, nach Beendigung des Mahles die Reste desselben in zwölf Körbe gesammelt wurden. Wenn niemand ausser dem Knaben (Joh. 6, 9) etwas bei sich gehabt hätte, so hätten sich auch keine zwölf Körbe auf dem Felde befinden können. Wenn Christus nicht gethan hätte, was er that, d. i. das Wunder der Sättigung Tausender mit fünf Broden, so wäre das geschehen was heutzutage in der Welt vor sich geht. Die mit Vorräthen versehenen hätten alles, selbst über ihre Kräfte, aufgegessen, damit nur nichts verbliebe; die Geizigen hätten vielleicht die Ueberreste nach Hause mitgenommen. Die, welche nichts hatten, wären hungrig geblieben und hätten mit erbittertem Neide auf die Essenden geblickt; vielleicht auch hätten manche den andern von ihren Vorräthen genommen und es wären Streitigkeiten und Schlägereien entstanden; die einen wären übersättigt, die andern hungrig und ärgerlich heimgegangen: es wäre dasselbe gewesen, was wir täglich erleben.

Christus wusste jedoch was er thun wollte (wie es auch Joh. 6, 6 heisst): er hiess alle sich im Kreise setzen und wies die Jünger an, was sie hatten, den andern anzubieten und den andern zu sagen, sie sollten desgleichen thun. Und da thaten alle, die Vorräthe hatten, dasselbe wie Christi Jünger, d. h. sie boten das ihrige den andern an, so dass alle mässig assen; und als man den Kreis herumgegangen war, bekamen auch diejenigen, welche vorher nicht gegessen hatten. Und alle wurden satt und es blieb noch Brod übrig, so viel, dass man es in zwölf Körbe sammeln konnte. Christus lehrt die Menschen, dass sie mit Bewusstsein ebenso im Leben handeln sollen, weil dies das Gesetz des Menschen und der ganzen Menschheit ist Arbeit ist die nothwendige Bedingung des menschlichen Lebens. Und Arbeit verleiht dem Menschen Glückseligkeit. Und deshalb ist das Vorenthalten der Früchte der Arbeit ein Hinderniss für die Glückseligkeit des Menschen. Seine Arbeit jedoch den andern hinzugeben trägt zur Glückseligkeit des Menschen bei.

Wenn die Menschen aufhören werden einer dem andern das seine zu nehmen, so werden sie Hungers sterben, sagen wir. Es scheint jedoch, als müsste man das Gegentheil sagen: wenn die Menschen einer dem andern mit Gewalt das seine entreissen, dann wird es Menschen geben, die Hungers sterben müssen, – wie es sich auch wirklich verhält.

Jeder Mensch, wie er auch leben möge – ob nach der Lehre Christi oder nach der Lehre der Welt –, lebt ja nur von der Arbeit anderer Menschen. Andere Leute haben ihn gepflegt, getränkt und aufgefüttert und pflegen, tränken und nähren ihn immerfort. Nach der Lehre der Welt aber zwingt der Mensch mit Gewalt die andern, dass sie fortfahren ihn und seine Familie zu ernähren. Nach der Lehre Christi wird der Mensch gleichfalls von andern gepflegt, getränkt und ernährt; er zwingt aber die andern nicht, dass sie fortfahren ihn zu pflegen, zu tränken und zu ernähren, sondern bemüht sich selbst andern zu dienen, allen so nützlich wie möglich zu sein, und wird dadurch nothwendig für alle. Die Menschen der Welt werden immer wünschen den ihnen unnützen Menschen, der sie mit Gewalt zwingt für seinen Unterhalt zu sorgen, nicht mehr zu ernähren, und bei der ersten Möglichkeit hören sie nicht nur auf ihn zu erhalten, sondern tödten ihn als vollkommen nutzlos. Immer aber, so schlecht die Menschen auch sein mögen, werden sie den für sie arbeitenden Menschen sorgfältig ernähren und pflegen.

Wie also lebt man sicherer, vernünftiger und freudiger? Nach der Lehre der Welt oder nach der Lehre Christi?


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