Leo Tolstoj
Auferstehung. Bearbeitet von Carl Hartz
Leo Tolstoj

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Zweiter Teil

Nach vierzehn Tagen konnte die Sache zur Verhandlung vor den Senat gelangen, und auf diesen Zeitpunkt gedachte Nechljudow nach Petersburg zu fahren und für den Fall eines Mißerfolges beim Senat die Bittschrift an die allerhöchste Instanz einzureichen, wie es ihm der Advokat geraten, der die Bittschrift aufgesetzt hatte. Falls die Kassationsbeschwerde keine Folgen haben sollte, worauf man, nach der Meinung des Advokaten, gefaßt sein mußte, da die Kassationsanlässe sehr schwach seien, konnte sich die Abteilung der Zwangsarbeiter, zu deren Zahl die Maslowa gehörte, anfangs Juni auf den Weg begeben; und so, um sich für die Reise nach Sibierien vorzubereiten, der Maslowa nach, wie Nechljudow fest beschlossen, galt es, schon jetzt auf die Dörfer zu fahren, um da seine Sachen in Ordnung zu bringen.

Vor allem fuhr Nechljudow nach Kusjminskoje, das nächste und größte »Humus«-Landgut, von dem das Haupteinkommen bezogen wurde. Er hatte auf diesem Landgut manchmal gelebt, in der Kindheit und Jugendzeit, und nachher, als schon Erwachsener, war er zweimal dort gewesen und hatte auch, auf die Bitte seiner Mutter, einen Verwalter, einen Deutschen, dorthin mitgebracht und mit ihm zusammen die Wirtschaft revidiert, so daß er seit langem den Zustand des Gutes und die Beziehungen der Bauern zur Verwaltung, das heißt zum Grundbesitzer kannte. Dies Verhältnis der Bauern zum Grundbesitzer war derart, daß die Bauern sich in voller Abhängigkeit von der Verwaltung befanden. Nechljudow wußte das seit den Universitätsjahren, wo er die Lehren Henry Georges bekannt und verkündet, und auf Grund dieser Lehren das Landstück seines Vaters den Bauern gegeben hatte. Nach dem Militärdienst freilich, da er sich gewöhnt, etwa zwanzigtausend Rubel per Jahr zu verbrauchen, hörte all diese Erkenntnis auf, für sein Leben von verpflichtendem Einfluß zu sein, sie ward vergessen, und er legte sich nicht nur nie die Frage vor, woher das Geld kam, das ihm die Mutter gab, sondern er bemühte sich, nicht darüber nachzudenken. Aber der Mutter Tod, die Erbschaft, und die Notwendigkeit, sein Besitztum, das heißt das Land, zu verwalten, regten die Frage nach seinem Verhalten gegen den Grundbesitz von neuem an.

Vor einem Monat würde Nechljudow sich gesagt haben, daß er nicht imstande sei, die bestehende Ordnung zu ändern, daß nicht er die Güter verwalte; und mehr oder weniger würde er sich beruhigt haben, da er fern von dem Landgut lebte und das Geld von ihm bezog. Jetzt aber beschloß er, obgleich ihm die Reise nach Sibirien und der komplizierte und schwierige Verkehr mit der Welt der Gefängnisse bevorstand, für die Geld nötig war, die Sache dennoch nicht in ihrer früheren Verfassung zu lassen, sondern sie zu seinem Nachteil zu ändern. Er entschied sich daher, das Land nicht mehr selber zu bebauen, sondern es zu nicht hohen Preisen an die Bauern zu verpachten, und ihnen damit die Möglichkeit zu verschaffen, von den Grundbesitzern überhaupt unabhängig zu sein.

Nechljudow kam gegen Mittag nach Kusjminskoje gefahren. Da er sein Leben in allem vereinfachen wollte, so telegraphierte er nicht, sondern mietete auf der Station einen kleinen Tarantaß mit zwei Pferden. Der Fuhrmann erzählte von dem Verwalter in Kusjminskoje, ohne zu wissen, daß er den Besitzer desselben fuhr. Nechljudow sagte es ihm absichtlich nicht.

»'n schneidiger Deutscher«, sprach der Fuhrmann, der in der Stadt gelebt und Romane gelesen hatte. Er saß halb zum Passagier gewendet. »Ein Dreigespann hat er angeschafft, lauter isabellfarbige; fährt er mit seiner Frau aus, so – was sagst von mir?!« fuhr er fort. »Im Winter, zu Weihnachten, war ein Christbaum im großen Hause, ich habe ebenfalls Gäste hingefahren; er war mit elektrischem Funken. In der Gouvernementsstadt kriegst du keinen solchen zu sehen. Viel Geld hat er zusammengeplündert, furchtbar. Sie sagen, er hat sich 'n ordentliches Gut gekauft.«

Nechljudow hatte gedacht, er sei ganz gleichmütig dem gegenüber, wie der Deutsche sein Gut verwalte und es ausnütze. Aber die Erzählung des Fuhrmanns war ihm unangenehm. Er freute sich des schönen Tages, der dichten, dunkler werdenden, manchmal die Sonne verdeckenden Wolken, der Wälder, die schon, mit Ausnahme der Wintereiche, mit frischem Laub bedeckt waren, der Felder, auf denen die Pflüger zu sehen waren – und von Zeit zu Zeit fiel ihm ein, daß etwas Unangenehmes da sei, und wenn er sich dann fragte: was? so kam ihm die Erzählung des Fuhrmanns in den Sinn, wie der Deutsche in Kusjminskoje schaltet und waltet.

Als Nechljudow nach Kusjminskoje kam und sich an die Geschäfte machte, vergaß er dieses Gefühl.

Das Durchsehen der Kontobücher und das Gespräch mit dem Arbeitsaufseher, der ihm mit Naivität vor die Augen führte, wie vorteilhaft die Landarmut der Bauern und ferner der Umstand sei, daß sie ganz von dem herrschaftlichen Boden umgeben seien, bestärkten den Nechljudow noch mehr in seiner Absicht, die Bewirtschaftung aufzugeben und das ganze Land den Bauern zu überlassen.

Die Vorstellungen des Verwalters, wie das ganze Inventar bei der Übergabe des Bodens an die Bauern für so gut wie gar nichts verloren gehen werde, weil man es nicht einmal für ein Viertel dessen, was es kostet, verkaufen könne, wie die Bauern das Land verderben, wieviel überhaupt Nechljudow bei solcher Übergabe verlieren werde – all dies bestätigte nur dem Nechljudow, daß er eine gute Tat vollbringe, indem er den Bauern das Land abgebe und sich den größten Teil seiner Einkünfte entziehe.

Er beschloß, es sogleich während dieses Besuches zu Ende zu führen. Das Getreide ernten und verkaufen, das Inventar und die nicht nötigen Bauten verkaufen – all das mußte der Verwalter erst nach seiner Abreise tun. Jetzt aber bat er den Verwalter, am andern Tage eine Bauernversammlung der drei Dörfer, die von dem Lande von Kusjminskoje umgeben waren, einzuberufen, um ihnen seine Absicht kund zu geben und den Preis für das abzutretende Land zu verabreden.

Im angenehmen Bewußtsein seiner Standhaftigkeit gegen die Vorstellungen des Verwalters und seiner Opferbereitschaft für die Bauern ging Nechljudow aus dem Kontor und in das für ihn bereitete Zimmer im großen Hause, das immer zum Empfang der Gäste diente.

In diesem kleinen sauberen Zimmer mit venetianischen Ansichten und mit einem Spiegel zwischen zwei Fenstern war ein sauberes Springfederbett aufgestellt, dann ein Tischchen mit einer Karaffe Wasser, Zündhölzchen und einem Lichtlöscher. Auf dem großen Tisch beim Spiegel lag sein geöffneter Koffer, in welchem sein Toilettenecessaire und die mitgenommenen Bücher – ein russisches – eine Untersuchung über die Gesetze des Verbrechertums – ein deutsches über dasselbe Thema, und ein englisches sichtbar waren. Er wollte sie in freien Minuten, während seiner Reise durch die Dörfer, lesen, aber heute hatte er dazu keine Zeit und war im Begriff, zu Bette zu gehen, um sich morgens etwas früher auf die Unterredung mit den Bauern vorzubereiten.

In dem Zimmer, in einer Ecke, stand ein altertümlicher Lehnstuhl aus Mahagoni mit Inkrustationen, und der Anblick dieses Lehnstuhls, dessen er sich aus dem Schlafzimmer der Mutter erinnerte, erweckte in der Seele Nechljudows plötzlich ein ganz unerwartetes Gefühl. Es ward ihm plötzlich leid um das Haus, das in Verfall geraten, um den Garten, der verwildern sollte, um die Wälder, die man abholzen würde, um all diese Viehhöfe, Pferdeställe, Gerätschaftsräume, Maschinen, Pferde, Kühe, die – wenn auch nicht von ihm – doch, er wußte das, mit soviel Mühe angeschafft und erhalten worden. Früher war es ihm leicht erschienen, auf all das zu verzichten, aber jetzt war es ihm leid, nicht nur um dies, sondern auch um das Land, und um die Hälfte der Einkünfte, die ihm jetzt so nötig werden konnten. Und sogleich erschienen, voll Dienstfertigkeit, allerlei Überlegungen, aus denen sich ergab, daß es unvernünftig sei, das Land den Bauern zu übergeben und seine Wirtschaft zu vernichten, und daß man dies nicht tun solle.

»Ich darf kein Land besitzen, wenn ich aber kein Land besitze, so kann ich diese ganze Wirtschaft nicht unterhalten. Außerdem fahre ich jetzt nach Sibirien, und daher brauche ich weder das Haus, noch das Gut«, sprach eine Stimme. »Alles das ist richtig,« sprach eine andere Stimme, »aber erstens wirst du nicht dein ganzes Leben in Sibirien verbringen. Wenn du dich aber verheiratest, kannst du Kinder haben. Und so wie du die Wirtschaft in Ordnung bekommen hast, so mußt du sie auch weitergeben. Es gibt Pflichten gegen den Boden. Abgeben, alles vernichten ist sehr leicht, aber alles einrichten – das ist sehr schwer. Die Hauptsache aber ist, du mußt über dein Leben nachdenken und entscheiden, was du mit dir machen willst, und dementsprechend mußt du über dein Eigentum verfügen. Und ist dieser Entschluß in dir fest? Dann – ob du wahrhaft nach deinem Gewissen so handelst, wie du handelst, oder ob du es der Leute wegen tust, um vor Ihnen zu prahlen?« fragte sich Nechljudow, und er konnte nicht umhin, zu gestehen, daß es von Einfluß auf seine Entscheidung war, was die Leute von ihm sprechen würden. Und je mehr er nachdachte, desto mehr und mehr Fragen erhoben sich, und desto unlösbarer wurden sie. Um diese Gedanken los zu werden, legte er sich in das saubere Bett und wollte einschlafen, um morgen mit frischem Kopfe die Fragen zu entscheiden, in denen er sich heute verwickelte. Aber er konnte lange nicht einschlafen; durch die offenen Fenster strömte mit der frischen Luft und dem Mondschein zusammen das Quaken der Frösche herein, übertönt von dem Schlagen und Flöten der Nachtigallen, der entfernten im Park und einer nahen vor dem Fenster, in dem aufblühenden Syringenstrauch. Auf die Nachtigallen und Frösche horchend, gedachte Nechljudow der Musik der Inspektorstochter; als er an den Inspektor dachte, kam ihm die Maslowa in den Sinn, deren Lippen ebenso bebten wie das Quaken der Frösche, als sie sprach: »Geben Sie das ganz auf.« Dann fing der Deutsche, der Verwalter, an, zu den Fröschen hinunterzusteigen. Man mußte ihn aufhalten, aber er war nicht nur hinabgeklettert, er hatte sich auch in die Maslowa verwandelt, und fing an, ihm vorzuwerfen: »Ich bin eine Zwangsarbeiterin, Sie aber sind ein Fürst.« »Nein, ich will nicht nachgeben«, dachte Nechljudow, und er kam zu sich und fragte sich: »Wie ist es denn? Tue ich gut oder schlecht? Ich weiß es nicht, und es ist für mich einerlei. Es ist einerlei. Man muß nur schlafen.« Und dann fing er selber an, dort hinunter zu steigen, wohin der Verwalter gekrochen und die Maslowa, und dort war alles zu Ende.

 

Am anderen Tage erwachte Nechljudow um neun Uhr früh. Sich besinnend sprang Nechljudow aus dem Bette. Von den gestrigen Gefühlen des Bedauerns, daß er das Land weggebe und die Wirtschaft vernichte, war keine Spur vorhanden. Jetzt freute er sich über den Akt, der ihm bevorstand, und war unwillkürlich stolz auf ihn. Aus dem Fenster seines Zimmers konnte er den Platz sehen, wo sich die Bauern versammelten.

Seit dem frühen Morgen fiel ein stiller, warmer Regen. Außer dem Duft des Grüns kam ins Fenster noch der Geruch der um Regen bittenden Erde. Nechljudow guckte einige Male aus dem Fenster, während er sich ankleidete, und sah, wie die Bauern sich auf dem kleinen Platz versammelten. Einer nach dem andern kamen sie heran, nahmen voreinander die Mützen und Kappen ab und stellten sich in einem Kreise auf, sich auf die Stöcke stützend. Der Verwalter kam, um dem Nechljudow zu sagen, daß alle versammelt seien; aber sie könnten warten – Nechljudow solle zuerst Kaffee oder Tee trinken; eines wie das andere sei bereit.

»Nein, ich will lieber gleich zu ihnen gehen«, sagte Nechljudow, indem er, sich selber ganz unerwartet, ein Gefühl der Bangigkeit und Scham empfand bei dem Gedanken an die bevorstehende Unterredung mit den Bauern.

Er ging, den Bauern den Wunsch zu erfüllen, an dessen Erfüllung sie nicht einmal zu denken wagten – er ging, ihnen zu billigem Preise das Land abzugeben, das heißt, ihnen eine Wohltat zu erweisen, und dennoch schämte er sich vor etwas. Als sich Nechljudow den versammelten Bauern näherte, und die blonden, krausen, kahlen, grauen Köpfe sich entblößten, wurde er so befangen, daß er lange nichts sagen konnte. Die Bauern blickten den Herrn an und warteten, was er ihnen sagen wolle. Er aber war so verwirrt, daß er ihnen nichts sagen konnte. Das befangene Schweigen unterbrach der ruhige, selbstbewußte Deutsche, der Verwalter, der sich für einen Kenner des russischen Bauern hielt und ausgezeichnet korrekt russisch sprach. Dieser starke, überernährte Mann, ebenso wie Nechljudow selbst – bildete einen frappanten Gegensatz zu den hageren runzligen Gesichtern der Bauern.

»Hier der Fürst will euch Gutes tun – das Land abgeben – ihr seid's nur gar nicht wert«, sagte der Verwalter.

»Wieso nicht wert, Wassilij Karlytsch? Haben wir denn nicht für dich gearbeitet? Wir sind sehr zufrieden mit der seligen Herrin, Gott schenke ihr die ewige Seligkeit, und der junge Fürst verläßt uns nicht, dank ihm«, begann ein rötlich-blonder Bauer, ein Schönredner.

»Eben deswegen hab' ich euch ja hergerufen, weil ich euch, wenn ihr wollt, das ganze Land abgeben will«, brachte Nechljudow hervor.

Die Bauern schwiegen, als ob sie es nicht verstünden oder nicht glaubten.

»In welchem Sinne also – das Land abgeben?« sagte ein Bauer von mittlerem Alter im Kaftan.

»An euch verpachten, damit Ihr es zu einem nicht hohen Preise benutzt.«

»Die allerbeste Sache«, sagte ein Alter.

»Wäre nur die Zahlung nach unseren Kräften«, sagte ein anderer.

»Warum sollten wir das Land nicht nehmen? Es ist ja unsere gewohnte Beschäftigung. Vom Lande ernähren wir uns.«

»Für Sie ist es ja auch bequemer; tust nur das Geld in Empfang nehmen; sonst aber – wieviel Hader!« ließen sich Stimmen hören.

»Der Hader kommt von euch,« sagte der Deutsche, »und wenn ihr arbeitetet und Ordnung hieltet – –«

»Es ist unmöglich für unsereins, Wassilij Karlytsch,« begann ein spitznäsiger, magerer Alter, »du sagst: ›Warum hast du ein Pferd ins Korn laufen lassen?‹ Aber wer hat es hineinlaufen lassen? Ich habe mich den ausgeschlagenen Tag – der Tag ist aber so lang wie ein Jahr, mit der Sense satt geschwungen, oder so was – dann, nächtens, beim Pferdehüten bin ich eingeschlafen; das Pferd ist nun bei dir in den Hafer hinein, du aber schindest mich dafür.«

»Ihr solltet eben Ordnung halten.«

»Du hast leicht sagen: ›Ordnung‹, unsere Kraft reicht nicht aus«, erwiderte ein hochgewachsener, schwarzhaariger, ganz mit Haaren bedeckter, nicht alter Bauer.

»Ich hab' euch ja gesagt, ihr solltet es einzäunen.«

»Gib du uns aber zuerst Holz dazu!« fiel von hinten ein kleiner, unansehnlicher Bauer ein. »Ich wollte es den vorigen Sommer einzäunen, du aber hast mich für drei Monate ins Gefängnis gesteckt, die Läuse zu füttern. So habe ich es eingezäunt.«

»Was sagt er denn da?« fragte Nechljudow den Verwalter.

»Der erste Dieb im Dorf,« sagte der Verwalter auf deutsch, »noch jedes Jahr ist er im Wald abgefaßt worden.«

»Lerne du erst fremdes Eigentum achten«, sagte der Verwalter.

Es ging, augenscheinlich, ein Wortturnier an, in welchem die Beteiligten nicht ordentlich verstanden, was und wozu sie sprachen. Man spürte nur auf der einen Seite die durch die Furcht zurückgehaltene Erbitterung, auf der anderen – das Bewußtsein der Überlegenheit und Macht. Dem Nechljudow war es peinlich, und er gab sich Mühe, zur Sache zurückzukehren: die Preise und Fristen zu fixieren.

»Wie ist es denn also in Bezug auf das Land? Wolltet ihr es? Und welchen Preis werdet ihr bestimmen, wenn man euch das ganze Land abgibt?«

»Die Ware gehört Ihnen, bestimmen Sie auch den Preis.«

Nechljudow bestimmte den Preis. Wie immer, trotzdem der von Nechljudow bestimmte Preis viel niedriger war, als der, den man in der Umgebung zahlte, – begannen die Bauern zu feilschen und fanden den Preis zu hoch. Endlich, dank dem Verwalter, setzte man den Preis und die Zahlungsfristen fest, und die Bauern, geräuschvoll sprechend, begaben sich bergab, zum Dorf. Nechljudow aber ging mit dem Verwalter ins Kontor, das Projekt des Vertrages abzufassen.

Alles lief so ab, wie es Nechljudow wünschte und erwartete, die Bauern bekamen das Land etwa dreißig Prozent billiger, als es in der Umgebung verpachtet wurde; sein Einkommen verminderte sich fast um die Hälfte, aber es war für Nechljudow mehr als hinreichend, besonders unter Hinzufügung der Summe, die er für den verkauften Wald erhalten und derjenigen, die aus dem Verkauf des Inventars gelöst werden sollte. Alles, schien es, war schön; Nechljudow aber machte sich die ganze Zeit ein Gewissen über irgend etwas. Er sah, daß die Bauern, trotzdem einige ihm Dankesworte sagten, unzufrieden waren und etwas Größeres erwartet hatten. Das Ergebnis war also, daß er sich vieles entzogen, für die Bauern aber nicht das getan, was sie erwartet hatten.

Am andern Tage ward der vorläufige Vertrag unterschrieben, und Nechljudow, begleitet von den gewählten Ältesten, welche gekommen waren, stieg mit dem unangenehmen Gefühl von etwas nicht zu Ende Geführtem in die »schneidige«, wie der Fuhrmann von der Station sagte, dreispännige Kalesche des Verwalters und fuhr nach der Station, nachdem er von den Bauern Abschied genommen, die bedenklich und unzufrieden die Köpfe schüttelten. Die Bauern waren unzufrieden, Nechljudow war mit sich unzufrieden. Worüber er unzufrieden war, wußte er nicht, aber diese ganze Zeit fühlte er sich traurig und schämte sich.

 

Aus Kusjminskoje fuhr Nechljudow auf das von den Tantchen ererbte Gut, auf dasselbe, wo er Katjuscha kennen gelernt hatte. Er wollte auch auf diesem Gut die Sache mit dem Land ebenso einrichten, wie er es in Kusjminskoje eingerichtet. Außerdem wollte er alles von der Katjuscha und ihrem und seinem Kinde erfahren, was noch zu erfahren möglich war: ist es wahr, daß das Kind gestorben? Und wie ist es gestorben? Er kam nach Panowo früh am Morgen gefahren, und das erste, was ihn frappierte, als er in den Hof einfuhr, war der Anblick der Verödung und Baufälligkeit, in welchem sich alle Baulichkeiten befanden, besonders das Haus. Nur der Garten war nicht nur nicht in Verfall geraten, sondern war breiter geworden und dichter verwachsen, und jetzt war er voll Blüten. Hinter dem Zaun waren, gleichsam wie weiße Wolken, die blühenden Kirschen-, Apfel- und Pflaumenbäume sichtbar. Der Syringenzaun aber blühte ebenso wie zu der Zeit, als Nechljudow, vor vierzehn Jahren, hinter diesen Syringensträuchern mit der fünfzehnjährigen Katjuscha ein Fangspiel gespielt, hingefallen war und sich mit den Brennnesseln verbrannt hatte. Auf der Wiese, hinter dem Fluß, weidete eine bunte, gemischte Herde, die den Bauern gehörte. Der Arbeitsaufseher, ein nicht ausstudierter Seminarist, empfing lächelnd den Nechljudow auf dem Hofe, lud ihn, ohne mit dem Lächeln aufzuhören, in das Kontor ein, und ebenso lächelnd, als ob er mit diesem Lächeln etwas Besonderes verspräche, ging er hinter die Scheidewand. Hinter der Scheidewand flüsterte man eine Zeitlang und verstummte dann.

Nechljudow setzte sich an's Fenster, sah in den Garten und horchte. Auf dem Flusse – tra-pa-tap, tra-pa-tap – klatschten, einander übertönend, die Waschbläuel der Weiber, und diese Töne breiteten sich aus über die sichtbare, in der Sonne glänzende Strecke des Flusses, und es ließ sich das gleichmäßige Fallen des Wassers in der Mühle hören: an dem Ohr flog erschrocken und hell summend eine Fliege vorbei.

Und Nechljudow gedachte plötzlich daran, daß er ehemals, schon vor langer Zeit, als er noch jung und unschuldig war, hier auf dem Flusse diese Schläge der Waschbläuel auf die nasse Wäsche gehört, beim gleichmäßigen Geräusch der Mühle ganz ebenso gehört, und daß ebenso eine Fliege erschrocken an seinem Ohr vorbeigeflogen; und er stellte sich nicht etwa sich selber vor als der achtzehnjährige Knabe, der er damals gewesen, sondern er fühlte sich wieder geradezu als derselbe, mit derselben Frische, Reinheit und der Zukunft voll der größten Möglichkeiten, und zugleich, wie es im Traume zu sein pflegt, wußte er, daß all das schon nicht mehr da sei, und ihm ward fürchterlich wehmütig.

»Wann befehlen Sie zu speisen?« fragte der Arbeitsaufseher lächelnd.

»Wann Sie wollen – ich bin nicht hungrig. Ich will mich im Dorfe ergehen.«

»Sonst aber, wäre es Ihnen nicht vielleicht gefällig, in's Haus zu gehen? Innen ist bei mir alles in Ordnung. Belieben Sie zu besehen; wenn auch die Äußerlichkeit . . .«

»Nein, nachher; jetzt aber sagen Sie, bitte, gibt es hier bei Ihnen eine Frau, Matrjona Charina?« (Das war die Tante der Katjuscha.)

»Gewiß, auf dem Dorfe, – auf keine Weise kann ich mit ihr fertig werden. Eine Branntweinschenke hält sie. Ich weiß es und überführe sie und schelte, aber um ein Protokoll aufzunehmen dauert sie mich, – – eine Alte, – – hat Enkel bei sich«, sagte der Arbeitsaufseher, immer noch mit demselben Lächeln, das sowohl den Wunsch, dem Herrn angenehm zu sein, ausdrückte, als auch die Überzeugung, daß Nechljudow ebenso wie er allerlei begreife.

»Wo wohnt sie? Ich möchte zu ihr gehen.«

»Am Ende des Dorfes, auf jener Seite – das drittvorletzte Hüttchen. Linker Hand werden Sie an ein Ziegelhaus kommen, dort aber, hinter dem Ziegelhaus ist auch ihre Kathe. Aber ich begleite Sie lieber«, sprach der Arbeitsaufseher freudig lächelnd.

»Nein, ich danke Ihnen, ich werde sie schon finden; und Sie, ordnen Sie, bitte, an, daß man den Bauern bekannt macht, sich zu versammeln; ich muß mit ihnen über das Land sprechen«, sagte Nechljudow, weil er gedachte, hier, wenn es möglich sei, noch heute abend die Sache mit den Bauern zu Ende zu führen und auf dieselbe Weise wie in Kusjminskoje.

 

Als Nechljudow zum Tor hinaustrat, begegnete er auf dem fest gestampften Fußpfad, auf dem mit Wegerich und Porst bewachsenen Weideplatz, einem flink ihre dicken, nackten Beine rührenden Bauernmädchen mit der bunten Schürze und Watte in den Ohren. Als das Mädchen sich dem Herrn zu nähern begann, mäßigte sie zuerst ihren Gang und ging vom Lauf zum Schritt über; als sie aber neben ihm war, blieb sie stehen, und den Kopf erst zurückwerfend, verbeugte sie sich vor ihm und ging erst, als er schon vorbei war, weiter.

Hinter dem Brunnen begann das Dorf. Es war ein klarer und heißer Tag, und um zehn Uhr war es schon schwül, die sich sammelnden Wolken verdeckten hie und da die Sonne. Über der ganzen Straße lag der scharfe, ätzende und nicht unangenehme Mistgeruch, der sowohl von den auf dem glänzend glatt gerollten Wege bergauf ziehenden Wagen herkam, wie hauptsächlich aus dem aufgegrabenen Mist auf den Höfen, an deren geöffneten Toren Nechljudow vorbeiging. Die hinter den beladenen Wagen bergauf gehenden barfüßigen Bauern in den mit Mistjauche beschmierten Hosen und Hemden blickten sich nach dem hochgewachsenen, dicken Herrn um, der in einem grauen Hut mit seinem in der Sonne glänzenden Seidenband durch das Dorf hinaufging und bei jedem zweiten Schritt mit dem polierten, gegliederten Stock mit dem glänzenden Knopf den Boden berührte. Die im Trab vom Felde zurückfahrenden Bauern, hin und her gerüttelt auf den Böcken der leeren Wagen, nahmen vor Nechljudow die Mützen ab und folgten voll Erstaunen mit den Augen dem ungewöhnlichen Mann, der auf ihrer Straße ging. Die Weiber kamen vor die Tore und auf die Treppen und zeigten ihn einander, indem sie ihn mit den Augen begleiteten.

Bei dem vierten Tor, an dem Nechljudow vorbeiging, hielten ihn die knarrend auf dem Hof herausfahrenden Wagen auf, auf die glatt geklatschter Mist, mit einem darauf gelegten Bastdeckchen zum Sitzen, hoch aufgeladen war. Ein sechsjähriger Knabe, in Erwartung der Spazierfahrt aufgeregt, ging hinter dem Fuder. Ein junger Bauer in Bastschuhen trieb breit schreitend das Pferd auf die Straße. Das folgende Pferd führte ein hagerer, munterer Alter heraus, ebenso barfuß, in gestreiften Hosen und langem, schmutzigem Hemd, mit den auf dem Rücken hervorstehenden mageren Hüftknochen.

Als die Pferde sich auf den glatt gerollten Weg hinausgearbeitet hatten, kehrte der Alte zum Tore zurück und verbeugte sich vor Nechljudow.

»Das Neffchen von unseren Fräulein sollst du sein?«

»Ja, ja.«

»Glück zur Ankunft; wie ist es denn, bist du gekommen, um dich nach uns umzusehen?« fing redselig der Alte an.

»Ja, ja. – Wie ist's, wie lebt Ihr?« machte Nechljudow, da er nicht wußte, was er sagen solle.

»Was für ein Leben ist unser Leben! Das schlechteste Leben ist das unsrige«, dehnte singend der redselige Alte seine Worte.

»Warum schlecht?« fragte Nechljudow, unter das Tor tretend.

»Aber was ist das für ein Leben? Das schlechteste Leben«, sagte der Alte, während er dem Nechljudow auf den bis zur Erde vom Mist befreiten Teil unter dem Schutzdach folgte.

Nechljudow trat mit ihm unter den Schuppen.

»Ich habe – da sind sie – zwölf Seelen«, fuhr der Alte fort, indem er auf zwei aufgeschürzte, schwitzende Frauen zeigte, die mit Gabeln in den Händen auf einer Stufe des noch nicht weggeräumten Mistes standen.

»Jeden Monat mußt du sechs Pud Brot kaufen, aber woher soll man sie nehmen?«

»Reicht denn das eigene nicht aus?«

»Das eigene!?« sagte der Alte mit verächtlichem Lächeln. »Ich habe Boden für drei Seelen, diesmal haben wir aber im Ganzen nur acht Haufen Getreide geerntet, nicht mal bis zu Weihnachten hat es gelangt!«

»Also wie macht ihr's denn?«

»Nun so, wie's kommt; da habe ich einen alten Knecht weggetan, und bei Euer Gnaden etwas Geld geborgt. Noch vor dem Fasten haben wir schon alles vorausgenommen, die Steuern aber haben wir noch nicht bezahlt.«

»Und wieviel machen die Steuern aus?«

»Nun, von meinem Hof etwa siebzehn Rubel in vier Monaten. Ach, Gott behüte! So ein Leben! Du weißt selber nicht, wie du dich durchschlägst.«

»Und kann man zu euch in die Stube gehen?« sagte Nechljudow.

»Warum denn nicht, komm nur herein«, sagte der Alte.

Er überholte den Nechljudow mit raschen Füßen und öffnete ihm die Tür in die Stube.

Aus der Hütte sprangen zwei Mädchen in Hemdchen heraus. Sich niederbeugend und den Hut abnehmend trat Nechljudow in den Flur und die nach sauer gewordener Speise riechende, schmutzige, enge, von zwei Webstühlen eingenommene Stube. In der Stube am Ofen stand eine Alte mit aufgestreiften Ärmeln auf den mageren, stark geäderten, sonnenverbrannten Armen.

»Hier ist unser Herr, er ist zu uns zu Gast gekommen«, sagte der Alte.

»Auch gut, sei willkommen«, sagte die Alte freundlich, indem sie die aufgestreiften Ärmel herunterkrempelte.

»Ich wollte sehen, wie ihr lebt«, sagte Nechljudow.

»Nun, wir leben so, wie du siehst. Die Hütte will einfallen, sieh nur zu, daß sie einen nicht totschlägt. Der Alte sagt aber, diese ist auch gut. Nun, so leben wir, – wie die Fürsten«, sprach die flinke Alte, nervös mit dem Kopf zuckend. »Jetzt gleich setz' ich das Mittagessen auf den Tisch. Muß unser arbeitendes Völkchen satt machen.«

»Und was eßt ihr zu Mittag?«

»Was wir zu Mittag essen? Unsere Ernährung ist gut. Der erste Gang ist Brot mit Kwas, der zweite – Kwas mit Brot«, sagte die Alte, indem sie ihre halb abgenützten Zähne zeigte.

»Nein, ohne Scherz, zeigt mir, was ihr heute speisen werdet.«

»Speisen?« sagte der Alte lächelnd. »Unsere Speisung ist nicht besonders hinterlistig. Zeig' sie ihm, Alte.«

Die Alte schüttelte den Kopf.

»Du hast Lust gekriegt, unser bäuerliches Essen zu sehen. Bist 'en Spiriguckes-Herr, wie ich's ansehe. Alles muß er wissen. Ich habe dir gesagt – Brot mit Kwas, und dann noch Schtschi, die Weiber haben Gaisfußkraut mitgebracht – und nun haben wir Schtschi; nachher aber – Kartoffeln.«

»Und nichts mehr?«

»Was brauchst du noch? Mit Milch werden wir es weiß machen«, sagte die Alte, während sie schmunzelnd auf die Tür sah.

»Ja, schlecht, schlecht ist unser Leben. Herr, was soll man sagen«, sagte der Alte.

»Nun, lebt wohl«, sagte Nechljudow, da er Befangenheit und Scham fühlte, über deren Ursache er sich keine Rechenschaft gab.

»Wir danken ergebenst, daß du dich nach uns umgesehen hast«, sagte der Alte.

Im Flur ließen ihn die Leute, sich aneinander drückend, durch, und er ging auf die ansteigende Straße hinaus und weiter aufwärts. Gleich hinter ihm kamen aus dem Flur zwei Knaben heraus, barfuß: der eine, etwas ältere, in einem schmutzigen, weiß gewesenen Hemd, und der andere in einem abgenutzten, verschossenen rosaroten.

Nechljudow blickte sich nach ihnen um.

»Und wohin willst du jetzt gehen?« sagte der Knabe im weißen Hemd.

»Zu Matrjona Charina«, sagte Nechljudow. »Kennt ihr sie?«

Der kleine Knabe im Rosahemd lachte über etwas, der ältere aber fragte ihn ernsthaft noch einmal:

»Welche Matrjona? Ist sie alt?«

»Ja, alt.«

»O–o«, zog er. »Das ist Semjonicha, – am Ende des Dorfes. Wir wollen mit dir gehen. Komm, Fedjka, wir gehen mit ihm.«

»Aber die Pferde?«

»'s gibt wohl nichts!«

Fedjka willigte ein, und sie gingen zu dritt durch das Dorf hinauf.

 

Dem Nechljudow war es behaglicher mit den Knaben, als mit den Großen, und er kam unterwegs mit ihnen ins Gespräch. Der Kleine im rosaroten Hemd hörte zu lachen auf und sprach ebenso klug und umständlich wie der ältere.

»Nun, wer ist bei euch am ärmsten?« fragte Nechljudow.

»Wer der ärmste ist? Michajla ist arm, Semjon Makarow, auch Marfa ist sehr arm.«

»Aber Anissia, die ist noch ärmer. Anissia hat nicht mal eine Kuh – sie betteln«, sagte der kleine Fedja.

»Nun, und die Matrjona, ist die arm?« fragte Nechljudow, als sie sich schon dem Hüttchen der Matrjona nahten.

»Die und arm sein! – Sie handelt mit Branntwein«, antwortete entschieden das rosarote, magere Bübchen.

Als er Matrjonas Hüttchen erreichte, entließ Nechljudow die Knaben, trat in den Flur und dann in die Stube. Die Kate der Alten, Matrjona, war sechs Arschin groß, so daß auf dem Bette, das hinter dem Ofen stand, ein großer Mensch sich nicht ausstrecken konnte. »Auf diesem selben Bett,« dachte er, »hat Katjuscha geboren und ist krank gelegen.« Fast die ganze Stube war von einem Webstuhl eingenommen, den die Alte mit ihrer älteren Enkelin eben in Ordnung brachte, als Nechljudow hereintrat, wobei er sich an der niederen Tür mit dem Kopf stieß.

Noch zwei Enkel liefen kopfüber gleich hinter dem Herrn in die Stube herein, und sich mit den Händen an der Oberschwelle haltend, blieben sie hinter ihm in der Tür stehen.

»Zu wem willst du?« fragte die Alte ärgerlich, da sie wegen des nicht in Gang zu bringenden Webstuhls schlechter Laune war. Außerdem, da sie heimlich mit Branntwein handelte, fürchtete sie alle unbekannten Leute.

»Ich bin der Gutsbesitzer. Ich möchte etwas mit Ihnen sprechen.«

Die Alte schwieg eine Zeitlang, indem sie ihn genau und scharf ansah; dann verklärte sie sich plötzlich ganz.

»Ach du mein Teuerster, und ich Dumme habe dich nicht erkannt, ich denke, es ist irgend ein Vorübergehender«, fing sie mit verstellt freundlicher Stimme an. »Ach du, mein stolzer Falke.«

»Könnte man Sie nicht ohne Zeugen sprechen?« sagte Nechljudow, indem er auf die geöffnete Tür sah, wo die Kinder standen; hinter den Kindern aber stand eine magere Frau mit einem hinsiechenden, aber fortwährend lächelnden, vor Krankheit blassen Kleinen in einem Häubchen aus Flickchen.

»Was habt ihr hier zu sehen? Ich werde euch gleich, gib mir mal die Krücke her«, schrie die Alte auf die in der Tür stehenden ein. »Mach' zu, oder was!«

Die Kinder gingen weg, das Weib mit dem Kleinen machte die Tür zu.

»Und ich denke, wer kommt denn da? Aber da ist's der Herr selber, du mein goldener, mein herzliebster Schöner«, sprach die Alte. »Wohin kommst du! Du hast es nicht verabscheut. Ach du, mein Brillantener! Hierher setz' dich, Euer Erlaucht, da! Hier! Zu oberst«, sprach sie, während sie den Platz mit der Schürze abwischte. »Ich aber danke, was für ein Teufel stakt denn da daher? Sieh mal, es ist Euer Erlaucht selber, der gute Herr, der Wohltäter, unser Ernährer. Verzeih du mir, der alten Dummen – bin blind geworden.«

Nechljudow setzte sich, die Alte stellte sich vor ihn und fing mit singender Stimme an zu sprechen:

»Und alt bist du geworden, Euer Erlaucht; sonst bist du wie eine feste Distel gewesen, aber jetzt – was! Hast auch Sorgen, scheint es.«

»Ich komme dies zu fragen: erinnerst du dich an Katjuscha Maslowa?«

»Katharina? Wie sollte ich sie vergessen haben? Sie ist meine Nichte. Wie sollte ich mich ihrer nicht erinnern; und wieviel Tränen, Tränen habe ich wegen ihrer vergossen. Ich weiß ja alles. Wer, Väterchen, ist vor Gott ohne Sünde, vor dem Zaren ohne Schuld? Ihr waret ja jung, habt auch Tee, Kaffee zusammen getrunken – nun und da hat euch der Böse verleitet. Er ist ja auch stark. Was ist da zu machen? Wenn du sie verlassen hättest, aber du hast sie ja so reich belohnt, hundert Rubel an sie verausgabt. Und sie, was hat sie gemacht! Sie konnte nicht Vernunft annehmen. Wenn sie mich gehört hätte, hätte sie leben können. Obgleich sie ja meine Nichte ist, sage ich doch geradezu – ein nichtsnutziges Mädchen. Ich habe sie ja nachher – und in was für eine gute Stelle – eingestellt, sie hat sich nicht unterwerfen wollen, hat den Herrn ausgeschimpft. Dürfen wir denn die Herrschaften schimpfen? Nun, und man hat sie entlassen, und nachher hätte sie auch wieder bei dem Förster leben können, aber sie wollte ja nicht.«

»Ich wollte nach dem Kinde fragen. Sie hat ja bei Ihnen geboren? Wo ist das Kind?«

»Mit dem Kindlein hatte ich es, mein Väterchen, damals gut überlegt. Sie war schlecht zu Wege. Ich ahnte nicht, daß sie wieder aufkam. Also hab' ich das Mädchen getauft, wie es sein soll, und in das Findelhaus übergeben. Nun, wozu braucht man das Engelsseelchen verschmachten zu lassen, wenn die Mutter stirbt? Die anderen machen es so, daß sie den Säugling behalten, ihn nicht füttern, und er also erlöscht; aber ich denke, wozu denn so? – Lieber will ich mir Mühe geben, und ihn in das Findelhaus schicken. Geld hatte man ja, und nun also hat man ihn weggefahren.«

»Aber die Nummer haben Sie gehabt?«

»Die Nummer war da, aber er starb gleich damals. Sie erzählt: kaum hatte sie ihn hingefahren, so war es auch aus mit ihm.«

»Wer sie?«

»Aber diese selbe Frau, sie hat in Skorodnoje gewohnt. Sie beschäftigte sich damit. Malania nannte man sie, jetzt ist sie gestorben. Eine kluge Frau war sie – und wie pflegte sie zu tun? Bringt man ihr manchmal ein Kindlein, so nimmt sie es und behält es bei sich im Hause, füttert es so mit durch! Und sie füttert es durch, du mein Väterchen, bis sie ihrer für eine Transportierung genug beisammen hat. Und wie sie drei oder vier beisammen hat, so bringt sie sie nun auf einmal weg. So klug war es bei ihr eingerichtet, so eine Wiege – eine große, in der Art wie zweischläfrig – hier kannst du's hinlegen, da kannst du's hinlegen. Und eine Handhabe war da angebracht. Nun legt sie die vier mit Köpfchen auseinander, damit sie sich nicht stoßen, mit den Füßchen zusammen und fährt vier auf einmal weg. Sie steckt ihnen in die Mündchen Saughörnchen, und so sind sie still, die Herzliebchen.«

»Nun, also was ist denn?«

»Na, auf diese Weise wollte sie also auch Katharina's Kind hinfahren, aber ungefähr vierzehn Tage behielt sie es bei sich, glaub' ich; es siechte also noch bei ihr zu Hause hin.«

»Und war das Kind wohlgeraten?« fragte Nechljudow.

»So ein Kindlein war es, – was Schöneres kann man sich nicht wünschen! Ganz dir ähnlich«, fügte die Alte hinzu, mit einem ihrer alten Augen ihm zublinzelnd.

»Warum wurde es denn schwach? Wahrscheinlich hat man es schlecht gefüttert.«

»Was für eine Art Fütterung! Nur so für die Augen. Bekannte Sache – kein eigenes Kind! Nur daß man es lebendig hinbringt. Sie sagte, eben hätte sie es bis Moskau gefahren, und grade um diese selbe Zeit verlösch' es. Sie brachte auch den Totenschein mit; alles, wie es sein muß. Eine kluge Frau war sie.«

Nur soviel konnte Nechljudow von seinem Kinde erfahren.

 

Nechljudow stieß sich noch einmal an beiden Türen – in der Stube und im Flur – den Kopf, als er auf die Straße hinausging.

Mit schrecklicher Wehmut im Herzen kehrte er nach Hause, das heißt, in das Seitengebäude des Arbeitsaufsehers zurück.

Der Arbeitsaufseher empfing den Nechljudow lächelnd mit der Nachricht, daß die Bauern sich abends versammeln würden. Nechljudow dankte ihm und begab sich, ohne die Zimmer zu betreten, in den Garten, um dort auf den mit Apfelblütenblättchen bestreuten überwachsenen Steigen hin und her zu gehen, über alles das, was er gesehen, nachdenkend.

Anfangs war es neben dem Seitengebäude still, dann hörte aber Nechljudow bei der Wohnung des Arbeitsaufsehers zwei einander übertönende erboste Frauenstimmen, neben denen sich nur hie und da die ruhige Stimme des lächelnden Arbeitsaufsehers hören ließ. Nechljudow horchte.

»Meine Kraft reicht nicht aus, was reißt du mir das Kreuz vom Hals herunter!« sprach eine erboste weibliche Stimme.

»Sie war ja eben nur hineingelaufen«, sprach die andere Stimme. »Gib sie zurück, sage ich. Was quälst du denn sowohl das Vieh, wie die Kinder, die keine Milch haben.«

»Bezahle oder arbeite es ab«, antwortete die ruhige Stimme des Arbeitsaufsehers.

Nechljudow ging aus dem Garten hinaus und zu dem Flur hin, an welchem zwei zerzauste Weiber standen, von denen eine augenscheinlich in der letzten Zeit der Schwangerschaft war. Auf den Stufen des Flurs stand, die Hände in den Taschen des Segeltuchpaletots, der Arbeitsaufseher. Die Weiber, als sie den Herrn sahen, verstummten und fingen an, ihre auf die Seite geschobenen Kopftücher zu ordnen; der Arbeitsaufseher nahm die Hände aus den Taschen und begann zu lächeln.

Es handelte sich darum, daß die Bauern, wie der Arbeitsaufseher sagte, mit Willen Kälber und sogar Kühe auf die herrschaftliche Wiese ließen. Und nun waren zwei Kühe aus den Höfen dieser Weiber auf der Wiese gefangen und in den Gutshof getrieben worden. Der Arbeitsaufseher forderte von den Weibern je dreißig Kopeken für eine Kuh oder zwei Tage Arbeit. Die Weiber aber behaupteten, daß erstens ihre Kühe eben erst hineingegangen seien, zweitens, daß sie kein Geld hätten und drittens verlangten sie, wenn auch gegen das Versprechen des Abarbeitens, die sofortige Wiedergabe der Kühe, die vom Morgen an auf dem Viehhof ohne Futter standen und kläglich brüllten.

»Wie oft habe ich euch um Ordnung gebeten,« sprach der lächelnde Arbeitsaufseher, indem er sich nach dem Nechljudow umsah, als ob er ihn als Zeugen herbeiriefe, »wenn ihr das Vieh mittags nach Hause treibt, so hütet es.«

»Ich bin kaum zu dem Kleinen gelaufen, die Kühe waren aber schon weg.«

»Geh nicht fort, wenn du's übernommen hast zu hüten.«

»Wer wird aber den Kleinen füttern? Du wirst ihm doch nicht die Zitze geben.«

»Wenn ich die Wiese wenigstens wirklich hätte abweiden lassen, machte mir das weniger Schmerzen, aber sie ist ja kaum hineingegangen«, sprach die andere.

»Alle Wiesen haben sie abweiden lassen«, wandte sich der Arbeitsaufseher zu dem Nechljudow. »Wenn man sie nicht bestraft, wird man keine Spur Heu haben.«

»Ech, sündige nicht,« schrie die Schwangere, »meine wurden nie erwischt.«

»Nun, da sie aber erwischt sind, so zahle oder arbeite ab.«

»Na ja, ich werde wohl! Laß doch die Kuh gehen, laß sie nicht verhungern«, schrie sie böse. »So wie so habe ich keine Ruhe, weder Tag noch Nacht. Die Schwiegermutter ist krank. Der Mann hat sich festgesoffen. Ich muß allein an allen Enden fertig werden, aber die Kraft ist alle. Abarbeiten! Daß du dran erstickst!«

Nechljudow bat den Arbeitsaufseher, die Kühe frei zu lassen, selber aber ging er wieder in den Garten, seinen Gedanken zu Ende denken; aber es war schon nichts mehr zu denken da.

Alles war ihm jetzt so klar, daß er sich nicht genug wundern konnte, wie die Leute das nicht einsahen, und wie er selbst so lange nicht sah, was augenscheinlich so klar ist. Das Volk stirbt aus, es hat sich an sein Aussterben gewöhnt, es haben sich bei ihm die dem Aussterben eigentümlichen Lebensmomente eingestellt, die Sterblichkeit der Kinder, die kräfteübersteigende Arbeit der Frauen, der Mangel an Nahrung für alle, besonders für die Alten. Und so allmählich ist das Volk in diese Lage gekommen, daß es selber das ganze Grausen davon nicht sieht und nicht darüber klagt. Daher glauben auch wir, daß es natürlich sei, und so sein müsse. Jetzt war es ihm klar wie der Tag, daß die Hauptsache des Volkselends, die immer vom Volk selber eingesehen und hervorgehoben ward, darin bestand, daß das Land, von welchem einzig das Volk sich ernähren konnte, ihm von den Grundbesitzern entzogen ward. Indessen ist es aber vollkommen klar, daß die Kinder und die alten Leute sterben, weil sie keine Milch haben; keine Milch aber haben sie, weil sie kein Land haben, um das Vieh zu weiden, Brot und Heu zu ernten; es ist vollkommen klar, daß das ganze Elend des Volkes, oder wenigstens die nächste Hauptursache des Volkselends darin liegt, daß das Land, das es ernährt, sich nicht in seinen Händen, sondern in den Händen von Leuten befindet, die sich ihres Rechtes auf den Boden bedienend von der Arbeit dieses Volkes leben. Das Land aber, das so den Leuten notwendig ist, daß sie aus Mangel daran zu Grunde gehen, wird von diesen selben, bis zur äußersten Not gebrachten Leuten bearbeitet, damit das Brot im Ausland verkauft werde, und damit die Besitzer des Bodens sich Hüte, Spazierstöcke, Kaleschen, Bronzen usw. kaufen können. Das war ihm jetzt so klar, wie es ihm klar war, daß die in einer Umzäunung eingeschlossenen Pferde, wenn sie alles Gras unter den Füßen aufgegessen, mager sein und vor Hunger sterben müssen, bis man ihnen die Möglichkeit gibt, das Land zu benutzen, auf welchem sie Futter finden können.

Und das war schrecklich, und darf durchaus nicht, – muß nicht sein! Und man muß Mittel finden, daß es nicht mehr so ist, oder wenigstens, daß man selber keinen Teil daran nehme. »Und ich finde diese Mittel unbedingt«, dachte er, in der nächsten Birkenallee hin und her gehend.

In den wissenschaftlichen Gesellschaften, in den Staatsinstitutionen, in den Zeitungen räsonnieren wir von den Ursachen der Armut des Volkes und von den Mitteln zur Hebung derselben, nur nicht von dem einzigen unzweifelhaften Mittel, das das Volk sicher heben würde, und welches darin besteht, daß man ihm das weggenommene, ihm notwendige Land zurückgebe.

Und er erinnerte sich lebhaft an die Grundsätze Henry Georges und an seine Begeisterung für denselben, und er wunderte sich, wie er alles das habe vergessen können.

»Das Land kann nicht Gegenstand des Eigentums, kann nicht Gegenstand des Kaufs und Verkaufs sein, so wenig wie Wasser, wie Luft, wie die Sonnenstrahlen. Alle haben das gleiche Recht auf das Land und auf alle Vorteile, die es den Menschen bietet.«

Und er begriff jetzt, warum er sich geschämt, an die Einrichtung der Sachen in Kusjminskoje zu denken. Er hatte sich selber betrogen. Wissend, daß der Mensch kein Recht auf den Boden haben kann, hatte er für sich dieses Recht in Anspruch genommen, und den Bauern einen Teil dessen geschenkt, von dem er in der Tiefe der Seele wußte, daß er kein Recht darauf habe. Jetzt wird er dies nicht mehr tun; er wird das, was er in Kusjminskoje getan, ändern. Und er formte in seinem Kopf ein Projekt, darin bestehend, daß er den Bauern den Boden für eine Rente verpachte, die Rente aber sollte man als Eigentum derselben Bauern anerkennen, damit sie dies Geld zahlten und für die Steuern und Gemeindeangelegenheiten verwendeten. Das war keine »single tax«, aber er war die bei der jetzigen Ordnung möglichst größte Annäherung an dieselbe. Die Hauptsache aber war, daß er auf die Ausnutzung seiner Rechte auf das Grundeigentum verzichtete.

Als er in das Haus kam, bot der Arbeitsaufseher, besonders freudig lächelnd, ihm an, zu Mittag zu essen, indem er die Befürchtung äußerte, daß die von seiner Frau mit Hilfe des Mädchens bereitete Bewirtung verkocht und verbraten sein dürfte.

Nach dem Mittagessen brachte Nechljudow den Arbeitsaufseher mit Mühe zum Sitzen, und um sich zu prüfen und zugleich jemanden zu sagen, was ihn beschäftigte, teilte er ihm sein Projekt der Übergabe des Bodens an die Bauern mit und fragte ihn nach seiner Meinung darüber. Der Arbeitsaufseher lächelte, indem er eine Miene annahm, als ob er eben das schon seit langem gedacht und sehr froh sei, es zu hören, aber im Grunde genommen begriff er nichts, und dies augenscheinlich nicht etwa, weil Nechljudow sich nicht klar ausdrückte, sondern weil sich aus diesem Projekt ergab, daß Nechljudow auf seinen Vorteil zugunsten der anderen verzichtete; indessen aber war die Wahrheit, daß jeder Mensch nur für seinen eigenen Vorteil – zum Nachteil für die anderen – sorgt, so fest in dem Bewußtsein des Arbeitsaufsehers eingewurzelt, daß er annahm, er verstehe etwas nicht recht, als Nechljudow darüber sprach, daß die ganze Einnahme vom Lande in das Gemeindekapital der Bauern einfließen sollte.

»Verstanden. Sie wollen also von diesem Kapital Prozente erheben?« sagte er, ganz aufstrahlend.

»Aber nein doch. Verstehen Sie mich: ich trete ihnen das Land ganz ab.«

»Dann werden Sie ja gar kein Einkommen haben?« fragte der Arbeitsaufseher und hörte zu lächeln auf.

»Ich verzichte eben darauf.«

Der Arbeitsaufseher seufzte schwer, und dann fing er wieder an zu lächeln. Jetzt begriff er es. Er sah ein, daß Nechljudow nicht ganz bei gesundem Verstande sei, und sogleich begann er in dem Projekt Nechljudows, der auf das Land verzichten wollte, nach einer Möglichkeit zu suchen, daß er persönlich einen Nutzen davon haben könnte, und durchaus wollte er das Projekt so auffassen, daß er selbst sich das abgetretene Land zu Nutzen machen könne.

Als er aber einsah, daß auch das unmöglich sei, fühlte er sich gekränkt, und hörte auf, sich für das Projekt zu interessieren, und nur dem Herrn zu Gefallen fuhr er fort zu lächeln.

Da Nechljudow merkte, daß der Arbeitsaufseher ihn nicht begriff, entließ er ihn und setzte sich an den zerschnittenen, mit Tinte begossenen Tisch, um sich an die Darlegung seines Projekts auf dem Papier zu machen.

Als er seine Notiz beendigt hatte, und gleichzeitig die aus dem Dorfe herschallenden Töne – das Blöken der Herden, das Knarren der aufgehenden Tore und das Gerede der sich versammelnden Bauern – hörte, sagte Nechljudow dem Arbeitsaufseher, es sei nicht nötig, die Bauern zum Kontor zu rufen, er wolle selber ins Dorf nach dem Hause gehen, wo die Bauern sich versammeln würden. In Eile trank Nechljudow ein ihm vom Arbeitsaufseher angebotenes Glas Tee und ging ins Dorf.

 

Über dem Haufen bei dem Hofe des Dorfschulzen schwebte ein Gemurmel, – aber sobald Nechljudow sich näherte, verstummte das Gemurmel, und die Bauern, alle, einer nach dem anderen, ebenso wie in Kusjminskoje, nahmen die Mützen ab.

Nechljudow nahm sich zusammen und fing seine Rede damit an, daß er den Bauern seine Absicht erklärte, ihnen das Land gänzlich abzugeben. Die Bauern schwiegen, und in dem Ausdruck ihrer Gesichter zeigte sich keine Veränderung.

»Weil ich glaube,« sprach Nechljudow errötend, »daß jedermann ein Recht habe, das Land zu benutzen.«

»Bekannte Sache. Ganz genau so ist's«, ließen sich die Stimmen der Bauern vernehmen.

Nechljudow fuhr fort, darüber zu sprechen, wie die Einnahmen von dem Boden unter alle verteilt werden müssen, und daher biete er ihnen an, das Land zu nehmen und für dasselbe einen Preis, welchen sie selber bestimmen sollten, in das Gemeindekapital zu zahlen, das eben sie auch verwenden würden. Es ließen sich immer noch Worte der Billigung und des Einverständnisses hören, aber die ernsten Gesichter der Bauern wurden immer ernster und ernster, und die Augen, die zuerst auf den Herrn geblickt, senkten sich jetzt zur Erde, als ob sie ihn nicht beschämen wollten, da seine Hinterlist von allen durchschaut werde, und er hier niemand betrügen könne.

Nechljudow sprach ziemlich klar, und die Bauern waren verständige Leute, aber den Nechljudow verstanden sie nicht, und konnten ihn nicht verstehen, aus demselben Grunde, aus welchem ihn der Arbeitsaufseher lange nicht verstehen konnte. Sie waren fest davon überzeugt, daß es jedem Menschen eigen ist, seinen Vorteil zu beobachten. Wenn darum der Gutsbesitzer sie herbeiruft und ihnen etwas Neues vorschlägt, so geschieht dies augenscheinlich nur, um sie irgendwie noch schlauer zu betrügen.

»Nun, wie ist es denn, mit wieviel Steuer wollt ihr das Land belegen?« fragte Nechljudow.

»Wozu brauchen wir es denn zu belegen? Wir können das nicht. Das Land ist Ihr, und die Macht ist Ihr«, antwortete man aus dem Haufen.

»Aber nein, ihr werdet ja selber dies Geld gebrauchen für Gemeindebedürfnisse.«

»Das können wir nicht. Die Gemeinde ist was Apartes, und das ist wieder was Apartes.«

»Versteht doch,« sagte lächelnd der nach dem Nechljudow gekommene Arbeitsaufseher, der die Sache klar machen wollte, »daß der Fürst euch das Land für Geld gibt, dies Geld aber wird wiederum in euer Kapital für die Gemeinde abgegeben.«

»Wir verstehen sehr gut«, sagte ein zahnloser, ärgerlicher Alter, ohne die Augen zu erheben. »In der Art, wie in der Bank, nur müssen wir zahlen und Termin halten. Das wollen wir nicht, weil es uns so wie so schwer ist; dann aber heißt es, ganz zugrunde gehen.«

»Unnütz ist das. Wir wollen lieber, wie früher«, fingen unzufriedene und sogar grobe Stimmen an.

Besonders lebhaft begann man sich zu weigern, als Nechljudow erwähnte, daß er einen Vertrag aufsetzen werde, den er unterschreiben würde, und den sie unterschreiben müßten.

»Wozu denn unterschreiben? Wie wir gearbeitet haben, so werden wir weiter arbeiten. Aber wozu ist das noch? Wir sind unwissende Leute.«

»Wir sind nicht einverstanden, weil die Sache ungewohnt ist. Wie es gewesen, so laß es weiter sein. Wenn nur das Saatkorn aufgehoben würde! . . .« ließen sich Stimmen hören.

Das Saatkorn aufheben – bedeutete, daß bei der jetzigen Ordnung die Saat auf den Halbpartstreifen von den Bauern geliefert werden mußte, und sie baten nun, daß das Saatkorn herrschaftlich sein sollte.

»Ihr lehnt es also ab? Wollt das Land nicht nehmen?«

»Nun, so überlegt doch noch, was ich euch gesagt habe«, sprach Nechljudow verwundert und wiederholte seinen Vorschlag.

»Wir haben nichts zu überlegen, wie wir gesagt haben, so wird es auch sein«, brachte der zahnlose, finstere Alte ärgerlich hervor.

»Ich verweile hier noch morgen, einen Tag, – wenn ihr euch anders besinnt, so schickt mir Bericht.«

Die Bauern antworteten nichts.

Und so konnte Nechljudow nichts erreichen und ging zurück in das Kontor.

»Aber ich will Ihnen vermelden, Fürst,« sagte der Arbeitsaufseher, als sie nach Hause zurückgekehrt waren, »daß Sie mit ihnen nicht übereinkommen werden. Ein starrköpfiges Volk. Und sobald der Bauer auf der Versammlung ist – stemmt er sich, und du wirst ihn nicht vom Fleck bewegen. Weil sie alles fürchten. Diese selben Bauern, zum Beispiel jener grauhaarige, oder der schwarze, der nicht einverstanden war, sie sind ja kluge Bauern. Wenn er in das Kontor kommt, du ihn hinsetzt, Tee zu trinken,« sprach der Arbeitsaufseher lächelnd, »und er ins Gespräch kommt, – ungemein klug! Ein Minister! – Alles wird er erwägen, wie es sein soll. Auf der Versammlung ist er ein ganz anderer Mensch, verbeißt sich an einer Sache . . .«

»Also, könnte man nicht solche, – die verständigsten Bauern, einige etwa, hierher rufen?« fragte Nechljudow, »ich würde es ihnen ausführlich auseinandersetzen.«

»Das kann man«, sagte der lächelnde Arbeitsaufseher und lächelte noch freudiger, »auf morgen werde ich sie herbestellen.«

 

Als Nechljudow nach Hause zurückkehrte, fand er in dem für sein Nachtquartier hergerichteten Kontor ein hohes Bett mit Daunenpfühlen, zwei Kissen und einer dunkelroten, zweischläfrigen, fein und mit Figuren gesteppten, sich nicht biegenden, seidenen Bettdecke, – augenscheinlich aus der Aussteuer der Arbeitsaufseherin. Der Arbeitsaufseher bot dem Nechljudow den Rest des Mittagessens an, aber er bekam eine abschlägige Antwort, er entschuldigte sich wegen der schlechten Bewirtung und Ausstattung und entfernte sich, indem er den Nechljudow allein ließ.

Die Weigerung der Bauern brachte den Nechljudow gar nicht aus der Fassung. Im Gegenteil, trotzdem man dort, in Kusjminskoje, seinen Vorschlag angenommen und die ganze Zeit gedankt hatte, hier aber ihm Mißtrauen und sogar Feindseligkeit zeigte, fühlte er sich ruhig und freudig. In dem Kontor war es schwül und nicht sauber. Nechljudow ging in den Hof hinaus und wollte in den Garten gehen, aber er erinnerte sich an jene Nacht, das Fenster in der Mädchenstube, den hinteren Flur, – und ihm war es unangenehm, an den durch die frevelhaften Erinnerungen entweihten Ort zu gehen. Er setzte sich auf die Freitreppe, und den die warme Luft erfüllenden starken Geruch der jungen Birkenblätter einatmend, sah er lange auf den dunkel werdenden Garten und horchte auf die Mühle, die Nachtigallen und noch auf irgend einen Vogel, der in dem Strauch, grade neben dem Flur, eintönig pfiff. Neben dem Geräusch des Wassers an der Mühle wurde Gänsegeschnatter hörbar, und dann begannen in dem Dorfe und auf dem Hofe des Arbeitsaufsehers die frühen Hähne zu rufen, wie sie gewöhnlich in den heißen Gewitternächten vorzeitig krähen. Es gibt ein Sprichwort, daß die Hähne, wenn sie früh schreien, eine lustige Nacht ansagen. Für Nechljudow war diese Nacht mehr als lustig. Das war für ihn eine freudige, glückliche Nacht. Die Einbildungskraft rief ihm die Eindrücke jenes glücklichen Sommers zurück, den er hier als unschuldiger Jüngling zugebracht, und er fühlte sich jetzt so, wie er nicht nur damals, sondern in allen besten Minuten seines Lebens gewesen. Er erinnerte sich nicht nur, sondern er fühlte sich, wie er damals gewesen, als er als vierzehnjähriger Knabe zu Gott betete, daß Gott ihm die Wahrheit offenbare, oder wie er als Kind, auf dem Schoße der Mutter, weinte, wenn er fortgehen sollte und ihr versprach, immer gut zu sein und sie nie zu betrüben.

Dem Nechljudow fiel ein, wie er in Kusjminskoje begonnen hatte, über sein Leben nachzudenken und die Fragen zu entscheiden, was und wie er weiter tun werde, und er erinnerte sich, wie er sich in diesen Fragen verwickelt hatte, – und sie nicht entscheiden konnte, – so viele Erwägungen lagen bei jeder Frage vor. Er stellte sich jetzt wieder diese Fragen und wunderte sich, wie einfach alles war. Es war einfach, weil er jetzt nicht darüber nachdachte, was aus ihm werde; es interessierte ihn sogar nicht; er dachte nur darüber nach, was er tun solle. Und – wunderbare Sache! Was er für sich brauche, konnte er durchaus nicht entscheiden, was man aber für die anderen tun müsse, das wußte er, ohne zu zweifeln. Er mußte jetzt unzweifelhaft, daß man den Bauern das Land abgeben müsse, weil es schlecht war, es zu behalten. Er wußte unzweifelhaft, daß er die Katjuscha nicht verlassen, ihr helfen, zu allem bereit sein müsse, um seine Schuld gegen sie zu sühnen. Er wußte unzweifelhaft, daß er alle diese Sachen, die Gerichte und Strafen betreffen, studieren, untersuchen, sich klar machen, begreifen müsse: er fühlte, daß er da etwas sehe, das die anderen nicht sahen. Was aus alledem werden würde, wußte er nicht, dagegen wußte er unzweifelhaft, daß er dieses und jenes und das dritte unumgänglich tun müsse. Und diese feste Überzeugung machte ihn freudig.

›Ja, ja!‹ dachte er, ›das, was durch unser Leben erfüllt wird, das ganze Werk, der ganze Sinn davon ist unbegreiflich und kann mir nicht begreiflich sein: warum waren die Tantchen da? Und ich lebe? Warum war die Katjuscha da? Und meine Verrücktheit? Warum war der Krieg? Und mein ganzes folgendes wüstes Leben? Alles das zu begreifen, das ganze Werk des Herrn zu begreifen, liegt nicht in meiner Macht. Seinen Willen aber zu tun, der in meinem Gewissen geschrieben steht, liegt in meiner Macht, und daß weiß ich unzweifelhaft. Und wann ich ihn tue, bin ich unzweifelhaft ruhig.‹

Nechljudow kehrte in das Zimmer zurück, entkleidete sich und legte sich in das Bett, nicht ohne Befürchtungen vor den Wanzen, deren Gegenwart die von den Wänden abgerissenen schmutzigen Papierfetzen ahnen ließen.

›Ja, sich nicht als ein Herr, sondern als ein Knecht fühlen‹, dachte er, und er freute sich an diesem Gedanken.

Seine Befürchtungen erfüllten sich. Kaum hatte er das Licht gelöscht, als das Ungeziefer ihn bedeckte und zu beißen begann.

›Das Land abgeben, nach Sibirien fahren, – Flöhe, Wanzen, Unsauberkeit. Nun, was ist zu tun? Wenn man das ertragen muß, so ertrage ich's.‹ Aber trotz allem guten Willen konnte er es nicht ertragen, und er setzte sich an das geöffnete Fenster und sah auf die entfliehende Wolke und auf den sich wieder zeigenden Mond.

 

Erst gegen Morgen schlief Nechljudow ein, und darum wachte er am anderen Tage spät auf.

Mittags kamen die sieben gewählten Bauern, von dem Arbeitsaufseher eingeladen, in den Baumgarten unter die Apfelbäume, wo von dem Arbeitsaufseher ein Tischchen auf in die Erde eingerammten kleinen Pfosten und Bänke eingerichtet waren. Ziemlich lange mußte man den Bauern zureden, die Mützen aufzusetzen und auf den Bänken Platz zu nehmen.

Ein gewesener Soldat, mit sauberen Fußlappen und Bastschuhen beschuht, hielt besonders hartnäckig seine zerrissene Mütze vor sich, nach der Regel, wie man sie »zum Gebet« hält.

Als aber einer von ihnen, ein breitschultriger Greis von ehrwürdigem Aussehen mit lockigem, halbergrautem Bart, wie beim Moses von Michel Angelo, seine große Mütze aufsetzte und sich, den neuen zu Hause gemachten Kaftan überschlagend, durchdrängte, als er sich auf der Bank niederließ, folgten die übrigen seinem Beispiel. Als alle Platz gefunden, setzte sich Nechljudow ihnen gegenüber, und die Ellbogen auf den Tisch über dem Papier gestützt, wo der Entwurf des Projekts aufgeschrieben war, fing er an, ihn darzulegen.

War es nun, weil weniger Bauern da waren, oder, weil er nicht mit sich, sondern mit der Sache beschäftigt war, Nechljudow fühlte diesmal keine Befangenheit. Unwillkürlich wandte er sich vorzüglich an den breitschultrigen Greis mit den weißen Bartlocken, von ihm Billigung oder Erwiderung erwartend. Aber die Vorstellung, welche sich Nechljudow von ihm gemacht, war irrtümlich. Der wohlgestaltete Greis, obgleich er auch mit seinem schönen Patriarchenkopf billigend nickte, oder ihn stirnrunzelnd schüttelte, wenn die anderen etwas erwiderten, begriff augenscheinlich nur mit großer Mühe, was Nechljudow sprach, und dies nur dann, wenn die anderen Bauern dasselbe in ihrer Sprache wiedergaben. Weit mehr verstand Nechljudows Worte ein kleiner, einäugiger, in einen geflickten Nankingkaftan und alte, schief getretene Stiefel gekleideter, fast bartloser Alter, der neben dem patriarchenhaften Alten saß und ein Ofensetzer war, wie Nechljudow nachher erfuhr. Ebenso schnell begriff auch ein nicht hochgewachsener, stämmiger Alter mit weißem Bart und glänzenden klugen Augen, der jede Gelegenheit benutzte, um scherzhafte, ironische Bemerkungen zu Nechljudows Worten einzuschalten und augenscheinlich damit prunkte. Auch der gewesene Soldat hätte, wie es schien, die Sache verstehen können, wenn er nicht durch das Soldatentum verdummt wäre und sich in den Gewohnheiten der sinnlosen soldatischen Sprache verwirrt hätte. Am ernstesten verhielt sich zur Sache ein in tiefem Baß sprechender, langnasiger, hochgewachsener Mann mit kleinem Bart, in sauberer, zu Hause gemachter Kleidung und neuen Bastschuhen.

Dieser Mann begriff alles und sprach nur dann, wenn es nötig war. Die übrigen zwei Alten – einer, derselbe Zahnlose, der gestern auf der Versammlung entschieden abschlägige Antworten auf alle Vorschläge Nechljudows hinausschrie – und der andere – ein hochgewachsener, weißer, hinkender Alter mit gutmütigem Gesicht, in Bauernschuhen auf den straff mit den weißen Fußlappen umwickelten mageren Beinen – beide schwiegen fast die ganze Zeit, obgleich sie aufmerksam zuhörten.

Nechljudow äußerte zuerst seine Ansicht über das Grundeigentum.

»Land darf man, meiner Meinung nach, weder verkaufen noch kaufen, weil, wenn man es verkaufen darf, diejenigen, die Geld haben, das ganze Land aufkaufen, und dann werden sie von demjenigen, der kein Land hat, für das Recht, es zu benutzen, so viel nehmen, wie sie wollen; sie werden Geld dafür nehmen, daß man auf der Erde stehen dürfe«, fügte er hinzu, sich des Arguments von Spencer bedienend.

»Das einzige Mittel, damit sie nicht fliegen, ist, ihnen die Flügel zu binden«, sagte der Alte mit den lachenden Augen und dem weißen Bart.

»Das ist richtig«, sagte der Langnasige in tiefem Baß.

»Jawohl«, sagte der gewesene Soldat.

»Unser eigenes Land ist fünf Werst weit, etwas in Pacht zu nehmen aber – das ist für uns nicht zu erschwingen: den Preis hat man so hinaufgeschraubt, daß du ihn nicht einmal hereinbringst,« fügte der zahnlose, ärgerliche Alte hinzu; »sie drehen Stricke aus uns, wie sie wollen, schlimmer als die Frohne.«

»Ich denke ebenso wie ihr,« sagte Nechljudow, »und halte es für eine Sünde, das Land zu besitzen. Und nun will ich es abgeben.«

»Was denn? Das ist gut«, sagte der Alte mit den Moseslocken, indem er augenscheinlich daran dachte, daß Nechljudow es verpachten wolle.

»Ich bin eben darum hierher gefahren; ich will kein Land mehr besitzen, aber man muß erst überlegen, wie man es los wird.«

»Gib es doch den Bauern, und damit fertig!« sagte der zahnlose ärgerliche Alte.

»Ich wäre froh, es abzugeben,« sagte er, »aber wem und wie? Welchen Bauern? Warum eurer Gemeinde und nicht der Djominskoje-Gemeinde?« (Dies war ein benachbartes Pfarrdorf mit bettelhaften Landparzellen.)

Alle schwiegen. Nur der gewesene Soldat sagte: »Jawohl.«

»Nun gut,« sagte Nechljudow, »sagte mir, wenn man das Land den Bauern verteilen sollte . . . wie würdet ihr es machen?«

»Wie wir es machen würden? Wir würden alles nach der Seelenzahl verteilen, allen zu gleichen Teilen«, sagte der Ofensetzer, rasch die Augenbrauen aufziehend und senkend.

»Wie denn anders? Nach den Seelen verteilen«, bekräftigte der gutmütige, hinkende Alte mit den weißen Fußlappen.

Alle bestätigten diese Entscheidung, die sie befriedigend fanden.

»Aber wie nach der Seelenzahl?« fragte Nechljudow. »Soll man es auch dem Hofgesinde verteilen?«

»Durchaus nicht«, sagte der gewesene Soldat. Aber der bedachtsame, hochgewachsene Bauer war mit ihm nicht einverstanden.

»Wenn man schon teilt, so muß man allen zu gleichen Teilen geben«, antwortete er in seinem tiefen Baß nach einigem Nachdenken.

»Es geht nicht«, begann Nechljudow seine schon im voraus vorbereitete Erwiderung. »Wenn man es allen gleichmäßig verteilte, so würden alle, die selber nicht arbeiten, nicht ackern, ihren Anteil nehmen und den Reichen verkaufen. Und so wird sich das Land wieder bei den Reichen sammeln. Bei denjenigen aber, die auf eigenen Anteilen sitzen, werden wieder mehr Leute zur Welt kommen, aber das Land ist schon vergriffen. Wieder werden die Reichen diejenigen in ihre Hände kriegen, die das Land brauchen.«

»Jawohl«, bestätigte eilig der Soldat.

»Man muß verbieten, daß man das Land verkaufe, und nur der hat es, der selber ackert«, sagte der Ofensetzer, ärgerlich den Soldaten unterbrechend.

Darauf erwiderte Nechljudow, daß es unmöglich sei, aufzupassen, ob man für sich oder für einen anderen ackert.

Dann schlug der hochgewachsene, bedachtsame Alte vor, es so einzurichten, daß alle im Artell pflügen sollen. Und wer ackert, dem soll man einen Teil davon geben. »Wer aber nicht ackert, der hat nichts«, brachte er in seinem entschiedenen Baß vor.

Auch gegen dieses kommunistische Projekt waren beim Nechljudow Argumente fertig, und er erwiderte: es sei dazu erforderlich, daß alle Pflüge hätten, daß die Pferde gleich gut seien, und daß die einen hinter den anderen nicht zurückblieben; oder daß alles – Pferde, Pflüge, Dreschmaschinen, und die ganze Wirtschaft gemeinsam wäre, aber um alles das einzurichten, sei es nötig, daß alle Leute einverstanden seien.

»Unser Volk wirst du nie im Leben zum Einverständnis bringen«, sagte der ärgerliche Alte.

»Da geht lauter Schlägerei los«, sagte der Alte mit dem weißen Bart und den lachenden Augen. »Die Weiber werden einander alle Augen auskratzen.«

»Dann – wie soll man den Boden nach der Qualität verteilen?« sagte Nechljudow. »Warum sollen die einen Humus bekommen, die anderen aber Lehm und Sand?«

»Aber in kleine Parzellen zu verteilen, damit alle gleich haben«, sagte der Ofensetzer.

Darauf erwiderte Nechljudow, daß es sich nicht um die Verteilung innerhalb einer Gemeinde handele, sondern um die Bodenverteilung in verschiedenen Gouvernements. Wenn man das Land den Bauern umsonst abgebe, warum denn sollen die einen guten Boden besitzen, die anderen schlechten? Alle werden Lust haben, auf guten Boden zu kommen.

»Jawohl«, sagte der Soldat.

Die übrigen schwiegen.

»Also ist es nicht so einfach, wie es scheint«, sagte Nechljudow.

»Aber du bist ja Herr, also gib es nur ab, was brauchst du dich weiter zu kümmern. Dein Wille ist es«, sagte der ärgerliche Alte.

Diese Unterbrechung verwirrte den Nechljudow, aber zu seinem Vergnügen bemerkte er, daß nicht er allein mit dieser Unterbrechung unzufrieden war.

»Warte nur, Onkel Semjon, – laß ihn erzählen«, sagte der bedachtsame Bauer in seinem eindringlichen Baß.

Dies ermunterte den Nechljudow. »Das Land ist niemandes, ist Gottes«, fing er an.

»Das ist so, jawohl«, antworteten einige Stimmen.

»Das ganze Land ist gemeinsam. Alle haben darauf das gleiche Recht. Aber es gibt besseres und schlechteres Land. Und jedermann wünscht das gute zu nehmen. Wie soll man denn tun, um das auszugleichen? Nun so, daß wer gutes Land besitzt, denjenigen zahlt, die kein Land besitzen, so viel wie sein Land kostet«, antwortete Nechljudow sich selber. »Da es aber schwer ist, zu repartieren, wer wem zu zahlen habe, und da man doch Geld für die gemeinschaftlichen Bedürfnisse sammeln muß, so muß man es so einrichten, daß derjenige, der das Land besitzt, an die Gemeinde für die mannigfachen Bedürfnisse zahlt, was sein Land kostet. So werden alle gleich haben. Willst du das Land besitzen, so zahle für das gute Land mehr, für das schlechte weniger. Willst du aber keins besitzen, zahlst du nichts; die Abgaben für die gemeinschaftlichen Bedürfnisse zahlen für dich diejenigen, die das Land besitzen.«

»Das ist richtig«, sagte der Ofensetzer, die Augenbrauen bewegend. »Wer besseres Land hat, der zahle mehr.«

»Wäre nur die Abgabe den Kräften nach«, sagte der Hochgewachsene im Baß, der augenscheinlich schon ahnte, worauf es ankomme.

»Die Abgabe muß so sein, daß sie nicht zu teuer und nicht zu billig wäre. Wenn sie zu teuer wäre, so würde man sie nicht bestreiten können und Schaden haben, wenn aber zu billig, so würden alle einander kaufen, mit dem Land handeln.«

»Das ist richtig, das ist wahr. Warum denn nicht,« sprachen die Bauern.

»Nun aber, wie ist es denn, wenn ich wünschte Land zu nehmen?« sagte der Arbeitsaufseher lächelnd.

»Wenn es ein freies Stück gibt, so nehmen Sie es und arbeiten Sie«, sagte Nechljudow.

»Wozu brauchst du es? Du bist so wie so satt«, sagte der Alte mit den lächelnden Augen.

Hier war die Beratung zu Ende.

Nechljudow wiederholte noch einmal seinen Vorschlag, aber verlangte nicht sofort Antwort, und riet ihnen, erst mit der Gemeinde zu sprechen und dann zu kommen und ihm Antwort zu geben.

Die Bauern sagten, daß sie mit der Gemeinde sprechen und Antwort bringen wollten, verabschiedeten sich und gingen in aufgeregter Verfassung weg.

Am anderen Tage arbeiteten die Bauern nicht, sie berieten den Vorschlag des Herrn. Die Gemeinde teilte sich in zwei Parteien: die eine hielt den Vorschlag des Herrn für vorteilhaft und gefahrlos, die andere sah darin eine Hinterlist, deren Wesen sie nicht begreifen konnten, und die sie daher besonders fürchteten. Am dritten Tage willigten dennoch alle ein, die angebotenen Bedingungen anzunehmen und kamen zum Nechljudow, ihm den Beschluß der ganzen Gemeinde kund zu machen. Auf diese Einwilligung war von Einfluß die von einem alten Mütterchen ausgesagte, von den Alten angenommene jede Befürchtung eines Betrugs vernichtende Erklärung der Handlung des Herrn, die darin bestand, daß der Herr um seine Seele zu sorgen beginne und wegen seines Seelenheils so handle. Diese Erklärung wurde durch die großen Almosen bestätigt, die Nechljudow während seiner Anwesenheit in Panowo verteilte.

Am letzten Tage seines Aufenthalts in Panowo ging Nechljudow in das Haus und machte sich ans Durchsuchen der hinterlassenen Sachen. Als er sie durchsuchte, fand er in der unteren Schublade einer alten bäuchigen Mahagonichiffonière mit Bronzeringen in Löwenköpfen, die den Tantchen angehört, viele Briefe, und unter ihnen eine Photographie, die eine Gruppe darstellte: Sophie Iwanowna, Maria Iwanowna, ihn selber als Studenten und Katjuscha, die reine, frische, freudige und lebensfrohe Katjuscha. Von allen Sachen, die im Hause waren, nahm Nechljudow nur die Briefe und dieses Bild. Das übrige überließ er einem Müller, der für ein Zehntel des Wertes das Haus und das ganze Mobilar von Panowo zum Abbruch und zum Wegführen kaufte.

Als Nechljudow jetzt seines Bedauerns wegen des Eigentumsverlustes gedachte, welches er in Kusjminskoje empfunden hatte, staunte er, wie er dieses Gefühl haben konnte; jetzt empfand er eine fortwährende Freude der Befreiung und ein Gefühl des Neuen, dem ähnlich, welches ein Reisender erfahren soll, wenn er neue Länder entdeckt.

 

Die Stadt frappierte Nechljudow bei seinem diesmaligen Kommen besonders seltsam und auf eine neue Art. Er kam abends bei schon angezündeten Laternen vom Bahnhof in seine Wohnung gefahren. Über allen Zimmern lag noch der Naphtalingeruch, und Agrafena Petrowna und Kornej fühlten sich beide abgemattet und unzufrieden. Nechljudows Zimmer war nicht in Anspruch genommen, aber auch nicht aufgeräumt, und die Durchgänge dazu waren wegen der Koffer schwierig; er beschloß, schon am anderen Tag in ein Gasthaus umzuziehen, indem er der Agrafena Petrowna überließ, die Sachen zu versorgen, wie sie es für nötig fand, bis zur Ankunft der Schwester; die würde definitive Anordnungen treffen über alles, was in dem Hause war.

Nechljudow ging früh aus dem Hause, wählte sich nicht weit vom Gefängnis unter den ersten besten, sehr bescheidenen und ziemlich schmutzigen möblierten Zimmern eine Wohnung aus zwei Zimmern bestehend, und nachdem er angeordnet hatte, daß man die von ihm zu Hause ausgewählten Sachen dorthin transportiere, ging er zum Advokaten.

Auf der Straße war es kalt. Es war so kalt, und es ging ein so durchdringender Wind, daß es Nechljudow in dem leichten Überzieher fror, und daß er den Schritt fortwährend beschleunigte, in dem Bemühen, sich zu erwärmen.

In seiner Erinnerung waren die Dorfleute, Frauen, Kinder, Alte, deren Armut und Gequältheit er gleichsam jetzt zum ersten Male wahrgenommen hatte. Und unwillkürlich verglich er damit, was in der Stadt war. Als er an den Fleisch- und Fischläden, an den Läden mit fertigen Kleidern vorbeiging, war er betroffen von der Sattheit der ungeheueren Menge so sauberer und fetter Ladenbesitzer, denen ähnlich es im Dorfe keinen einzigen Menschen gibt. Diese Leute waren offenbar fest überzeugt, daß ihre Bemühungen, diejenigen zu betrügen, die nicht Kenner ihrer Waren seien, keine müßige, sondern eine sehr nützliche Beschäftigung bildeten.

Auf einer der Straßen traf Nechljudow einen Zug Lastfuhrleute an, die irgend welches Eisen fuhren und so schrecklich mit dem Eisen auf dem unebenen Pflaster rasselten, daß die Ohren ihm weh taten und der Kopf. Er beschleunigte den Schritt, um den Zug zu überholen, als er plötzlich durch das Gerassel des Eisens seinen Namen hörte. Er blieb stehen und sah ein wenig vor sich einen Militär mit spitzigem, zusammengeklebtem Schnurrbart und mit blankem, strahlendem Gesicht, der in der Droschke eines Fiakers saß und ihm bewillkommnend mit der Hand winkte, indem er beim Lächeln die ungewöhnlich weißen Zähne aufdeckte.

»Nechljudow, bist du es?«

Das erste Gefühl Nechljudows war Vergnügen.

»Ah, Schenbock«, brachte er freudig hervor, aber sogleich begriff er, daß gar keine Ursache da war, sich zu freuen.

Es war derselbe Schenbock, der damals zu den Tantchen gefahren kam. Nechljudow hatte ihn schon lange aus dem Auge verloren, aber hörte von ihm, daß er das Regiment verlassen habe, doch bei der Kavallerie geblieben sei und sich immer noch trotz seiner Schulden durch irgend welche Mittel im Kreise der reichen Leute hielt. Sein zufriedenes, heiteres Aussehen bestätigte das.

»Das ist ja gut, daß ich dich erwischt habe. Sonst aber gibt's niemand in der Stadt. Nun, Bruder, du bist aber alt geworden«, sprach er, von der Droschke steigend und seine Schultern reckend. »Ich habe dich nur an dem Gang erkannt. Nun, wie ist es denn, wollen wir zusammen zu Mittag essen?«

»Ich weiß nicht, ob ich Zeit habe«, antwortete Nechljudow und dachte nur darüber nach, wie er den Kameraden los werden könnte, ohne ihn zu beleidigen.

»Warum bist du hier?« fragte er.

»Geschäfte, Brüderchen, Geschäfte wegen der Kuratel. Ich bin ja Kurator. Ich verwalte die Geschäfte Samanows. Kennst du den reichen Samanow? Er ist »ramolli«. Hat aber vierundfünfzigtausend Deßjatinen Boden«, sagte er mit besonderem Stolz, als ob er alle diese Deßjatinen selber gemacht habe. »Seine Sachen waren fürchterlich vernachlässigt. Das Land war bei den Bauern in Pacht. Sie zahlten nichts, der Rückstand betrug mehr als Achtzigtausend. Ich habe in einem Jahre alles geändert und der Kuratel 70 Prozent mehr verschafft. Aeh?« fragte er stolz.

Nechljudow erinnerte sich, daß er gehört hatte, wie dieser Schenbock, gerade weil er sein ganzes Vermögen durchgebracht und unbezahlbare Schulden gemacht, dank irgend welcher besonderen Protektion zum Kurator über das Vermögen eines alten reichen Mannes bestellt worden, der sein Vermögen verpraßte; augenscheinlich lebte er jetzt von dieser Kuratel.

›Wie könnte ich ihn loswerden, ohne ihn zu beleidigen?‹ dachte Nechljudow.

»Nun, wo essen wir denn zu Mittag?«

»Aber ich habe keine Zeit«, sagte Nechljudow, die Uhr anblickend.

»Nun, in diesem Fall . . . Heute abend findet ein Pferderennen statt. Wirst du da sein?«

»Nein, ich werde nicht da sein.«

»Komm' doch. Eigene habe ich nicht mehr. Aber ich halte auf Grischas Pferde. Erinnerst du dich? Er hat einen schönen Pferdestall. Nun, fahre also vor, und wir essen dann zu Abend.«

»Auch zu Abend essen kann ich nicht«, sagte Nechljudow lächelnd.

»Nun, was ist denn das? Wohin gehst du jetzt? Willst du, ich nehme dich im Wagen mit.«

»Ich gehe zum Advokaten. Er wohnt da um die Ecke«, sagte Nechljudow.

»Ah, du tust ja etwas im Gefängnis? Bist ein Gefängnis-Fürsprecher geworden? Die Kortschagins haben mir's erzählt«, fing Schenbock lachend an. »Sie sind schon abgereist. Was ist das? Erzähle.«

»Ja, ja, das ist alles wahr«, antwortete Nechljudow. »Wie soll ich denn auf der Straße erzählen?«

»Nun ja, nun ja, du bist ja immer ein Sonderling gewesen. Wirst du also zum Rennen kommen?«

»Aber nein, ich kann nicht und will nicht. Du, sei mir nicht böse, bitte.«

»Na, böse sein! Wo logierst du?« fragte er, und sein Gesicht wurde plötzlich ernst.

»Das ist eine Kälte! Aeh?«

»Ja, ja.«

»Hast du die gekauften Sachen?« wandte sich Schenbock an den Mietskutscher.

»Nun, also, leb' wohl, ich bin sehr, sehr froh, daß ich dir begegnet bin«, sagte er, und nachdem er dem Nechljudow stark die Hand gedrückt, sprang er in die Droschke.

›Bin ich wirklich so einer gewesen?‹ dachte Nechljudow, indem er seinen Weg zum Advokaten fortsetzte. ›Ja, wenn auch nicht ganz so einer; aber ich wollte so einer sein, und ich dachte, daß ich so mein Leben verbringen würde.‹

 

Der Advokat empfing ihn außer der Reihe und kam sogleich ins Gespräch über die Sache der Menjschows, die er durchgelesen hatte; er war empört über die Grundlosigkeit der Anklage.

»Diese Sache ist empörend,« sprach er, »es ist sehr wahrscheinlich, daß die Brandstiftung von dem Besitzer selbst verübt wurde, um die Versicherungsprämie zu bekommen; aber jetzt kommt es nur darauf an, daß die Schuld der Menjschows vollkommen unbewiesen ist. Es gibt nicht eine überführende Tatsache. Das ist nur das besondere Talent des Herrn Untersuchungsrichters und die Nachlässigkeit des Staatsanwaltes. Wenn die Sache nur nicht in der Bezirksstadt verhandelt werden möchte; hier aber bürge ich Ihnen für den Erfolg und nehme kein Honorar. Nun die andere Sache: die Bittschrift der Fedossija Birjukowa an die allerhöchste Instanz ist aufgesetzt; wenn Sie nach Petersburg fahren, nehmen Sie sie mit, reichen Sie sie selber ein, und verwenden Sie sich. Sonst wird man eine schriftliche Anfrage machen, und es kommt nichts danach. Aber geben Sie sich Mühe, die Personen zu kriegen, die in der Bittschriftenkommission Einfluß haben. Nun, ist das jetzt alles?«

»Nein, aber das ist eine erschütternde Sache«, sagte Nechljudow und erzählte kurz das Wesentliche des Prozesses, das darin bestand, daß ein schriftkundiger Bauer im Dorfe das Evangelium zu lesen und seinen Freunden zu erklären begonnen hatte. Die Geistlichkeit hielt das für ein Verbrechen. Man denunzierte ihn. Der Untersuchungsrichter verhörte ihn, der Staatsanwalt setzte einen Anklageakt auf und das Appellationsgericht bestätigte die Anklage.

»Es ist etwas Schreckliches«, sprach Nechljudow. »Ist es wirklich wahr?«

»Was wundert Sie denn da?«

»Aber alles; nun, ich begreife einen Landpolizisten, dem man Ordre gegeben hat, aber der Staatsanwalt, der die Alten ausgesetzt hat . . . der ist ja ein gebildeter Mensch . . .«

»Da liegt ja eben der Fehler, daß wir gewohnt sind, zu glauben, die Prokuratur und überhaupt die Gerichtsbeamten, dies seien irgendwie neue liberale Menschen. Einmal sind sie es wohl gewesen, jetzt ist das aber ganz anders geworden. Das sind Beamte, die sich nur um den zwanzigsten des MonatsZahltag für die Kronbeamten. Anm. d. Übers. kümmern. Er bezieht sein Gehalt, und er hätte noch mehr nötig – das ist der ganze Inbegriff seiner Prinzipien. Er wird anklagen, richten, verurteilen, wen Sie wollen.«

»Aber existieren denn wirklich Gesetze, nach welchen man einen Menschen verschicken kann, nur dafür, daß er mit andern zusammen das Evangelium liest?«

»Nicht nur ›verschicken in nicht allzu entfernte Gegenden‹, sondern in Zwangsarbeit, wenn es bewiesen würde, daß sie sich beim Lesen des Evangeliums erlaubt haben, es den andern nicht so, wie es befohlen ist, auszulegen und somit die kirchliche Auslegung getadelt haben. Tadel gegen die rechtgläubige Konfession in Gegenwart anderer – das bedeutet nach Artikel so und so – Zwangsarbeit.«

»Aber das kann nicht sein.«

»Ich sage es Ihnen. Ich sage den Herren Gerichtsbeamten immer,« fuhr der Advokat fort, »daß ich sie nicht ohne Dankgefühl ansehen kann, denn wenn ich nicht im Gefängnis bin und Sie auch nicht, und wir alle nicht, so ist das nur ihrer Güte zu danken. Aber auf einen jeden von uns die Entziehung besonderer Rechte und den Paragraphen von ›den nicht allzu entfernten Gegenden‹ anzuwenden, ist die leichteste Sache von der Welt.«

»Aber wenn es so ist, und wenn alles von der Willkür des Prokureurs und der Person abhängt, die das Gesetz anwenden wollen oder nicht, wozu ist dann das Gericht da?«

Der Advokat brach in lustiges Lachen aus.

»Ja, solche Fragen stellen Sie? Nun, Väterchen, das ist Philosophie. Warum denn nicht? Man kann sich auch darüber ein wenig unterhalten. Fahren Sie nur am Samstag vor. Sie treffen bei mir Gelehrte, Literaten, Künstler. Dann sprechen wir über ›allgemeine Fragen‹«, sagte der Advokat, mit ironischem Pathos die Worte ›allgemeine Fragen‹ aussprechend. »Sind Sie mit meiner Frau bekannt? Fahren Sie vor.«

»Ja, ich will mir Mühe geben«, antwortete Nechljudow, fühlend, daß er eine Unwahrheit sage, und daß, wenn er wirklich für etwas, so nur dafür sorgen würde, am Abend beim Advokaten, inmitten der sich bei ihm versammelten Gelehrten, Literaten und Künstler nicht zu sein. Das Lachen, mit welchem der Advokat auf Nechljudows Bemerkung geantwortet, daß das Gericht keine Bedeutung habe, wenn die Gerichtsbeamten nach ihrer Willkür das Gesetz anwenden oder nicht anwenden können, und die Betonung, mit der er die Worte: »Philosophie« und »allgemeine Fragen« ausgesprochen, zeigte dem Nechljudow, wie ganz verschieden er und der Advokat und wahrscheinlich auch die Freunde des Advokaten die Sachen ansahen, und wie er, Nechljudow, sich, trotz seiner jetzigen Entfernung von seinen früheren Kameraden, wie Schenbock, noch viel entfernter von dem Advokaten und den Leuten seines Kreises fühle.

 

Bis zum Gefängnis war es noch weit, darum nahm Nechljudow einen Mietkutscher und fuhr zum Gefängnis. Auf einer der Straßen wandte sich der Mietkutscher, ein Mann von mittleren Jahren, mit klugem und gutmütigem Gesicht an den Nechljudow und zeigte ihm ein ungeheuer großes Haus, das gebaut ward.

»Sieh mal, was für ein großmächtiges Haus hat man hingeprotzt«, sagte er, als ob er ein Miturheber dieses Baues und stolz darauf wäre.

Es wurde dort wirklich ein kolossales Haus in irgend einem ungewöhnlichen, komplizierten Stil gebaut. Ein dauerhaftes Baugerüst aus großen Fichtenbalken, mit eisernen Klammern zusammengefaßt, umgab den zu errichtenden Bau und trennte denselben durch einen Bretterzaun von der Straße. Über die Stellagen des Baugerüstes wimmelten mit Kalk bespritzte Arbeiter wie Ameisen hin und her: die einen mauerten, die andern behauten Steine, die dritten trugen schwere Tragbahren und Kübel nach oben, leere hinab.

Ein dicker, schön gekleideter Herr, wahrscheinlich ein Architekt, der bei dem Baugerüst stand und nach oben auf etwas zeigte, sprach zu dem ehrerbietig zuhörenden Unternehmer. Durch das Tor, vorüber an dem Architekten und dem Unternehmer, rollten leere Fuhren heraus und beladene hinein.

»Und wie fest sind sie alle überzeugt, sowohl diejenigen, die arbeiten, wie auch diejenigen, die sie arbeiten lassen, daß es so sein müsse, daß – während ihre schwangeren Frauen zu Hause Kräfte übersteigende Arbeit tun, und ihre Kinder in den Häubchen, angesichts des baldigen kalten Todes, greisenhaft lächeln, die Beinchen krümmend, – sie diesen dummen, unnötigen Palast für irgend einen dummen, unnötigen Menschen bauen müssen, für einen derselben, die sie berauben und zu Grunde richten«, dachte Nechljudow, dieses Haus betrachtend.

»Ja, ein albernes Haus«, sprach er seinen Gedanken laut aus.

»Wie so albernes?« erwiderte der Mietkutscher beleidigt, »dank ihm! Es gibt dem Volk Arbeit, aber albern ist's nicht.«

»Aber die Arbeit ist ja keine notwendige.«

»Wenn man es baut, so ist sie folglich nötig«, erwiderte der Mietkutscher. »Das gibt den Leuten zu essen.«

»Und wie viel von diesem Volk wälzt sich heutzutage in die Stadt herein – fürchterlich!« sagte er, sich auf dem Kutschbock drehend, und den Nechljudow auf ein Artell von Dorfarbeitern aufmerksam machend, die mit Äxten, Halbpelzen und Säcken über den Schultern ihnen entgegen kamen.

»Mehr als in früheren Jahren?« fragte Nechljudow.

»Kein Vergleich; man drängt sich heutzutage so um alle Stellen, daß es ein Elend ist. Die Arbeitgeber werfen einander die Leute wie Holzspäne zu, überall ist's voll.«

»Warum ist denn das so?«

»Es hat sich sehr vermehrt. Man weiß nicht mehr wohin.«

»Was macht denn das, wenn es sich vermehrt hat? Warum bleibt man nicht im Dorf?«

»Im Dorf ist nichts zu tun. Man hat kein Land.«

»Aber kann man nicht Land in Pacht nehmen?«

»Wo soll man heutzutage etwas in Pacht nehmen? Die Herrchen, die früher da waren, haben den eigenen Boden durchgebracht. Die Kaufleute haben alles an sich gerafft. Bei ihnen wirst du nichts abkaufen, sie bewirtschaften es selber. Bei uns hat es ein Franzose, er hat's beim früheren Herrn gekauft; er will nichts in Pacht geben, und damit fertig.«

»Was für ein Franzose?«

»Ein Franzose – Dufar, vielleicht haben Sie von ihm gehört. Er macht im großen Theater Perrücken für die Komödiantinnen, – eine gute Beschäftigung – ist also reich geworden. Von unserem Gutsfräulein hat er dann das ganze Gut gekauft. Jetzt hat er uns in seiner Hand, er reitet auf uns, wie er nur will. Selber ist er ein guter Mann, gottlob. Aber die Frau von ihm – eine russische – so ein Hund, daß Gott bewahr'! Sie plündert das Volk! Ein wahres Elend! Nun, da ist auch schon das Gefängnis. Wohin wollen Sie? Zur Anfahrt? Man erlaubt's, glaub' ich, nicht.«

 

Mit Herzbeklemmung und Grausen vor dem Gedanken, in welcher Verfassung er heute die Maslowa finden werde, klingelte Nechljudow am Haupteingang und fragte den zu ihm herauskommenden Aufseher nach Maslowa. Der Aufseher erkundigte sich und sagte, daß sie im Krankenhause sei. Nechljudow ging ins Krankenhaus. Ein gutmütiger kleiner Alter, ein Krankenhauswächter, ließ ihn sogleich herein, und als er erfahren, wen Nechljudow sehen wollte, wies er ihn in die Kinderabteilung.

Der junge Arzt kam zum Nechljudow in den Korridor heraus und fragte ihn streng, was er wolle. Dieser Arzt erwies den Gefangenen allerlei Nachsicht und geriet daher fortwährend in unangenehme Kollisionen mit der Gefängnisobrigkeit und sogar mit dem Oberarzt. Da er befürchtete, daß Nechljudow von ihm etwas Ungesetzliches verlangen werde, und da er außerdem zeigen wollte, daß er für niemand Ausnahmen mache, stellte er sich ärgerlich.

»Hier gibt's keine Frauen, es sind die Kindersäle«, sagte er.

»Ich weiß, aber es ist hier eine aus dem Gefängnis übergeführte Gefangene, eine Krankenpflegerin.«

»Ja, hier gibt's zwei solche, also was wollen Sie denn?«

»Ich stehe einer von ihnen nahe, der Maslowa,« sagte Nechljudow, »und nun möchte ich sie sehen; ich fahre nach Petersburg, um eine Kassationsbeschwerde wegen ihrer Sache einzureichen, und ich wollte das hier ihr übergeben. Es ist nur eine Photographie«, sagte Nechljudow, ein Kuvert aus der Tasche nehmend.

»Warum nicht, das kann man«, sagte der Arzt, milder geworden; und sich an ein altes Mütterchen mit weißer Schürze wendend, sagte er, daß sie die Krankenpflegerin, die Arrestantin Maslowa rufen solle.

»Wollen Sie sich nicht setzen, oder wenigstens in das Empfangszimmer gehen?«

»Ich danke Ihnen«, sagte Nechljudow, und die für sich günstige Veränderung im Wesen des Arztes ausnützend, fragte er ihn, wie man im Krankenhause mit der Maslowa zufrieden sei.

»Leidlich, sie arbeitet nicht übel, wenn man die Bedingungen in Betracht zieht, in welchen sie sich befunden hat,« sagte der Arzt; »übrigens hier ist sie schon selber.«

Aus einer der Türen kam das alte Mütterchen und hinter ihr die Maslowa. Sie war in weißer Schürze über einem gestreiftem Kleide, auf dem Kopfe trug sie ein Tuch, das die Haare verbarg. Als sie Nechljudow gewahr wurde, errötete sie jäh, blieb stehen, gleichsam unschlüssig, dann aber machte sie ein finsteres Gesicht, ließ die Augen sinken und begab sich mit raschen Schritten zu ihm über den gestreiften Läufer des Korridors. Bei Nechljudow angelangt, wollte sie ihm die Hand nicht reichen, dann reichte sie sie doch und errötete noch mehr.

Nechljudow hatte sie nach jenem Gespräch, wo sie sich wegen ihrer Heftigkeit entschuldigte, nicht gesehen, und er erwartete sie ebenso zu finden, wie damals, aber heute war sie ganz anders; in dem Gesichtsausdruck lag etwas Neues, etwas Zurückhaltendes, Schüchternes, und wie es dem Nechljudow schien, ihm nicht Wohlwollendes. Er sagte ihr dasselbe, was er dem Arzt gesagt, daß er nach Petersburg fahre, und gab ihr das Kuvert mit der Photographie, die er aus Panowo mitgebracht.

»Das habe ich in Panowo gefunden, eine alte Photographie, vielleicht wird es Sie freuen. Nehmen Sie.«

Sie zog ihre schwarzen Augenbrauen etwas empor und blickte ihn mit ihren schielenden Augen verwundert an, als ob sie ihn fragte: wozu ist das? Und schweigend nahm sie das Kuvert und steckte es hinter die Schürze.

»Ich habe dort Ihre Tante gesehen«, sagte Nechljudow.

»Haben Sie sie gesehen?« fragte sie gleichgültig.

»Geht es Ihnen gut hier?« fragte Nechljudow.

»So, so, gut«, sagte sie.

»Nicht zu schwer?«

»Nein, es geht an. Ich bin es noch nicht gewohnt.«

»Ich bin sehr froh für Sie. Immer doch besser als dort.«

»Als wo dort?« fragte sie, und ihr Gesicht übergoß sich mit Röte.

»Dort, im Gefängnis«, beeilte sich Nechljudow zu sagen.

»In wiefern denn besser?« fragte sie.

»Ich glaube, hier sind die Leute besser, es gibt keine solchen wie dort.«

»Dort gibt es viele Gute«, sagte sie.

»Ich habe mich für die Menjschows verwendet, und ich hoffe, man wird sie frei lassen«, sagte Nechljudow.

»Das wolle Gott, so ein altes Mütterchen, ein wunderbares«, sagte sie, ihre Definition der Alten wiederholend und lächelte leicht.

»Heute fahre ich nach Petersburg. Ihre Sache wird bald verhandelt, und ich hoffe, das Urteil wird aufgehoben.«

»Ob man es aufhebt oder nicht aufhebt – jetzt ist es einerlei«, sagte sie.

»Warum jetzt?«

»So«, sagte sie, indem sie flüchtig und fragend in seine Augen blickte.

Nechljudow verstand dieses Wort und diesen Blick so, daß sie wissen wolle, ob er seinen Entschluß aufrecht erhalte, oder ob er ihre abschlägige Antwort angenommen und ihn geändert habe.

»Ich weiß nicht, warum es für Sie einerlei ist«, sagte er. »Für mich aber ist es wirklich einerlei: ob man Sie freispricht oder nicht. Ich bin in jedem Falle bereit, zu tun, wie ich gesagt habe«, sagte er entschieden.

Sie hob den Kopf empor, und ihre schielenden Augen blieben auf seinem Gesicht haften und sahen an ihm vorbei. Und ihr ganzes Gesicht erstrahlte vor Freude. Aber sie sagte etwas ganz anderes, als was ihre Augen sagten.

»Das sagen Sie umsonst«, sagte sie.

»Ich sage es, damit Sie es wissen.«

»Darüber ist schon alles gesagt, und es ist nichts mehr zu sprechen«, sagte sie, mit Mühe ein Lächeln zurückhaltend.

Im Krankensaal entstand ein Lärm, und es ließ sich Kinderweinen hören.

»Man ruft mich, scheint es«, sagte sie, sich unruhig umblickend.

»Nun, so leben Sie wohl«, sagte er.

Sie nahm eine Miene an, als ob sie die ausgestreckte Hand nicht bemerke, und ohne sie zu drücken, drehte sie sich um und bemüht, ihren Triumph zu verbergen, ging sie mit raschen Schritten über den gestreiften Läufer des Korridors fort.

»Was geht jetzt in ihr vor? Wie denkt sie? Wie fühlt sie? Will sie mich versuchen, oder kann sie mir wirklich nicht verzeihen? Kann sie nicht alles sagen, was sie denkt und fühlt, oder will sie es nicht? Ist sie milder geworden, oder verbitterter?« fragte sich Nechljudow und konnte durchaus nicht antworten. Eins, was er wußte, war, daß sie sich verändert hatte, daß in ihr eine für ihre Seele wichtige Wandlung vor sich ging, und daß diese Wandlung sie nicht nur mit ihm, sondern auch mit dem, in dessen Namen diese Umwandlung geschah, vereinigte. Und diese Vereinigung versetzte ihn in eine freudig-erregte und gerührte Verfassung.

Als sie in den Krankensaal zurückgekehrt war, wo acht Kinderbettchen standen, begann die Maslowa, auf Geheiß der Krankenschwester, eins der Lager umzubetten, und da sie sich mit dem Laken in der Hand zu weit überbog, glitschte sie aus und wäre fast gefallen.

Ein Knabe in der Rekonvaleszenz, mit umbundenem Hals, der sie anblickte, fing an zu lachen, und die Maslowa konnte nicht mehr an sich halten; sie setzte sich auf das Bett und brach in ein lautes und so ansteckendes Lachen aus, daß einige der Kinder ebenfalls zu lachen begannen, und daß die Krankenschwester sie ärgerlich anschrie.

»Was gackerst du? Du meinst wohl, du bist noch da, wo du herkommst! Geh, hol die Rationen.«

Die Maslowa verstummte, nahm das Geschirr und ging, wohin sie geschickt ward. Aber als sie mit dem verbundenen Knaben, dem das Lachen verboten war, einen Blick wechselte, schnaufte sie abermals vor Lachen.

Einigemal, sobald sie im Verlauf des Tages allein blieb, schob die Maslowa die Photographie aus dem Kuvert und weidete sich daran, aber erst am Abend, als ihr Tagesdienst zu Ende und sie allein in dem Zimmerchen war, wo sie mit der Krankenpflegerin zu zweit schlief, nahm die Maslowa die Photographie ganz aus dem Kuvert, und lange und unbeweglich, jede Einzelheit der Gesichter und der Kleidung, der Balkonstufen und der Sträucher, auf deren Hintergrund die Gesichter, – seines und ihres und die der Tantchen, – sich abhoben, mit den Augen liebkosend, betrachtete sie das verblaßte und vergilbte Bildchen und konnte sich nicht satt daran sehen, besonders an sich selbst, an ihrem eigenen jungen, schönen Gesicht, mit den sich um die Stirn kräuselnden Haaren. So sehr hatte sie sich beim Betrachten vergessen, daß sie nicht bemerkte, wie ihre Kameradin, die Krankenpflegerin, in das Zimmer trat.

»Was ist denn das? Hat er es dir gegeben?« fragte die dicke, gutmütige Krankenpflegerin, sich über die Photographie beugend. »Bist das wirklich du?«

»Wer denn sonst?« machte die Maslowa und sah lächelnd in die Augen der Kameradin.

»Und wer ist das? Er selber? Und ist das seine Mutter?«

»Die Tante. Würdest du mich nicht erkennen?« fragte die Maslowa.

»Wo erkennen? In meinem Leben würd' ich's nicht erkennen. 'n ganz ander Gesicht. Es sind ja wohl, glaub' ich, zehn Jahre her seitdem!«

»Nicht die Jahre, aber das Leben«, sagte die Maslowa, und plötzlich war all ihre Belebtheit verschwunden. Ihr Gesicht ward niedergeschlagen, und eine Falte schnitt sich zwischen den Augenbrauen ein.

»Wieso denn? Das Leben dort soll ja leicht sein?«

»Ja, leicht!« wiederholte die Maslowa, indem sie die Augen zudrückte und den Kopf schüttelte. »Schlimmer als Zwangsarbeit.«

»Aber warum denn so schlimm?«

»Nun darum! Von acht abends bis vier morgens, und so jeden Tag.«

»Ja, warum gibt man's denn nicht auf?«

»Man möchte es wohl aufgeben, aber man kann nicht. Aber was ist da zu sprechen?« brachte die Maslowa hervor, sprang auf, warf die Photographie in die Tischschublade, und kaum ihre zornigen Tränen zurückhaltend, lief sie in den Korridor hinaus und schlug die Tür hinter sich zu.

Während sie die Photographie anblickte, fühlte sie sich so, wie sie auf derselben dargestellt war und träumte davon, wie glücklich sie damals gewesen, und wie glücklich sie noch jetzt hätte mit ihm sein können. Die Worte der Kameradin erinnerten sie an das, was sie jetzt war, und was sie dort gewesen, erinnerten sie an alle Schrecken jenes Lebens, welche sie damals unklar empfunden, und welche sie nicht zum vollen Bewußtsein hatte kommen lassen. Erst jetzt vergegenwärtigte sie sich lebhaft all jene schrecklichen Nächte, besonders eine in der Butterwoche, wo sie einen Studenten erwartete, der sie loszukaufen versprochen hatte. Sie rief sich's zurück, wie sie in dem offenen, mit Wein besudeltem roten seidenen Kleide, mit der roten Schleife im verwirrten Haar, abgequält und ermattet und betrunken, nachdem sie gegen drei Uhr nachts die Gäste begleitet, sich in der Pause zwischen den Tänzen zu der mageren, knochigen, finnigen Klavierspielerin gesetzt hatte, die den Geigenspieler begleitete und über ihr schweres Leben zu klagen begann, und wie diese Klavierspielerin gleichfalls sagte, daß ihre Lage ihr schwer falle, und daß sie sie ändern möchte, und wie die Klara zu ihnen kam, und wie sie alle drei plötzlich den Entschluß faßten, dieses Leben aufzugeben. Sie glaubten schon, daß die heutige Nacht zu Ende sei und wollten auseinandergehen, als sie plötzlich im Vorzimmer den Lärm betrunkener Gäste hörten. Der Geiger spielte ein Ritornell, seine Begleiterin fing auf dem Pianino das Accompagnement eines sehr lustigen russischen Liedes, die erste Figur der Quadrille, zu klopfen an. Sie erinnerte sich, wie ein kleines, schwitzendes, nach Wein riechendes und aufstoßendes Männlein in weißer Krawatte und im Frack sie ergriff, und wie ein anderer, ein Dickwanst mit einem Bart, ebenso im Frack – sie kamen von irgend einem Ball – die Klara packte, und wie sie sich lange drehten, tanzten, schrien, tranken . . .

Und so ging es ein Jahr lang, zwei, drei Jahre. Wie hätte sie sich nicht verändern sollen! Und die Ursache von alledem war er. Und plötzlich erhob sich in ihr wieder die frühere Erbitterung gegen ihn, und sie fühlte Lust, ihn zu schimpfen und ihm Vorwürfe zu machen. Es tat ihr leid, daß sie sich heute die Gelegenheit hatte entgehen lassen, ihm noch einmal rund heraus zu sagen, daß sie ihn kenne, daß sie sich nicht fangen lasse, und daß sie ihm nicht erlauben werde, sie sich geistig zu nutze zu machen, wie er es leiblich getan, daß sie ihm nicht erlaube, sie zum Gegenstande seiner Großmut zu machen. Und um auf irgend eine Weise dies qualvolle Gefühl des Mitleids mit sich selbst, und des nutzlosen Vorwurfs gegen ihn zu ersticken, bekam sie Lust, Branntwein zu trinken. Und sie hätte ihr Wort nicht halten können und hätte Branntwein getrunken, wenn sie im Gefängnis gewesen wäre. Hier aber konnte man Branntwein nicht anders bekommen, als bei dem Heilgehilfen. Den Heilgehilfen jedoch scheute sie, weil er zudringlich gegen sie war. Verhältnisse mit Männern aber waren ihr zuwider.

Nachdem sie eine kurze Zeit im Korridor gesessen, kehrte sie ins Stübchen zurück, und ohne der Kameradin zu antworten, weinte sie lange über ihr verdorbenes Leben.

 

Seit der Zeit seines letzten Besuchs beim Maslennikow, besonders nach seiner Fahrt ins Dorf, fühlte Nechljudow, nicht etwa durch einen Willensschluß, sondern in seinem ganzen Wesen einen Abscheu gegen die Umgebung, in welcher er bis jetzt gelebt, eine Umgebung, wo man die Leiden, die Millionen Menschen dulden, um einer kleinen Zahl Bequemlichkeiten und Vergnügen zu sichern, so sorgfältig verbarg, daß die Leute jenes Kreises diese Leiden und damit auch die Grausamkeit und Frevelhaftigkeit ihres Lebens nicht einsahen und nicht einsehen konnten. Schon konnte Nechljudow nicht mehr ohne Verlegenheit und ohne Selbstvorwurf mit den Leuten dieses Kreises verkehren. Inzwischen aber zogen ihn in dies Milieu die Gewohnheiten seines vergangenen Lebens; ihn zogen verwandtschaftliche und freundschaftliche Verhältnisse und hauptsächlich der Umstand, daß er, um das durchzuführen, was ihn jetzt beschäftigte, um der Maslowa und allen jenen Leidenden, denen er zu helfen gewillt war, helfen zu können, Hilfe und Dienste von Leuten dieses Kreises in Anspruch nehmen mußte, die er nicht nur nicht achtete, sondern die in ihm oft Entrüstung und Verachtung hervorriefen.

Als Nechljudow nach Petersburg kam und bei seiner Tante mütterlicherseits, der Gräfin Tscharskaja, der Frau des gewesenen Ministers abstieg, geriet er mit einemmal gerade in das innerste Herz der ihm so fremd geworden aristokratischen Gesellschaft. Das war ihm unangenehm; aber er konnte unmöglich anders tun. Nicht bei dem Tantchen absteigen, sondern in einem Gasthofe, hieß sie beleidigen; unterdessen aber hatte das Tantchen auch große Verbindungen und konnte im höchsten Grade nützlich sein in all den Sachen, für welche er sich zu verwenden gekommen war.

»Na, was höre ich von dir? Wunder über Wunder«, sprach zu ihm die Gräfin Katharina Iwanowna, während sie ihn sogleich nach der Ankunft mit Kaffee bewirtete.

»Vous posez pour un Howard? Du hilfst den Verbrechern. Du besuchst die Gefängnisse. Du willst sie bessern!«

»Aber nein, ich denke nicht daran.«

»Nun ja, es ist gut. Aber diese romantische Geschichte da. Nun, erzähl' mal.«

Nechljudow erzählte ihr seine Beziehungen zu Maslowa, alles wie es war.

»Ich erinnere mich, ich erinnere mich. Die arme Ellen hat mir etwas erzählt, damals, als du bei jenen alten Jungfern wohntest. Sie wollten dich, glaube ich, mit ihrer Pflegetochter verheiraten«, die Gräfin Katharina Iwanowna hatte Nechljudows Tanten mütterlicherseits immer verachtet. »Also ist sie es? Elle est encore jolie?«

Das Tantchen, Katharina Iwanowna, war eine sechzigjährige, gesunde, lustige, energische, redselige Frau. Nechljudow liebte sie und war schon seit der Kindheit gewohnt, von ihrer Energie und Lustigkeit angesteckt zu werden.

»Nein, ma tante; das ist alles zu Ende. Ich möchte ihr nur helfen, weil sie erstens unschuldig verurteilt worden und ich daran schuld bin; ich bin auch schuld an ihrem ganzen Schicksal. Ich fühle mich verpflichtet, alles für sie zu tun, was ich kann.«

»Aber wie ist's denn, man hat mir gesagt, du willst sie heiraten?«

»Ja, ich wollte wohl, aber sie will nicht.«

Katharina Iwanowna zog die Augenbrauen über die Augen, und die Pupillen senkend, sah sie verwundert und schweigend den Neffen an. Plötzlich veränderte sich ihr Gesicht, und ein vergnügter Ausdruck erschien darauf.

»Nun, sie ist klüger als du. Ach, was für ein Narr du bist! Und würdest du sie wirklich heiraten?«

»Unbedingt.«

»Nach dem, was sie gewesen ist?«

»Um so mehr. Ich bin ja an allem schuld.«

»Nein, du bist einfach ein Tölpel,« sagte, ein Lächeln zurückhaltend, das Tantchen, »ein fürchterlicher Tölpel, aber gerade darum liebe ich dich, daß du so ein schrecklicher Tölpel bist«, wiederholte sie, da sie augenscheinlich das in ihren Augen die intellektuelle und moralische Verfassung des Neffen treffend wiedergebende Wort lieb gewonnen hatte.

»Weißt du, wie sehr es zu statten kommt?« fuhr sie fort. »Aline hat ein wunderbares Asyl für Magdalenen. Ich bin da einmal gewesen. Also geben wir sie, die deinige, zu ihr. Wenn überhaupt jemand sie bessern kann, so ist es Aline.«

»Aber sie ist ja zur Zwangsarbeit verurteilt. Ich bin hierher gekommen, um mich für die Aufhebung dieses Urteils zu verwenden. Das ist mein erstes Anliegen an Sie.«

»So, so, wo ist denn diese Sache anhängig?«

»Im Senat.«

»Im Senat. Aber mein lieber Kusin Ljowuschka sitzt ja im Senat. Ja, übrigens sitzt er im Departement der Heraldik!Abteilung des Senats für genealogische Angelegenheiten in Petersburg. Nun, dennoch sage ich es meinem Mann. Er kennt allerlei Leute. Ich sage es ihm. Du aber setz' es ihm auseinander, mich versteht er doch nie. Ich mag sprechen, was ich will, er sagt, er versteht nichts. Alle verstehen mich, nur er versteht nicht.«

Zu der Zeit brachte ein Lakai in Kniehosen einen Brief auf einem Präsentierteller.

»Grade von der Aline. Nun wirst du auch den Kiesewetter hören.«

»Wer ist das – Kiesewetter?«

»Kiesewetter? Komm heute. Und du erfährst, wer er ist. Er spricht so, daß die verstocktesten Verbrecher sich auf die Knie werfen und weinen und bereuen.«

Die Gräfin Katharina Iwanowna, wie seltsam es auch sein mochte, und wie wenig es zu ihrem Charakter paßte, war eine feurige Anhängerin jener Lehre, welche annimmt, daß das Wesen des Christentums in dem Glauben an die Erlösung bestehe. Sie fuhr auf Versammlungen, wo diese zu der Zeit in Mode stehende Lehre gepredigt wurde; auch versammelte sie die Gläubigen bei sich. Dessen ungeachtet, daß nach dieser Lehre nicht nur alle Religionsbräuche, Heiligenbilder, sondern auch die Sakramente verworfen wurden, hingen bei der Gräfin Katharina Iwanowna in allen Zimmern und sogar über ihrem Bett Heiligenbilder, und sie erfüllte alles, was die Kirche verlangte, ohne darin einen Widerspruch zu sehen.

»Wenn deine Magdalena ihn hörte! Sie würde sich bekehren«, sagte die Gräfin. »Du aber sei unbedingt abends zu Hause. Du wirst ihn hören. Das ist ein wunderbarer Mensch.«

»Es ist mir nicht interessant, ma tante

»Aber ich sage dir, daß es interessant ist. Und du komm unbedingt. Nun, sage, was du noch von mir willst? Videz votre sac.«

»Noch eine Sache in der Festung.«

»In der Festung? Na, dorthin kann ich dir einen Zettel zum Baron Kriegsmut geben. Du kennst ihn ja selber. Er war deines Vaters Kamerad. Il donne dans le spiritisme. Nun, aber das macht nichts. Er ist gut. Was hast du denn dort zu tun?«

»Ich muß bitten, daß man einer Mutter eine Zusammenkunft mit ihrem Sohne bewillige, der dort sitzt. Aber man hat mir gesagt, daß es nicht von Kriegsmut abhänge, sondern von Tscherwjanskij.«

»Tscherwjanskij habe ich nicht gern, aber es ist ja Mariette's Mann. Man kann sie bitten. Sie wird es für mich tun. Elle est très gentille.«

»Man muß noch wegen einer Frau bitten. Sie sitzt schon einige Monate, und niemand weiß wofür.«

»Nun, nein, sie selber weiß gewiß wofür. Sie wissen es sehr gut. Und es geschieht ihnen, diesen Geschorenen, recht.«

»Wir wissen nicht, ob es recht ist oder nicht. Sie aber leiden. Sie sind eine Christin und glauben an das Evangelium, und dabei sind Sie so unbarmherzig.«

»Macht nichts. Das stört gar nicht. Evangelium ist Evangelium, aber widerwärtig ist widerwärtig. Es wäre schlimmer, wenn ich mich verstellte, so als liebte ich die geschorenen Nihilistinnen, wenn ich sie doch nicht leiden kann.«

»Weshalb können Sie sie denn nicht leiden?«

»Nach dem ersten März fragst du noch weshalb?«

»Aber nicht alle waren Teilnehmerinnen an jenem ersten März.«

»Das ist einerlei, warum kümmern sie sich nicht um ihre Sachen! Das ist keine weibliche Beschäftigung.«

»Nun, aber da ist Mariette. Sie finden doch, daß die sich mit Geschäften abgeben darf«, sagte Nechljudow.

»Mariette? Mariette ist Mariette. Das aber ist Gott weiß wer, irgend welche Krethi und Plethi. Wollen noch obendrein alle belehren.«

»Nicht belehren, aber einfach dem Volke helfen wollen sie.«

»Man weiß auch ohne sie, wem man helfen muß und wem nicht.«

»Ja, aber das Volk darbt doch. Eben komm' ich aus dem Dorf. Muß es denn sein, daß die Bauern sich ganz von Kräften arbeiten und dabei nicht einmal satt essen können!« sprach Nechljudow, unwillkürlich durch die Gutmütigkeit des Tantchens zu dem Wunsch getrieben, ihr alles auszusprechen, was er dachte.

»Aber was willst du denn? Daß ich arbeite und nichts zu essen habe?«

»Nein, ich will nicht, daß Sie nicht dinieren. Ich will nur, daß wir alle arbeiten und alle dinieren«, antwortete Nechljudow, unwillkürlich lächelnd.

Das Tantchen zog wieder die Brauen über die Augen und ließ die Pupillen sinken; neugierig starrte sie ihn an.

»Mon cher, vous finirez mal«, sagte sie.

»Aber warum denn?«

In diesem Augenblick betrat das Zimmer ein hoher, breitschultriger General. Es war der Mann der Gräfin Tscharskaja, ein abgedankter Minister.

»Ah, Dmitrij, guten Tag«, sagte er, ihm die frischrasierte Wange reichend. »Wann bist du angekommen?«

Er küßte seine Frau schweigend auf die Stirn.

»Non, il est impayable«, wandte sich die Gräfin Katharina Iwanowna an ihren Mann. »Er empfiehlt mir, an den Fluß zu gehen und Wäsche zu spülen und nur Kartoffeln zu essen. Er ist ein fürchterlicher Dummkopf. Aber tu dennoch für ihn, um was er dich bittet. Ein fürchterlicher Tölpel«, korrigierte sie sich.

»Aber hast du gehört? Die Kamenskaja ist, sagt man, in solcher Verzweiflung, daß man für ihr Leben fürchtet,« wandte sie sich an ihren Mann, »möchtest du nicht zu ihr fahren?«

»Ja, das ist schrecklich«, sagte der Mann.

»Nun, geht und sprecht miteinander, ich muß Briefe schreiben.«

Kaum war Nechljudow in das Zimmer neben dem Empfangszimmer gegangen, als sie ihm nachschrie:

»Soll ich also an Mariette schreiben?«

»Bitte, ma tante

»Dann lasse ich ›en blanc‹, was du für die Geschorene wünschest, sie sagt es dann schon ihrem Mann. Und er wird es tun. Glaub nur nicht, daß ich bösartig bin. Sie sind alle mehr als widerwärtig, deine protégées, aber je ne leur veux pas de mal. Gott mit ihnen. Nun geh. Am Abend aber sei unbedingt zu Hause. Dann wirst du den Kiesewetter hören. Und wir werden beten. Und wenn du nur nicht widerstrebst – ça vous fera beaucoup de bien. Ich weiß wohl, Ellen und ihr seid alle darin sehr zurückgeblieben. Also bis auf Wiedersehen!«

 

Graf Iwan Michajlowitsch war ein Minister außer Diensten und ein Mann von sehr festen Überzeugungen. Die Überzeugungen des Grafen Iwan Michajlowitsch bestanden von Jugend auf darin, daß, wie es dem Vogel eigen ist, sich von Würmern zu ernähren, mit Federn und Daunen bekleidet zu sein und in der Luft zu fliegen, so sei es ihm eigentümlich, sich von teueren Gerichten zu ernähren, die von teueren Köchen bereitet werden, mit den bequemsten und teuersten Kleidern bekleidet zu sein, mit den ruhigsten und schnellsten Pferden zu fahren, und daß deswegen alles dies für ihn bereit sein müsse. Diesem Glauben entsprechend lebte Graf Iwan Michajlowitsch in Petersburg vierzig Jahre lang, und nach Ablauf dieser vierzig Jahre gelangte er zu einem Ministerposten.

Die Haupteigenschaften des Grafen Iwan Michajlowitsch, durch welche er diesen Posten erreicht, bestanden darin, daß er erstens den Sinn ausgefertigter Aktenstücke und Gesetze verstand, und daß er verständliche, wenn auch nicht besonders bündige Schriftstücke abfassen und ohne orthographische Fehler niederschreiben konnte; zweitens war er sehr präsentabel und konnte, wo es nötig war, nicht nur eine stolze Miene, sondern die Miene der Unzugänglichkeit und Herrlichkeit annehmen; ein andermal, wo es nötig war, konnte er kriecherisch bis zur Leidenschaft, bis zur Gemeinheit sein; drittens besaß er keine allgemeinen Prinzipien oder Regeln, weder persönlich-moralische, noch den Staat betreffende und konnte infolgedessen, wenn es not tat, mit allen einverstanden, und wiederum, wenn es not tat, mit niemand einverstanden sein.

Als er Minister geworden, waren nicht nur alle von ihm Abhängigen – abhängig von ihm aber waren sehr viele Leute – und Vertrauten, sondern auch alle anderen nicht dazu gehörigen Menschen und er selber überzeugt, daß er ein sehr kluger Staatsmann sei. Aber als eine gewisse Zeit verstrichen war und er nichts ausgerichtet, nichts der Welt gezeigt hatte, und als nach dem Gesetze des Kampfes ums Dasein genau eben solche imposante und prinzipienlose Beamte wie er die Papiere zu schreiben und sie zu verstehen erlernt hatten, ihn wegdrängten, und er seinen Abschied nehmen mußte, wurde allen klar, daß er nicht nur kein besonders kluger, sondern ein sehr beschränkter und wenig gebildeter, obgleich sehr selbstbewußter Mann sei, der sich in seinen Ansichten mit Mühe und Not bis zum Niveau der Leitartikel konservativer Zeitungen erheben konnte. Es erwies sich, daß nichts an ihm war, was ihn von anderen, wenig gebildeten, selbstbewußten Beamten, die ihn weggedrängt hatten, unterschied, und er selber sah es ein, aber das erschütterte mit nichten seine Überzeugung, daß er jährlich von der Krone eine große Quantität Geld und neue Verzierungen für seinen Paradeanzug erhalten müsse. Diese Überzeugung war so fest, daß niemand sich entschließen konnte, ihm das zu verweigern, und jährlich bekam er, zum Teil als Pension, zum Teil als Belohnung dafür, daß er Mitglied einer höchsten Staatsinstitution war und Präsident verschiedener Kommissionen und Komitees, einige zehntausend Rubel und außerdem alle Jahre neue, von ihm hoch geschätzte Rechte, neue Gallons auf seine Schultern oder Hosen aufnähen und neue Bändchen und emaillierte Sternchen unter dem Frack tragen zu dürfen. Infolge alles dessen hatte Graf Iwan Michajlowitsch große Verbindungen.

Graf Iwan Michajlowitsch hörte den Nechljudow so an, wie er ehemals die Berichte des Kanzleidirektors angehört hatte, und nachdem er ihn zu Ende gehört, sagte er, daß er ihm zwei Zettel geben werde: einen an den Senator des Kassationsdepartements, Wolf.

»Er ist mir verbunden und wird tun, was er kann.«

Den anderen Zettel gab Graf Iwan Michajlowitsch mit für eine einflußreiche Persönlichkeit in der Bittschriftenkommission.

Nachdem Nechljudow beide Zettel vom Grafen und einen Zettel an Mariette von dem Tantchen erhalten, begab er sich sogleich zu allen diesen Personen.

Zuerst nahm er die Richtung zu Mariettes Hause. Er hatte sie als Mädchen gekannt, als die halberwachsene Tochter einer nicht reichen aristokratischen Familie; er wußte, daß sie einen Karriere machenden Mann geheiratet hatte, von dem er nicht viel Gutes gehört; und wie immer war es dem Nechljudow qualvoll schwer, sich mit einer Bitte an einen Menschen zu wenden, den er nicht achtete. In solchen Fällen fühlte er immer einen inneren Zwiespalt, Unzufriedenheit mit sich selbst und Unentschlossenheit: bitten oder nicht bitten, aber er entschied immer, daß man bitten müsse. Außerdem, daß er das Falsche seiner Lage als Bittsteller mitten zwischen Leuten empfand, die er nicht mehr für die seinigen hielt, die aber ihn für den ihrigen hielten, fühlte er in dieser Gesellschaft, daß er das alte gewohnte Geleis betrat und unwillkürlich jenem leichtsinnigen und unmoralischen Ton nachgab, der in diesem Kreise herrschte. Er hatte das schon bei dem Tantchen Katharina Iwanowna erfahren. Schon früh, als er mit ihr von den ernstesten Sachen sprach, verfiel er in einen scherzhaften Ton.

Ein schöner, sauberer Mietkutscher fuhr den Nechljudow zu dem Hause, wo Mariette wohnte.

An der Auffahrt standen ein paar englische Pferde mit Scheuklappen; und ein, einem Engländer ähnlicher Kutscher, mit einem Backenbart, saß mit einer Peitsche in der Hand mit stolzem Aussehen auf dem Kutschbock. Ein Portier in ungewöhnlich sauberer Uniform öffnete die Tür in den Flur, wo ein Wagenlakai in einer noch saubereren Livrée in Tressen stand, und eine Ordonnanz in neuer, sauberer Uniform.

»Der General empfangen nicht. Die Generalin auch nicht. Sie geruhen sogleich auszufahren.«

Nechljudow gab den Brief der Gräfin Katharina Iwanowna ab, nahm eine Visitenkarte heraus, ging an das Tischchen, wo das Buch zum Einschreiben der Besucher lag, und fing an zu schreiben, daß er sehr bedauere, sie nicht angetroffen zu haben, als der Lakai sich der Treppe näherte, der Portier auf die Rampe ging und schrie: »Fahre vor;« die Ordonnanz aber machte Front und erstarrte, mit den Händen an den Hosennähten, indem er mit den Augen einer nicht hochgewachsenen, dünnen Dame begegnete und sie begleitete, die in einem, ihrer Wichtigkeit nicht entsprechenden, raschen Gang die Treppe herabstieg.

Als Mariette den Nechljudow gewahr wurde, hob sie den Schleier, enthüllte ihr sehr liebliches Gesicht mit den glänzenden Augen und blickte ihn fragend an.

»Ah, Fürst Dmitrij Iwanowitsch«, brachte sie mit heiterer, angenehmer Stimme hervor. »Ich würde Sie erkennen . . .«

»Wie? Sie haben sogar meinen Namen nicht vergessen?«

»Oh nein, ich und meine Schwester sind sogar in Sie verliebt gewesen,« fing sie auf französisch an; »aber wie sehr haben Sie sich verändert! Ach wie schade, daß ich wegfahre. Übrigens – wollen wir zurückgehen«, sagte sie, unschlüssig stehenbleibend.

Sie blickte auf die Wanduhr.

»Nein, unmöglich. Ich fahre auf die Seelenmesse zur Kamenskaja. Sie ist schrecklich getroffen worden.«

»Aber was ist mit der Kamenskaja?«

»Haben Sie denn nicht gehört: ihr Sohn ist im Duell getötet worden. Er schlug sich mit dem Posen. Der einzige Sohn, schrecklich. Die Mutter ist so getroffen.«

»Ja, ich habe es gehört.«

»Nein, lieber fahre ich, Sie aber, kommen Sie morgen, oder heute abend«, sagte sie und ging mit raschen, leichten Schritten durch die Ausgangstür.

»Heute abend kann ich nicht«, antwortete er, mit ihr zusammen auf die Rampe hinaustretend. »Aber ich habe ja ein Anliegen an Sie«, sagte er, indem er das Paar Füchse, die zur Rampe herangefahren kamen, betrachtete.

»Was ist es?«

»Hier haben Sie einen Zettel darüber von dem Tantchen«, sagte Nechljudow und reichte ihr ein schmales Couvert mit großem Namenszug. »Dort werden Sie alles sehen.«

»Ich weiß, die Gräfin Katharina Iwanowna glaubt, daß ich in Geschäften Einfluß auf meinen Mann habe. Sie irrt sich. Ich vermag nichts, und ich will mich nicht hineinmischen. Aber für die Gräfin und für Sie selbstverständlich bin ich bereit, von meiner Regel abzuweichen.«

»Um was handelt es sich denn?« sprach sie, indem sie mit einer kleinen Hand im schwarzen Handschuh vergeblich nach der Tasche suchte.

»Ein Mädchen ist in der Festung eingesperrt; sie ist aber krank und nicht beteiligt.«

»Und wie ist ihr Familienname?'

»Schustowa, Lydija Schustowa. Auf dem Zettel steht es.«

»Nun gut, ich versuche es«, sagte sie, stieg leicht in die Kalesche und öffnete den Sonnenschirm. Der Lakai setzte sich auf den Kutschbock und gab dem Kutscher ein Zeichen, zu fahren. Die Kalesche bewegte sich vorwärts, aber in demselben Augenblicke berührte sie mit dem Schirm den Rücken des Kutschers, und die dünnbeinigen, schönen, englisierten Stuten drückten ihre mit den Gebissen festgezogenen Köpfe an und blieben stehen, mit den dünnen Beinen scharrend.

»Und kommen Sie, aber bitte – uneigennützig«, sagte sie, lächelte mit einem Lächeln, dessen Kraft sie gut kannte und ließ den Schleier herunter, als ob sie nach Beendigung einer Vorstellung den Vorhang fallen lasse.

»Nun, fahren wir«, sie berührte wieder mit dem Schirm den Kutscher.

Nechljudow zog den Hut.

 

Als Nechljudow überlegte, wohin er zuerst, wohin nachher fahren solle, um nicht einen Weg zweimal machen zu müssen, begab er sich vor allem in den Senat; man geleitete ihn in die Kanzlei.

Die Bittschrift der Maslowa war eingetroffen und zur Durchsicht und zum Vortrage demselben Senator Wolf übergeben worden, an den Nechljudow den Brief vom Onkel hatte, sagten ihm die Beamten.

»Die Senatssitzung findet diese Woche statt; – die Sache der Maslowa fällt schwerlich auf diese Sitzung. Wenn man aber darum bäte, so könne man hoffen, daß sie doch schon diese Woche am Mittwoch zur Verhandlung gebracht würde«, sagte der eine.

In der Senatskanzlei, während Nechljudow dort auf die einzuziehende Erkundigung wartete, hörte er wieder das Gespräch von dem Duell und die ausführliche Erzählung, wie der junge Kamenskij getötet worden. Hier erfuhr er zum ersten Male die Einzelheiten dieser ganz Petersburg beschäftigenden Geschichte. Es handelte sich darum, daß Offiziere in einem Laden Austern aßen und, wie immer, viel tranken. Einer von ihnen äußerte etwas Mißbilligendes über das Regiment, in welchem Kaminskij diente. Kaminskij nannte ihn einen Lügner. Dieser versetzte dem Kamenskij einen Hieb. Am anderen Tage schlugen sie sich. Die Kugel traf den Kamenskij in den Leib, und in zwei Stunden starb er. ›Der Mörder und die Sekundanten sind arretiert, aber wie man sagt, wird man sie in vierzehn Tagen frei lassen, obgleich man sie auf die Hauptwache gebracht hat.‹

Aus der Senatskanzlei fuhr Nechljudow in die Bittschriftenkommission, zu dem dort einflußreichen Beamten, Baron Worobjew. Ein Türsteher und ein Lakai erklärten dem Nechljudow streng, daß man den Baron außer am Empfangstage nicht sprechen könne, daß er bei Seiner Majestät, dem Kaiser sei, und morgen wieder Vortrag habe. Nechljudow übergab den Brief und fuhr zum Senator Wolf.

Wolf hatte eben gefrühstückt und empfing Nechljudow, indem er seine Verdauung gewohnheitsgemäß durch das Rauchen einer Zigarre und durch einen Spaziergang im Zimmer aufmunterte. Wladimir Wassiljewitsch Wolf war un homme très comme il faut; diese seine Eigenschaft stellte er über alles, und von der Höhe derselben blickte er auf alle anderen Menschen herab; er konnte auch nicht umhin, diese Eigenschaft hoch zu schätzen, weil er, nur dank derselben, eine glänzende Karriere gemacht, ganz so, wie er gewünscht; das heißt, mittelst Heirat erwarb er ein Vermögen, das ihm achtzehntausend Rubel Einkünfte brachte, mittelst der eigenen Leistungen – die Stelle eines Senators. Er hielt sich nicht nur für un homme très comme il faut, sondern auch noch für einen Mann von ritterlicher Ehrlichkeit. Unter der Ehrlichkeit verstand er, daß man sich nicht von Privatleuten heimlich bestechen läßt. Aber aller Art Reise-Umzugsgelder, Renten von der Krone sich erbitten, indem er dafür alles knechtisch erfüllte, was nur die Regierung von ihm verlangte, hielt er nicht für ehrlos. Er hielt auch nicht für ehrlos, daß er seine in ihn verliebte Frau und die Schwägerin beraubt hatte. Im Gegenteil hielt er dies für eine vernünftige Einrichtung seines Familienlebens. Das Familienleben des Wladimir Wassiljewitsch bildeten seine willenlose Frau, die Schwägerin, deren Vermögen er auch an sich gerafft, indem er ihr Gut verkaufte und das Geld auf seinen Namen in die Bank eintrug, und eine sanftmütige, verschüchterte, unschöne Tochter, die ein einsames, schweres Leben führte; einer Zerstreuung in diesem Leben fand sie die letzte Zeit im Evangelismus, in den Versammlungen bei Aline und bei der Gräfin Katharina Iwanowna. Der gutmütige, schon vom fünfzehnten Jahre an mit einem Bart versehene Sohn des Wladimir Wassiljewitsch, der von der Zeit an schon zu trinken und ein liederliches Leben zu führen begonnen, was er auch bis zum zwanzigsten Jahre zu tun fortfuhr, ward aus dem Hause gejagt, weil er nirgends den Kurs beendigt hatte, und durch seinen Umgang mit schlechter Gesellschaft und durch Schuldenmachen den Vater kompromittierte. Seit der Zeit nahm Wladimir Wassiljewilsch eine Miene an, als ob er keinen Sohn hätte, und niemand von den Hausgenossen wagte, ihm von dem Sohne zu sprechen. Und Wladimar Wassiljewitsch war vollkommen überzeugt, daß er sein Familienleben auf die beste Weise eingerichtet hätte.

Wolf machte auf seinem Spaziergang durch das Kabinett Halt, und mit einem freundlichen, aber etwas ironischen Lächeln – das war seine Manier – ein unwillkürlicher Ausdruck des Bewußtseins seiner comme il faut-Überlegenheit über die meisten Leute, – grüßte er den Nechljudow und las den Zettel.

»Bitte sehr, nehmen Sie Platz, und mich entschuldigen Sie. Ich werde auf und ab gehen, wenn Sie erlauben«, sagte er, indem er, die Hände in der Tasche seiner Jacke, mit leichten, weichen Schritten die Diagonale des großen, in strengem Stil gehaltenen Kabinetts nahm. »Ich bin sehr froh, Sie kennen zu lernen, und, versteht sich, dem Grafen Iwan Michajlowitsch gefällig zu sein.«

»Ich möchte nur bitten, daß die Sache etwas bälder zum Vortrag gebracht werde, damit die Angeklagte, wenn sie nach Sibirien fahren muß, etwas früher abfahren könnte«, sagte Nechljudow.

»Ja, ja, – mit einem der ersten Dampfschiffe aus Nischnij, ich weiß«, sagte mit seinem herablassenden Lächeln Wolf, der immer alles im voraus wußte, wovon man ihm zu sprechen anfing.

»Wie ist der Name der Angeklagten?«

»Maslowa.«

Wolf trat an den Tisch, blickte auf das Papier, das auf dem Karton mit Aktenstücken lag.

»Ja, ja – Maslowa. Schön, ich werde die Kollegen bitten. Wir werden die Sache Mittwoch zum Vortrag bringen.«

»Kann ich so dem Advokaten telegraphieren?«

»Haben Sie einen Advokaten? Wozu ist das? Aber wenn Sie wollen, warum nicht.«

»Die Anlässe zur Kassation können ungenügend erscheinen«, sagte Nechljudow; »aber aus der Sache, glaube ich, ist ersichtlich, daß die Verurteilung aus Mißverständnis stattgefunden.«

»Ja, ja, das kann sein, aber der Senat darf die Sache nicht dem Wesen nach untersuchen«, sagte Wladimir Wassiljewitsch streng, indem er auf die Asche blickte. »Der Senat sorgt nur für die Richtigkeit der Anwendung des Gesetzes und seiner Auslegung.«

»Dies ist, scheint mir, ein Ausnahmefall.«

»Ich weiß, ich weiß. Alle Fälle sind Ausnahmen. Wir werden tun, was sein muß. Das ist alles.«

»Aber Sie kommen selten nach Petersburg?« sagte Wolf, indem er die Zigarre so hielt, daß die Asche nicht fallen konnte. Die Asche geriet dennoch ins Schwanken, und Wolf trug sie vorsichtig zu einer Aschenschale, in die sie auch hineinstürzte.

»Und was für ein schreckliches Ereignis mit Kamenskij«, sagte er. »Ein ausgezeichneter junger Mann, einziger Sohn. Besonders die Lage der Mutter«, sprach er, indem er fast Wort für Wort all das wiederholte, was alle zu der Zeit in Petersburg über Kamenskij sprachen.

»Wenn es Ihnen paßt, so speisen Sie einmal bei mir,« sagte Wolf, indem er ihm die Hand reichte, »vielleicht am Mittwoch. Ich werde Ihnen dann eine definitive Antwort geben.«

Es war schon spät, und Nechljudow fuhr nach Hause, das heißt zu dem Tantchen.

 

Zu Mittag aß man bei der Gräfin Katharina Iwanowna um halb acht, und das Mittagessen wurde auf eine neue, noch nie vom Nechljudow gesehene Weise aufgetragen. Die Gerichte wurden auf den Tisch gestellt und die Lakaien gingen sofort weg, so daß die Dinierenden selber die Speisen nahmen. Die Herren erlaubten den Damen nicht, daß sie sich mit entbehrlichen Bewegungen beschwerten, und als starkes Geschlecht trugen sie mutig die ganze Schwere des Auflegens der Speise für die Damen und sich selbst und des Einschenkens der Getränke. Wenn aber ein Gericht aufgegessen war, drückte die Gräfin den Knopf einer elektrischen Klingel auf dem Tisch, und die Lakaien kamen lautlos herein, räumten rasch ab, wechselten die Gedecke und brachten den folgenden Gang. Das Mittagessen war äußerst fein, ebenso wie die Weine. In der großen, hellen Küche arbeitete ein französischer Chef mit zwei weiß gekleideten Gehilfen. Beim Mittag saßen sechs Personen: der Graf und die Gräfin, ihr Sohn, ein finsterer Gardeoffizier, der die Ellbogen auf den Tisch legte, Nechljudow, die Vorleserin, eine Französin, und der Hauptverwalter des Grafen aus dem Dorf. Das Gespräch ging auch hier auf das Duell über. Man besprach, wie sich der Kaiser zu der Sache verhielt. Es war bekannt, daß der Kaiser der Mutter wegen sehr betrübt sei, und so waren alle der Mutter wegen betrübt. Aber da es bekannt war, daß der Kaiser, obgleich er sein Beileid bezeugt, nicht gegen den Mörder streng sein wolle, da er die Ehre der Uniform verteidigt hatte, so waren alle nachsichtig gegen den Mörder, der die Ehre der Uniform verteidigt hatte. Nur die Gräfin Katharina Iwanowna äußerte in ihrer Frei-Leichtsinnigkeit Tadel gegen den Mörder.

»Sie saufen und töten ordentliche junge Leute, – nie würde ich es verzeihen«, sagte sie.

Dann trat der bis jetzt schweigende Sohn für den Mörder ein und griff seine Mutter an, indem er ziemlich grob bewies, daß ein Offizier nicht anders handeln könne, sonst würde man ihn durch das Offiziersgericht aus dem Regiment stoßen. Nechljudow hörte zu, ohne sich in das Gespräch einzulassen; als gewesener Offizier verstand er die Beweise des jungen Tscharskij, obgleich er sie nicht anerkannte; zugleich aber stellte er unwillkürlich mit dem Offizier, der einen anderen getötet hatte, jenen Gefangenen zusammen, einen schönen Jüngling, den er im Gefängnis gesehen, und der zur Zwangsarbeit verurteilt worden, weil er in einer Prügelei einen Totschlag begangen. Beide wurden durch den Trunk zu Mördern. Jener, der Bauer, tötete im Augenblicke der Aufregung, und man hat ihn von seiner Frau, von der Familie, von den Verwandten getrennt, in Ketten gelegt, und mit rasiertem Kopf geht er in die Zwangsarbeit; und dieser sitzt in einem schönen Zimmer auf der Hauptwache, ißt ein gutes Mittagessen, trinkt guten Wein, liest Bücher, und wenn nicht heute, so doch morgen wird er freigelassen werden und leben wie früher, nur daß er besonders interessant geworden ist.

Er sagte, was er dachte. Zuerst war die Gräfin Katharina Iwanowna mit dem Neffen einverstanden, dann aber verstummte sie ebenso wie alle, und Nechljudow fühlte, daß er mit dieser Erzählung etwas in der Art wie eine Unanständigkeit begangen hatte.

Am Abend, bald nach dem Mittagessen, begann man sich im großen Saal zu einer Sitzung zu versammeln, auf welcher ein Zugereister, Kiesewetter, predigen sollte.

Vor der Auffahrt standen die teueren Equipagen. Im Saal mit teuerer Ausstattung saßen die Damen. Zwischen den Damen saßen die Männer, Militärs und Zivilisten, und etwa fünf Mann gemeine Leute: zwei Hausbesorger, ein Ladensteher, ein Lakai und ein Kutscher. Kiesewetter, ein starker, ergrauender Mann, sprach englisch, und ein junges mageres Mädchen, mit einem Augenglas, übersetzte es gut und rasch. Er sprach darüber, daß unsere Sünden so groß seien, die Strafe für sie so groß und unvermeidlich sei, daß leben in Erwartung dieser Strafe unmöglich sei.

»Gedenken wir nur, liebe Schwestern und Brüder, unserer, unseres Lebens, dessen, was wir tun, wie wir leben, wie wir den liebreichen Gott erzürnen, wie wir Christus leiden lassen, und wir begreifen, daß es keine Verzeihung für uns gibt, keinen Ausweg, keine Rettung, daß wir alle zur Verderbnis verdammt sind. Ein fürchterliches Verderben und ewige Qualen erwarten uns«, sprach er mit zitternder und weinender Stimme. »Wie sollen wir uns retten? Brüder, wie sollen wir uns aus dieser schrecklichen Feuersbrunst retten? Sie hat schon das Haus ergriffen, und es gibt keinen Ausweg.«

Er schwieg eine Zeitlang, und wirkliche Tränen flossen über seine Wangen. Schon seit acht Jahren, jedesmal unfehlbar, sobald er an diese Stelle seiner Rede, die ihm sehr gefiel, kam, flossen Tränen aus seinen Augen. Und diese Tränen rührten ihn noch mehr. Im Zimmer ließ sich Schluchzen hören. Die Gräfin Katharina Iwanowna saß an dem Mosaiktischchen, den Kopf auf beide Hände gestützt; ihre dicken Schultern zitterten. Die meisten saßen in solchen Stellungen, wie die Gräfin Katharina Iwanowna. Wolfs Tochter, dem Vater ähnlich, in einem Modekleid, lag auf den Knien, das Gesicht mit den Händen bedeckt.

Der Redner deckte plötzlich sein Gesicht auf, rief ein dem echten sehr ähnliches Lächeln hervor, jenes Lächeln, durch welches die Schauspieler Freude ausdrücken, und mit süßer, zarter Stimme begann er zu sprechen:

»Aber es gibt eine Rettung. Hier ist sie, leicht und fröhlich. Diese Rettung ist das um uns vergossene Blut des einzigen Sohnes Gottes, der wegen uns der Pein hingegeben. Seine Qual, sein Blut erlöst uns. Brüder und Schwestern,« begann er wieder mit Tränen in der Stimme, »sagen wir Dank Gott, der seinen einzigen Sohn zur Erlösung des menschlichen Geschlechts hergegeben. Sein heiliges Blut . . .«

Dem Nechljudow ward so qualvoll-abscheulich, daß er leise aufstand und, stirnrunzelnd und ein Ächzen der Scham zurückhaltend, auf den Fußspitzen hinaus und in sein Zimmer ging. –

 

Am anderen Tage hatte Nechljudow sich kaum angekleidet und war im Begriff hinunterzugehen, als ein Lakai ihm die Karte des moskauischen Advokaten brachte. Der Advokat kam in eigenen Angelegenheiten nach Petersburg und zugleich, um zur Verhandlung der Sache der Maslowa im Senat anwesend zu sein, wenn sie bald zum Vortrag gebracht würde. Das von Nechljudow abgesandte Telegramm hatte sich mit ihm gekreuzt. Als er vom Nechljudow erfuhr, wann die Sache der Maslowa zum Vortrag kommen solle, und wer die Senatoren seien, lächelte er.

»Grade alle drei Typen von Senatoren,« sagte er; »Wolf – das ist der Petersburger Beamte; Skoworodnikow – das ist der gelehrte Jurist, und Bee – das ist der praktische Jurist, und darum der lebendigste«, sagte der Advokat. »Auf ihn setze ich am meisten Hoffnung. Nun, aber wie ist's in der Bittschriftenkommission?«

»Heute grad will ich zum Baron Worobjew fahren, gestern konnte ich keine Audienz erlangen.«

»Nun, es ist schön, wollen wir zusammen fahren. Ich nehme Sie im Wagen mit.«

Vor der Abfahrt, schon in dem Vorzimmer begegnete dem Nechljudow ein Lakai mit einem Zettel an ihn von Mariette.

»Pour vous faire plaisir, j'ai agi tout à faire contre mes principes, et j'ai intercédé auprès de mon mari pour votre protégée. Il se trouve que cette personne peut être relachée immédiatement. Mon mari a écrit au commandant. Venez donc »uneigennützig«. Je vous attends.

M.«

»Wie gefällt's Ihnen?« sagte Nechljudow zu dem Advokaten. »Das ist ja schrecklich. Eine Frau, die sie sieben Monate in Einzelhaft halten, erweist sich als gar nicht schuldig, und um sie frei zu lassen, genügt es, nur ein Wort zu sagen.«

»Es ist ja immer so. Nun, wenigstens haben Sie das Gewünschte erreicht.«

»Ja, aber dieser Erfolg betrübt mich. Also, was geschieht denn dort? Warum haben sie sie festgehalten?«

»Nun, darüber ist's am besten, nicht zu grübeln.«

»Also, fahren Sie mit mir«, sagte der Advokat, als sie auf den Vorflur hinauskamen und eine schöne Mietskutsche, vom Advokaten gemietet, an der Rampe vorfuhr. »Sie wollen ja zum Baron Worobjew?«

Der Advokat sagte dem Kutscher, wohin er fahren solle, und ein Paar gute Pferde führten den Nechljudow schnell zu dem vom Baron bewohnten Hause. Der Baron war zu sprechen. Im ersten Zimmer befand sich ein junger Beamter.

»Ihr Name?« fragte der junge Beamte.

Nechljudow nannte sich.

»Der Baron hat von Ihnen gesprochen. Sogleich!«

Ein Adjutant ging durch die geschlossene Tür und führte eine verweinte Dame in Trauer heraus. Die Dame suchte mit den knochigen Fingern den sich verwickelnden Schleier herunterzulassen, um ihre Tränen zu verbergen.

»Bitte«, wandte sich der junge Beamte zum Nechljudow, indem er sich der Kabinettstür näherte, sie öffnete und darin stehen blieb.

Als Nechljudow ins Kabinett trat, stand er vor einem stämmigen, kurzgeschorenen Manne von mittlerem Wuchs in einem Gehrock, der in einem Lehnstuhl vor einem großen Schreibtisch saß und lustig vor sich hinblickte. Das durch seine intensive Röte zwischen dem weißen Bart und Schnurrbart besonders auffallende gutmütige Gesicht legte sich beim Anblick Nechljudows zu einem freundlichen Lächeln zurecht.

»Ich freue mich sehr, Sie zu sehen, ich und Ihre Frau Mutter waren alte Bekannte und Freunde. Ich habe Sie als Knaben und nachher als Offizier gesehen. Nun, nehmen Sie Platz, erzählen Sie, womit ich Ihnen dienen kann.«

»Ja, ja«, sprach er, mit seinem geschorenen grauen Kopf nickend, während Nechljudow ihm die Geschichte der Fedossija erzählte.

»Sprechen Sie, sprechen Sie; ich habe alles verstanden; ja, ja, das ist wirklich rührend. Wie ist's denn, haben Sie die Bittschrift eingereicht?«

»Ich habe die Petition in Bereitschaft,« sagte Nechljudow, während er diese aus der Tasche zog; »aber ich möchte Sie bitten, – ich hoffe, daß man dieser Sache besondere Aufmerksamkeit schenkt.«

»Und das haben Sie gut gemacht. Ich werde das unbedingt selber melden«, sagte der Baron, indem er auf seinem lustigen Gesichte ein ganz unnatürliches Mitleid hervorrief. »Sehr rührend . . . Ja, ich will es melden.«

»Graf Iwan Michajlowitsch hat gesagt, daß er bitten wolle . . .« Nechljudow hatte kaum Zeit, diese Worte auszusprechen, als der Gesichtsausdruck des Barons sich veränderte.

»Übrigens, reichen Sie die Bittschrift bei der Kanzlei ein, und ich tue, was ich kann«, sagte er zum Nechljudow.

Um diese Zeit trat in das Zimmer der junge Beamte, der augenscheinlich eitel auf seinen Gang war.

»Die Dame bittet, noch zwei Worte sagen zu dürfen.«

»Nun, rufen Sie sie. Ach, mon cher, wie viel Tränen sieht man hier . . ., wenn man sie nur alle trocknen könnte. Man tut, was man kann.«

Die Dame trat herein.

»Ich habe vergessen, zu bitten, daß man ihm nicht erlaube, die Tochter wegzugeben, sonst aber ist er zu allem . . .«

»Aber ich habe ja gesagt, daß ich es tue.«

»Baron, um Gotteswillen, Sie werden die Mutter retten.« Sie ergriff seine Hand und fing an, sie zu küssen.

»Alles wird getan.«

Als die Dame wegging, begann auch Nechljudow sich zu verabschieden.

»Wir werden tun, was wir können. Wir wollen uns mit dem Justizministerium in Verbindung setzen. Sie werden uns antworten, und dann tun wir, was möglich ist.«

Nechljudow ging hinaus und in die Kanzlei. Wieder, wie im Senat, fand er in einem prächtigen Raum prächtige Beamte, sauber, höflich, korrekt vom Kleide bis zu den Gesprächen, pünktlich und streng.

›Wie viele sind ihrer, wie schrecklich viele sind ihrer. Und wie gut geht es ihnen allen, im Vergleich nicht nur mit den Gefangenen, sondern auch mit den Leuten im Dorf‹, dachte Nechljudow unwillkürlich.

 

Der Mann, von dem die Milderung des Schicksals der Inhaftierten in Petersburg abhing, war ein alter, verdienter, aber wie man von ihm sagte, vor Alter schwachsinnig gewordener General von den deutschen Baronen. Er erfüllte streng alle Vorschriften von oben und hielt besonders auf diese Erfüllung, da er solchen Vorschriften von oben eine besondere Bedeutung zuschrieb: er glaubte, alles in der Welt könne man ändern, nur nicht diese Vorschriften von oben. Seine Pflicht bestand darin, politische Verbrecher und Verbrecherinnen in Kasematten und Einzelzellen festzuhalten, und diese Leute so zu halten, daß die Hälfte von ihnen im Laufe von zehn Jahren zugrunde geht, indem sie teils verrückt werden, teils an der Schwindsucht sterben, teils sich töten: einige durch Hunger, andere öffnen sich die Adern mit Glasscherben, noch andere hängen sich auf, wieder andere verbrennen sich.

Der alte General wußte alles das, all das geschah unter seinen Augen, aber alle diese Fälle rührten sein Gewissen nicht. Diese Fälle passierten infolge strenger Erfüllung der Vorschriften von oben, im Namen Seiner Majestät des Kaisers. Die Vorschriften aber müssen unvermeidlich erfüllt werden, und darum war es vollkommen nutzlos, an die Folgen solcher Vorschriften zu denken. Einmal in der Woche besuchte der alte General alle Kasematten und befragte die Eingekerkerten, ob sie nicht irgend welche Bitten hätten. Die Eingekerkerten wandten sich an ihn mit verschiedenen Bitten. Er hörte sie ruhig, undurchdringlich schweigend, an und erfüllte nie etwas, weil alle Bitten den Gesetzesbestimmungen widerstritten.

Als Nechljudow zur Residenz des alten Generals vorfuhr, spielte das feine Glockenspiel der Uhr auf dem Turm, und dann schlug es zwei Uhr.

Der alte General saß zu der Zeit, als Nechljudow bei der Anfahrt zu seiner Wohnung vorfuhr, in einem dunklen Empfangszimmer, an einem eingelegten Tischchen, und rückte zusammen mit einem jungen Mann, einem Künstler, dem Bruder eines seiner Untergebenen, eine Untertasse auf einem Bogen Papier. Die dünnen, feuchten, schwachen Finger des Künstlers waren zwischen die rauhen, runzeligen und in den Gelenken erstarrten Finger des alten Generals gelegt, und diese vereinigten Hände bewegten sich in Zuckungen mit der umgestürzten Untertasse über den Papierbogen mit sämtlichen auf ihm dargestellten Buchstaben des Alphabets. Die Untertasse antwortete auf die vom General aufgegebene Frage, wie die Seelen nach dem Tode einander erkennen würden.

Als einer seiner Ordonnanzen, der das Amt eines Kammerdieners bekleidete, mit Nechljudows Karte hereintrat, sprach vermittelst der Untertasse die Seele Jeanne d'Arc's; die Seele hatte schon buchstabenweise die Worte gesagt: »Sie werden einander« – und dies war aufgeschrieben. Zur Zeit, als die Ordonnanz kam, gelangte die Untertasse, nachdem sie einmal beim d, ein anderes Mal beim e stehen geblieben, zum r, blieb bei diesem Buchstaben stecken und begann hin und her zu zucken. Sie zuckte aber deswegen, weil der folgende Buchstabe nach der Meinung des Generals n sein sollte, das heißt Jeanne d'Arc sollte, seiner Meinung nach, sagen, daß die Seelen einander nur nach der Reinigung von allem Irdischen erkennen würden, oder etwas Ähnliches, und der folgende Buchstabe sollte n sein; der Künstler aber glaubte, der folgende Buchstabe werde a sein, da die Seele sagen werde, daß die Seelen einander an dem Schein, der von dem Ätherleib der Seelen ausströmt, erkennen werden. Der General zog finster seine dichten, grauen Augenbrauen zusammen, sah mit unverwandtem Blick auf die Hände, und indem er sich einbildete, die Untertasse bewege sich von selbst, zog er sie zum n. Der junge, blutlose Künstler aber, mit den hinter die Ohren gelegten dünnen Haaren, blickte mit seinen leblosen blauen Augen in die dunkle Ecke des Empfangszimmers und zog, nervös die Lippen bewegend, zum a. Der General machte wegen der Unterbrechung seiner Beschäftigung eine unzufriedene Miene, und nach einer Minute des Schweigens nahm er die Karte, setzte sein Augenglas auf, und mit Ächzen vor Schmerzen im Kreuz erhob er sich in seiner ganze Höhe, die erstarrten Finger reibend.

»Bitte ins Kabinett!«

»Erlauben, Eure Exzellenz, ich fahre allein fort,« sagte der Künstler, aufstehend; »ich fühle die Anwesenheit.«

»Schön, machen Sie's zu Ende«, sagte entschieden und streng der General und begab sich mit großen Schritten ins Kabinett.

»Es ist mir angenehm, Sie zu sehen«, sprach der General zum Nechljudow. »Sind Sie schon lange in Petersburg?«

Nechljudow sagte, daß er erst vor kurzem angekommen sei.

»Wie befindet sich die Fürstin, Ihre Frau Mutter? Gesund?«

»Meine Mutter ist verschieden.«

»Verzeihen Sie, ich habe sie sehr betrauert. Mein Sohn hat mir gesagt, daß er Ihnen begegnet sei.«

»Jawohl, mit Ihrem Herrn Vater zusammen habe ich gedient. Freunde, Kameraden waren wir. Wie ist es denn, dienen Sie?«

»Nein, ich diene nicht.« Der General neigte mißbilligend den Kopf.

»Ich habe eine Bitte an Sie, General«, sagte Nechljudow.

»Se–e–hr erfreut. Womit kann ich Ihnen dienen?«

»Wenn meine Bitte unstatthaft ist, so bitte, verzeihen Sie mir. Aber ich muß sie überbringen.«

»Was ist es?«

»Bei Ihnen wird jemand, Gurkewitsch, in Haft gehalten; seine Mutter nun bittet um eine Zusammenkunft mit ihm, oder wenigstens, daß man ihm Bücher übergeben könnte.«

Der General zeigte bei Nechljudows Frage weder Vergnügen, noch Mißvergnügen, sondern neigte den Kopf auf eine Seite und drückte die Augen zu, als ob er überlegte. Eigentlich überlegte er nichts und interessierte sich nicht einmal für Nechljudows Frage, da er sehr gut wußte, was er ihm dem Gesetz gemäß antworten werde. Er ruhte einfach geistig aus, indem er an nichts dachte.

»Dies, sehen Sie, hängt von mir nicht ab«, sagte er, als er ein wenig ausgeruht. »Über die Zusammenkünfte gibt es die allerhöchst bestätigten Gesetzesbestimmungen, und was dort erlaubt ist, das wird erlaubt. Und was die Bücher anbetrifft, so haben wir eine Bibliothek, und man gibt ihnen solche, die erlaubt sind.«

»Ja, aber er braucht wissenschaftliche Bücher; er will sich wissenschaftlich beschäftigen.«

»Das glauben Sie nicht.« Der General schwieg eine Weile. »Das ist nicht wegen der Beschäftigung. Es ist nur so eine Unruhe.«

»Ja, aber man muß doch in ihrer schweren Lage die Zeit mit etwas ausfüllen«, sagte Nechljudow.

»Sie beklagen sich immer«, sagte der General. »Wir kennen sie schon.«

Er sprach von ›ihnen‹ im allgemeinen, wie von irgend einer besonderen, schlechten Menschenrasse.

»Es wird ihnen aber hier eine solche Bequemlichkeit gewährt, wie sie selten in Gefängnissen zu treffen ist«, fuhr er fort.

»Früher, wirklich, war es ziemlich hart, gegenwärtig aber werden sie hier ausgezeichnet gehalten. Sie speisen drei Gerichte, eins davon immer Fleisch: Klopse oder Koteletts. An Sonntagen haben Sie noch ein viertes süßes Gericht. So, daß Gott gäbe, daß nur jeder russische Mensch so speisen könnte.«

»Bücher gibt man ihnen, sowohl religiösen Inhalts, wie auch alte Zeitschriften. Wir haben eine Bibliothek. Nur lesen sie selten. Zuerst scheinen sie sich dafür zu interessieren, dann aber bleiben die neuen Bücher bis zur Hälfte unaufgeschnitten; bei den alten aber wird nicht mal ein Blatt umgeschlagen; wir haben es sogar versucht,« sagte der Baron mit der entfernten Nachahmung eines Lächelns, »absichtlich legen wir ein Papierchen hinein. Es bleibt auch da, wird nicht weggenommen. Ebenso ist ihnen auch das Schreiben nicht untersagt. Es wird ihnen eine Schiefertafel und auch ein Schieferstift gegeben, so daß sie der Zerstreuung halber schreiben können. Sie können wegwischen und wieder schreiben, aber auch schreiben tun sie nicht. Nein, sie werden sehr bald ganz ruhig. Nur anfangs zeigen sie Unruhe, dann aber werden sie sogar dick, und sehr still werden sie«, sprach der General, und er vermutete nicht einmal, welche schreckliche Bedeutung seine Worte hatten.

Nechljudow hörte seine heisere greisenhafte Stimme, sah auf die erloschenen Augen unter den grauen Augenbrauen, – und er begriff, daß ihm zu erwidern, die Bedeutung seiner Worte zu erklären, nutzlos sei. Aber er machte dennoch eine Anstrengung und fragte noch nach der anderen Sache, nach der Gefangenen Schustowa, über welche er heute die Nachricht bekommen hatte, daß befohlen sei, sie frei zu lassen.

»Schustowa? Schustowa . . . Ich erinnere mich nicht ihrer aller, dem Namen nach. Es gibt ihrer ja so viele«, sagte er, indem er augenscheinlich die Überfüllung der Gefängnisse ihnen vorwarf. Er klingelte und ließ den Sekretär rufen.

Der Sekretär, ein trockener, magerer Mann mit unruhigen, klugen Augen kam zu melden, daß die Schustowa in irgend einem sonderbaren Fortifikationsort inhaftiert sei, und daß keine sie betreffenden Papiere eingetroffen seien.

»Wenn wir die Ordre erhalten, so schicken wir sie an demselben Tage ab. Wir halten sie nicht«, sagte der General, wieder mit dem Versuch eines Lächelns, das sein altes Gesicht nur verzerrte.

Nechljudow stand auf. Der Alte glaubte, daß er auch nicht zu streng gegen den leichtsinnigen und augenscheinlich verirrten Sohn seines Kameraden sein dürfe und ihn nicht ohne Zurechtweisung lassen solle. –

»Leben Sie wohl, mein Lieber, nehmen Sie es mir nicht übel, aber ich sage es aus Liebe zu Ihnen. Verkehren Sie nicht mit den Leuten, die bei uns inhaftiert sind. Unschuldige gibt's nicht. Diese Leute sind die allerunmoralischsten. Wir kennen sie wohl«, sagte er in einem Tone, der keine Möglichkeit des Zweifels zuließ. Und er zweifelte wirklich nicht daran, nicht weil es so war, sondern, weil, falls es nicht so wäre, er sich nicht für einen ehrwürdigen Helden, der die letzten Tage seines guten Lebens würdig verbrachte, hätte halten müssen, sondern für einen Taugenichts, der sein Gewissen verkauft hatte und es bis auf seine alten Tage zu verkaufen fortfuhr.

Nechljudow verbeugte sich tief, drückte die ihm nachsichtig ausgestreckte knochige, große Hand und ging aus dem Zimmer.

Der General schüttelte mißbilligend den Kopf, und ging wieder in das Empfangszimmer, wo ihn der Künstler erwartete. Er hatte schon die von Jeanne d'Arc erhaltene Antwort aufgeschrieben.

Der General setzte sein Augenglas auf und las: »Sie werden einander an dem Lichte erkennen, das aus den Ätherleibern strömt.«

»Ah,« sagte beifällig der General, die Augen zudrückend, »aber wie wird man einander erkennen, wenn das Licht bei allen das gleiche ist?« fragte er, und wieder, die Finger mit dem Künstler kreuzend, setzte er sich an das Tischchen.

 

Am anderen Tage sollte die Sache der Maslowa zum Vortrag kommen, und Nechljudow fuhr in den Senat. Der Advokat kam gleichzeitig mit ihm an der großartigen Anfahrt des Senatsgebäudes vorgefahren, wo schon einige Equipagen standen. Als sie die prächtige, feierliche Treppe in den zweiten Stock hinaufgegangen, begab sich der Advokat, der alle Gänge kannte, nach links in eine Tür, auf der die Jahreszahl der Einführung der Gerichtsreformen angebracht war. Nachdem er im ersten langen Zimmer seinen Paletot abgelegt und von dem Portier erfahren, daß die Senatoren sich alle versammelt hätten, und daß der letzte eben vorbeigegangen sei, trat Fanarin im Frack, und in weißer Krawatte über der weißen Brust, mit heiterer Sicherheit in das folgende Zimmer. In diesem zweiten Zimmer befand sich rechts ein großer Schrank, dann ein Tisch, und links eine gewundene Treppe, auf der sich zu dieser Zeit ein eleganter Beamter in Vizeuniform mit einem Portefeuille unter dem Arm herunter bewegte. Im Zimmer lenkte die Aufmerksamkeit auf sich ein kleiner patriarchenhafter Alter mit langen weißen Haaren in einem Jäckchen und grauen Beinkleidern, neben dem mit besonderer Ehrerbietigkeit zwei Diener standen. Der kleine Alte mit den weißen Haaren ging in den Schrank und verschwand dort. Gleichzeitig erblickte Fanarin einen Kameraden, einen Advokaten, ebenso wie er, mit weißer Kravatte und im Frack, und sogleich ließ er sich mit ihm in ein lebhaftes Gespräch ein. Nechljudow aber betrachtete die im Zimmer Anwesenden. Es waren etwa fünfzehn Personen – Publikum, darunter zwei Damen. Die heute zu verhandelnde Sache betraf Verleumdung durch die Presse, und daher war mehr Publikum als gewöhnlich versammelt.

Ein Gerichtskommissar, ein rotbäckiger, schöner Mann in prachtvoller Uniform, mit einem Papierchen in der Hand, trat an den Fanarin heran mit der Frage – welches Prozesses wegen er komme? Und als er erfahren hatte, daß er wegen des Prozesses der Maslowa komme, schrieb er etwas auf und ging fort. Jetzt öffnete sich die Schranktür, und heraus trat der kleine patriarchenhafte Alte, aber schon nicht mehr in der Jacke, sondern in einem mit Tressen besetzten Kostüm, mit glänzenden Schilden auf der Brust, das ihn einem Vogel ähnlich machte.

Dieses lächerliche Kostümchen machte augenscheinlich den kleinen Alten selbst verlegen, und er ging eilig durch die Tür, der Eingangstür gegenüber.

»Dies ist Bee, der achtbarste Mann«, sagte Fanarin zum Nechljudow, und nachdem er ihn mit seinem Kollegen bekannt gemacht, erzählte er von dem bevorstehenden sehr interessanten Prozeß, der verhandelt werden sollte.

Der Prozeß war bald begonnen, und Nechljudow ging mit dem Publikum zusammen nach links in den Sitzungssaal.

Der Sitzungssaal des Senats war kleiner als der Saal des Bezirksgerichts; er war einfacher eingerichtet und unterschied sich nur dadurch, daß der Tisch, an dem die Senatoren saßen, nicht mit grünem Tuch bedeckt war, sondern mit himbeerfarbenem, mit goldener Tresse besetztem Samt. Der Senatoren waren vier: der Vorsitzende, Nikitin, ein glattrasierter Mann mit schmalem Gesicht und stählernen Augen; Wolf, mit bedeutsam zusammengedrückten Lippen und weißen Händchen, mit welchen er in den Akten des Prozesses herumwühlte; dann Skoworodnikow, ein dicker, gewichtiger, pockennarbiger Mann, ein gelehrter Jurist; und der vierte, Bee, derselbe kleine patriarchenhafte Alte, der als letzter vorgefahren war. Mit den Senatoren zusammen kam der Obersekretär und Kollege des Oberprokurors, ein dünner, rasierter, junger Mann von mittlerem Wuchs. Trotz der seltsamen Uniform, trotzdem, daß Nechljudow ihn sechs Jahre lang nicht gesehen, erkannte er in ihm sogleich einen der besten Freunde aus seiner Studentenzeit.

»Ist der Kollege des Oberprokurors Selenin?« fragte Nechljudow den Advokaten.

»Ja, wie so denn?«

»Ich kenne ihn gut, es ist ein ausgezeichneter Mensch . . .«

»Und ein guter Kollege des Oberprokurors, ein tüchtiger. Den sollte man bitten«, sagte der Advokat.

»Er wird jedenfalls nach seinem Gewissen handeln«, sagte Nechljudow, während er seines nahen Verhältnisses und der Freundschaft mit Selenin, seiner liebenswerten Eigenschaften, seiner Reinheit, Ehrlichkeit, Ordentlichkeit im besten Sinne dieses Wortes gedachte.

»Überdies ist auch jetzt keine Zeit dazu«, flüsterte Fanarin, der sich dem Anhören des beginnenden Vortrages des Prozesses hingab.

Die Verhandlung begann über eine Beschwerdeführung gegen das Urteil des Kassationshofes, der die Entscheidung des Bezirksgerichtes nicht abgeändert hatte.

Nechljudow schickte sich an, zuzuhören und bemühte sich, die Bedeutung dessen zu begreifen, was sich vor ihm abspielte, aber, ebenso wie im Bezirksgericht, bestand die Hauptschwierigkeit für das Verständnis darin, daß die Rede nicht um das ging, was sich natürlicher Weise als Hauptsache darstellte, sondern um etwas vollständig Nebensächliches. Es handelte sich hier um einen Artikel in einer Zeitung, in welchem ein Direktor einer Aktiengesellschaft gewisser Gaunereien überführt worden. Nur das hätte von Wichtigkeit scheinen können, ob es wahr sei, daß der Direktor der Aktiengesellschaft seine Vollmachtgeber bestehle, und wie es zu machen sei, daß er aufhöre, sie zu bestehlen. Aber davon war keine Rede. Man sprach nur darüber, ob der Verleger, dem Gesetz gemäß, das Recht gehabt oder nicht gehabt, den Artikel des Feuilletonisten zu drucken, und welches Verbrechen er begangen, indem er ihn druckte, Diffamation oder Verleumdung, und wie es sei: ob die Diffamation die Verleumdung in sich einschließe, oder die Verleumdung die Diffamation?

Eins, was Nechljudow einsah, war, daß Wolf, trotzdem er gestern ihm so sehr einprägen wollte, daß der Senat auf die Untersuchung der Sache, dem Wesen nach, nicht eingehen könne, – in diesem Falle augenscheinlich parteiisch vortrug, zugunsten der Kassation des Urteils des Kassationshofs; und daß Selenin unerwartet heiß seiner entgegengesetzten Meinung Ausdruck gab, was der ihm charakteristischen Zurückhaltung vollkommen widersprach. Die den Nechljudow verwundernde Heftigkeit des immer zurückhaltenden Selenin hatte ihren Grund darin, daß er den Direktor der Aktiengesellschaft als einen in Geldangelegenheiten unsauberen Mann kannte; inzwischen hatte er zufällig erfahren, daß Wolf fast am Tage vor der Verhandlung seines Prozesses bei diesem Profitmacher auf einem prächtigen Diner gewesen. Jetzt aber, als Wolf, obschon sehr vorsichtig, so doch augenscheinlich einseitig, die Sache vorgetragen, erhitzte sich Selenin und drückte seine Meinung zu nervös für eine gewöhnliche Sache aus. Diese Rede beleidigte offenbar den Wolf: er ward rot, zuckte, machte stumme Gesten der Verwunderung, und mit sehr würdigem und beleidigtem Aussehen entfernte er sich, zusammen mit den anderen Senatoren, in das Beratungszimmer.

»Wegen welchen Prozesses sind Sie eigentlich hier?« fragte wieder der Gerichtskommissar den Fanarin, sobald die Senatoren sich entfernten.

»Ich habe Ihnen schon gesagt, daß es wegen der Sache der Maslowa ist«, sagte Fanarin.

»Das ist wahr. Die Sache kommt heute zum Vortrag. Aber . . .«

»Aber was ist denn?« fragte der Advokat.

»Sehen Sie gefälligst, diese Sache sollte ohne Parteien verhandelt werden, so daß die Herren Senatoren schwerlich nach der Erklärung des Urteils wieder herauskommen werden. Aber . . . ich werde es melden . . .«

»Das heißt: wie so denn? . . .«

»Ich will es melden, ich will es melden«, und der Gerichtskommissar machte irgend eine Notiz auf seinem Papierchen.

Die Senatoren waren wirklich gesonnen, nach der Erklärung des Urteils über die Sache von der Verleumdung, die übrigen Prozesse, unter ihnen auch die Sache der Maslowa, bei Tee und Zigaretten zu beendigen, ohne aus dem Beratungszimmer hinauszugehen.

 

Sobald die Senatoren sich an den Tisch des Beratungszimmers gesetzt hatten, begann Wolf, sehr lebhaft, die Motive auseinanderzusetzen, nach welchen der Prozeß kassiert werden sollte. Der Vorsitzende, auch sonst kein wohlwollender Mann, war heute besonders schlechter Laune. Während der Sitzung, als er dem Vortrage zuhörte, hatte er sich schon seine eigene Meinung gebildet, und jetzt saß er, ohne dem Wolf zuzuhören, in seine Gedanken vertieft.

»Ja, versteht sich«, erwiderte er auf die Worte des sich an ihn wendenden Wolf, ohne sie zu hören.

Bee aber hörte dem Wolf mit schwermütigem Gesicht zu, indem er Girlanden auf das vor ihm liegende Papier zeichnete. Bee war ein Liberaler reinsten Wassers. Heilig bewahrte er die Traditionen der sechziger Jahre, und wenn er schon einmal von der strengen Unparteilichkeit abwich, so geschah es nur in der Richtung der Liberalität. So war Bee im gegenwärtigen Falle dafür, daß man der Beschwerde keine Folge leiste, auch aus dem Grunde, weil, außerdem, daß der Aktienschacherer, der sich über die Verleumdung beklagt hatte, ein unsauberer Mensch war, diese Verleumdungsanklage gegen den Journalisten eine Beschränkung der Preßfreiheit bedeutete. Als Wolf seine Beweisführung beendete, legte Bee, ohne seine Girlande zu Ende zu zeichnen, mit weicher, angenehmer Stimme, kurz, einfach und überzeugend die Unstichhaltigkeit der Beschwerde dar, und den Kopf mit den weißen Haaren senkend, fuhr er fort, die Girlande zu Ende zu zeichnen.

Skoworodnikow, der dem Wolf gegenüber saß und die ganze Zeit seinen Bart und Schnurrbart mit den dicken Fingern in den Mund stopfte, hörte sogleich den Bart zu kauen auf, als Bee zu Ende war, und sagte mit lauter, knarrender Stimme, daß, trotzdem der Direktor der Aktiengesellschaft ein großer Schurke sei, er auf Kassation des Urteils anhalten würde, wenn gesetzliche Gründe vorhanden wären, aber da keine solche vorhanden seien, schließe er sich der Meinung des Iwan Semjonowitsch (Bee) an, sagte er, sich über den Stich freuend, den er dadurch dem Wolf versetzte. Der Vorsitzende schloß sich der Meinung Skoworodnikows an, und die Sache ward negativ entschieden.

Wolf war unzufrieden, besonders damit, daß er gleichsam einer nicht gewissenhaften Parteinahme überführt worden, und sich gleichgültig stellend, schlug er den zum Vortrag folgenden Prozeß der Maslowa auf und vertiefte sich darin. Die Senatoren aber klingelten inzwischen, verlangten Tee und kamen ins Gespräch über den Fall, der um diese Zeit samt dem Duell des Kamennskij alle Petersburger beschäftigte. Es war die Sache eines Departementdirektors, der auf dem Verbrechen, das im Artikel 995 vorgesehen ist, ertappt und überführt worden.

»Welche Abscheulichkeit«, sagte mit Ekel Bee.

»Was ist denn dabei Schlechtes? Ich möchte Sie in unserer Literatur auf das Projekt eines deutschen Schriftstellers hinweisen, der geradezu vorschlägt, so etwas nicht mehr für ein Verbrechen zu halten, so daß die Ehe zwischen Männern möglich wäre«, sagte Skoworodnikow, und er lachte laut auf.

»Aber das kann nicht sein«, sagte Bee.

»Ich werde es Ihnen zeigen«, sagte Skoworodnikow und zitierte den vollen Titel des Werkes.

»Man sagt, er wird zum Gouverneur irgend einer sibirischen Stadt ernannt«, sagte Nikitin.

»Und es ist ausgezeichnet. Ein Bischof mit dem Kruzifix wird ihn empfangen. Man müßte nur auch noch einen ebensolchen Bischof haben.«

Derzeit kam der Kommissar herein und meldete, daß der Advokat und Nechljudow wünschten, bei Verhandlung der Sache der Maslowa anwesend zu sein.

»Hier ist dieser Prozeß,« sagte Wolf, »dies ist eine ganz romanhafte Geschichte«, und er erzählte, was er von den Beziehungen Nechljudows zur Maslowa mußte.

Nachdem die Senatoren darüber gesprochen, gingen sie in den Sitzungssaal hinab, gaben ihr Urteil über den vorhergehenden Prozeß ab und machten sich an die Sache der Maslowa.

Wolf trug mit seiner hohen Stimme sehr ausführlich die Kassationsbeschwerde der Maslowa vor und wieder nicht ganz unparteiisch, sondern augenscheinlich mit dem Wunsch, daß das Urteil des Gerichts kassiert werde.

»Haben Sie etwas hinzuzufügen?« wandte sich der Vorsitzende an den Fanarin.

Fanarin stand auf, und seine weiße, breite Brust herausdrückend, wies er Punkt für Punkt, mit erstaunlicher Eindringlichkeit und Genauigkeit des Ausdrucks nach, daß das Gericht in sechs Punkten vom strikten Sinne des Gesetzes abgewichen, und außerdem erlaubte er sich, obgleich in aller Kürze, auch die Sache selbst, dem Wesen nach, und die schreiende Ungerechtigkeit des Urteils zu streifen. Der Ton der kurzen, aber starken Rede des Fanarin war so, als ob er sich entschuldige, auf dem bestehen zu müssen, was die Herren Senatoren mit ihrem Scharfsinn und mit ihrer juristischen Weisheit, besser als er, einsähen und begriffen, und daß er es nur tue, weil es die von ihm auf sich genommene Pflicht erfordere. Nach Fanarins Rede, schien es, konnte keine Spur von Zweifel daran bestehen, daß der Senat das Urteil des Gerichtes kassieren werde. Als Fanarin seine Rede beendigt hatte, lächelte er siegreich. Auf seinen Advokaten blickend und dieses Lächeln sehend, war Nechljudow überzeugt, daß die Sache gewonnen sei. Aber als er die Senatoren ansah, bemerkte er, daß Fanarin allein lächelte und triumphierte. Die Senatoren und der Kollege des Oberprokurors lächelten und triumphierten nicht, sie hatten das Aussehen von Leuten, die sich langweilen und sagen: ›Wir haben viele euresgleichen gehört, und all das bedeutet nichts.‹ Sie alle waren augenscheinlich nur befriedigt, daß der Advokat endete und aufhörte, sie unnützerweise aufzuhalten. Sogleich nach Beendigung der Rede des Advokaten wandte sich der Vorsitzende an den Kollegen des Oberprokurors. Selenin äußerte sich kurz, aber klar und genau, für das Belassen der Sache ohne Veränderung, indem er alle Anlässe zur Kassation unstichhaltig fand. Gleich darauf standen die Senatoren auf und gingen, um sich zu beraten.

Im Beratungszimmer teilten sich die Stimmen. Wolf war für die Kassation; Bee, der begriff, um was es sich hier handelte, stand sehr feurig gleichfalls für die Kassation ein, indem er den Kollegen lebhaft das Bild des Gerichtes und des Mißverständnisses der Geschworenen, wie er es ganz richtig verstanden, darstellte; Nikitin, der immer für die Strenge überhaupt und für strenge Formalität war, war gegen die Kassation. Die ganze Sache konnte durch die Stimme des Skoworodnikow entschieden werden. Und diese Stimme stellte sich auf die Seite der Ablehnung, vorzüglich, weil der Beschluß des Nechljudow, dieses Mädchen im Namen der moralischen Forderungen zu heiraten, ihm in höchstem Grade zuwider war.

Skoworodnikow war Materialist, Darwinist, und er hielt jegliche Äußerungen der abstrakten Moral oder noch schlimmer: der Religiosität, nicht nur für einen verachtenswerten Unsinn, sondern für eine persönliche Beleidigung seiner selbst. Diese ganze Plackerei um diese Prostituierte, und die Anwesenheit des sie verteidigenden berühmten Advokaten und des Nechljudow selbst hier im Senat, war ihm im höchsten Grade widrig. Und indem er den Bart in den Mund steckte und Grimassen machte, tat er sehr natürlich so, als ob er nichts von dieser Sache wisse, außer, daß die Kassationsmotive ungenügend seien, und darum sei er mit dem Vorsitzenden einverstanden, die Beschwerde ohne Folgen zu belassen.

Die Beschwerde ward abgelehnt.

 

»Schrecklich!« sprach Nechljudow, als er samt dem sein Portefeuille einpackenden Advokaten in das Empfangszimmer hinausging, »in der klarsten Sache klammern sie sich an die Form und lehnen ab. Schrecklich!«

»Die Sache ist im Gericht verpfuscht worden«, sagte der Advokat.

»Und Selinin ist für die Ablehnung. Schrecklich, schrecklich!« fuhr Nechljudow fort, zu wiederholen. »Was ist denn jetzt zu tun?«

»Nun werden wir eine Bittschrift an die allerhöchste Instanz einreichen. Und reichen Sie selber sie ein, solange Sie hier sind. Ich werde sie Ihnen aufsetzen.«

Um diese Zeit trat der kleine Wolf mit seinen Sternen und seiner Uniform in das Empfangszimmer und näherte sich dem Nechljudow.

»Was soll man tun, lieber Fürst? Es gab keine genügenden Motive«, sagte er, seine schmalen Schultern zuckend und die Augen zudrückend, und ging seines Weges.

Gleich nach dem Wolf kam auch Selenin heraus, da er von den Senatoren erfahren, daß Nechljudow, sein früherer Freund, hier sei.

»Nun, das habe ich nicht erwartet, dich hier zu treffen«, sagte er, sich dem Nechljudow nähernd und mit den Lippen lächelnd, während seine Augen schwermütig blieben. »Ich wußte ja nicht, daß du in Petersburg bist.«

»Ich aber wußte nicht, daß du Oberprokuror bist . . .«

»Oberprokurorskollege«, berichtigte Selenin.

»Wieso kommst du in den Senat?« fragte er, schwermütig und traurig seinen Freund anblickend. »Ich wußte, daß du in Petersburg bist. Aber auf welche Weise bist du hier?«

»Hier? Ich bin hier, weil ich Gerechtigkeit zu finden und eine um nichts verurteilte Frau zu retten hoffte.«

»Welche Frau?«

»Die Sache, die eben entschieden worden.«

»Ah, die Sache der Maslowa«, sagte Selenin sich entsinnend. »Ganz unbegründete Beschwerde.«

»Die Sache liegt nicht in der Beschwerde, sondern in der Frau, die unschuldig ist und Strafe trägt.«

Selenin seufzte.

»Es ist sehr möglich, aber . . .

»Nicht ›möglich‹, sondern sicher . . .«

»Aber wie weißt denn du das?«

»Weil ich einer der Geschworenen gewesen. Ich weiß, wo und wie wir den Fehler gemacht haben.«

Selenin wurde nachdenklich.

»Man mußte es damals sofort anzeigen«, sagte er.

»Ich habe es angezeigt.«

»Man mußte es ins Protokoll eintragen. Wenn es sich bei der Kassationsbeschwerde fände . . .«

»Ja, aber es war ja auch jetzt augenscheinlich, daß das Urteil ungereimt war«, sagte Nechljudow.

»Der Senat hat kein Recht, es zu sagen. Wenn der Senat sich erlaubte, die Urteile der Gerichte auf Grund seiner Ansicht über die Gerechtigkeit der Urteile selber zu kassieren, so würden auch die Urteile der Geschworenen ihre ganze Bedeutung verlieren.«

»Ich weiß nur eins: daß diese Frau vollkommen unschuldig ist, und daß die letzte Hoffnung, sie von der unverdienten Strafe zu retten, verloren gegangen. Die höchste Institution hat eine vollendete Ungerechtigkeit bestätigt.«

»Bestätigt hat sie sie nicht, weil sie auf die Untersuchung der Sache selbst nicht eingegangen ist und nicht eingehen kann«, sagte Selenin, ein Auge zukneifend.

»Du bist gewiß bei dem Tantchen abgestiegen«, fügte Selenin hinzu, offenbar in dem Wunsch, das Gespräch zu wechseln. »Gestern habe ich von ihr erfahren, daß du hier bist. Die Gräfin hat mich eingeladen, mit dir zusammen bei dem Vortrage eines zugereisten Predigers anwesend zu sein«, sagte Selenin, mit den Lippen allein lächelnd.

»Ich bin dort gewesen, aber mit Abscheu weggegangen«, sagte Nechljudow böse: er ärgerte sich, daß Selenin das Gespräch auf etwas anderes lenkte.

»Nun, warum denn mit Abscheu? Es ist dennoch eine Offenbarung des religiösen Gefühls, obgleich eine einseitige, sektiererische«, sagte Selenin.

»Es ist irgend ein wilder Wahnwitz«, sagte Nechljudow.

»Übrigens, – wir werden nachher sprechen«, sagte Selenin. »Ich komme«, wandte er sich an den Gerichtskommissar, der sich ihm ehrerbietig näherte. »Unbedingt müssen wir uns wieder sehen«, fügte er seufzend hinzu. »Ob man dich aber treffen wird? Mich wirst du stets um sieben Uhr beim Mittagessen treffen, Nadeschdinskajastraße«, er nannte die Nummer.

 

Zurzeit, da Nechljudow den Selenin als Studenten kannte, war dieser ein ausgezeichneter Sohn, treuer Kamerad und, im Vergleich zu seinen Jahren, ein Weltmann von guter Bildung mit großem Takt, immer elegant und schön und zu gleicher Zeit ungewöhnlich wahrhaft und ehrlich. Er studierte ausgezeichnet, ohne besondere Mühe und ohne eine Spur von Pedanterie, und bekam dabei goldene Medaillen für seine Arbeiten. Er stellte sich in Wirklichkeit, nicht nur in Worten, das Ziel, sein junges Leben dem Dienst der Menschheit zu widmen. Diesen Dienst stellte er sich nicht anders als in der Form des Staatsdienstes vor; sobald er daher die Universität beendet, prüfte er systematisch alle Formen der Tätigkeit, welchen er seine Kräfte widmen konnte, und entschied, daß er am nützlichsten in der zweiten Abteilung von Seiner Majestät Eigenen Kanzlei sein werde, die mit der Redaktion der Gesetze betraut ist, und er trat in diese ein. Aber trotz der genauesten und gewissenhaftesten Erfüllung alles dessen, was man von ihm verlangte, fand er in diesem Dienste keine Befriedigung seines Bedürfnisses, nützlich zu sein, und er konnte nicht zu dem Bewußtsein gelangen, daß er das tue, was er solle. Diese Unbefriedigung verstärkte sich infolge von Kollisionen mit dem nächsten, sehr kleinlichen und eitlen Vorgesetzten dergestalt, daß er die zweite Abteilung verließ und in den Senat überging. Im Senat ging es ihm besser, aber das gleiche Bewußtsein der Unbefriedigung verfolgte ihn. Er fühlte immerfort, daß dies etwas ganz anderes war, als was er erwartete, und was sein mußte. Da, während des Dienstes im Senat, erwirkten seine Verwandten seine Ernennung zum Kammerjunker, und er mußte in der gestickten Uniform, mit weißer Leinwandschürze, in einer Kutsche fahren, um den verschiedenen Personen zu danken, daß man ihn zu dem Amt eines Lakaien beförderte. Wie sehr er sich auch bemühte, er konnte durchaus keine vernünftige Erklärung für dieses Amt finden: und er fühlte noch mehr als im Dienste, daß es ›nicht das Rechte‹ sei. Indessen aber konnte er die Ernennung nicht ablehnen, einerseits um diejenigen nicht zu betrüben, die glaubten, daß sie ihm dadurch eine große Freude bereiteten; andererseits aber schmeichelte diese Ernennung den niederen Instinkten seiner Natur, und es machte ihm Vergnügen, sich im Spiegel in goldgestickter Uniform zu sehen und die Achtung zu genießen, die diese Ernennung in einigen Leuten hervorrief.

Dasselbe geschah mit ihm auch bezüglich seiner Heirat. Man arrangierte für ihn eine vom Standpunkt der Welt sehr glänzende Partie. Und so heiratete er denn auch wieder vorzüglich, weil er durch die Ablehnung das sehr diese Heirat wünschende Mädchen und diejenigen, die diese Heirat zustande bringen wollten, beleidigt und ihnen weh getan hätte, und weil die Heirat mit einem jungen, hübschen, vornehmen Mädchen seiner Selbstliebe schmeichelte und ihm Vergnügen machte. Aber sehr bald erwies es sich, daß die Heirat in noch höherem Grade ›nicht das Rechte‹ war, als der Dienst und das Hofamt. Nach dem ersten Kinde wollte die Frau keine Kinder mehr haben und fing an, ein luxuriöses Weltleben zu führen, an welchem auch er, er mochte wollen oder nicht, teilnehmen mußte. Sie war nicht besonders schön, sie war ihm treu, und es schien, daß sie selber von solchem Leben nichts hatte, außer fürchterlichen Anstrengungen und Müdigkeit, abgesehen davon, daß sie dadurch dem Mann das Leben verbitterte; dennoch führte sie geflissentlich ein solches Leben.

Das Kind, ein Mädchen mit goldigen langen Locken und nackten Beinen, war für den Vater ein vollkommen fremdes Wesen, besonders weil es ganz anders angeleitet wurde, als er es wünschte. Zwischen den Eheleuten stellte das gewöhnliche einander Nichtverstehen und sogar Nichtverstehenwollen sich ein. So daß das Familienleben sich noch mehr als ›nicht das Rechte‹ erwies, denn der Dienst und das Hofamt.

Am meisten aber war ›nicht das Rechte‹ sein Verhalten gegen die Religion. Wie alle Leute seines Kreises und seiner Zeit, zerriß er durch sein geistiges Wachsen ohne die geringste Anstrengung die Fesseln des religiösen Aberglaubens, in welchem er erzogen worden, und er selber wußte nicht, wann genau er sich befreit hatte. Als ein ernster und ehrlicher Mensch verbarg er während des Studentenlebens und seines nahen Verkehrs mit Nechljudow diese seine Befreiung vom Aberglauben der offiziellen Religion nicht.

Er war auch fest überzeugt, im Recht zu sein, wie denn jeder gebildete Mensch unserer Zeit, der ein wenig Geschichte kennt, die Entstehung der Religion überhaupt und Entstehung und Verfall der kirchlich-christlichen Religion kennt, nicht umhin kann, dem gesunden Menschenverstand die Ehre zu geben. Er konnte nicht umhin, zu wissen, daß er recht hatte, indem er die Wahrheit der kirchlichen Lehre nicht anerkannte, aber unter dem Druck der Verhältnisse ließ er, der rechtschaffene Mensch, eine kleine Lüge zu, die darin bestand, daß er sich sagte: um zu behaupten, daß das Unvernünftige unvernünftig sei, muß man zuerst diese Unvernunft studiert haben. Das war eine kleine Lüge, aber eben sie führte ihn in jene große Lüge, in der er jetzt stecken blieb.

Als er sich die Frage stellte, ob die Orthodoxie das Rechte sei, in welcher er geboren und erzogen worden, welche die ganze Umgebung von ihm verlangte, ohne deren Anerkennung er seine für die Menschen nützliche Tätigkeit nicht fortsetzen konnte, war sie schon im voraus entschieden. Und daher, um diese Frage sich klar zu machen, nahm er nicht Voltaire, Schopenhauer, Spencer, Comte vor, sondern philosophische Bücher Hegels und religiöse Werke von Vinet, Chomjakow, und natürlich fand er dort eben das, was er brauchte: einen Schein der Beruhigung und Rechtfertigung jener religiösen Lehre, in der er erzogen worden, und die sein Verstand schon lange nicht mehr zuließ, aber ohne die sein ganzes Leben von allerlei Verdruß erfüllt werden würde; bei der Anerkennung derselben wurden dagegen alle die Unannehmlichkeiten mit einmal beseitigt. Und er eignete sich alle jene gewöhnlichen Sophismen an, daß der einzelne menschliche Verstand die Wahrheit zu erkennen nicht imstande sei, daß die Wahrheit nur der Gesamtheit der Menschen offenbart werde, das einzige Mittel, sie zu erkennen, die Offenbarung sei, daß die Offenbarung von der Kirche aufbewahrt werde und dergleichen. Er dachte, daß er glaube, indessen aber fühlte er mehr als in allem Übrigen mit seinem ganzen Wesen, daß dieser Glaube ganz und gar ›nicht das Rechte‹ sei, und darum hatte er immer schwermütige Augen. Und darum, als er den Nechljudow sah, den er gekannt, als sich alle diese Lügen noch nicht in ihm eingenistet hatten, gedachte er seiner selbst, wie er damals gewesen, und er fühlte mehr als je, besonders nachdem er sich beeilt hatte, ihm seine neue religiöse Ansicht anzudeuten, daß alles dies ›nicht das Rechte‹ sei, und ihm wurde qualvoll-wehmütig. Dasselbe fühlte auch Nechljudow nach dem ersten Eindruck der Freude, den alten Freund wiederzusehen.

Und darum suchten beide, obgleich sie einander versprachen, sich wiederzusehen, dieses Wiedersehen nicht, und so haben sie sich während dieses Aufenthalts Nechljudows in Petersburg nicht mehr gesehen.

 

Als Nechljudow und der Advokat den Senat verließen, gingen sie zusammen auf dem Bürgersteig entlang. Seine Kutsche hieß der Advokat ihm nachfahren und fing an, dem Nechljudow die Geschichte des Departementsdirektors zu erzählen, von dem die Senatoren gesprochen, wie man ihn überführt hat, und ihn, anstatt ihn in die Zwangsarbeit zu schicken, die ihm dem Gesetze gemäß bevorstand, jetzt zum Gouverneur in Sibirien ernennt. Als er die ganze Geschichte in ihrer ganzen Abscheulichkeit zu Ende erzählt und noch mit besonderem Vergnügen eine Geschichte darüber, wie von verschiedenen hochgestellten Leuten das Geld gestohlen worden, welches für das immer noch nicht fertig gebaute Denkmal gesammelt worden, an dem sie heute früh vorbeigefahren, und noch darüber, wie die Maitresse des Herrn so und so Millionen an der Börse gewonnen, und ein anderer so und so seine Frau verkauft, und ein dritter so und so sie gekauft hatte, begann der Advokat einen neuen Bericht über die Gaunereien und vielartigen Verbrechen der höchsten Würdenträger des Staates, die nicht im Gefängnis, sondern auf Präsidentenlehnstühlen in verschiedenen Staatsinstitutionen säßen. Die Erzählungen, deren Vorrat offenbar unerschöpflich war, gewährten dem Advokaten großes Vergnügen, indem sie ihm mit voller Klarheit zeigten, daß die Mittel, die er, der Advokat, gebrauche, um sich Geld zu verschaffen, vollkommen korrekt und unschuldig waren im Vergleich mit denjenigen Mitteln, welche zu demselben Zweck von den höchsten Würdenträgern in Petersburg angewendet wurden. Und darum war der Advokat sehr verwundert, als Nechljudow sich, ohne seine lange Geschichte von den Verbrechen der höchsten Würdenträger zu Ende zu hören, von ihm verabschiedete, einen Mietkutscher nahm und nach Hause fuhr.

Dem Nechljudow war sehr wehmütig ums Herz. Es war ihm wehmütig, hauptsächlich weil das abschlägige Urteil der Senatoren die sinnlose Quälerei der unschuldigen Maslowa bestätigte, und weil dieses Urteil seinen unabänderlichen Entschluß, sein Schicksal mit dem ihren zu vereinigen, noch schwieriger machte.

Als Nechljudow nach Hause zurückgekehrt war, reichte ihm der Portier mit einer gewissen verächtlichen Miene einen Zettel, den im Vorzimmer irgend welche Frau, wie sich der Portier ausdrückte, geschrieben hatte. Dies war ein Zettel von der Mutter der Schustowa. Sie schrieb, daß sie dem Wohltäter, dem Retter ihrer Tochter zu danken gekommen sei, und außerdem ihn zu bitten, ihn anzuflehen, daß er bei ihnen, Wassiljewskij Ostrow, 5 Linie, Wohnung so und so vorfahre. Es wäre dringend nötig, schrieb sie ihm, für Wjera Jefremowna. Er solle nicht fürchten, daß man ihn mit Dankesäußerungen belästigen werde; man werde nicht vom Dank sprechen, sondern man werde einfach froh sein, ihn zu sehen. Wäre es nicht möglich, daß er morgen früh vorführe?

Ein anderer Zettel war von Nechljudows gewesenem Kameraden, dem Flügeladjutanten Bogatyrew, den er gebeten hatte, die von ihm ausgefertige Bittschrift im Namen der Sektierer eigenhändig dem Kaiser zu übergeben. Bogatyrew schrieb mit seiner großen entschiedenen Handschrift, daß er sie, wie er es versprochen, direkt in die Hände des Kaisers überreichen werde, aber ihm sei der Gedanke gekommen, ob es nicht besser wäre, daß Nechljudow zuerst die Person besuche, von welcher die Sache abhänge und sich dort dafür verwende.

Nechljudow holte aus dem Portefeuille die Bittschrift der Sektierer und las sie noch einmal durch, als ein Lakai der Gräfin Katharina Iwanowna bei ihm anklopfte und eintrat mit der Einladung, nach oben, zum Tee, kommen zu wollen.

Nechljudow sagte, daß er sogleich komme, und nachdem er die Papiere in das Portefeuille gelegt, ging er zu dem Tantchen. Auf dem Wege nach oben blickte er durch das Fenster auf die Straße und sah Mariette's Fuchspaar, und unerwartet plötzlich wurde ihm fröhlich zu Mut, und er bekam Lust zu lächeln.

Mariette im Hut saß mit einer Tasse in der Hand neben dem Lehnstuhl der Gräfin und zwitscherte etwas, ihre schönen lächelnden Augen glänzten. In dem Augenblick, als Nechljudow ins Zimmer trat, hatte Mariette eben etwas so Lächerliches und Unanständiglächerliches fallen lassen, – dies merkte Nechljudow an dem Charakter des Lachens –, daß die gutmütige Katharina Iwanowna, mit ihrem ganzen dicken Leib zitternd, sich vor Lachen ausschütten wollte.

Nechljudow erriet nach einigen Worten, daß sie von der zweiten Petersburger Tagesneuigkeit sprachen, von der Episode des neuen sibirischen Gouverneurs, und daß Mariette gerade auf diesem Gebiet etwas Lächerliches gesagt, daß die Gräfin sich lange nicht fassen konnte.

»Du wirst mich noch vor Lachen umbringen«, sagte sie, sich außer Atem hustend.

Nechljudow begrüßte sie und setzte sich zu ihnen. Und kaum wollte er Mariette wegen ihrer Leichtsinnigkeit innerlich tadeln, als sie, den ernsten und kaum merkbar unzufriedenen Ausdruck seines Gesichtes gewahrend, sogleich, um ihm zu gefallen – dazu hatte sie Lust bekommen, seit sie ihn gesehen –, nicht nur den Ausdruck ihres Gesichtes, sondern ihre ganze Gemütsverfassung änderte. Sie wurde plötzlich ernst, unzufrieden mit ihrem Leben und nach etwas suchend, nach etwas strebend; sie verstellte sich nicht etwa, sondern sie eignete sich wirklich eben die Gemütsverfassung an, in welcher Nechljudow in diesem Augenblick war, – obgleich sie durchaus nicht im Stande gewesen wäre, in Worten auszudrücken, worin sie bestand.

Sie fragte ihn, wie er seine Sachen beendet habe. Er erzählte von dem Mißerfolg im Senat und von seiner Begegnung mit Selenin.

»Ach! Welch eine reine Seele! Das ist wirklich der chevalier sans peur et sans reproche. Eine reine Seele«, sagten die beiden Damen, indem sie dem Selenin das ständige Epitheton beilegten, unter welchem er in der Gesellschaft bekannt war.

»Wie ist seine Frau?« fragte Nechljudow.

»Sie? Nun, ich will sie nicht verurteilen. Aber sie versteht ihn nicht.«

»Wie ist es denn? War auch er für die Ablehnung?« fragte sie ihn mit aufrichtigem Mitgefühl. »Es ist schrecklich, wie bedauere ich sie!« fügte sie seufzend hinzu.

Er runzelte die Stirn, und da er den Gesprächsgegenstand wechseln wollte, fing er an, von der Schustowa zu sprechen, die in der Festung inhaftiert gewesen und auf ihre Fürsprache hin entlassen worden. Er dankte ihr für ihre Verwendung bei ihrem Mann und wollte davon sprechen, wie schrecklich es sei, zu denken, daß diese Frau und ihre ganze Familie gelitten, nur weil niemand da war, der an sie erinnert hätte.

»Sprechen Sie mir nicht darüber«, sagte sie. »Sobald mein Mann mir sagte, daß man sie freilassen könne, frappierte mich gerade dieser Gedanke. Weswegen hat man sie denn festgehalten, wenn sie unschuldig ist?« sagte sie, das aussprechend, was Nechljudow sagen wollte. »Das ist empörend, empörend!«

Die Gräfin Katharina merkte, daß Mariette mit ihrem Neffen kokettierte, und das machte ihr Spaß.

»Weißt du was?« sagte sie, als sie verstummten. »Fahre morgen abend bei Aline vor, Kiesewetter wird bei ihr sein. Und du auch«, wandte sie sich an Mariette.

»Il vous a remarqué«, sagte sie dem Neffen. »Er hat mir gesagt, daß alles, was du gesprochen hast – ich habe es ihm erzählt –, alles das ein gutes Zeichen sei, und daß du unbedingt zu Christus kommst. Unbedingt fahre vor. Sag ihm, Mariette, daß er kommen soll, und fahr' du selber auch.«

»Ich habe, Gräfin, erstens kein Recht, dem Fürsten etwas zu raten,« sagte Mariette, indem sie den Nechljudow anblickte und durch diesen Blick mit ihm in ein vollkommenes Einverständnis trat in bezug auf die Worte der Gräfin und überhaupt bezüglich des Evangelismus, »und zweitens habe ich es nicht besonders gern, Sie wissen . . .«

»Ja, du machst immer alles umgekehrt, nach deiner Art.« –

»Wieso nach meiner Art? Ich glaube, wie das allereinfachste Weib«, sagte sie lächelnd. »Und drittens,« fuhr sie fort, »gehe ich morgen ins französische Theater.«

»Ach! Aber hast du gesehen – diese . . . nun, wie heißt sie doch?« sagte die Gräfin Katharina Iwanowna.

Mariette nannte den Namen einer berühmten französischen Schauspielerin.

»Fahre unbedingt, das ist wunderbar.«

»Wen muß ich denn zuerst besehen, ma tante, die Schauspielerin oder den Prediger?« sagte Nechljudow lächelnd.

»Bitte hänge dich nicht an die Worte.«

»Ich glaube, zuerst den Prediger und dann die französische Schauspielerin, sonst aber läuft man Gefahr, ganz den Geschmack an der Predigt zu verlieren«, sagte Nechljudow.

»Nein, lieber soll man mit dem französischen Theater anfangen, und dann bereuen«, sagte Mariette.

»Nun, Sie, halten Sie mich nicht zum Besten! Prediger ist Prediger, und Theater ist Theater. Um seine Seele zu retten, braucht man nicht das Gesicht ein Arschin lang zu machen und immer zu weinen. Man muß glauben, und dann wird einem lustig zu Mute.«

»Sie, ma tante, predigen besser, als alle Prediger.«

»Aber wissen Sie was?« sagte Mariette, nachdenklich geworden, »kommen Sie morgen zu mir in die Loge.«

»Ich fürchte, daß es mir nicht möglich sein wird.«

Das Gespräch unterbrach ein Lakai, der einen Besucher meldete. Es war der Sekretär einer wohltätigen Gesellschaft, deren Präsidentin die Gräfin war.

»Nun, das ist der allerlangweiligste Herr. Ich will ihn lieber dort empfangen. Dann komme ich wieder zu Ihnen. Geben Sie ihm Tee zu trinken, Mariette«, sagte die Gräfin, indem sie mit ihrem raschen, wiegenden Schritt in den Saal ging.

»Wollen Sie?« sagte sie, indem sie eine silberne Teekanne auf der Spiritusflamme anfaßte und den kleinen Finger seltsam ausspreizte.

Ihr Gesicht wurde ernst und schwermütig.

»Mir tut es schrecklich, schrecklich weh, zu denken, daß die Leute, auf deren Meinung ich viel halte, mich mit der Stellung, in welcher ich mich befinde, verwechseln.«

Es war, als ob sie bereit sei, zu weinen, als sie die letzten Worte sprach, und obgleich diese Worte, bei näherer Betrachtung, entweder keinen Sinn hatten, oder doch einen sehr unbestimmten, erschienen sie dem Nechljudow von ungewöhnlicher Tiefe, Aufrichtigkeit und Güte: so zog ihn der Blick der jungen, schönen, gutgekleideten Frau an, welcher diese Worte begleitete.

Nechljudow sah sie schweigend an und konnte seine Augen nicht von ihrem Gesicht losreißen.

»Sie glauben, daß ich Sie nicht verstehe und alles, was in Ihnen vorgeht. Es ist ja allen bekannt, was Sie getan. Und ich bin entzückt davon, und ich billige Sie.«

»Bei Gott, kein Grund, entzückt zu sein. Ich habe noch so wenig ausgerichtet.«

»Das ist gleich. Ich verstehe Ihr Gefühl, und ich verstehe Sie, – nun gut, nun gut, ich werde nicht mehr darüber sprechen,« unterbrach sie sich selber, als sie auf seinem Gesicht ein Mißvergnügen bemerkte, »aber ich verstehe auch das, daß, nachdem Sie alle Leiden, all die Greuel, die in den Gefängnissen vor sich gehn, gesehen haben,« sprach Mariette, indem sie nur eins wünschte, nämlich ihn für sich einzunehmen, und mit ihrem Fraueninstinkt alles das erriet, was für ihn wichtig und teuer war, »Sie den Leidenden helfen wollen, den so schrecklich, so schrecklich durch die Menschen, durch Gleichgültigkeit, durch Grausamkeiten Leidenden . . .«

Als die Gräfin zurückkehrte, sprachen sie nicht nur wie alte, sondern wie besonders nahe Freunde, die allein einander verstehen, mitten in dem sie nicht verstehenden Haufen.

Sie sprachen von der Ungerechtigkeit der Autorität, von den Leiden der Unglücklichen, von der Armut des Volkes, aber im Grunde genommen fragten ihre einander anblickenden Augen fortwährend unter dem Geräusch des Gespräches: ›kannst du mich lieben?‹ und antworteten: ›ich kann‹; und der Geschlechtstrieb, indem er die unerwartetsten und buntfröhlichsten Formen annahm, zog sie zueinander.

Bei der Abfahrt sagte sie ihm, daß sie immer bereit sei, ihm zu dienen, womit sie nur könne, und bat ihn, unbedingt morgen abend zu ihr ins Theater zu fahren, wenn auch nur für eine Minute, da sie noch mit ihm über eine wichtige Sache sprechen müsse.

»Und wann werde ich Sie wiedersehen?« fügte sie mit einem Seufzer hinzu und fing an, vorsichtig den Handschuh auf die von Ringen bedeckte Hand zu ziehen. »Also sagen Sie, daß Sie kommen.«

Nechljudow versprach es.

In dieser Nacht, als Nechljudow allein in seinem Zimmer blieb, sich in das Bett legte und das Licht auslöschte, konnte er lange nicht einschlafen. Während er der Maslowa und des Senatsspruches gedachte, und gedachte, daß er beschlossen, dennoch ihr nachzureisen, seines Verzichts auf die Rechte des Bodenbesitzes gedachte, stellte sich ihm plötzlich, als Antwort auf diese Fragen, das Gesicht Mariette's vor: ihr Seufzer und der Blick, mit dem sie gesagt hatte: ›wann werde ich Sie wiedersehen?‹ und ihr Lächeln, mit solcher Klarheit, als ob er es wirklich sähe, und er lächelte selber. ›Ob ich gut daran tue, wenn ich nach Sibirien fahre? Und ob ich gut tue, mich des Reichtums zu berauben?‹ fragte er sich.

Und die Antworten auf diese Fragen in dieser hellen Petersburger Nacht, die durch die nicht dicht zugezogenen Stores sichtbar war, – waren unbestimmt. Alles verwirrte sich in seinem Kopf. Er rief in sich die frühere Stimmung hervor, erinnerte sich an den früheren Gedankengang; aber diese Gedanken hatten schon nicht mehr die frühere Überzeugungskraft.

›Und plötzlich – habe ich all das ausgedacht und werde nicht imstande sein, darin zu leben; ich werde bereuen, daß ich gut gehandelt‹, sagte er zu sich, und da er unfähig war, diese Fragen zu beantworten, fühlte er eine solche Angst und Verzweiflung, wie er sie schon lange nicht mehr empfunden; unvermögend, sich in diesen Fragen zurechtzufinden, fiel er endlich in jenen schweren Schlaf, welcher ihn ehemals nach einem großen Spielverlust zu befallen pflegte.

 

Das erste, was Nechljudow fühlte, als er am anderen Morgen aufwachte, war, daß er abends zuvor irgend eine Abscheulichkeit begangen habe. Er fing an, sich zu besinnen: eine Abscheulichkeit war nicht da, eine schlechte Handlung nicht, sondern Gedanken hatte er gehabt, schlechte Gedanken darüber, daß alle seine jetzigen Vorsätze: die Heirat mit der Katjuscha, die Übergabe des Landes an die Bauern, – daß alles das unausführbare Träumereien seien, daß er all das nicht werde aushalten können, daß all das gekünstelt, unnatürlich sei, und daß man leben müsse, wie man bisher gelebt habe. Eine schlechte Handlung war nicht da, wohl aber das, was noch viel schlimmer ist, als eine schlechte Handlung: Gedanken waren da, aus welchen alle schlechten Handlungen entspringen. Eine schlechte Handlung kann man unwiederholt lassen und kann sie bereuen, schlechte Gedanken aber erzeugen schlechte Handlungen.

An diesem Tage, der der letzte seines Aufenthalts in Petersburg war, fuhr er früh nach Wassiljewskij Ostrow zu der Schustowa.

Die Wohnung der Schustowa lag im ersten Stock. Nechljudow geriet auf die Hinweisung des Hausbesorgers auf den hinteren Gang, und über eine gerade, steile Treppe kam er direkt in eine heiße und schwer nach Speise riechende Küche. Eine Frau, schon bei Jahren, mit aufgestreiften Ärmeln, in einer Schürze und mit einer Brille, stand am Kochherd und rührte in einer dampfenden Kasserolle etwas um.

»Zu wem wollen Sie?« fragte sie streng, indem sie den Hereintretenden über die Brille weg anblickte.

Nechljudow hatte nicht Zeit, sich zu nennen, als das Gesicht der Frau einen erschrockenen und freudigen Ausdruck annahm.

»Ach, Fürst!« schrie die Frau auf, indem sie die Hände an der Schürze abwischte.

»Aber warum kommen Sie über die hintere Treppe? Unser Wohltäter! Ich bin ihre Mutter. Man hat das Mädchen beinahe ganz und gar zugrunde gerichtet. Unser Retter«, sprach sie, indem sie Nechljudow an der Hand faßte und sie zu küssen suchte.

»Ich bin gestern bei Ihnen gewesen. Meine Schwester hat mich darum besonders gebeten. Sie ist hier. Hierher, hierher, bitte, mir nach«, sprach die Mutter der Schustowa, indem sie den Nechljudow durch die enge Tür, den dunklen kleinen Korridor begleitete und unterwegs bald den aufgeschürzten Rock, bald die Haare ordnete. »Meine Schwester ist die Kornilowa – wahrscheinlich haben Sie gehört?« fügte sie flüsternd hinzu, indem sie vor der Tür stehen blieb. »Sie war in politische Sachen verwickelt. Eine der allerklügsten Frauen.«

Die Schustowa Mutter öffnete die Tür auf dem Korridor und führte Nechljudow in ein kleines Zimmerchen; dort saß vor einem Tisch auf einem kleinen Diwan ein nicht hochgewachsenes, volles Mädchen in einer gestreiften Kattunbluse, mit sich kräuselnden blonden Haaren, die ihr rundes und sehr blasses, dem der Mutter ähnliches Gesicht umrahmten. Ihr gegenüber in einem Lehnstuhl saß wie zusammengeklappt ein junger Mann mit schwarzem Bärtchen und Schnurrbärtchen in einem russischen Hemd mit gesticktem Kragen. Beide waren augenscheinlich so eingenommen vom Gespräch, daß sie sich erst dann umblickten, als Nechljudow schon durch die Tür hereingetreten war.

»Lidia, Fürst Nechljudow, derselbe . . .«

Das blasse Mädchen sprang nervös auf, indem sie eine sich hinter dem Ohr vordrängende Haarsträhne ordnete, und ließ erschrocken ihre großen grauen Augen auf den Hereintretenden haften.

»Also Sie sind jene gefährliche Frau, für welche Wjera Jefremowna gebeten«, sagte Nechljudow lächelnd und ihr die Hand reichend.

»Ja, ich bin es selber«, sagte Lidia und lächelte mit dem ganzen Munde ein gutes kindliches Lächeln, das eine Reihe schöner Zähne aufdeckte. »Die Tante ist es, die Sie so sehr zu sehen wünschte. Tante!« wandte sie sich an sie durch die Tür mit angenehmer, zarter Stimme.

»Wjera Jefremowna war sehr betrübt über Ihre Verhaftung«, sagte Nechljudow.

»Hierher, oder lieber hierher setzen Sie sich«, sprach Lidia, indem sie auf den weichen invaliden Lehnstuhl zeigte, von dem der junge Mann eben aufgestanden.

»Mein Vetter, Sacharow«, sagte sie, den Blick bemerkend, mit dem Nechljudow den jungen Mann ansah.

Der junge Mann begrüßte den Gast ebenso gutmütig lächelnd wie Lidia selber, und als Nechljudow sich auf seinen Platz setzte, nahm er sich einen Stuhl, der beim Fenster stand, und setzte sich neben ihn. Aus der anderen Tür kam noch ein blonder Gymnasiast, etwa sechzehn Jahre alt, und ließ sich schweigend auf dem Fensterbrett nieder.

»Wjera Jefremowna ist eine nahe Freundin der Tante, ich aber kenne sie fast nicht«, sagte Lidia.

Zu der Zeit trat aus dem anstoßenden Zimmer eine Frau mit sehr angenehmem, klugem Gesicht, in einer weißen Bluse mit einem ledernen Gürtel darüber.

»Guten Tag, nun, besten Dank, daß Sie gekommen sind«, fing sie an, sobald sie sich auf den Diwan neben Lidia gesetzt hatte.

»Nun, wie geht es mit Wjerotschka? Haben Sie sie gesehen? Wie erträgt sie denn ihre Lage?«

»Sie beklagt sich nicht,« sagte Nechljudow, »sie sagt, ihr Bewußtsein sei olympisch.«

»Ach Wjerotschka, daran erkenne ich sie«, sagte die Tante lächelnd und den Kopf schüttelnd. »Man muß sie kennen. Das ist eine prächtige Persönlichkeit. Alles für die anderen, nichts für sich.«

»Ja, sie wollte nichts für sich und war nur für Ihre Nichte besorgt. Es quälte sie hauptsächlich, daß sie, wie sie sagte, um nichts verhaftet worden sei.«

»Das ist wahr,« sagte die Tante, »das ist eine schreckliche Sache! Gelitten hat sie eigentlich meinetwegen.«

»Aber ganz und gar nicht, Tante«, sagte Lidia. »Ich würde auch ohne Sie die Papiere genommen haben.«

»Nun, erlaube mir, das besser zu wissen,« fuhr die Tante fort, »sehen Sie,« wandte sie sich an den Nechljudow, »alles ist daher gekommen, daß jemand mich bat, seine Papiere eine Zeitlang aufzubewahren, und ich, da ich keine Wohnung hatte, brachte sie ihr. Bei ihr aber veranstaltete man in derselben Nacht eine Haussuchung und nahm sowohl die Papiere wie sie in Gewahrsam; und nun hat man sie bis jetzt festgehalten und verlangt, daß sie sage, von wem sie die Papiere habe.«

»Und ich habe es doch nicht gesagt«, sagte rasch Lidia, nervös ihre Haarsträhne zupfend, obgleich sie sie nicht störte.

»Aber ich sage ja nicht, daß du es gesagt hast«, erwiderte die Tante.

»Wenn sie den Mitin verhafteten, so ist es durchaus nicht durch mich gekommen«, sagte Lidia, indem sie rot wurde und sich unruhig umsah.

»Aber sprich doch nicht davon, Lidotschka«, sagte die Mutter.

»Warum denn nicht, ich will es erzählen«, sagte Lidia, schon nicht mehr lächelnd, sondern rot geworden und ihre Strähne nicht mehr ordnend, sondern um den Finger drehend und sich fortwährend umblickend.

»Was geschah gestern, als du darüber zu sprechen anfingst?«

»Mit nichten . . . Lassen Sie, Mamachen. Ich habe es nicht gesagt, ich habe nur geschwiegen. Als er mich zweimal über die Tante und über Mitin verhörte, habe ich nichts gesagt und ihm erklärt, daß ich ihm nichts antworten werde. Dann hat dieser . . . Petrow . . .«

»Petrow, ein Spitzel, ein Gendarm und ein großer Schuft«, fügte die Tante ein, die Worte der Nichte dem Nechljudow erläuternd.

»Dann fing er an,« fuhr Lidia eilig und aufgeregt fort, »mich zu überreden. Alles, sagte er, was Sie mir sagen kann niemandem schaden, sondern im Gegenteil. Wenn Sie es sagen, so befreien Sie die Unschuldigen, die wir vielleicht umsonst quälen. Nun, aber ich habe ihm dennoch gesagt, daß ich nichts sage. Dann sagte er: ›Nun gut, sagen Sie nichts, nur verneinen Sie nicht, was ich sage.‹ Und er begann, die Namen zu sagen und nannte den Mitin.«

»Aber sprich doch nicht«, sagte die Tante.

»Ach, Tante, stören Sie mich nicht . . .« und sie zog ohne Aufhören an der Haarsträhne und blickte sich immer um. »Und plötzlich, stellen Sie sich vor, erfahre ich am anderen Tage – man teilt mir durch Klopfen mit –, daß Mitin festgenommen ist. Nun denke ich, ich habe ihn verraten. Und dies begann mich so zu quälen, daß ich beinahe verrückt geworden bin.«

»Und es erwies sich, daß er durchaus nicht durch deine Schuld verhaftet worden«, sagte die Tante.

»Aber ich wußte es ja nicht. Ich denke, ich habe ihn verraten. Ich gehe und gehe von einer Wand zur anderen, ich kann nicht umhin, zu denken. Ich denke: ich habe ihn verraten. Ich lege mich hin, decke mich zu und höre, es flüstert jemand mir ins Ohr: du hast verraten, du hast Mitin verraten, Mitin hast du verraten. Ich weiß, daß es eine Halluzination ist, und kann nicht umhin, zu horchen. Ich will einschlafen, kann nicht, will nicht denken, kann auch das nicht. Das war wirklich schrecklich!« sprach Lidia, sich immer mehr und mehr aufregend, indem sie die Haarsträhne um den Finger wickelte und wieder entrollte und sich immer umsah.

»Lidotschka, beruhige dich«, wiederholte die Mutter, sie an der Schulter berührend.

Aber Lidotschka konnte sich schon nicht mehr halten. »Das ist deswegen schrecklich«, fing sie noch etwas an, aber sie schluchzte, ohne zu Ende gesprochen zu haben, sprang vom Diwan auf, und sich an dem Lehnstuhl stoßend, lief sie aus dem Zimmer hinaus. Die Mutter ging ihr nach.

»Aufhängen, all die Schurken!« stieß der Gymnasiast hervor, der auf dem Fenster saß.

»Was hast du?« fragte die Mutter.

»Ich habe nichts . . . nur so . . .« antwortete der Gymnasiast, griff nach einer auf dem Tische liegenden Zigarette und begann sie anzurauchen.

 

»Ja, für die Jungen ist diese Einzelhaft entsetzlich«, sagte die Tante, mit dem Kopfe schüttelnd und ebenso eine Zigarette anrauchend.

»Ich glaube für alle«, sagte Nechljudow.

»Nein, nicht für alle«, antwortete die Tante. »Für wirkliche Revolutionäre – erzählte man mir – ist es ein Ausruhen, eine Beruhigung. Ein Illegaler lebt ewig in Aufregung, in materiellen Entbehrungen und in Angst, sowohl für sich wie für die Anderen und für die Sache: und endlich nimmt man ihn fest, und alles ist zu Ende, und die ganze Verantwortlichkeit ist weggenommen: ›sitze und ruhe aus‹. Man sagte mir, geradezu eine Freude empfinde man, wenn man festgenommen wird. Nun, aber für die Jungen, für die Unschuldigen – immer nimmt man zuerst die Unschuldigen, wie Lidotschka –, für diese ist der erste Choc grauenhaft. Nicht, daß man sie der Freiheit beraubt, sie roh behandelt, schlecht ernährt, schlechte Luft . . . – überhaupt alle Entbehrungen – alles das macht nichts. Wenn dreimal mehr Entbehrungen da wären, würde man all das leicht ertragen; wenn nur nicht dieser moralische Choc wäre, den man erhält, wenn man zum ersten Male hineinfällt.«

»Haben Sie es erfahren?«

»Ich? Ich habe zweimal gesessen«, sagte die Tante und lächelte ein schwermütiges, angenehmes Lächeln. »Als man mich zum ersten Male festgenommen – und um nichts festgenommen –«, fuhr sie fort, »war ich zweiundzwanzig Jahre alt; ich hatte ein Kind und war schwanger. Wie schwer mir damals die Freiheitsentziehung, die Trennung von dem Kinde, von dem Mann auch fallen mochte, alles das war nichts im Vergleich zu dem, was ich empfand, als ich verstand, daß ich aufgehört hatte, ein Mensch zu sein, und daß ich eine Sache geworden war. Ich will meinem Töchterchen Adieu sagen, – man sagt mir, daß ich gehen und mich in die Mietsdroschke setzen solle. Ich frage, wohin man mich führt. Man antwortet mir, daß ich es erfahren werde, wenn ich dort bin. Ich frage, wessen bin ich angeklagt? Man antwortet mir nicht. Als man mich nach dem Verhör entkleidet und mir das Gefängniskleid mit der Nummer angezogen, mich unter die Gewölbe geführt, die Tür aufgeschlossen, mich hineingestoßen, mit einem Schlüssel geschlossen hatte und weggegangen war, und nur die Wache mit dem Gewehr dablieb, die schweigend hin und her ging und hie und da in die Spalte meiner Türe hereinblickte, wurde mir schrecklich schwer zu Mute. Mich hat, ich erinnere mich, am meisten der Umstand erschüttert, daß der Gendarmerieoffizier, als er mich verhörte, mir zu rauchen anbot. Er weiß also, wie gern die Leute rauchen, er weiß also auch, wie die Leute Freiheit und Licht lieben; er weiß, wie die Mütter ihre Kinder, und die Kinder ihre Mütter lieben – nun warum haben sie denn mich so unbarmherzig von allem, was mir teuer ist, losgerissen und mich gleich einem wilden Tier eingesperrt? Das kann man nicht ungestraft ertragen. Wenn jemand an Gott und an die Menschen geglaubt hat, daran, daß die Menschen einander lieben, so hört er nach diesem auf, an all das zu glauben. Ich habe seit der Zeit aufgehört, an die Menschen zu glauben, und wurde erbittert«, schloß sie und lächelte.

Aus der Tür, durch welche Lidia gegangen, kam ihre Mutter und erklärte, daß Lidotschka sich schlecht fühle und nicht herauskommen werde.

»Und weswegen hat man das junge Leben verdorben? Besonders tut es mir weh,« sagte die Tante, »weil ich unwillentlich die Ursache dazu war.«

»So Gott will, wird sie sich in der Dorfluft erholen«, sagte die Mutter. »Wir schicken sie zum Vater.«

»Ja, wenn nicht Sie gewesen wären, würde sie ganz und gar zugrunde gegangen sein«, sagte die Tante. »Besten Dank Ihnen. Sie sehen aber wollte ich, um Sie zu bitten, der Wjera Jefremowna einen Brief zu übergeben«, sagte sie, einen Brief aus der Tasche ziehend.

»Der Brief ist nicht geschlossen. Sie können ihn lesen und zerreißen oder übergeben, was Sie als mehr Ihren Überzeugungen entsprechend finden«, sagte sie. »In dem Brief ist nichts Kompromittierendes.«

Nechljudow nahm den Brief, und nachdem er versprochen, ihn zu übergeben, stand er auf, verabschiedete sich und ging auf die Straße hinaus.

Den Brief klebte er zu, ohne ihn zu lesen und beschloß, ihn seiner Bestimmung nach zu übergeben.

 

Die letzte Angelegenheit, die den Nechljudow in Petersburg aufhielt, war die Sache der Sektierer, deren Bittschrift an den Zaren er gesonnen war, durch seinen ehemaligen Kameraden beim Regiment den Flügeladjutanten Bogatyrew einreichen zu lassen. Am Morgen fuhr er zum Bogatyrew und traf ihn noch zu Hause, beim Frühstück, obgleich schon zur Abfahrt bereit. Bogatyrew war ein nicht hochgewachsener, stämmiger, mit seltener physischer Kraft begabter Mann – er konnte Hufeisen biegen –, dabei gut, ehrlich, gradsinnig und sogar liberal. Trotz dieser Eigenschaften war er ein dem Hofe nahestehender Mensch, liebte den Zaren und seine Familie und verstand, auf irgend welche merkwürdige Weise in diesem höchsten Kreise lebend, in demselben nur das Gute zu sehen und an nichts Schlechtem und Unehrlichem teilzunehmen.

»Nun, das ist wunderschön, daß du angefahren kommst. Willst du nicht etwas frühstücken? Dann aber setze dich. Das Beefsteak ist wunderbar! Ich fange immer mit dem Wesentlichen an und schließe ebenso. Ha, ha, ha, Nun, sonst trinke Wein«, schrie er, auf die Karaffe mit rotem Wein zeigend. »Aber ich habe an dich gedacht. Die Bittschrift überreiche ich. In die eigenen Hände werde ich sie übergeben, das ist sicher, aber es kam mir nur in den Kopf, ob es nicht besser wäre, wenn du zuerst zum Toporow führest?«

Nechljudow machte eine saure Miene bei der Erwähnung Toporows.

»Alles hängt von ihm ab. Man wird ja so wie so ihn fragen. Und er selber wird dich vielleicht zufrieden stellen.«

»Wenn du mir rätst, so will ich fahren.«

»Willst du nicht, – nun wie du willst!« Er wischte mit der Serviette den Schnurrbart. »Also fährst du? Ah? Wenn er's nicht tut, so gib sie mir, schon morgen werde ich sie abgeben«, schrie er, stand vom Tische auf und begann den Säbel umzuschnallen.

»Jetzt aber lebe wohl, ich muß fahren.«

»Gehen wir zusammen hinaus«, sagte Nechljudow, indem er mit Vergnügen die starke, breite Hand Bogatyrews drückte. Und wie immer unter dem angenehmen Eindruck von etwas Gesundem, Unbewußtem, Frischem trennte er sich von ihm auf dem Flur seines Hauses.

Obgleich er nichts Gutes von seinem Besuch erwartete, fuhr er dennoch auf den Rat des Bogatyrews zum Toporow, derjenigen Person, von der die Sache der Sektierer abhing.

Das Amt, welches Toporow bekleidete, schloß seiner Bestimmung nach einen inneren Widerspruch in sich, den nur ein stumpfsinniger und des moralischen Gefühls entbehrender Mensch nicht sehen konnte. Toporow besaß diese beiden negativen Eigenschaften. Der Widerspruch, der in dem von ihm bekleideten Amt lag, bestand darin, daß die Bestimmung seines Amtes die Unterstützung und Verteidigung mit äußeren Mitteln – Gewalt nicht ausgeschlossen – eben derjenigen Kirche war, die nach ihrer eigenen Definition von Gott selber gegründet worden und die weder durch die Pforten der Hölle, noch durch irgend welche menschliche Bemühungen erschüttert werden konnte. Diese göttliche und durch nichts zu erschütternde Institution von Gott selbst sollte von derjenigen menschlichen Institution unterstützt und verteidigt werden, an deren Spitze Toporow mit seinen Beamten stand. Er selber glaubte in der Tiefe seiner Seele an nichts und fand diesen Zustand sehr bequem und angenehm; aber er fürchtete, daß das Volk in einen eben solchen Zustand gerate, und er hielt es, wie er sagte, für seine heilige Pflicht, das Volk davor zu retten.

Als Nechljudow in sein Empfangszimmer trat, unterhielt sich Toporow im Kabinett mit einer Nonne, einer Äbtissin, einer gewandten Aristokratin, die in Westrußland die Rechtgläubigkeit verbreitete und unterstützte, unter den gewaltsam zur Rechtgläubigkeit bekehrten Unierten.

Ein Beamter für besondere Aufträge, der sich in dem Empfangszimmer befand, befragte Nechljudow über seine Sache, und als er erfahren, daß Nechljudow es auf sich genommen, eine Bittschrift der Sektierer an den Kaiser zu übergeben, fragte er ihn, ob er nicht die Bittschrift zur Durchsicht abgeben könne. Nechljudow gab sie ihm, und der Beamte ging mit der Bittschrift ins Kabinett. Toporow sah die Bittschrift durch und schüttelte den Kopf. Er war unangenehm überrascht, als er die klar und kräftig abgefaßte Bittschrift las.

›Wenn sie etwa in die Hände des Kaisers kommt, kann sie unangenehme Fragen und Mißverständnisse hervorrufen‹, dachte er, als er die Bittschrift zu Ende gelesen hatte. Er legte sie auf den Tisch, klingelte und hieß den Nechljudow bitten.

Er erinnerte sich der Sache der Sektierer, er hatte ihre Bittschrift schon gehabt. Es handelte sich darum, daß man die von der Orthodoxie abgefallenen Christen zuerst ermahnt, dann aber sie dem Gericht übergeben hatte, worauf das Gericht sie freisprach. Dann beschlossen der Bischof und der Gouverneur auf Grund der Illegalität ihrer Ehe die Männer, Frauen und Kinder an verschiedene Verbannungsorte getrennt zu verschicken. Und diese Väter und Frauen baten jetzt, daß man sie nicht trenne. Toporow erinnerte sich, wie diese Sache zum ersten Male an ihn gelangte. Schon damals schwankte er, – ob sie nicht einzustellen wäre? Aber kein Schaden konnte entstehen durch die Bestätigung der Anordnung, daß man die Glieder dieser Bauernfamilien an verschiedene Orte verschickte; die Belassung aber derselben an den alten Orten konnte schlimme Folgen für die übrige Bevölkerung haben, im Sinne des Abfalls derselben von der Orthodoxie; außerdem zeugte die Maßregel von dem Eifer des Bischofs; und darum brachte er die Sache in Gang, in der Richtung, welche ihr gegeben worden.

Jetzt aber, mit solchem Verteidiger wie Nechljudow, der Verbindungen in Petersburg hatte, konnte die Sache dem Kaiser privatim vorgelegt werden, als etwas Grausames oder in die ausländischen Zeitungen kommen, und darum faßte er auf der Stelle einen unerwarteten Entschluß.

»Guten Tag«, sagte er mit der Miene eines sehr beschäftigten Menschen, indem er den Nechljudow im Stehen empfing und sogleich zur Sache überging.

»Ich kenne diese Sache. Sobald ich nur die Namen angesehen, habe ich mich an diese unglückliche Sache erinnert«, sagte er, während er die Bittschrift in die Hände nahm und sie dem Nechljudow zeigte. »Und ich bin Ihnen sehr dankbar, daß Sie mich an sie erinnerten. Die Gouvernementsautoritäten haben da zu viel Eifer gezeigt. Und ich werde anordnen, daß diese Maßregeln zurückgenommen, und daß diese Leute wieder an ihren Aufenthaltsort befördert werden.«

»Also ich brauche diese Bittschrift nicht weiter zu leiten?« sagte Nechljudow.

»Gewiß nicht. Ich verspreche es Ihnen«, sagte er mit besonderer Betonung auf dem Wort ›ich‹, augenscheinlich vollkommen überzeugt, daß seine Ehrlichkeit, sein Wort die beste Bürgschaft sei. »Das Beste aber ist, ich schreibe sogleich. Seien Sie so gut, nehmen Sie Platz.«

Er trat an den Tisch und fing an zu schreiben.

»Also hier ist's«, sagte Torporow, das Kuvert schließend. »Sie können es Ihren ›Klienten‹ kundgeben«, fügte er hinzu, die Lippen wie zu einem Lächeln verziehend.

»Weswegen haben denn diese Leute gelitten?« sagte Nechljudow, das Kuvert entgegennehmend.

Toporow erhob den Kopf und lächelte, als ob Nechljudow's Frage ihm Vergnügen machte.

»Das kann ich Ihnen nicht sagen. Ich kann nur sagen, daß die von uns beschützten Interessen des Volkes so wichtig sind, daß zu großer Eifer in den Fragen der Religion nicht so sehr zu befürchten und schädlich ist, wie die jetzt sich verbreitende zu große Gleichgültigkeit gegen sie.«

»Aber auf welche Weise werden denn im Namen der Religion die allerersten Forderungen des Guten verletzt: die Familien getrennt . . .?«

Toporow lächelte noch immer ebenso nachsichtig, da er augenscheinlich das, was Nechljudow sprach, gar niedlich fand. Was Nechljudow auch sagen mochte, Toporow würde alles niedlich und einseitig finden von der Höhe jenes, wie er glaubte, breiten staatsumfassenden Standpunktes, auf welchem er sich befand.

»Vom Standpunkte eines Privatmenschen kann es so erscheinen,« sagte er, »vom Standpunkte des Staatsmannes stellt es sich etwas anders dar. Übrigens, ich habe die Ehre«, sagte Toporow, den Kopf neigend und die Hand reichend.

Nechljudow drückte sie und ging schweigend und eilig hinaus, indem er bereute, daß er diese Hand gedrückt.

Und als Nechljudow in Gedanken all die Personen verfolgte, an welchen die Tätigkeit der Institutionen zu Tage trat, welche die Gerechtigkeit wiederherstellen, die Religion unterstützen und das Volk erziehen: das Weib, das wegen Branntweinhandels ohne Patent bestraft worden, der Junge, der wegen Diebstahls, der Vagabund, der wegen Landstreicherei, der Brandstifter, der wegen Brandlegung, der Bankier, der wegen Unterschlagung bestraft worden, und dazu noch die unglückliche Lidia, die man nur strafte, damit man von ihr die nötigen Erkundigungen einziehen konnte, und die Sektierer, die man für den Abfall von der Orthodoxie und der Gurkewitsch, den man wegen seines Verlangens nach einer Konstitution strafte, – als er all dieser Menschen gedachte, kam dem Nechljudow mit ungewöhnlicher Klarheit der Gedanke, daß man sie alle ergriffen, eingeschlossen und verschickt habe – durchaus nicht etwa, weil sie sich gegen die Gerechtigkeit vergangen, die Gesetze verletzt hatten, sondern nur, weil sie die Beamten und die Reichen störten, den Reichtum zu genießen, den sie dem Volke abgenommen.

Diese störte sowohl das Weib, das ohne Patent handelte, wie der Dieb, der sich in der Stadt herumtrieb, wie Lidia mit ihren Proklamationen, wie die Sektierer, die den Aberglauben zerstören, und Gurkewitsch mit seiner Konstitution. Und daher schien es dem Nechljudow vollkommen klar, daß alle diese Beamten, von dem Mann seiner Tante, den Senatoren und dem Toporow angefangen, bis zu allen jenen kleinen, sauberen, korrekten Herren, die hinter den Tischen in den Ministerien saßen, mit nichten darüber betroffen waren, daß bei solcher Ordnung Unschuldige leiden, sondern nur besorgt waren, irgendwie alle Gefährlichen zu beseitigen, so daß nicht nur das Gebot, zehn Schuldigen zu verzeihen, damit kein Unschuldiger verurteilt werde, nicht beobachtet wurde, sondern daß im Gegenteil, ebenso wie man auch das Frische mitnimmt, um das Verfaulte wegzuschneiden, durch die Strafe zehn Ungefährliche beseitigt wurden, um einen wirklich Gefährlichen zu beseitigen.

Eine solche Erklärung alles dessen, was geschah, schien dem Nechljudow sehr einfach und klar, aber gerade diese Einfachheit und Klarheit ließen Nechljudow in der Anerkennung derselben schwankend werden.

 

Nechljudow würde an demselben Tage abends abgereist sein, aber er hatte der Mariette versprochen, zu ihr ins Theater zu kommen, und obgleich er wußte, daß er es nicht tun sollte, fuhr er dennoch dorthin, gegen sein Gewissen handelnd, da er sich durch das gegebene Wort für gebunden hielt.

›Ob ich diesen Verleitungen widerstehen kann?‹ dachte er nicht ganz aufrichtig. ›Dies will ich zum letzten Mal sehen.‹

Er kleidete sich in einen Frack und kam zum zweiten Akt der ewigen ›Dame aux camélias‹, in welcher eine gastierende Schauspielerin auf noch eine neue Art zeigte, wie schwindsüchtige Frauen sterben.

Das Theater war voll, und man wies dem Nechljudow sogleich Mariettes Loge, voll Achtung für die Person, die danach fragte.

Im Korridor stand ein Lakai in Livrée, verbeugte sich vor ihm, wie vor einem Bekannten, und öffnete ihm die Tür.

In der Loge befanden sich Mariette, eine unbekannte Dame im roten Überwurf und mit einer großen, massigen Frisur, und zwei Männer: der General, Mariette's Mann, ein schöner, hochgewachsener Mensch mit gebogener Nase und strengem, undurchdringlichem Gesicht und mit hoher, gefälschter Militärbrust aus Watte und Steifleinwand, und ein blonder, kahler Mann, mit einem ausrasierten Grübchenkinn zwischen zwei feierlichen Koteletten. Mariette blickte sich sogleich um, und dem Nechljudow den Stuhl hinter sich mit dem Fächer zeigend, lächelte sie ihn bewillkommnend dankbar und, wie es ihm schien, bedeutungsvoll zu. Ihr Mann blickte ruhig, wie er alles zu tun pflegte, auf den Nechljudow und neigte den Kopf. Man erkannte sogleich in ihm, an dem Blick, den er mit seiner Frau wechselte, einen Herrscher, den Besitzer einer schönen Frau.

Als der Monolog der Schauspielerin zu Ende war, erdröhnte das Theater von Applaus. Mariette stand auf, ging, den rauschenden seidenen Rock zusammenraffend, in den hinteren Teil der Loge und machte ihren Mann mit Nechljudow bekannt. Der General lächelte mit den Augen unaufhörlich, und nachdem er gesagt, daß er sich sehr freue, schwieg er ruhig und undurchdringlich.

»Ich sollte heute abreisen, aber ich habe es Ihnen versprochen«, sagte Nechljudow, sich an Mariette wendend.

»Wenn Sie mich nicht sehen wollen, so werden Sie eine wunderbare Schauspielerin sehen«, sagte Mariette, indem sie auf den Sinn seiner Worte antwortete. »Nicht wahr, wie schön war sie in der letzten Szene?« wandte sie sich an ihren Mann.

Der Mann neigte den Kopf.

»Das rührt mich nicht«, sagte Nechljudow. »Ich habe heute so viel wirkliches Unglück gesehen, daß . . .«

»Aber nehmen Sie Platz, erzählen Sie.«

Der Mann hörte zu und lächelte ironisch, immer mehr und mehr, mit den Augen.

»Ich bin bei jener Frau gewesen, die man freigelassen, und die man so lange festgehalten hatte, – ein ganz geknicktes Wesen.«

»Das ist jene Frau, von der ich dir gesprochen«, sagte Mariette dem Mann.

»Ja, ich war sehr froh, daß man sie befreien konnte«, erwiderte er ruhig, mit dem Kopf nickend und schon ganz ironisch, wie es dem Nechljudow schien, unter dem Schnurrbart lächelnd. »Ich will rauchen gehen.«

Nechljudow saß voller Erwartung, daß Mariette ihm jenes etwas sage, das sie ihm zu sagen hatte, aber sie sagte ihm nichts und versuchte nicht einmal, etwas zu sagen, sondern sie scherzte und sprach vom Stück, das, meinte sie, den Nechljudow besonders ergreifen sollte.

Nechljudow sah, daß sie ihm nichts zu sagen hatte, sie wollte sich ihm nur zeigen in dem vollen Reiz ihrer Abendtoilette und es war ihm angenehm und widerlich zugleich.

Jener Schleier des Reizes, der früher über all dem gelegen, war jetzt für Nechljudow nicht etwa abgenommen, sondern er sah, was unter dem Schleier war. Während er Mariette ansah, weidete er sich an ihr, aber er wußte, daß sie eine Lügnerin sei, die mit einem Mann lebt, der seine Karriere um den Preis der Tränen und des Lebens von Hunderten und Aberhunderten von Menschen machte, und daß dies für sie ganz gleich sei, und daß alles, was sie gestern gesprochen, nicht wahr gewesen, und daß sie Lust hatte, ihn in sich verliebt zu machen. Und es war für ihn anziehend und widrig. Er war einigemal im Begriff, wegzugehen, nahm den Hut und blieb wieder. Endlich aber, als der Mann mit dem Tabaksgeruch in seinem dichten Schnurrbart in die Loge zurückkehrte und den Nechljudow gönnerhaft-verächtlich anblickte, als ob er ihn nicht erkenne, ging Nechljudow, ohne die Tür sich hinter dem General schließen zu lassen, in den Korridor hinaus, fand seinen Paletot und verließ das Theater.

Als er über den Newskij nach Hause zurückkehrte, bemerkte er unwillkürlich vor sich eine hochgewachsene, sehr schön gebaute und herausfordernd geputzte Frau, die auf dem Asphalt des breiten Bürgersteiges ruhig ging; man sah auf ihrem Gesicht und in ihrer ganzen Figur das Bewußtsein ihrer abscheulichen Macht. Alle dieser Frau Begegnenden und sie Überholenden besahen sie. Nechljudow ging schneller als sie, und auch er blickte unwillkürlich in ihr Gesicht. Das Gesicht, wahrscheinlich bemalt, war schön und die Frau lächelte dem Nechljudow zu, indem sie ihn mit ihren Augen anglänzte. Und wunderbare Sache! Nechljudow erinnerte sich sogleich an die Mariette, weil er dasselbe Gefühl der Anziehung und Abstoßung empfand welches er im Theater erfahren.

Als er sie eilig überholt hatte, bog Nechljudow in die Morskaja ein, und als er auf dem Kai war, fing er an, zur Verwunderung des Polizisten, dort hin und her zu gehen.

›Ebenso lächelte mir auch jene im Theater zu, als ich hereintrat‹, dachte er, ›und derselbe Sinn war in jenem und in diesem Lächeln. Der Unterschied liegt nur darin, daß diese einfach und grade spricht: ›Brauchst du mich, so nimm mich. Brauchst du mich nicht, so geh vorbei‹. Jene aber verstellt sich, daß sie nicht daran denke, sondern in irgend welchen höchsten, verfeinerten Gefühlen lebt, im Grunde ist es aber dasselbe. Diese ist wenigstens wahrhaft, jene aber lügt. Noch mehr, diese ist durch die Not in ihre Lage geführt worden, jene aber spielt, ergötzt sich an dieser schönen, widerwärtigen, fürchterlichen Leidenschaft. Diese, die Frau von der Straße, ist stinkendes, schmutziges Wasser, das demjenigen angeboten wird, bei dem der Durst stärker ist als der Ekel; jene im Theater ist Gift, welches unmerkbar alles vergiftet, wohin es gerät.

 

Als Nechljudow in Moskau ankam, begab er sich in erster Linie in das Gefängniskrankenhaus, um der Maslowa die traurige Nachricht zu bringen, daß der Senat das Urteil des Gerichts bestätigt habe, und daß man sich zur Abreise nach Sibirien vorbereiten müsse. Auf die Bittschrift an die allerhöchste Instanz, die ihm der Advokat aufgesetzt hatte, und die er jetzt ins Gefängnis der Maslowa zur Unterschrift mitbrachte, setzte er wenig Hoffnung. Er hatte sich an den Gedanken der Reise nach Sibirien und des Lebens unter den Verschickten und Zwangsarbeitern innerlich angepaßt, und es war ihm schwer, sich vorzustellen, wie er sein Leben und das Leben der Maslowa einrichten würde, wenn man sie freispräche.

Der Portier des Krankenhauses erkannte den Nechljudow, und sogleich teilte er ihm mit, daß die Maslowa schon nicht mehr bei ihnen sei.

»Wo ist sie denn?«

»Wieder im Gefängnis.«

»Warum hat man sie denn dorthin überführt?« fragte Nechljudow.

»Was ist es für ein Volk, Euere Erlaucht!« sagte der Portier, verächtlich lächelnd, »einen Liebeshandel hat sie mit dem Heilgehilfen angefangen; der Oberarzt hat sie nun weggeschickt.«

Nechljudow hatte gar nicht geglaubt, daß die Maslowa und ihr Seelenzustand ihn so nahe anging. Diese Nachricht betäubte ihn fast. Er hatte ein Gefühl, dem ähnlich, welches die Leute bei der Nachricht von einem unerwarteten großen Unglück erfahren. Ihm ward sehr weh zu Mut. Das erste, was er fühlte bei dieser Nachricht, war Scham. Vor allem erschien er sich selber lächerlich mit seiner freudigen Vorstellung von ihrer vermeintlich sich ändernden Gemütsverfassung. »Alle diese Worte von dem Nicht-sein-Opfer-annehmen-wollen, die Vorwürfe und Tränen, alles das waren,« dachte er, »nur die Kunstgriffe einer verdorbenen Frau, die ihn um so besser auszunützen hoffte.« Es schien ihm jetzt, daß er bei dem letzten Besuch Anzeichen der Unverbesserlichkeit, die jetzt hervortrat, an ihr wahrgenommen. Alles das durchblitzte sein Hirn, während er instinktiv seinen Hut aufsetzte und aus dem Krankenhaus fortging. »Aber was soll man jetzt tun?« fragte er sich. »Bin ich an sie gebunden? Bin ich nicht jetzt eben durch diese ihre Handlung frei geworden?« fragte er sich. Aber kaum stellte er sich diese Frage, als er sogleich begriff, daß, wenn er sich für frei halte und sie verlasse, er sich selber strafen werde und nicht sie, was er im Sinne hatte, und ihm wurde ängstlich zu Mute.

›Nein, das, was geschah, kann meinen Entschluß nicht ändern, sondern nur bestärken. Laßt sie tun, was aus ihrem Seelenzustand folgt, – ist es ein Liebeshandel mit dem Heilgehilfen, so laß es einen Liebeshandel mit dem Heilgehilfen sein; – das ist ihre Sache. Meine Sache aber ist es zu tun, was mein Gewissen von mir fordert,‹ sagte er zu sich, – ›mein Gewissen verlangt das Opfer meiner Freiheit, um meine Sünde zu sühnen; und mein Entschluß, sie zu heiraten, wenn auch in fiktiver Ehe, und ihr zu folgen, wohin man sie auch schicken möge, bleibt unverändert‹, sagte er zu sich mit bösem Trotz, und das Krankenhaus verlassend, begab er sich mit entschiedenem Schritt zu dem großen Gefängnistor.

Als er zum Tor kam, bat er den Aufseher, dem Inspektor zu melden, daß er die Maslowa sehen möchte. Der Wachthabende kannte den Nechljudow und teilte ihm, wie einem Bekannten, ihre wichtige Gefängnisneuigkeit mit. Der Kapitän sei verabschiedet, und seine Stelle nehme ein anderer strenger Vorsteher ein.

»Und streng ist es jetzt geworden, ein wahres Elend«, sagte der Aufseher. »Er ist jetzt hier, gleich wird man Sie melden.«

Wirklich war der Inspektor im Gefängnis und kam bald zum Nechljudow heraus. Der neue Inspektor war ein hochgewachsener, knochiger Mann mit vorstehenden Backenknochen über den Wangen, sehr langsam in seinen Bewegungen und finster.

»Besuche sind an den bestimmten Tagen im Besuchszimmer gestattet«, sagte der Inspektor, ohne den Nechljudow anzusehen.

»Aber ich muß ihr eine Bittschrift an die allerhöchste Instanz zum Unterschreiben geben.«

»Sie können sie mir übergeben.«

»Ich muß selber die Gefangene sehen. Früher hat man es mir immer erlaubt.«

»Das war früher«, sagte der Inspektor, den Nechljudow flüchtig anblickend.

»Ich habe eine Bewilligung vom Gouverneur«, beharrte Nechljudow, indem er die Brieftasche zog.

»Bitte«, sagte der Inspektor, nahm mit den langen, weißen Fingern das von Nechljudow dargereichte Papier und las es langsam.

»Bitte ins Bureau«, sagte er.

Im Bureau war diesmal niemand. Der Inspektor setzte sich an den Tisch und wühlte in vor ihm liegenden Papieren, augenscheinlich gesonnen, selber bei der Zusammenkunft anwesend zu sein.

Als Nechljudow fragte, ob er nicht die politische Gefangene, die Bogoduchowskaja, sehen könne, antwortete der Inspektor kurz, daß es unmöglich sei. »Zusammenkünfte mit den Politischen sind nicht zulässig«, sagte er und versank wieder in das Lesen der Papiere. Da Nechljudow in der Tasche den Brief an die Bogoduchowskaja hatte, fühlte er sich in der Lage eines schuldbewußten Menschen, dessen Absichten entdeckt und vernichtet sind.

Als die Maslowa ins Bureau trat, erhob der Inspektor den Kopf, und ohne die Maslowa oder den Nechljudow anzusehen, sagte er: »Bitte!« und fuhr fort, sich mit seinen Papieren zu beschäftigen.

Die Maslowa war wie früher in eine weiße Jacke, Rock und Kopftuch gekleidet. Als sie sich dem Nechljudow näherte und sein kaltes böses Gesicht sah, wurde sie dunkelrot und ließ die Augen sinken, während sie mit der Hand an dem Saum der Jacke hintastete.

Ihre Befangenheit war für den Nechljudow die Bestätigung dessen, was der Krankenhausportier gesagt.

Nechljudow wollte mit ihr umgehen wie das vorige Mal, aber er konnte ihr nicht, wie er wollte, die Hand reichen, so sehr war sie ihm jetzt widerwärtig.

»Ich habe Ihnen eine schlechte Nachricht mitgebracht«, sagte er mit ruhiger Betonung, ohne sie anzusehen und ohne ihr die Hand zu geben. »Der Senat hat abgelehnt.«

»Das wußte ich schon im voraus«, sagte sie mit seltsamer Stimme, gleichsam als ersticke sie.

Früher würde Nechljudow gefragt haben, warum sie sage, daß sie es im voraus gewußt; jetzt blickte er sie nur an. Ihre Augen waren voll Tränen.

Aber das besänftigte ihn nicht nur nicht, sondern reizte ihn noch mehr gegen sie.

Der Inspektor stand auf und begann im Zimmer hin und her zu gehen.

Trotz all dem Widerwillen, den Nechljudow jetzt gegen die Maslowa empfand, hielt er es dennoch für nötig, ihr sein Bedauern bezüglich der abschlägigen Antwort des Senats auszudrücken.

»Geben Sie die Hoffnung nicht auf,« sagte Nechljudow, »die Bittschrift an die allerhöchste Instanz kann Erfolg haben, und ich hoffe, daß . . .«

»Ich spreche ja nicht davon . . .«, sagte sie, während sie ihn kläglich mit ihren nassen, schielenden Augen ansah.

»Aber wovon denn?«

»Sie waren im Krankenhause, und man hat Ihnen gewiß von mir gesagt . . .«

»Was ist denn? Das ist Ihre Sache«, sagte Nechljudow kalt und stirnrunzelnd.

Das zum Schweigen gebrachte grausame Gefühl des gekränkten Stolzes erhob sich in ihm mit neuer Kraft, sobald sie das Krankenhaus erwähnte. »Er, der Weltmann, den jedes Mädchen aus den höchsten Kreisen für ein Glück halten würde zu heiraten, hatte sich dieser Frau als Mann angeboten, und sie hatte nicht warten können; sie hatte Liebeshändel mit einem Heilgehilfen angefangen«, dachte er, sie mit Haß anblickend.

»Unterschreiben Sie nun die Bittschrift«, sagte er, holte aus der Tasche ein großes Kuvert und legte es auf den Tisch.

Sie wischte die Tränen mit dem Zipfel des Kopftuches ab, und im Begriff, sich an den Tisch zu setzen, fragte sie ihn, wo und was sie schreiben solle.

Er zeigte ihr, wo und was zu schreiben sei, und sie ließ sich nieder, indem sie mit der linken Hand den Ärmel der rechten ordnete; er aber stand hinter ihr und sah schweigend ihren gegen den Tisch gebeugten und hie und da vor zurückgehaltenem Schluchzen erzitternden Rücken, und in seiner Seele kämpften böse und gute Gefühle: das des gekränkten Stolzes und des Mitleids mit ihr, der Leidenden, und das letztere Gefühl siegte.

Als sie die Bittschrift unterschrieben und den tintebeschmierten Finger am Rock abgewischt, stand sie auf und blickte ihn an.

»Was auch danach komme, und was überhaupt geschehen möge, – nichts wird meinen Entschluß ändern«, sagte Nechljudow. Der Gedanke, daß er ihr verzeihe, verstärkte das Gefühl des Bedauerns und der Zartheit gegen sie, und er wünschte sie zu trösten. – »Was ich gesagt habe, werde ich tun. Wohin man Sie auch schicken möge – ich werde mit Ihnen sein.«

»Umsonst«, unterbrach sie ihn eilig und strahlte ganz auf.

»Besinnen Sie sich, was Sie für die Reise brauchen.«

»Es scheint – nichts besonderes. Ich danke Ihnen.«

Der Inspektor näherte sich ihnen, und Nechljudow, ohne seine Mahnung abzuwarten, verabschiedete sich von ihr und ging hinaus, indem er ein nie früher erfahrenes Gefühl stiller Freude, Ruhe und Liebe gegen alle Menschen empfand. Es freute den Nechljudow und erhob ihn auf eine nie von ihm empfundene Höhe des Bewußtseins dessen, daß keine Handlung der Maslowa seine Liebe zu ihr ändern würde. Möge sie Liebeshändel mit dem Heilgehilfen anknüpfen, das ist ihre Sache; er liebt sie nicht für sich, sondern für sie und für Gott.

Unterdessen aber bestanden die Liebeshändel mit dem Heilgehilfen, wegen deren die Maslowa aus dem Krankenhause gejagt worden, und an deren Existenz Nechljudow glaubte, nur darin, daß die Maslowa, als sie einmal, auf Anordnung einer Heilgehilfin hin, um Brusttee zu holen, in die Apotheke ging, die sich am Ende des Korridors befand, dort den Heilgehilfen Ustinow, einen hochgewachsenen Mann mit sinnigem Gesicht, allein traf, der sie schon lange mit seiner Zudringlichkeit belästigt hatte; sie stieß ihn, indem sie sich von ihm losreißen wollte, so heftig weg, daß er gegen das Wandbrett polterte, von welchem zwei Gläser herunterfielen und zerbrachen.

Als der um diese Zeit durch den Korridor gehende Oberarzt das Klirren des zerschlagenen Geschirrs hörte und die rotgewordene Maslowa herauslaufen sah, schrie er sie böse an.

»Na, Mütterchen, wenn du hier Liebeshändel anfangen willst, so schaffe ich dich fort. Was ist das?« wandte er sich an den Heilgehilfen, ihn streng über die Brille weg ansehend.

Der Heilgehilfe begann lächelnd sich zu rechtfertigen. Der Arzt, ohne ihn zu Ende zu hören, hob den Kopf so, daß er anfing, durch die Brille zu sehen, ging nach den Krankensälen, und noch an demselben Tage sagte er dem Inspektor, daß man an Stelle der Maslowa eine andere, etwas gesetztere Gehilfin schicken solle. Das waren die ganzen Liebeshändel der Maslowa mit dem Heilgehilfen. Diese Vertreibung aus dem Krankenhause unter dem Vorwand von Liebeshändeln mit Männern tat der Maslowa besonders weh, weil ihr die ihr schon längst zuwider gewesenen Verhältnisse mit Männern nach der Begegnung mit Nechljudow äußerst widerwärtig geworden. Der Umstand, daß in Anbetracht ihrer früheren und jetzigen Lage jedermann, und unter andern auch der findige Heilgehilfe, sich im Recht glaubte, sie beleidigen zu dürfen, und daß er sich über ihre Weigerung wunderte, kränkte sie fürchterlich, rief in ihr Mitleid mit sich selbst und Tränen hervor. Jetzt, als sie zum Nechljudow kam, wollte sie sich vor ihm in bezug auf diese unbillige Anschuldigung rechtfertigen, da er sie sicher gehört haben mußte. Aber sobald sie sich zu rechtfertigen begann, fühlte sie, daß er ihr nicht glaube, daß ihre Rechtfertigungen seinen Verdacht nur bestätigten, und die Tränen schnürten ihr die Kehle zu, und sie verstummte. Die Maslowa dachte noch immer und fuhr fort, sich selbst zu versichern, daß sie, wie sie ihm während der zweiten Zusammenkunft gesagt, nicht verziehen habe und ihn hasse; aber sie liebte ihn schon lange wieder und liebte so, daß sie unwillkürlich all das erfüllte, was er von ihr wünschte: sie hörte zu trinken, zu rauchen auf, ließ die Koketterien und trat in das Krankenhaus als Dienerin ein. Alles das hatte sie getan, da sie wußte, daß er es wünschte. Wenn sie jedesmal, – sobald er es erwähnte, – so entschieden ablehnte, das Opfer, sie zu heiraten, anzunehmen, so geschah es nur, weil sie jene stolzen Worte, die sie ihm einmal gesagt, wiederholen wollte, und hauptsächlich, weil sie wußte, daß die Heirat mit ihr sein Unglück sein würde. Sie beschloß fest, sein Opfer nicht anzunehmen; inzwischen aber war es ihr qualvoll zu denken, daß er sie verachte, daß er glaube, sie fahre fort, dieselbe zu sein, die sie gewesen, und daß er jene Änderung nicht sähe, die sich in ihr vollzogen. Die Möglichkeit, daß er jetzt glaube, sie hätte im Krankenhause etwas Schlechtes getan, quälte sie mehr als die Nachricht, daß sie definitiv zur Zwangsarbeit verurteilt worden.

 

Die Absendung der Gefangenenabteilung, mit welcher die Maslowa gehen sollte, war auf den fünften Juli festgesetzt. Auch Nechljudow hielt sich bereit, an demselben Tage ihr nachzureisen. Am Tage vor seiner Abreise kam die Schwester Nechljudows mit ihrem Manne in die Stadt gefahren, um den Bruder zu sehen.

Nechljudows Schwester, Natalija Iwanowna Ragoschinskaja, war zehn Jahre älter als der Bruder. Er war zum Teil unter ihrem Einfluß aufgewachsen. Sie hatte ihn als Knaben sehr lieb; dann, unmittelbar vor ihrer Heirat, hatten sie sich einander fast wie gleiche genähert: sie – ein fünfundzwanzigjähriges Mädchen, er – ein fünfzehnjähriger Knabe. Sie war damals in seinen verstorbenen Freund, Nikolenjka Irtenjew, verliebt. Sie beide liebten Nikolenjka und liebten in ihm und in sich das, was in ihnen Gutes und alle Menschen Vereinigendes war.

Nach der Zeit wurden sie beide sittlich verdorben: er – durch den Militärdienst, schlechtes Leben; sie – durch die Ehe mit dem Mann, zu dem sie eine sinnliche Liebe gefaßt, der aber alles, was ehemals für sie und für Dmitrij das Heiligste und Teuerste gewesen, nicht nur nicht liebte, sondern nicht einmal verstand, was es war, und alle jene Bestrebungen zu moralischer Vervollkommnung und zum Dienst der Menschheit, in welchem sie einmal gelebt, einzig der ihm verständlichen Eigenliebe und dem Wunsch, sich vor den Leuten zu zeigen, zuschrieb.

Ragoschinskij war ein Mann ohne Namen und ohne Vermögen, aber ein sehr gewandter Beamter, der, da er geschickt zwischen dem Liberalismus und Konservativismus lavierte und diejenige von beiden Richtungen benutzte, welche zu gegebener Zeit und in gegebenem Falle die besten Resultate für sein Leben bot, hauptsächlich, weil er durch irgendeine Besonderheit den Frauen gefiel, eine relativ glänzende juristische Karriere gemacht hatte. Dieser Mann, schon nicht mehr in der ersten Jugend, lernte die Nechljudows im Auslande kennen, machte Natascha, ein auch schon nicht mehr junges Mädchen, in sich verliebt und heiratete sie fast gegen den Wunsch der Mutter, die in dieser Ehe eine Mesalliance sah.

Obgleich Nechljudow es vor sich verbarg, obgleich er gegen dieses Gefühl ankämpfte, haßte er seinen Schwager: antipathisch war er ihm durch die Vulgarität seiner Gefühle, die selbstherrliche Beschränktheit, und hauptsächlich war er ihm antipathisch wegen der Schwester, die diese arme Natur so leidenschaftlich, egoistisch, sinnlich lieben und ihm zu Gefallen all das Gute, das in ihr gewesen, ersticken konnte.

Dem Nechljudow tat es immer qualvoll weh, zu denken, daß Natascha die Frau dieses haarigen, selbstvertrauenden Mannes mit der blanken Glatze war. Er konnte sogar den Widerwillen gegen seine Kinder nicht zurückhalten. Und jedesmal, wenn er erfuhr, daß sie im Begriff sei, Mutter zu werden, hatte er ein Gefühl, ähnlich dem Beileid darüber, daß sie wieder von diesem, ihnen allen fremden Manne, mit etwas Schlechtem angesteckt worden.

Die Ragoschinskijs kamen allein, ohne Kinder, angefahren – sie hatten zwei Kinder: einen Knaben und ein Mädchen – und stiegen in dem ersten Gasthause ab. Natalija Iwanowna fuhr sofort in die alte Wohnung der Mutter; aber da sie den Bruder hier nicht fand und von Agrafena Petrowna erfuhr, daß er möblierte Zimmer bezogen, fuhr sie dorthin. Ein schmutziger Diener, der ihr im dunklen, selbst am Tage künstlich erleuchteten Korridor voll schwerer Gerüche begegnete, erklärte ihr, daß der Fürst nicht zu Hause sei.

Natalija Iwanowna wünschte in die Wohnung des Bruders zu gehen, um ihm dort einen Zettel zu lassen. Der Korridordiener führte sie hinein.

Als Natalija Iwanowna in seine zwei kleinen Zimmer trat, sah sie sich aufmerksam um. Sie bemerkte überall die ihr bekannte Sauberkeit und Akkuratesse, und eine sie überraschende und bei ihm ganz neue Bescheidenheit der Ausstattung.

Sie setzte sich an den Tisch, schrieb ihm einen Zettel, in dem sie ihn bat, unbedingt zu ihr zu kommen, und zwar schon heute; und dann kehrte sie, vor Verwunderung über das, was sie gesehen, den Kopf schüttelnd, in ihr Hotel zurück.

Natalija Iwanowna interessierten jetzt in bezug auf ihren Bruder zwei Fragen: seine Heirat mit Katjuscha, von welcher sie in ihrer Stadt gehört, da alle darüber sprachen, und seine Abtretung des Bodens an die Bauern, die ebenfalls allen bekannt war und vielen als etwas politisch Gefährliches erschien. Die Heirat mit Katjuscha gefiel einerseits der Natalija Iwanowna. Sie sah mit Wohlgefallen diese Entschlossenheit; sie erkannte darin ihn und sich selbst, wie sie beide gewesen, in jenen schönen Zeiten vor ihrer Heirat; aber zugleich überfiel sie ein Grauen bei dem Gedanken, daß ihr Bruder eine so schreckliche Frau heirate.

Die andere Sache, die Überlassung des Landes an die Bauern, war ihrem Herzen nicht so nah; aber ihr Mann war sehr empört darüber und verlangte von ihr eine Beeinflussung des Bruders; Ignatij Nikiforowitsch sagte, daß eine solche Handlung das Äußerste an Leichtsinn, Stolz und Grundlosigkeit vorstelle; daß man diese Handlung, wenn es überhaupt irgend welche Möglichkeit gäbe, nur durch den Wunsch erklären könne, sich auszuzeichnen, zu prahlen, von sich reden zu machen.

 

Als Nechljudow nach Hause zurückkehrte und auf seinem Tisch den Zettel der Schwester fand, fuhr er sofort zu ihr. Es war am Abend. Ignatij Nikiforowitsch ruhte in dem anderen Zimmer aus, und Natalija Iwanowna empfing den Bruder allein. Als sie den Bruder sah, sprang sie vom Diwan auf, und mit raschem Schritt kam sie ihm entgegen. Sie küßten sich und sahen lächelnd einander an. Es vollzog sich jener geheimnisvolle, mit Worten nicht auszudrückende, bedeutungsvolle Austausch der Blicke, in dem alles wahr ist, und dann begann der Austausch der Worte, dem schon jene Wahrheit fehlte. Sie hatten sich seit dem Tode der Mutter nicht gesehen.

»Du bist dicker und jünger geworden«, sagte er.

»Du aber bist magerer geworden.«

»Nun, wie gehts Ignatij Nikiforowitsch?« fragte Nechljudow.

»Er ruht aus. Er hat die Nacht nicht geschlafen. Ich bin bei dir gewesen.«

»Ja, ich weiß. Ich bin aus dem Hause weggezogen. Mir ist es dort zu geräumig, zu einsam und langweilig. Und alles das brauche ich nicht, also nimm du es alles, das heißt die Möbel – alle Sachen.«

»Ja, Agrafena Petrowna hat es mir gesagt. Ich bin dort gewesen. Ich danke dir sehr, aber . . .«

Ein Lakai des Hotels brachte ein silbernes Teeservice. Sie schwiegen, solange der Lakai das Teeservice aufstellte.

»Nun, wie denn, Dmitrij, ich weiß alles«, sagte Natascha mit Entschiedenheit und blickte ihn an.

»Warum denn nicht? Ich freue mich sehr, daß du es weißt.«

»Kannst du denn hoffen, sie zu bessern nach einem solchen Leben?^ sagte sie.

Er saß grade, ohne sich anzulehnen, auf einem kleinen Stuhl, hörte ihr aufmerksam zu, indem er sich bemühte, sie ordentlich zu verstehen und ordentlich zu antworten. Die Stimmung, welche durch die letzte Zusammenkunft mit der Maslowa in ihm hervorgerufen worden, erfüllte immer noch seine Seele mit ruhiger Freude.

»Ich will nicht sie, sondern mich bessern«, antwortete er.

Natalija Iwanowna seufzte.

»Es gibt andere Mittel, außer der Heirat.«

»Ich glaube aber, dies ist das beste; außerdem, dies führt mich in die Welt, in welcher ich nützlich sein kann.«

»Ich glaube nicht,« sagte Natalija Iwanowna, »daß du glücklich sein kannst.«

»Es geht nicht um mein Glück.«

»Versteht sich, aber sie, wenn sie Herz hat, kann nicht glücklich sein, kann es sogar nicht wünschen.«

»Sie wünscht es ja auch nicht . . .«

»Ich verstehe, aber das Leben . . .«

»Nun was – Leben? –«

»Verlangt etwas anderes.«

»Es verlangt nichts, außer, daß wir tun, was wir sollen«, sagte Nechljudow, in ihr noch schönes, aber schon um die Augen und den Mund mit feinen Runzelchen bedecktes Gesicht blickend.

»Ich verstehe nicht«, sagte sie mit einem Seufzer.

›Meine Arme, Liebe! Wie konnte sie sich so verändern?‹ dachte Nechljudow, während er der Natascha, wie sie unverheiratet gewesen, gedachte.

Jetzt trat in das Zimmer, glänzend mit seiner Brille, Glatze und dem schwarzen Bart, Ignatij Nikiforowitsch.

»Guten Tag, guten Tag«, machte er, indem er die Worte absichtlich unnatürlich betonte.

Sie drückten einander die Hand, und Ignatij Nikiforowitsch ließ sich leicht im Lehnstuhl nieder.

»Werde ich Ihr Gespräch nicht stören?«

»Nein, ich verberge vor niemandem, was ich spreche, und was ich tue.«

Kaum sah Nechljudow dieses Gesicht, diese haarigen Hände, kaum hörte er diesen gönnerhaften, selbstvertrauenden Ton, als seine sanfte Stimmung augenblicklich verschwunden war.

»Ja, wir sprachen von seinem Vorsatz,« sagte Natalija Iwanowna, »soll ich dir einschenken?« fügte sie hinzu, die Teekanne anfassend.

»Ja, bitte; was für ein Vorsatz eigentlich?«

»Mit jener Gefangenenabteilung nach Sibirien zu fahren, in welcher sich die Frau befindet, vor welcher ich mich für schuldig halte«, brachte Nechljudow hervor.

»Nicht nur zu begleiten, sondern noch mehr, wie ich gehört habe« – –.

»Ja, auch zu heiraten, wenn sie nur will.«

»So, so! Aber wenn es Ihnen nicht unangenehm ist, so erklären Sie mir Ihre Motive. Ich verstehe sie nicht.«

»Die Motive sind, daß diese Frau . . . daß ihr erster Schritt auf dem Wege des Lasters . . .« Nechljudow wurde böse auf sich selbst, weil er den Ausdruck nicht finden konnte. »Die Motive sind, daß ich schuldig bin, sie aber bestraft worden ist.«

»Wenn sie bestraft wurde, so ist auch sie, wahrscheinlich, nicht unschuldig.«

»Sie ist vollkommen unschuldig.« Und Nechljudow erzählte mit unnötiger Aufregung die ganze Sache.

»Ja, das ist eine Nachlässigkeit des Vorsitzenden, und daher kommt die Unbesonnenheit in der Antwort der Geschworenen. Aber es gibt für diesen Fall den Senat.«

»Der Senat hat abgelehnt.«

»Nun, hat er abgelehnt, so gab es mithin keine genügenden Motive zur Kassation«, sagte Ignatij Nikiforowitsch, der offenbar vollkommen die bekannte Meinung teilte, daß die Wahrheit ein Produkt der gerichtlichen Verhandlungen sei. »Der Senat darf nicht auf die Untersuchung der Sache, ihrem Wesen nach, eingehen. Wenn es wirklich ein Irrtum des Gerichts ist, so muß man die allerhöchste Instanz anrufen.«

»Die Schrift ist eingereicht, aber es gibt keine Wahrscheinlichkeit, daß sie Erfolg habe. Man wird Erkundigungen im Ministerium einziehen. Das Ministerium wird beim Senat anfragen, der Senat wiederholt sein Verdikt. Und wie gewöhnlich wird der Unschuldige bestraft werden.«

»Erstens wird das Ministerium nicht beim Senat anfragen,« sagte mit nachsichtigem Lächeln Ignatij Nikiforowitsch, »sondern es wird vom Gericht die Originalakten fordern, und wenn es einen Fehler findet, wird es seinen Entscheid in diesem Sinne abgeben; und zweitens werden die Unschuldigen nie oder wenigstens in seltnen Ausnahmen bestraft, sondern bestraft werden die Schuldigen«, sprach Ignatij Nikiforowitsch mit selbstzufriedenem Lächeln.

»Ich habe mich vom Gegenteil überzeugt,« fing Nechljudow an, »ich habe mich überzeugt, daß der größte Teil der von den Gerichten verurteilten Leute unschuldig ist.«

»Wieso denn das?«

»Einfach unschuldig, im geraden Sinn des Worts, so wie diese Frau unschuldig an der Vergiftung ist, wie der Bauer, den ich neulich kennen gelernt habe, unschuldig an dem Morde ist, den er nicht begangen.«

»Ja, versteht sich; immer gab es Justizirrtümer und wird sie geben.«

»Und dann ist ein ungeheuer großer Teil unschuldig, weil sie, in einem bestimmten Kreise erzogen, die von ihnen vollbrachten Handlungen nicht für Verbrechen halten.«

»Verzeihen Sie, das ist nicht richtig; jeder Dieb weiß, daß der Diebstahl nicht gut ist, daß man nicht stehlen soll, daß der Diebstahl unsittlich ist«, sagte Ignatij Nikiforowitsch, immer mit demselben ruhigen, selbstbewußten, etwas verächtlichen Lächeln, das den Nechljudow besonders reizte.

»Nein, er weiß es nicht. Man sagt ihm: stiehl nicht! Er aber sieht und weiß, daß die Fabrikanten seine Arbeit stehlen, indem sie seinen Lohn zurückbehalten, daß die Regierung mit all ihren Beamten ihn unter der Form der Steuern unaufhörlich bestiehlt.«

»Das ist nun schon mehr Anarchismus«, bestimmte Ignatij Nikiforowitsch ruhig die Bedeutung der Worte seines Schwagers.

»Ich weiß nicht, was es ist; ich sage das, was ist«, fuhr Nechljudow fort.

»Ich verstehe nicht, und wenn ich verstehe, so bin ich nicht einverstanden; ich kann prinzipiell nicht mit Ihnen einverstanden sein, und ich würde Ihnen raten, mehr nachzudenken und zu lesen . . .«

»Nun, überlassen Sie mir selber, was ich lesen und was ich nicht lesen soll«, sagte Nechljudow erbleichend; und er fühlte, daß seine Hände kalt wurden, und daß er nicht mehr Herr seiner selbst war. Er verstummte und fing an, Tee zu trinken.

 

»Nun, wie geht's den Kindern?« fragte Nechljudow die Schwester, als er sich ein wenig beruhigt hatte.

Die Schwester erzählte von den Kindern, daß sie bei der Großmutter, seiner Mutter, geblieben seien; und sehr zufrieden, daß der Streit mit ihrem Manne eingestellt worden, begann sie zu erzählen, daß ihre Kinder »Reise« spielen, ebenso wie ehemals er mit seinen drei Puppen gespielt, – mit dem schwarzen Mohren und mit der Puppe, die die Französin genannt wurde.

»Hast du das wirklich nicht vergessen«, sagte Nechljudow lächelnd.

»Und stelle dir vor, sie spielen genau ebenso.«

Das unangenehme Gespräch war zu Ende. Natascha beruhigte sich, doch wollte sie nicht in Gegenwart des Mannes über das sprechen, was nur dem Bruder verständlich war, und, um ein gemeinsames Gespräch anzuknüpfen, fing sie an, über die Neuigkeit, welche von Petersburg hierher gelangt war, zu reden nämlich von dem Kummer der Mutter Kamenskaja, die ihren einzigen Sohn verloren, der im Duell getötet worden. Ignatij Nikiforowitsch äußerte seine Mißbilligung über eine Ordnung, bei welcher die Tötung im Duell aus der Reihe der allgemeinen Kriminalverbrechen ausgeschlossen ist.

Diese seine Bemerkung rief eine Erwiderung seitens Nechljudows hervor, und der Streit über dasselbe Thema entbrannte von neuem, wobei nichts zu Ende gesprochen ward, wobei die Diskutierenden sich nicht aussprachen, sondern bei ihren gegenseitig einander verurteilenden Überzeugungen blieben. Ignatij Nikiforowitsch fühlte, daß Nechljudow ihn verurteilte, indem er seine ganze Tätigkeit verachte, und er wünschte, ihm die ganze Unrichtigkeit seines Urteils zu beweisen.

»Was würde denn das Gericht tun?« fragte Nechljudow.

»Es würde einen der beiden Duellanten, wie gewöhnliche Verbrecher, zur Zwangsarbeit verurteilen.«

Nechljudows Hände wurden wieder kalt, und er begann wieder hitzig zu sprechen.

»Nun, und was würde dann?« fragte er.

»Es wäre gerecht.«

»Als ob die Gerechtigkeit das Ziel der richterlichen Tätigkeit bildete!« sagte Nechljudow.

»Was denn sonst?«

»Die Aufrechterhaltung der Klasseninteressen. Das Gericht ist, meinem Erachten nach, nur ein administratives Werkzeug zur Erhaltung der existierenden Ordnung der Dinge, die unserer Klasse vorteilhaft ist.«

»Das ist eine vollkommen neue Ansicht«, sagte mit ruhigem Lächeln Ignatij Nikiforowitsch. »Gewöhnlich wird dem Gericht eine etwas andere Bestimmung zugeschrieben.«

»Theoretisch, aber nicht praktisch, wie ich gesehen habe. Das Gericht hat zum Zwecke nur die Erhaltung der Gesellschaft in ihrer jetzigen Lage, und dazu verfolgt und züchtigt es sowohl diejenigen, die höher als das allgemeine Gesellschaftsniveau stehen und es heben wollen, – die sogenannten politischen Verbrecher, – wie auch diejenigen, die unter diesem Niveau stehen, – die sogenannten Verbrechertypen.«

»Ich kann nicht einverstanden sein, erstens damit, daß die Verbrecher, die sogenannten – politischen, darum gezüchtigt würden, weil sie höher als das Durchschnittsniveau stehen. Meistens sind sie ein Auswurf der Gesellschaft, ebenso verdorben, wenn auch in etwas anderer Art, als jene verbrecherischen Typen, die Sie für niedriger als das Durchschnittsniveau halten.«

»Ich kenne aber Menschen, die unvergleichlich höher stehen als ihre Richter: alle Sektierer sind moralische Menschen, feste . . .«

Aber Ignatij Nikiforowitsch, in der Gewohnheit eines Menschen, den man nicht unterbricht, wenn er redet, hörte dem Nechljudow nicht zu, wodurch er ihn besonders aufbrachte, und fuhr fort, gleichzeitig mit dem Nechljudow zu sprechen.

»Ich kann auch damit nicht einverstanden sein, daß das Gericht die Aufrechterhaltung der gegenwärtigen Lage zum Ziel habe. Das Gericht verfolgt eigene Ziele, entweder der Korrektion . . .«

»Gute Korrektion – in den Kerkern«, schaltete Nechljudow ein.

»Oder der Beseitigung,« fuhr Ignatij Nikiforowitsch hartnäckig fort, »der sittlich verdorbenen und jener tierähnlichen Leute, die die Existenz der Gesellschaft bedrohen.«

»Das ist es ja gerade, daß es weder das eine nach das andere tut. Die Gesellschaft hat keine Mittel, es zu tun.«

»Wieso das? Ich verstehe nicht«, fragte Ignatij Nikiforowitsch, gezwungen lächelnd.

»Ich will sagen, daß es eigentlich nur zwei vernünftige Stufen gäbe, diejenigen, welche man im Altertum angewendet hat: körperliche Strafe und Todesstrafe, die aber infolge der Sittenmilderung immer mehr und mehr außer Gebrauch kommen«, sagte Nechljudow.

»Nun, das ist neu und erstaunlich von Ihnen zu hören.«

»Ja, es ist vernünftig, dem Menschen Schmerzen zuzufügen, damit er künftighin das nicht tue, wofür man ihm Schmerzen zugefügt, und es ist vollkommen vernünftig, einem für die Gesellschaft schädlichen Gliede den Kopf abzuhauen. Diese beiden Strafen haben einen vernünftigen Sinn. Aber welchen Sinn hat es, einen durch Müßiggang und schlechtes Beispiel verdorbenen Menschen ins Gefängnis einzusperren, unter Bedingungen eines gesicherten und pflichtgemäßen Müßiggangs, in die Gesellschaft der lasterhaftesten Leute? Oder irgend wozu auf Kronskosten – jeder kostet über 500 Rubel – aus dem Tulagouvernement in das Irkutskgouvernement zu transportieren, oder aus dem Kursk . . .«

»Dennoch aber fürchten die Leute diese Reisen auf Kronskosten; und wenn es diese Reisen und die Gefängnisse nicht gäbe, so säßen wir hier nicht so, wie wir jetzt sitzen.«

»Es können diese Gefängnisse unmöglich unsere Sicherheit garantieren, denn diese Leute sitzen nicht ewig dort, sondern sie werden entlassen. Im Gegenteil, in solchen Anstalten werden diese Leute bis zur größten Lasterhaftigkeit und Verdorbenheit gebracht, d. h. die Gefahr wird vergrößert. Es ist unmöglich, diese Mängel zu verbessern«, sprach Nechljudow, die Stimme erhebend.

»Nun was denn? Soll man töten? Oder wie ein Staatsmann vorgeschlagen, die Augen ausstechen?« sagte Ignatij Nikiforowitsch, siegreich lächelnd.

»Ja, es wäre grausam, aber zweckmäßig. Dies aber, was jetzt gemacht wird, ist grausam und nicht nur unzweckmäßig, sondern bis zu solchem Grade dumm, daß man nicht verstehen kann, wie geistig gesunde Menschen an einer solch unsinnigen und grausamen Sache, wie das Kriminalgericht, teilnehmen können.«

»Nun, ich nehme aber Teil daran«, sagte Ignatij Nikiforowitsch, erbleichend.

»Das ist Ihre Sache, aber ich verstehe es nicht.«

»Ich glaube, daß Sie vieles nicht verstehen«, sagte mit zitternder Stimme Ignatij Nikiforowitsch.

»Ich habe auf dem Gericht gesehen, wie der Staatsanwalt sich aus allen Kräften bemühte, einen unglücklichen Knaben zu verurteilen, der in jedem nicht perversen Menschen nur Mitleid hervorrufen würde; ich weiß, wie ein anderer Prokuror einen Sektierer verhörte und das Lesen des Evangeliums unter das Kriminalgesetz brachte; aber die ganze Tätigkeit der Gerichte besteht überhaupt nur in solchen sinnlosen und grausamen Handlungen.«

»Ich würde nicht dienen, wenn ich so dächte«, sagte Ignatij Nikiforowitsch und stand auf.

Nechljudow bemerkte ein besonderes Glänzen unter den Brillengläsern des Schwagers. ›Sind es wirklich Tränen?‹ dachte Nechljudow. Und in der Tat, es waren Tränen der Beleidigung. Dem Nechljudow wurde es weh ums Herz, und er schämte sich, weil er bis zu solchem Grade den Schwager und die Schwester beleidigt hatte, besonders weil er morgen abreisen und sie nicht mehr sehen sollte. Voller Bestürzung nahm er von ihnen Abschied und fuhr nach Hause.

 

Die Abteilung, mit welcher die Maslowa transportiert wurde, sollte um drei Uhr vom Bahnhof abgehen; um den Ausmarsch der Abteilung aus dem Gefängnis zu sehen und mit ihr zusammen den Bahnhof zu erreichen, war daher Nechljudow gesonnen, vor zwölf Uhr ins Gefängnis zu fahren.

Als Nechljudow seine Sachen und Papiere einpackte, hielt er bei seinem Tagebuch an und las einige Stellen noch einmal durch, auch das Letzte, was darin eingetragen worden. Zuletzt, vor seiner Abreise nach Petersburg, hatte Nechljudow geschrieben:

»Katjuscha will mein Opfer nicht, sondern sie will ihr eigenes. Sie hat gesiegt, und ich habe gesiegt. Sie erfreut mich durch die innere Umwandlung, die, wie mir scheint – ich fürchte mich, daran zu glauben, – in ihr vorgeht. Ich fürchte mich, daran zu glauben; aber mir scheint, daß sie wieder auflebt.« Ebenda, gleich danach, war aufgeschrieben: »Ich habe etwas sehr Schweres und sehr Freudiges erlebt. Ich habe erfahren, daß sie sich im Krankenhause nicht gut betragen hat. Und plötzlich wurde es mir schrecklich weh ums Herz. Ich hatte nicht erwartet – wie sehr weh. Mit Widerwillen und Haß sprach ich mit ihr; dann plötzlich erinnerte ich mich an mich selbst daran, wieviel mal ich, – sogar jetzt – wenn auch nur in Gedanken, – dessen schuldig gewesen bin, wofür ich sie haßte, und auf einmal wurde ich mir widerwärtig, und zugleich erschien sie mir bedauernswert, und es ward mir sehr wohl zu Mut. Wenn es nur immer gelänge, zu rechter Zeit des Balkens im eigenen Auge gewahr zu werden, – wieviel besser wären wir!« Unterm heutigen Datum hatte er eingeschrieben: »Ich bin bei Natascha gewesen, und eben in meiner Selbstzufriedenheit war ich nicht gut, war böse, und ein schweres Gefühl ist nachgeblieben. Aber was ist zu tun? Von morgen ab ein neues Leben. Adieu dem alten, und auf immer. Viele Eindrücke haben sich angehäuft, aber ich kann sie noch immer nicht zur Einheit bringen.«

Als Nechljudow am anderen Morgen erwacht war, hatte er zuerst Reue gefühlt über das, was gestern zwischen ihm und dem Schwager geschehen. ›So kann man unmöglich wegreisen‹, dachte er, ›man muß zu ihnen fahren, und es gut machen.‹ Aber er blickte auf die Uhr und sah, daß er jetzt schon keine Zeit mehr dazu habe und sich eilen müsse, um zum Abmarsch der Abteilung nicht zu spät zu kommen. Nachdem er sich eilig reisefertig gemacht und den Portier und Taraß, den Mann der Fedossija, der mit ihm reisen sollte, mit den Sachen direkt auf den Bahnhof geschickt, nahm Nechljudow den ersten besten Mietskutscher und fuhr ins Gefängnis.

Der Gefangenenzug ging zwei Stunden vor dem Postzug, mit dem Nechljudow reiste, und so zahlte er seine letzten Rechnungen im Gasthause, da er nicht mehr zurückzukehren gedachte.

Als Nechljudow zum Gefängnis kam, war die Abteilung noch nicht abmarschiert, und im Gefängnis ging noch immer die um vier Uhr früh begonnene angestrengte Arbeit der Übergabe und des Inempfangnehmens der zu transportierenden Gefangenen vor sich. In der gegenwärtigen Abteilung waren 623 Männer und 64 Frauen: man mußte sie alle nach den Listen kontrollieren, Kranke und Schwache auslesen und den Eskortierenden übergeben. Der neue Inspektor, zwei Unterinspektoren, ein Arzt, ein Heilgehilfe, ein Eskorteoffizier und ein Schreiber saßen an dem auf den Hof in den Schatten der Mauer gestellten Tisch, mit Papieren und Kanzleimaterialien, und riefen einzeln auf, besahen, befragten und schrieben die, einer nach dem anderen zu ihnen herantretenden Gefangenen ein.

Der Tisch war jetzt schon zur Hälfte von den Sonnenstrahlen überschwemmt. Es wurde heiß und besonders schwül wegen der Windstille und des Atmens der hier angehäuft stehenden Gefangenen. Es war schwere Julihitze.

»Aber was ist denn? Nimmt es kein Ende?« sprach, den Zigarettenrauch einziehend, der hochgewachsene, dicke, rote unaufhörlich durch den seinen Mund bedeckenden Schnurrbart rauchende Eskortechef mit den aufgezogenen Schultern und den kurzen Armen. »Totmüde bin ich. Woher haben Sie so viele zusammengesammelt? Wie viele sind noch nach?« Der Schreiber erkundigte sich.

»24 Mann und die Frauen.«

»Nun, was steht ihr da, kommt heran . . .«, schrie der Eskorteoffizier auf die sich einer hinter dem andern drängenden Gefangenen ein, die noch nicht kontrolliert worden. Die Gefangenen standen schon mehr als drei Stunden in Reih und Glied, und nicht im Schatten, sondern in der Sonne, erwartend, daß sie an die Reihe kämen.

Diese Arbeit ging im Innern des Gefängnisses vor sich. Außen aber, am Tor, stand wie gewöhnlich eine Schildwache unter Gewehr, etwa zwanzig Lastfuhrwerke für die Habseligkeiten der Gefangenen und für die Schwachen, und an der Ecke war ein Häufchen von Verwandten und Freunden versammelt, die den Ausmarsch der Gefangenen erwarteten, um die Deportierten zu sehen, wo möglich sie zu sprechen und ihnen etwas mitzugeben.

Zu diesem Häufchen gesellte sich auch Nechljudow. Er stand da etwa eine Stunde. Gegen Ende dieser Zeit ließ sich hinter dem Tor ein Klirren der Ketten, das Gestampf der Tritte, die Stimmen der Obrigkeit, Husten und das nicht laute Gerede eines großen Haufens hören. So dauerte es etwa fünf Minuten, während deren die Aufseher durch das Pförtchen kamen und gingen. Endlich ertönte das Kommando. Das Tor öffnete sich mit donnerndem Getön, das Klirren der Ketten wurde hörbarer, und auf die Straße traten die Eskortesoldaten in weißen Kitteln mit Gewehren und stellten sich, augenscheinlich mit einem ihnen bekannten, gewohnten Manöver, in einem regelmäßigen breiten Kreis vor dem Tor auf.

Als sie sich hingestellt, ließ sich ein neues Kommando hören, und es begannen paarweise die Gefangenen herauszukommen. Zuerst kamen die Zwangsarbeiter, – Männer, alle in gleichen grauen Hosen und Arrestantenröcken mit dem Carreau-AßFlecken von gelbem Tuch. auf dem Rücken. Sie alle – Junge, Alte, Magere, Dicke, Blasse, Rote, Schwarze, Schnurrbärtige, Bärtige, Bartlose, Russen, Tataren, Juden kamen mit den Beinschellen klirrend und flink den einen Arm schwenkend heraus, als ob sie irgend einen weiten Weg vor hätten; aber nach etwa zehn Schritten blieben sie stehen und stellten sich gehorsam, je vier in eine Reihe, hintereinander. Gleich nach diesen strömten ohne Aufhalten aus dem Tor die ebenso rasierten Menschen, ohne Beinschellen, aber Arm mit Arm durch Handfesseln zusammengeschmiedet, in eben solcher Kleidung. Das waren die Verbannten. Sie kamen ebenso flink heraus, blieben stehen und stellten sich ebenso je vier in eine Reihe.

Dann kamen die von Gemeindewegen Verschickten. Dann die Frauen, ebenso der Reihe nach: zuerst die Zwangsarbeiterinnen in grauen Gefängniskaftans und Kopftüchern. Dann die verbannten Frauen, und die freiwillig folgenden in ihren eigenen städtischen und dörflichen Kleidern. Einige Frauen trugen ihre Säuglinge vorn eingesteckt in den grauen Kaftan.

Mit den Frauen zusammen kamen die Kinder – Knaben und Mädchen auf eigenen Füßen. Diese Kinder, wie die Füllen in der Herde, drängten sich zwischen den Arrestantinnen.

Trotzdem man alle Gefangenen in den Gefängnismauern gezählt, fingen die Eskortierenden wieder an, sie zu zählen und mit der früheren Anzahl zu vergleichen. Diese nochmalige Zählung dauerte lange, besonders weil einige Gefangene sich bewegten, indem sie ihren Platz wechselten und dadurch das Zählgeschäft der Eskortierenden störten. Die Eskortesoldaten schimpften und stießen die unterwürfig, aber böslich Gehorchenden und zählten sie noch einmal. Als man alle wieder gezählt hatte, kommandierte der Eskorteoffizier etwas, und in dem Haufen entstand eine Verwirrung, die schwachen Männer, Frauen und Kinder begaben sich, einander überholend, zu den Fuhren und begannen dort ihre Säcke zu plazieren und dann selber hinaufzuklettern. Es kletterten hinauf und setzten sich die Frauen mit den schreienden Säuglingen, die lustigen und um die Plätze streitenden Kinder und die niedergeschlagenen, finsteren Arrestanten.

Als alle Fuhren mit den Säcken gefüllt waren, und auf die Säcke sich diejenigen, denen es erlaubt worden, hingesetzt hatten, nahm der Eskorteoffizier die Mütze ab, wischte die Stirn, die Glatze und den dicken roten Hals mit dem Sacktuch ab und bekreuzte sich.

»Ganze Abteilung marsch!« kommandierte er.

Die Soldaten klirrten mit den Flinten, die Gefangenen nahmen die Mützen ab und begannen – einige mit der Linken – sich zu bekreuzen, die Begleitenden schrien etwas, die Gefangenen schrien etwas zur Antwort, unter den Frauen erhob sich ein Geheul, und die Abteilung, von den Soldaten in weißen Kitteln umgeben, bewegte sich, indem sie den Staub mit den kettengefesselten Füßen aufrührten, vorwärts.

Voran gingen die Soldaten, hinter ihnen, mit den Ketten klirrend, die Beinschellenträger, je vier in einer Reihe; hinter ihnen die Verbannten, dann die von den Gemeinden Verschickten, je zwei mit den Handschellen zusammengeschmiedet, dann die Frauen. Darauf folgten die mit den Säcken und Schwachen beladenen Fuhrwerke; auf einem derselben saß hoch eine eingehüllte Frau und winselte und schluchzte ohne Aufhören.

 

Der Zug war so lang, daß, als Nechljudow die Vorderen aus dem Gesicht verloren, sich die Fuhren mit den Säcken und den Schwachen eben erst in Bewegung setzten. Sobald sich die Wagen bewegten, stieg Nechljudow in die ihn erwartende Mietsdroschke und hieß den Kutscher die Abteilung überholen, um zu sehen, ob zwischen den Männern irgend welche bekannte Gefangene seien, und dann um zwischen den Frauen die Maslowa aufzusuchen und sie zu fragen, ob sie die ihr geschickten Sachen bekommen.

Es ward sehr heiß. Es ging kein Wind, und der von tausend Füßen aufgerührte Staub stand die ganze Zeit über den Gefangenen.

Reihe auf Reihe gingen die unbekannten Wesen von seltsamem und schrecklichem Aussehen vorüber, die tausend gleichbeschuhte und bekleidete Beine bewegten, und beim Takt der Schritte, gleichsam sich ermunternd, die freien Arme schwenkten. Fast alle Gefangenen blickten sich um und schielten nach der sie überholenden Droschke und dem darin sitzenden und sie genau musternden Herrn. Als Nechljudow die Frauen eingeholt hatte, erblickte er sogleich die Maslowa. Sie ging in der zweiten Reihe der Frauen. Als die erste in der Reihe ging eine rotgewordene, kurzbeinige, schwarzäugige, häßliche Frau, die den Gefängnisschlafrock mit dem Gürtel aufgeschürzt hatte; das war die Choroschawka. Daneben ging eine schwangere, kaum die Beine schleppende Frau, und die dritte war die Maslowa. Sie trug einen Sack über der Schulter und sah grade vor sich hin. Ihr Gesicht war ruhig und entschlossen. Die vierte in der Reihe mit ihr war eine munter marschierende, junge, schöne Frau in kurzem Schlafrock und mit auf Frauenart geknüpftem Kopftuch, – das war Fedossija. Nechljudow stieg von der Droschke ab und näherte sich den sich bewegenden Frauen, im Begriff, die Maslowa nach den Sachen und nach ihrem Ergehen zu befragen; aber der Eskorteunteroffizier, der an dieser Seite der Abteilung ging, bemerkte sofort den herantretenden Nechljudow und lief auf ihn zu.

»Man darf nicht, Herr, sich der Abteilung nähern, – ist nicht gestattet, –« schrie er, herantretend.

Als er schon ganz nahe war und Nechljudows Gesicht erkannte (im Gefängnis kannten schon alle den Nechljudow), legte der Unteroffizier den Finger an die Mütze und neben dem Nechljudow stehen bleibend, sagte er:

»Jetzt geht es nicht. Auf dem Bahnhof können Sie, – hier aber ist es nicht gestattet. Bleib nicht zurück! Marsch!« schrie er die Gefangenen an und trabte in seinen neuen, stutzerhaften Stiefeln auf seinen Platz hin.

Nechljudow kehrte auf das Trottoir zurück, hieß den Mietskutscher ihm nachfahren, und ging zu Fuß, die Abteilung nicht aus den Augen lassend. Aus den Anfahrtstüren und Toren liefen, einander zurufend, die Leute und streckten sich zu den Fenstern hinaus und blickten schweigend und unbeweglich auf den fürchterlichen Zug. Auf einem der Kreuzwege verhinderte die Abteilung eine reiche Kalesche am Durchfahren. Auf dem Kutschbock saß ein Kutscher mit blankem Gesicht und dicker Rückseite, mit Reihen von Knöpfen auf dem Rücken; in der Kalesche im Fond saßen ein Mann und eine Frau; die Frau mager und bleich, mit hellem Hut und grellfarbigem Sonnenschirm; der Mann im Zylinder, mit hellem, stutzerhaftem Paletot. Ihnen gegenüber saßen ihre Kinder: ein herausgeputztes Mädchen, frisch wie ein Blümchen, mit aufgelöstem, blondem Haar, und ebenfalls mit einem grellen Schirm, und ein achtjähriger Knabe mit langem, magerem Hals und hervortretenden Schlüsselbeinen, im Matrosenhut mit langen Bändern. Ärgerlich warf der Vater dem Kutscher vor, daß er nicht rechtzeitig der auf sie haltenden Abteilung ausgewichen sei, und die Mutter kniff die Augen mit Abscheu zusammen und runzelte die Stirn, indem sie sich vor der Sonne und dem Staub mit dem seidenen Schirm schützte, den sie tief über ihr Gesicht senkte.

Der Kutscher mit der dicken Rückseite bog böse die Augenbrauen zusammen, indes er die ungerechten Vorwürfe des Herrn anhörte, der selber ihm befohlen, diese Straße zu fahren; er hielt mit Mühe das Paar glänzender, rabenschwarzer Hengste fest, die vorwärts drängten.

Der Polizeisoldat wünschte von ganzer Seele, dem Besitzer der reichen Kalesche gefällig zu sein und ihn durchzulassen, indem er die Gefangenen zurückhielt; aber er fühlte, daß in diesem Zug eine düstere Feierlichkeit lag, die man nicht einmal eines so reichen Herrn wegen zerstören könne. Er legte nur die Hand an den Mützenschirm, als Zeichen seiner Achtung vor dem Reichtum.

So mußte die Kalesche warten, bis der ganze Zug vorüber war, und erst dann setzte sie sich in Bewegung, als der letzte Lastfuhrmann vorbeigerasselt war. Erst dann schüttelte der Kutscher leicht die Zügel, und die rabenschwarzen Traber, mit den Hufeisen auf dem Pflaster klirrend, jagten mit der weich auf den Gummirädern erzitternden Kalesche hinaus aufs Land, wohin der Mann, die Frau, das Mädchen und der Knabe mit dem dünnen Hals und den vorstehenden Schlüsselbeinen fuhren, um sich aufzuheitern.

Weder der Vater noch die Mutter gaben dem Mädchen oder dem Knaben eine Erklärung dessen, was sie gesehen, so daß die Kinder selber die Frage nach der Bedeutung dieses Schauspiels lösen mußten.

Das Mädchen zog den Gesichtsausdruck von Vater und Mutter in Betracht und entschied danach die Frage so, daß dies ganz andere Menschen seien als ihre Eltern und ihre Bekannten; daß es schlechte Leute seien, und daß man darum gerade so mit ihnen verfahren sollte, wie man mit ihnen verfahren war. Und daher war es dem Mädchen nur ängstlich zu Mute, und sie war froh, als man diese Leute nicht mehr sah.

Aber der ohne zu blinzeln und ohne die Augen abzuwenden den Gefangenenzug betrachtende Knabe mit dem langen, mageren Hals entschied die Frage anders.

Er wußte immer noch fest und unzweifelhaft, nachdem er es von Gott selbst erfahren, daß dies ebensolche Menschen waren wie er selbst und wie alle Menschen, und daß folglich jemand an diesen Leuten etwas Schlechtes verübt, das man nicht tun sollte; es ward ihm weh um sie, und er empfand ein Grauen, sowohl vor den Leuten, die gefesselt und rasiert waren, wie vor denjenigen, die sie gefesselt und rasiert hatten. Und darum zog er mehr und mehr die Lippen breit, und machte große Anstrengungen, um nicht aufzuweinen, denn er glaubte, daß in solchen Fällen zu weinen eine Schande sei.

 

Nechljudow ging mit ebenso raschem Schritt, wie die Gefangenen gingen, und es war sogar ihm, dem leicht Angezogenen, fürchterlich heiß.

Nachdem er eine Viertelwerst gegangen, setzte er sich in die Mietskutsche und fuhr voran. Er versuchte, bei sich die Gedanken an das gestrige Gespräch mit dem Schwager hervorzurufen, aber jetzt regten ihn diese Gedanken nicht mehr so auf wie am Morgen. Sie waren von den Eindrücken des Ausmarsches aus dem Gefängnis und des weiteren Ganges der Abteilung verdeckt. Hauptsächlich aber war es drückend heiß.

»Wo könnte ich hier etwas trinken?« fragte Nechljudow seinen Mietskutscher, da er eine unüberwindliche Lust sich zu erfrischen fühlte.

»Gleich, hier – eine gute Wirtschaft!« sagte der Mietskutscher, und um die Ecke biegend, fuhr er den Nechljudow zu einer Anfahrt mit einem großen Aushängeschild.

Nechljudow verlangte Selterwasser und setzte sich an einen kleinen Tisch mit schmutziger Decke.

An einem andern kleinen Tisch saßen zwei Männer beim Teeservice und einer Flasche aus weißem Glas, wischten sich den Schweiß von der Stirn und rechneten friedfertig etwas aus. Einer von ihnen war schwarz und kahl, mit einem ebensolchen Kranz schwarzer Haare um den Nacken, wie ihn Ignatij Nikiforowitsch hatte. Dieser Eindruck erinnerte den Nechljudow wieder an das gestrige Gespräch mit dem Schwager und an den Wunsch, ihn und die Schwester vor der Abreise zu sehen . . . ›Kaum werde ich Zeit haben vor dem Zug,‹ dachte er, ›lieber schreibe ich ihnen einen Brief!‹ Er verlangte Papier, Briefkuvert und eine Postmarke und fing an, das frische, brausende Wasser schlürfend, zu überlegen, was er schreiben solle. Aber seine Gedanken liefen auseinander, und er konnte den Brief auf keine Weise zu Stande bringen.

»Liebe Natascha, ich kann nicht wegreisen unter dem schweren Eindruck des gestrigen Gespräches mit Ignatij Nikiforowitsch . . .«, begann er. ›Aber was weiter? Um Verzeihung bitten für das, was ich gestern gesagt habe? Aber ich habe gesagt, was ich dachte. Und er wird glauben, daß ich es widerrufe. Nein, ich kann nicht . . .!‹ – und den sich in ihm wieder erhebenden Haß gegen den fremden, selbstgewissen, ihn nicht verstehenden Mann fühlend, steckte Nechljudow den nicht beendeten Brief in die Tasche, zahlte, ging auf die Straße hinaus und fuhr, um die Abteilung wieder einzuholen.

Die Hitze verstärkte sich noch. Wände und Steine atmeten gleichsam heiße Luft aus.

Das Pferd, gleichmäßig mit den Hufeisen auf das staubige und unebene Pflaster klopfend, schleppte sich in trägem Trabe über die Straßen. Der Mietskutscher schlummerte fortwährend ein; Nechljudow saß, ohne etwas zu denken, und sah gleichgültig vor sich hin. Auf dem Abhang der Straße, dem Tor eines Hauses gegenüber, standen ein Häufchen Leute und ein Eskortesoldat mit dem Gewehr.

Nechljudow ließ den Kutscher halten.

»Was ist?« fragte er einen Hausbesorger.

»Etwas mit einem Arrestanten.«

Nechljudow stieg aus der Droschke und näherte sich dem Häufchen der Leute. Auf den unebenen Steinen des gegen das Trottoir abfallenden Pflasters lag – der Kopf niederer als die Beine – ein breitschultriger, nicht mehr junger Gefangener, mit rotem Bart, rotem Gesicht und platter Nase, im grauen Gefängnisrock und ebensolchen Hosen. Er lag rücklings mit nach unten geöffneten Handflächen seiner mit Sommersprossen bedeckten Hände, und in großen Pausen schluchzte er auf aus der hohen, breiten, gleichmäßig zuckenden Brust, indem er mit den starr gewordenen blutunterlaufenen Augen zum Himmel aufsah. Um ihn standen ein finsterer Polizeisoldat, ein Hausierer, ein Briefträger, ein Kommis, eine alte Frau mit einem Sonnenschirm und ein kurzgeschorener Knabe mit einem leeren Korbe.

»Sie sind vom Sitzen im Gefängnis schwach geworden, entkräftet, und man führt sie gerade bei dieser Höllenhitze«, verurteilte der Kommis jemanden, gegen den Nechljudow gewendet.

»Er wird sterben, gewiß«, sprach die Frau mit dem Sonnenschirm mit weinender Stimme.

»Man muß ihm das Hemd öffnen«, sagte der Briefträger.

Der Polizeisoldat begann ungeschickt mit den dicken, zitternden Fingern die Bänder an dem sehnigen, roten Halse aufzuknoten. Er war sichtbar aufgeregt und verwirrt, aber er hielt es dennoch für nötig, sich gegen den Haufen zu wehren.

»Was habt ihr euch da versammelt? So wie so heiß! Gegen den Wind steht ihr.«

»Der Arzt sollte sie untersuchen, – die schwach sind, zurücklassen. Aber man führt sogar diesen Halbtoten mit«, sprach der Kommis, augenscheinlich mit seiner Kenntnis der Ordnung prunkend.

Der Stadtpolizist löste die Bänder des Hemdes, richtete sich auf und blickte sich um.

»Geht auseinander, sage ich. Es geht ja euch nicht an; was habt ihr da zu sehn!« sprach er und wendete sich um Zustimmung an den Nechljudow. Aber da er keinen Beifall in seinem Blick las, so sah er sich nach dem Eskortesoldaten um. Doch der Eskortesoldat stand abseits, besah seinen abgelaufenen Absatz und war gegen die Verlegenheit des Polizeisoldaten vollständig gleichgültig.

»Die es angeht, kümmern sich ja nicht darum; Menschen so umkommen zu lassen, ist denn das eine Ordnung?«

»Gefangener oder nicht – er ist doch 'n Mensch«, sprach man in dem Haufen.

»Legen Sie ihm den Kopf höher und geben Sie ihm Wasser«, sagte Nechljudow.

»Jemand ist schon gegangen, Wasser zu holen«, antwortete der Polizeisoldat, nahm den Gefangenen unter die Arme und schleppte mit Mühe den Rumpf etwas höher.

»Was für eine Ansammlung!« ließ sich entschieden eine obrigkeitsmäßige Stimme vernehmen, und zu dem um den Arrestanten versammelten Häufchen von Menschen trat mit raschen Schritten ein Polizeiaufseher.

»Auseinandergehen! Nicht mehr hier stehen!« schrie er den Haufen an, obgleich er noch nicht sah, weswegen sich die Menge versammelt hatte. Als er dicht herangetreten war und den sterbenden Gefangenen sah, machte er mit dem Kopf ein beifälliges Zeichen, als ob er grade dies erwartet habe, und wandte sich an den Polizeisoldaten.

»Wieso?«

Der Polizeisoldat meldete, daß eine Gefangenenabteilung vorbeigegangen, und daß ein Gefangener umgefallen sei; der Eskorteoffizier hatte befohlen, ihn zurückzulassen.

»Nun, was denn? Man muß ihn auf den Polizeiposten bringen. Mietskutscher!«

»Ein Hausbesorger ist nach einem gelaufen«, sagte der Polizeisoldat, die Hand an den Mützenschirm legend.

Der Kommis fing etwas von der Hitze an.

»Ist es deine Sache? He? Geh' deiner Wege«, stieß der Polizeiaufseher hervor und blickte ihn so streng an, daß der Kommis verstummte.

»Man muß ihm etwas Wasser zu trinken geben«, sagte Nechljudow.

Der Polizeiaufseher blickte auch den Nechljudow streng an, sagte aber nichts. Als nun der Hausbesorger Wasser in einem Krug gebracht, hieß er den Polizeisoldaten, es dem Gefangenen reichen. Der Polizeisoldat richtete den zurückgesunkenen Kopf auf und versuchte, ihm Wasser in den Mund zu gießen, aber der Gefangene nahm es nicht; das Wasser ergoß sich über den Bart, indem es auf der Brust die Jacke und das staubige, hänferne Hemd durchnäßte.

»Gieß es ihm über den Kopf!« kommandierte der Polizeiaufseher, und der Polizeisoldat nahm die pfannkuchenartige Mütze ab und goß das Wasser sowohl auf die roten, krausen Haare, wie auch auf den nackten Schädel. Die Augen des Arrestanten öffneten sich, gleichsam erschrocken, ein wenig mehr, die Lage aber änderte er nicht, über sein Gesicht flossen die vom Staube schmutzigen Ströme, sein Mund aber schluchzte ebenso gleichmäßig, und sein ganzer Leib zitterte.

»Warum denn nicht dieser? Diesen nehmen«, wandte sich der Polizeiaufseher an den Polizisten, auf Nechljudows Mietskutscher zeigend. »Fahr vor, he, du!«

»Besetzt«, brachte finster, ohne die Augen zu erheben, der Mietskutscher hervor.

»Das ist mein Mietskutscher,« sagte Nechljudow, »aber nehmen Sie ihn, ich zahle«, fügte er hinzu, sich an den Mietskutscher wendend.

»Nun, was steht ihr!« schrie der Polizeiaufseher, »faß' an!«

Der Polizist, die Hausbesorger, der Eskortesoldat hoben den Sterbenden auf, trugen ihn zur Droschke und setzten ihn auf den Sitzplatz. Aber er konnte sich nicht selber halten, sein Kopf fiel wieder zurück und sein ganzer Körper rutschte vom Sitz.

»Leg ihn hin!« kommandierte der Polizeiaufseher.

»Macht nichts, Euer Wohlgeboren, ich werde ihn schon so hinfahren«, sagte der Polizist, indem er sich fest neben den Sterbenden auf den Sitz setzte und ihn mit der starken rechten Hand unter der Achsel faßte.

Der Eskortesoldat hob die mit den Gefängnispantoffeln ohne Fußlappen beschuhten Füße, stellte sie hin und zog sie unter dem Kutschbock heraus.

Der Polizeiaufseher blickte sich um, und die pfannkuchenartige Mütze des Arrestanten auf dem Pflaster gewahrend, hob er sie auf und setzte sie auf den zurückfallenden, nassen Kopf.

»Marsch!« kommandierte er.

Der Mietskutscher blickte sich ärgerlich um, schüttelte den Kopf, und in Begleitung des Eskortesoldaten bewegte er sich im Schritt zurück zum Kreisgebäude. Der bei dem Arrestanten sitzende Polizist umfaßte immer wieder den rutschenden Körper mit dem nach allen Seiten schaukelnden Kopf.

Der Eskortesoldat ging daneben und legte die Beine zurecht.

Nechljudow ging ihnen nach.

 

Als die Droschke mit dem Arrestanten zum Polizeiamt gelangte, fuhr sie in den Hof des Kreispolizeigebäudes hinein und hielt bei einer der Anfahrten still.

Sobald die Droschke hielt, ward sie von einigen Polizeisoldaten umringt, die den leblosen Körper des Gefangenen unter die Achseln und an den Beinen faßten und ihn von der unter ihnen kreischenden Droschke herunterhoben. Der Polizist, der den Gefangenen gebracht, war von der Droschke abgestiegen, schwenkte ein wenig mit dem steif gewordenen Arm, nahm die Mütze ab und bekreuzte sich; den Toten aber trug man durch die Tür die Treppe hinan.

Nechljudow ging ihnen nach.

In dem kleinen schmutzigen Zimmer, wohin man den Toten gebracht, waren vier Betten. Auf zweien derselben saßen zwei Kranke in Schlafröcken: der eine mit schiefem Munde und umbundenem Hals, der andere – ein Schwindsüchtiger. Zwei Betten waren frei. Auf eins derselben legte man den Gefangenen.

Gleich den Polizisten, die den Toten gebracht hatten, traten ein Polizeiaufseher und ein Heilgehilfe ein.

Der Heilgehilfe näherte sich dem Toten, betastete die schon kalte, gelbliche, mit Sommersprossen bedeckte, noch weiche, aber bereits tötlich bleiche Hand des Gefangenen, hielt sie eine Zeitlang und ließ sie dann los. Sie fiel leblos auf den Leib des Toten.

»Fertig«, sagte der Heilgehilfe, mit dem Kopfe nickend, aber, augenscheinlich der Ordnung wegen, öffnete er das nasse, rohe Hemd des Toten, und sein krauses Haar vom Ohr zurückschiebend, legte er es an die gelbliche, unbewegliche, hohe Brust des Arrestanten. Alle schwiegen. Der Heilgehilfe richtete sich auf, schüttelte noch einmal den Kopf und berührte mit dem Finger erst das eine, dann das andere Augenlid über den geöffneten, starren blauen Augen.

»Wie ist's« fragte der Polizeiaufseher.

»Wie's ist?« wiederholte der Heilgehilfe, »in die Totenkammer muß man ihn schaffen.«

»Sehen Sie zu, ob's wirklich so weit ist«, sagte der Polizeiaufseher.

»Es ist nicht das erstemal«, sagte der Heilgehilfe, der aus irgend einem Grunde die aufgedeckte Brust des Toten zudeckte. »Sonst schicke ich nach dem Matwej Iwanytsch, er soll ihn ansehen. Petrow, geh«, sagte der Heilgehilfe, und trat von dem Toten weg.

»In die Totenkammer bringen«, sagte der Polizeiaufseher. »Du aber komme dann in die Kanzlei, wirst's bescheinigen«, fügte er gegen den Eskortesoldaten hinzu, der die ganze Zelt nicht von dem Gefangenen gewichen war.

»Zu Befehl«, antwortete der Eskortesoldat.

Die Polizisten hoben den Toten auf und trugen ihn wieder die Treppe hinab.

Die Polizeisoldaten hatten mit ihrer Last schon den ganzen Hof passiert und traten nun in die Anfahrt des Erdgeschosses. Nechljudow wollte sich ihnen nähern, aber der Polizeiaufseher hielt ihn an.

»Was wollen Sie?«

»Nichts«, antwortete Nechljudow.

»Nichts? So gehen Sie weg.«

Nechljudow fügte sich und ging zu seiner Droschke. Sein Mietskutscher schlummerte. Nechljudow weckte ihn und fuhr weiter zum Bahnhof.

Sie hatten nicht einmal hundert Schritte zurückgelegt, als ihm eine wieder von einem Eskortesoldaten mit dem Gewehr begleitete Lastfuhre begegnete, auf der ein anderer, offenbar schon gestorbener Gefangener lag. Der Gefangene lag in dem Wagen auf dem Rücken, und sein rasierter Kopf mit dem schwarzen Bärtchen, der mit der pfannkuchenartigen, bis zur Nase übers Gesicht heruntergerutschten Mütze bedeckt war, wurde gerüttelt und bei jedem Stoß des Fuhrwerks angeschlagen. Der Lastführer in dicken Stiefeln ging daneben und lenkte das Pferd. Hinten ging ein Polizeisoldat.

Nechljudow berührte den Mietskutscher an der Schulter.

»Was machen die Leute auch!« sagte der Mietskutscher, das Pferd anhaltend.

Nechljudow stieg aus der Droschke und ging, hinter dem Lastwagen her, in den Hof des Kreisgebäudes.

Die Polizisten hoben den Toten, ebenso wie den ersten, von der Fuhre und trugen ihn in das Sanitätszimmer. Nechljudow, wie hypnotisiert, ging ihnen nach.

»Was wollen Sie?« fragte ihn der Polizist.

Er ging, ohne zu antworten, wohin man den Toten trug. –

Nechljudow sah unterdessen auf den Toten, den jetzt niemand mehr vor ihm verdeckte, und dessen ganzes früher unter der Mütze verborgenes Gesicht jetzt sichtbar war. Wie mißgestaltet jener Gefangene war, so ungewöhnlich schön war dieser, sowohl von Gesicht wie von ganzem Körper. Dies war ein Mensch im vollen Aufblühen der Kräfte. Trotz der durchs Rasieren entstellten Hälfte des Kopfes war die nicht hohe gewölbte Stirn mit Erhöhungen über den schwarzen jetzt leblosen Augen sehr schön, ebenso wie die nicht große Nase mit dem kleinen Höcker über dem feinen schwarzen Schnurrbart. Die jetzt blau schimmernden Lippen waren zu einem Lächeln gekräuselt. Ein kleines Bärtchen rahmte den unteren Teil des Gesichts nur ein. Auf der rasierten Seite des Schädels war ein nicht großes, festes und schönes Ohr sichtbar.

Man sah gleich, was für Möglichkeiten eines geistigen Lebens in diesem Menschen zugrunde gerichtet worden waren. Nach den feinen Knochen der Hände und der zusammengeschmiedeten Beine und nach den starken Muskeln proportioniert gebildeter Gliedmaßen war es klar, was für ein schönes, starkes und gewandtes menschliches Tier dies war. Und doch hat man ihn zu Tode gequält, und niemandem war es leid um ihn, nicht nur wie um einen Menschen, sondern nicht einmal wie um ein umsonst zugrunde gerichtetes Arbeitstier. Das einzige Gefühl, welches durch jenen Tod in allen Leuten hervorgerufen ward, war nur Ärger wegen der Mühen, welche die Notwendigkeit forderte, diesen mit der Verwesung drohenden Körper zu beseitigen.

In das Sanitätszimmer traten der Arzt mit dem Heilgehilfen und ein Kreispolizeiaufseher. Der Arzt war ein fester, untersetzter Mann in einem rohseidenen Rock und in eben solchen schmalen, die muskulösen Schenkel festumspannenden Pantalons. Der Kreispolizeiaufseher war ein kleiner Dickbauch, mit kugelartigem, rotem Gesicht, das noch runder wurde wegen seiner Gewohnheit, Luft in die Backen einzuziehen und sie langsam hinauszulassen. Der Arzt setzte sich auf das Bett zu dem Toten und betastete ebenso wie der Heilgehilfe die Hand, behorchte das Herz und stand auf, die Hosen zurückziehend.

»Töter kann man nicht sein«, sagte er.

Der Kreisaufseher zog den Mund voll Luft und ließ sie langsam hinaus.

»Aus welchem Gefängnis?« wandte er sich an den Eskortesoldaten.

Der Eskortesoldat antwortete und erinnerte an die Beinschellen, die der Verstorbene trug.

»Ich werde Befehl geben, sie abzunehmen. Gottlob, Schmiede haben wir«, sagte der Kreisaufseher, blies wieder die Wangen auf und ging zur Tür, langsam die Luft hinausblasend.

»Aber woher kommt denn das?« wandte sich Nechljudow an den Arzt.

Der Arzt sah ihn über die Brille hinweg an.

»Was woher kommt? Daß man vom Sonnenstich stirbt? Nun daher: man sitzt ohne Bewegung, ohne Licht den ganzen Winter, und plötzlich kommt man in die Sonne, dazu noch an solchem Tage, wie heute, und man geht im Haufen, keine Luftzufuhr. Nun, und der Sonnenstich ist da.«

»Warum schickt man sie denn?«

»Das fragen Sie sie. Aber wer sind Sie eigentlich?«

»Ich bin ein Privatmann.«

»So–o . . . Ich habe die Ehre, ich habe keine Zeit«, sagte der Arzt, zog ärgerlich die Hosen nach unten und begab sich zu den Betten der Kranken.

Nechljudow ging auf den Hof hinab und durch das Tor, setzte sich in seine Droschke mit dem wieder eingeschlafenen Mietskutscher und fuhr auf den Bahnhof.

 

Als Nechljudow auf den Bahnhof kam, saßen schon alle Gefangenen in den Waggons hinter den Gitterfenstern. Auf der Plattform standen einige, die ihnen das Geleite geben wollten. Auf dem Wege vom Gefängnis zum Bahnhof fielen und starben vom Sonnenstich, außer jenen zwei Männern, die Nechljudow gesehen, noch drei Menschen: einer ward ebenso, wie die zwei ersten, in das nächste Kreispolizeigebäude gebracht, und zwei fielen noch hier, auf dem Bahnhof um.Anfang der achtziger Jahre starben am Sonnenstich fünf Mann Gefangener an einem Tage, während man sie aus dem Butryrskij-Schloß auf den Nischnij-Nowgoroder Bahnhof überführte. Der Autor.

Als Nechljudow in das Fenster eines der Waggons hineinblickte, sah er in der Mitte desselben, im Durchgang, die Eskortierenden, wie sie den Gefangenen die Handschellen abnahmen. Die Gefangenen streckten die Arme aus, und einer der Eskortesoldaten öffnete mit einem Schlüssel das Schloß an den Handschellen und zog sie ab. Ein anderer sammelte die Handschellen zusammen. Als Nechljudow alle diese Waggons passiert hatte, kam er zu den weiblichen. Aus dem zweiten derselben hörte man das eintönige Gestöhn einer weiblichen Stimme, untermischt mit den Ausrufen: »Oh, oh, oh! . . . Herr Je, oh, oh, oh! Herr Je! –«

Nechljudow ging vorbei, und auf dem Hinweis eines Eskortesoldaten näherte er sich dem Fenster des dritten Waggons.

Sobald Nechljudow seinen Kopf dem Fenster näherrückte, überschauerte es ihn mit einer Hitze, die mit dem schweren Geruch menschlicher Ausdünstungen gesättigt war, und es ließen sich deutlich kreischende weibliche Stimmen hören. Auf allen Bänken saßen rotgewordene, schweißige Frauen in Schlafröcken oder Jacken und sprachen laut miteinander. Das sich dem Fenster nähernde Gesicht Nechljudows lenkte ihre Aufmerksamkeit zu ihm. Die nächsten verstummten und rückten näher zu ihm. Die Maslowa, nur in der Jacke und ohne Kopftuch, saß an dem gegenüberliegenden Fenster. Ihm näher saß die weiße, lächelnde Fedossija. Als sie den Nechljudow erkannte, stieß sie die Maslowa an und zeigte mit der Hand auf das Fenster. Die Maslowa stand eilig auf, warf das Kopftuch über die schwarzen Haare, trat mit lebhaft werdendem, rotem, verschmitztem, lächelndem Gesicht an das Fenster und faßte das Gitter.

»Und heiß ist es«, sagte sie freudig lächelnd.

»Haben Sie die Sachen erhalten?«

»Ich habe sie erhalten, danke.«

»Haben Sie nichts nötig?« fragte Nechljudow, und er fühlte, daß die Hitze aus dem glühend heißen Wagen wie aus einem Badeofen ausströmte.

»Ich habe nichts nötig, danke.«

»Etwas zu trinken«, sagte Fedossija.

»Ja, etwas zu trinken«, wiederholte die Maslowa.

»Habt ihr denn kein Wasser?«

»Es wird etwas gebracht, aber jetzt ist alles ausgetrunken.«

»Gleich,« sagte Nechljudow, »will ich einen Eskortesoldaten darum bitten. Jetzt werden wir uns bis Nischnij nicht mehr sehen.«

»Reisen Sie denn auch mit?« fragte die Maslowa, als ob sie es nicht wüßte, und blickte den Nechljudow freudig an.

»Ich reise mit dem folgenden Zug.«

Die Maslowa sagte nichts, und erst nach einigen Sekunden seufzte sie tief auf.

»Wie ist's denn, Herr, ist es wahr, daß sie zwölf Gefangene umgebracht haben?« sagte eine alte finstere Gefangene mit grober Stimme wie ein Bauer. Es war die Korablewa.

»Ich habe nicht gehört, daß es zwölf seien. Zwei habe ich gesehen«, sagte Nechljudow.

»Sie sagen zwölf. Werden sie denn wirklich nichts dafür kriegen? Das sind ja Teufel.«

»Und von den Frauen ist niemand krank geworden?« fragte Nechljudow.

»Die Weiber sind zäher,« sagte lachend eine andere kleine Gefangene, »nur eine ist auf den Einfall gekommen, zu gebären. Da singt sie«, sagte sie, auf den Nachbarwagen zeigend, aus dem immer das gleiche Gestöhn ertönte.

»Sie sagen, ob nichts nötig sei,« sagte die Maslowa, indes sie sich bemühte, das freudige Lächeln von den Lippen zurückzudrängen, »könnte man nicht diese Frau zurücklassen? Sonst muß sie sich so quälen. Wenn Sie es der Obrigkeit sagten?«

»Ja, ich will es sagen.«

»Und dies noch: wäre es nicht möglich, daß sie Taraß, ihren Mann, sehen könnte?« fügte sie hinzu, mit den Augen auf die lächelnde Fedossija zeigend. »Er reist ja mit Ihnen.«

»Herr, man darf nicht sprechen,« ließ sich die Stimme eines Unteroffiziers von der Eskorte hören.

Es war nicht jener, der den Nechljudow zugelassen. Nechljudow entfernte sich und ging, den Chef zu suchen, um ihn wegen der gebärenden Frau und wegen Taraß zu bitten. Aber er konnte ihn lange nicht finden und eine Antwort von den Eskortierenden erlangen.

Erst nach dem zweiten Läuten ward Nechljudow des Eskorteoffiziers gewahr. Der kurzarmige Offizier stand mit aufgezogenen Schultern da, wischte sich den Mund und gab einem Feldwebel wegen irgend etwas einen Verweis.

»Was wollen Sie eigentlich?« fragte er den Nechljudow.

»Im Waggon bei Ihnen gebärt eine der Frauen, nun denke ich, man müßte . . .«

»Nun, und lassen Sie sie gebären. Dann werden wir sehen«, sagte der Eskorteoffizier, und er ging in seinen Waggon, flink mit den kurzen Armen schwenkend.

Um diese Zeit ging ein Kondukteur mit der Pfeife in der Hand vorbei. Es ertönte das letzte Läuten, ein Pfiff, und zwischen den Begleitenden auf der Plattform und im weiblichen Waggon ließen sich Weinen und Ausrufe hören.

Nechljudow stand neben dem Taraß auf der Plattform und sah, wie sich die Wagen, einer nach dem andern, mit den Gitterfenstern und mit den hinter ihnen sichtbaren rasierten Köpfen der Männer an ihm vorbeischoben.

Dann erschien ihm gegenüber der erste weibliche Wagen, in dessen Fenstern man die Köpfe der barhäuptigen Frauen und Frauen mit Kopftüchern erblickte; dann der zweite Wagen, aus dem noch immer dasselbe Stöhnen der Frau ertönte; dann der Wagen, in dem die Maslowa war. Sie stand mit anderen zusammen am Fenster, sah den Nechljudow an und lächelte ihm kläglich zu.

 

Bis zum Abgang des Personenzuges, mit dem Nechljudow reisen sollte, blieben noch zwei Stunden. Zuerst wollte Nechljudow während dieser Zwischenzeit noch zu der Schwester fahren; aber jetzt, nach den Eindrücken dieses Morgens, fühlte er sich im höchsten Grade aufgeregt und zerschlagen. Als er sich auf einen kleinen Diwan im Saal erster Klasse gesetzt, überfiel ihn vollständig unerwartet eine solche Schläfrigkeit, daß er sich auf die Seite drehte, die Hand unter eine Backe legte und sofort einschlief.

Ihn weckte ein Kellner im Frack mit einem Zeichen und einer Serviette.

»Mein Herr, mein Herr, sollten Sie nicht Nechljudow, der Fürst sein? Eine Dame sucht Sie.«

Nechljudow fuhr auf, rieb sich die Augen, erinnerte sich, wo er sei und an all das, was am heutigen Morgen geschehen. In seiner Erinnerung waren: der Marsch der Gefangenen, die Toten, die Waggons mit den Gittern und die dort eingesperrten Frauen, von denen eine sich ohne Hilfe bei der Entbindung quälte und eine andere hinter dem eisernen Gitter ihm kläglich zulächelte.

In der Wirklichkeit aber war vor ihm etwas ganz anderes: ein mit Flaschen, Vasen, Kandelabern und Gedecken bestellter Tisch und die neben dem Tisch hin und her huschenden hurtigen Kellner.

Während Nechljudow sich aus der liegenden Stellung aufrichtete und nach und nach zu sich kam, bemerkte er, daß alle im Zimmer Anwesenden etwas in den Türen Passierendes mit Neugier betrachteten. Er blickte auch dorthin und sah Leute gehen, die auf einem Lehnstuhl eine Dame in einem luftigen Schleier, der ihr den Kopf umhüllte, trugen. Der vordere Träger war ein Lakai und kam dem Nechljudow bekannt vor. Der hintere war ebenfalls ein bekannter Portier mit Gallons auf der Mütze. Hinter dem Lehnstuhl ging ein elegantes Zimmermädchen in einer Schürze und mit Löckchen und trug ein Bündelchen, irgend welchen runden Gegenstand in einem ledernen Futteral und Schirme. Noch weiter hinten ging, die Brust herausdrückend, der Fürst Kortschagin mit seinen hängenden Lippen und seinem apoplektischen Hals, mit einer Reisemütze, und noch weiter hinten – Missi, Mischa, der Vetter und der dem Nechljudow bekannte Diplomat Osten mit dem langen Hals, dem vortretenden Adamsapfel, dem immer lustigen Aussehen und in eben solcher Stimmung. Er ging neben der lächelnden Missi, der er eindringlich, aber augenscheinlich spaßhaft etwas zu Ende erzählte. Zu hinterst ging der Arzt, ärgerlich eine Zigarette rauchend.

Die Kortschagins zogen aus ihrem nahe bei der Stadt liegenden Gut zu der Schwester der Fürstin, auf deren Gut, um, das an der Nischnijnowgoroder Linie lag.

Der Zug mit den Trägern, dem Zimmermädchen und dem Arzt ging vorüber in das Damenzimmer, indem er Neugier und Respekt seitens aller Anwesenden hervorrief. Der alte Fürst aber setzte sich an den Tisch, rief sogleich einen Kellner und begann, sich etwas zu bestellen, irgendwelches Essen und Trinken. Missi und Osten blieben ebenfalls im Speisesaal stehen, und grade wollten sie sich setzen, als sie in der Tür eine Bekannte bemerkten und ihr entgegen gingen. Diese Bekannte war Natalija Iwanowna. Natalija Iwanowna, von Agrafena Petrowna begleitet, trat in den Speisesaal, sich nach allen Seiten umblickend. Sie wurde fast um dieselbe Zeit der Missi und des Bruders gewahr. Sie näherte sich zuerst der Missi und winkte nur mit dem Kopf dem Nechljudow zu. Aber sobald sie Missi geküßt, wandte sie sich sogleich zu ihm.

»Endlich habe ich dich gefunden«, sagte sie.

Nechljudow stand auf, begrüßte Miß, Mischa und Osten und blieb sprechend stehen. Missi erzählte ihm von der Feuersbrunst in ihrem Hause auf dem Dorfe, die sie zur Tante umzuziehen nötigte. Osten begann bei dieser Gelegenheit eine drollige Anekdote von der Feuersbrunst zu erzählen.

Nechljudow, ohne dem Osten zuzuhören, wandte sich an die Schwester.

»Wie froh bin ich, daß du gekommen bist«, sagte er.

»Ich bin schon lange hier«, sagte sie. »Ich bin mit Agrafena Petrowna gekommen. Wir haben dich überall gesucht.«

»Ich aber war hier eingeschlafen. Wie froh bin ich, daß du gekommen bist«, wiederholte Nechljudow. »Ich habe dir einen Brief zu schreiben angefangen«, sagte er.

»Wirklich?« sagte sie erschrocken, »worüber denn?«

Als Missi bemerkte, daß ein intimes Gespräch zwischen dem Bruder und der Schwester begann, ging sie mit ihren Kavalieren bei Seite.

»Gestern, als ich von euch weggegangen, wollte ich wieder umkehren und um Verzeihung bitten, aber ich wußte nicht, wie er es aufnehmen würde«, sagte Nechljudow. »Ich habe nicht gut mit deinem Mann gesprochen, und das quälte mich«, sagte er.

»Ich wußte das, ich war überzeugt,« sagte die Schwester, »daß du es nicht wolltest. Du weißt ja . . .« und Tränen traten ihr in die Augen, sie berührte seine Hand. Dieser Satz war nicht deutlich, aber er verstand ihn vollkommen und ward gerührt durch das, was er bedeutete. Ihre Worte bedeuteten, daß außer der Liebe, die sie vollständig beherrschte, der Liebe zu ihrem Manne, teuer und wichtig für sie die Liebe zu ihm, dem Bruder, sei, und daß jede Uneinigkeit zwischen ihnen für sie ein schweres Leid sei.

»Aber was willst du tun?« fuhr Natalija Iwanowna fort.

»Was ich kann . . . Ich weiß nicht, aber ich fühle, daß ich etwas tun muß. Und was ich kann, werde ich tun.«

»Ja, ja, das verstehe ich. Nun, und mit diesen,« sagte sie lächelnd und mit den Augen auf den Kortschagin zeigend, »ist es wirklich ganz zu Ende?«

»Ganz, und ich glaube beiderseits ohne Bedauern.«

»Schade. Mir tut es leid. Ich liebe sie. Nun, wollen wir annehmen, daß es so sei. Aber wozu willst du dich binden?« fügte sie ängstlich hinzu. »Wozu reisest du?«

»Ich reise, weil es so sein muß«, sagte Nechljudow ernst und trocken, als ob er dieses Gespräch abbrechen wolle.

Aber er machte sich sogleich ein Gewissen aus seinem Kaltsinn gegen die Schwester. ›Warum soll ich ihr nicht alles sagen, was ich denke?‹ dachte er. ›Laß auch Agrafena Petrowna es hören‹, sagte er bei sich, das alte Zimmermädchen anblickend. Die Anwesenheit der Agrafena Petrowna reizte ihn noch mehr, seinen Entschluß der Schwester zu wiederholen.

»Du sprichst von meinem Vorsatz, Katjuscha zu heiraten? Nun siehst du, ich habe beschlossen es zu tun, aber sie hat es bestimmt und fest abgeschlagen«, sagte er, und seine Stimme erzitterte, wie sie immer zitterte, wenn er darüber sprach. »Sie will mein Opfer nicht, und sie selber bringt ein Opfer, das für sie in ihrer Lage viel ausmacht, und ich kann dieses Opfer nicht annehmen, wenn es nur momentaner Entschluß ist. Und nun reise ich ihr nach, und werde da sein, wo sie sein wird, und ich werde ihr, so viel ich kann, helfen und ihr Schicksal erleichtern.«

Natalija Iwanowna sagte nichts. Agrafena Petrowna sah fragend Natalija Iwanowna an und schüttelte den Kopf.

Um diese Zeit kam wieder aus dem Damenzimmer der Zug. Derselbe schöne Lakai und der Portier trugen die Fürstin. Sie hielt die Träger an, winkte den Nechljudow zu sich, reichte ihm mit kläglicher Leidensmiene die weiße Hand mit den Ringen, indem sie mit Grausen seinen festen Händedruck erwartete.

»Epouvantable!« sagte sie von der Hitze. »Ich kann es nicht ertragen. Ce climat me tue.« Und nachdem sie ein wenig von den Schrecken des russischen Klimas gesprochen und den Nechljudow eingeladen, sie zu besuchen, gab sie den Trägern das Zeichen.

»Also unbedingt fahren Sie vor . . .«, fügte sie hinzu, noch im Abgehen ihr langes Gesicht dem Nechljudow zuwendend.

Nechljudow ging auf die Plattform hinaus. Der Zug der Fürstin nahm die Richtung nach rechts zur ersten Klasse. Nechljudow aber, mit einem seine Sachen tragenden Dienstmann und mit dem Taraß, der seinen eigenen Sack trug, ging nach links.

»Das ist mein Kamerad«, sagte Nechljudow zu der Schwester, auf den Taraß zeigend, dessen Geschichte er ihr früher erzählt hatte.

»Aber willst du wirklich dritter Klasse . . .?« sagte Natalija Iwanowna, als Nechljudow neben dem Waggon der dritten Klasse stehen blieb und Taraß und der Dienstmann mit den Sachen dort eingetreten waren.

»Ja, so ist es mir bequemer, ich will mit dem Taraß zusammen bleiben«, sagte er. »Aber ich habe noch etwas«, fügte er hinzu. »Bis jetzt habe ich das Land in Kusjminskoje den Bauern noch nicht abgegeben, so, falls ich sterbe, erben es deine Kinder.«

»Dmitrij, hör' auf«, sagte Natalija Iwanowna.

»Wenn ich es aber abgebe, so ist eins, was ich sagen kann, folgendes: daß alles übrige ihnen gehören wird, weil ich schwerlich heiraten werde. Und falls ich heirate, so werde ich keine Kinder haben . . . so daß . . .«

»Dmitrij, bitte, sprich nicht so«, sprach Natalija Iwanowna, während doch Nechljudow sah, daß sie froh war, zu hören, was er sagte.

Nechljudow trat in den von der Sonne durchglühten, heißen und stinkenden Wagen und ging sofort auf die Wagenplattform.

Natalija Iwanowna stand dem Wagen gegenüber in ihrem Modehut und Cape neben der Agrafena Petrowna, suchte augenscheinlich einen Gesprächsgegenstand und fand ihn nicht. Man konnte nicht einmal »écrivez« sagen, weil sie und der Bruder sich schon seit langem über diese gewöhnliche Phrase der Abreisenden lustig gemacht hatten. Jenes kurze Gespräch von den Geldangelegenheiten und von der Erbschaft zerstörte mit einemmal die brüderlich-schwesterliche Beziehung, die sich zwischen ihnen eben wieder eingestellt hatte. Sie fühlten sich jetzt einander fremd, so daß Natalija Iwanowna froh war, als der Zug sich bewegte und man nur mit dem Kopf nicken und mit schwermütigem und freundlichem Gesicht sprechen konnte: »Leb wohl nun, leb wohl, Dmitrij!«

Aber sobald der Waggon abgegangen, dachte sie daran, wie sie ihr Gespräch mit dem Bruder ihrem Mann mitteilen werde, und ihr Gesicht wurde ernst und besorgt.

Und dem Nechljudow, trotzdem er nichts als die besten Gefühle für die Schwester hegte und nichts vor ihr verbarg, war es jetzt ihr gegenüber schwer und unbehaglich, und er wünschte, sich schneller von ihr zu trennen. Er fühlte, daß jene Natascha nicht mehr existierte, die ihm ehemals so nahe gewesen: es gab nur eine Sklavin des ihm fremden und unangenehmen, schwarzen, haarigen Mannes. Er bemerkte es klar daran, wie ihr Gesicht sich nur dann mit besonderer Lebhaftigkeit erhellte, wenn er von der ihren Mann beschäftigenden Sache zu sprechen begann, von der Abtretung des Bodens an die Bauern und von der Erbschaft. Und das tat ihm weh.

 

Die Hitze in dem, den ganzen Tag über von der Sonne durchglühten, großen Waggon dritter Klasse, voll von Menschen, war so erstickend, daß Nechljudow nicht wieder in den Wagen ging, sondern auf der Wagenplattform stehen blieb.

Aber auch hier hatte man nicht Luft zum Atmen, und erst dann atmete Nechljudow aus voller Brust auf, als die Wagen aus den Häuserreihen hinausgerollt waren und der Zugwind zu blasen begann. In seiner Phantasie hob sich von allen Eindrücken des heutigen Tages mit ungewöhnlicher Lebhaftigkeit das schöne Gesicht des zweiten toten Arrestanten ab, mit dem lächelnden Ausdruck der Lippen, mit dem strengen Ausdruck der Stirn und mit dem kleinen festen Ohr unter dem rasierten blauschimmernden Schädel. ›Und das schrecklichste von allem ist, daß man ihn getötet hat, und daß niemand weiß, wer ihn tötete. Aber man hat ihn getötet. Man führte ihn, wie alle Gefangenen, nach der Ordre von Maslennikow. Maslennikow hat wahrscheinlich seine gewöhnliche Verordnung gegeben, er hat ein Papier mit einer gedruckten Überschrift unterschrieben, hat seinen närrischen Schnörkel gemacht und wird sich, gewiß, auf keinen Fall für schuldig halten. Noch weniger kann sich der Gefängnisarzt für schuldig halten, der die Gefangenen untersuchte. Er hat seine Pflicht genau erfüllt, die Schwachen ausgesondert, aber er konnte dies durchaus nicht voraussehen, weder diese fürchterliche Hitze, noch, daß man sie spät am Mittage und in solchem Haufen führen werde. Der Inspektor? . . . Aber der Inspektor hat nur die Verordnung erfüllt, am Tage so und so, so und so viele Zwangsarbeiter und Verbannte, Männer und Frauen, zu spedieren. Ebenso wenig konnte auch der Eskorteoffizier schuldig sein, dessen Pflicht darin bestand, dort und dort so und so viele, gezählt, in Empfang zu nehmen und am Orte da und da ebenso viele abzuliefern. Die Abteilung führte er, wie es auch gewöhnlich vorgeschrieben wird und konnte durchaus nicht vorausahnen, daß so starke Leute wie jene zwei, die Nechljudow gesehen, nicht aushalten und sterben würden. Niemand ist schuldig, und doch sind diese Menschen getötet worden und getötet trotzdem durch diese selben, an diesen Todesfällen unschuldigen Leute!‹

›Alles das ist dadurch geschehen‹, dachte Nechljudow, ›daß all diese Leute, – Gouverneure, Inspektoren, Polizeiaufseher, Polizeisoldaten – glauben, daß es Umstände auf der Welt gäbe, in welchen ein menschliches Verhalten gegen einen Mitmenschen nicht obligatorisch sei. All' diese Leute – Maslennikow, der Inspektor und der Eskorteoffizier, sie alle, wenn sie nicht Gouverneure, Inspektoren, Offiziere gewesen wären, würden ja zwanzigmal überlegt haben, ob man die Leute bei solcher Hitze und in solchem Haufen transportieren könne; wären zwanzigmal unterwegs stehen geblieben, und wenn sie gesehen hätten, daß ein Mensch schwach wird, erstickt, würden sie ihn aus dem Haufen hinaus und in den Schatten geführt, ihm Wasser gegeben haben, ihn haben ausruhen lassen, und wenn ein Unglück passiert wäre, so hätten sie Mitleid geäußert. Sie haben es nicht getan, sie haben sogar die andern verhindert, es zu tun, nur weil sie vor sich nicht Menschen und ihre eigenen Pflichten gegen sie sahen, sondern den Dienst und seine Forderungen, die sie über die Forderungen des Verhältnisses von Mensch zu Mensch stellten.‹ ›Darin liegt alles‹, dachte Nechljudow; ›wenn es möglich wäre, anzunehmen, daß etwas, – was es auch sein möge – wichtiger wäre, als das Gefühl der Menschenliebe, wenn auch nur für eine Stunde, wenn auch nur in irgend einem einzigen Ausnahmefall, so gäbe es kein Verbrechen, das man nicht an den Menschen begehen könnte, ohne sich für schuldig zu halten!‹

Nechljudow versank so tief in Nachdenken, daß er sogar nicht bemerkte, wie das Wetter sich änderte: die Sonne verbarg sich hinter der vorderen, niederen, zerrissenen Wolke, und vom westlichen Horizont rückte eine dichte hellgraue Gewitterwolke an, die sich dort, irgendwo, weit über die Felder und Wälder schon in schrägem, reichlichem Regen ergoß. Von der Wolke kam feuchte Regenluft heran. Blitze zerrissen von Zeit zu Zeit die Wolke, und zu dem Gerassel der Waggons gesellte sich immer öfter und öfter das Donnergeroll. Die Wolke zog näher und näher; die schrägen Regentropfen begannen, vom Winde gejagt, die kleine Waggonplattform und Nechljudows Rock zu betupfen. Er ging auf die andere Seite, und die feuchte Frische und den Brotgeruch der schon lange auf Regen wartenden Erde einatmend, sah er auf die vorbeieilenden Gärten, Wälder, die gelbschimmernden Roggenfelder, die noch grünen Haferstreifen und die schwarzen Furchen zwischen den dunkelgrünen, blühenden Kartoffeln. Alles wurde gleichsam mit Lack bedeckt, das Grüne ward noch grüner, das Gelbe – gelber, das Schwarze – schwärzer.

»Noch mehr, noch mehr«, sprach Nechljudow und freute sich über die unter dem gesegneten Regen auflebenden Felder, Gärten, Gemüseäcker.

Der starke Regen strömte nicht lange. Die Wolke entleerte sich zum Teil, zum Teil jagte sie vorbei, und auf die nasse Erde fielen schon die letzten, graden, dichten und feinen Tropfen. Die Sonne blickte wieder hervor, alles erglänzte, und gegen Osten bog sich über den Horizont ein nicht hoher, aber heller Regenbogen mit hervortretendem Violett, der nur an einem Ende unterbrochen war.

›Ja, woran habe ich eben gedacht?‹ fragte sich Nechljudow, als alle diese Umwandlungen in der Natur zu Ende waren, und der Zug in einen Bahneinschnitt mit hohen Böschungen hinabstieg.

›Ja, ich dachte darüber nach, daß alle diese Menschen, der Inspektor, die Eskortierenden, all diese dienenden Leute – meistens sanftmütige, gute Leute sind, – böse geworden nur, weil sie dienen.‹

›Alles hängt davon ab‹, dachte Nechljudow: ›daß diese Leute für ein Gesetz anerkennen, was kein Gesetz ist, und das, was ein ewiges unabänderliches, unaufschiebbares, von Gott selbst in das menschliche Herz geschriebenes Gesetz ist, das erkennen sie nicht als Gesetz. Eben darum pflegt mir so schwer zu sein, diesen Leuten gegenüber,‹ dachte Nechljudow. ›Ich fürchte sie einfach. Und wirklich sind diese Leute schrecklich. Sie sind fürchterlicher als Räuber. Die ganze Sache liegt darin, daß die Menschen glauben, es gebe Umstände, wo man mit den Menschen ohne Liebe umgehen dürfe; solche Lagen gibt es aber nicht! Mit den Sachen kann man ohne Liebe umgehen; man darf Bäume fällen, Ziegel machen, Eisen schmieden – ohne Liebe; mit den Menschen aber darf man nicht ohne Liebe umgehen, ebensowenig, wie man Bienen ohne Vorsicht behandeln darf. Das ist die Eigenschaft der Bienen. Wenn man mit ihnen ohne Vorsicht umgeht, so wird man ihnen und sich selber schaden. Ebenso auch mit den Menschen. Und es kann nicht anders sein, weil die gegenseitige Liebe zwischen den Menschen das fundamentale Gesetz des menschlichen Lebens bildet. Es ist wahr, daß der Mensch sich nicht zwingen kann zu lieben, wie er sich zwingen kann zu arbeiten, aber daraus folgt nicht, daß man mit den Menschen ohne Liebe umgehen dürfe, besonders, wenn man etwas von ihnen verlangt. Wenn du keine Liebe zu den Menschen fühlst, so sitze still!‹ dachte Nechljudow, sich an sich selber wendend, ›beschäftige dich mit dir selbst, mit Sachen, womit du willst, nur nicht mit den Menschen. Wie man essen ohne Schaden und mit Nutzen nur dann kann, wenn man hungrig ist, ebenso kann man mit Menschen nur dann ohne Schaden und mit Nutzen umgehen, wenn man sie liebt. Ja, ja, es ist so‹, dachte Nechljudow: ›das ist gut, das ist gut!‹ wiederholte er sich, während er ein zweifaches Vergnügen empfand, – an der Frische nach der quälenden Hitze und an dem Bewußtsein des erreichten höchsten Grades der Klarheit in der schon lange ihn beschäftigenden Frage.

 

Der Waggon, in dem Nechljudow seinen Platz hatte, war zur Hälfte voll von Leuten. Da waren Dienstboten, Handwerker, Fabrikarbeiter, Metzger, Juden, Kommis, Weiber, Arbeiterfrauen, da war ein Soldat, da waren zwei Damen – ein junge, die andere schon bei Jahren, mit Armbändern an dem entblößten Arm; da war ein Herr von strengem Aussehen mit einer Kokarde auf der schwarzen Mütze.

Taraß saß mit glücklicher Miene rechts vom Durchgang, bewahrte einen Platz für Nechljudow und sprach lebhaft mit einem ihm gegenübersitzenden muskulösen Manne in einem nicht zugeknöpften Kaftan aus Tuch, einem auf seine Stelle fahrenden Gärtner, wie Nechljudow nachher erfuhr. Ohne bis zum Taraß vorzudringen, blieb Nechljudow im Durchgang stehen neben einem Altem von würdigem Aussehen mit weißem Bart und im Nankingkaftan, der mit einer jungen Frau in Dorftracht sprach. Neben der Frau saß ein siebenjähriges Mädchen, das den Boden mit den Füßen längst nicht erreichte; es trug einen kleinen neuen Sarasan und die fast ganz weißen Haare zu einem Zöpfchen geflochten und knackte ohne Aufhören Sonnenblumensamen.

Der Alte, der sich nach dem Nechljudow umblickte, nahm einen Schoß seines Kaftans von der lackierten Bank, wo er allein saß, und sagte freundlich:

»Ist es Ihnen nicht gefällig zu sitzen?«

Nechljudow dankte und ließ sich auf dem Platz nieder, auf den der Alte wies. Sobald Nechljudow sich gesetzt, fuhr die Frau in der unterbrochenen Erzählung fort. Sie erzählte, wie sie ihr Mann, von dem sie jetzt zurückkehrte, in der Stadt empfangen.

»Zur Butterwoche bin ich bei ihm gewesen, und jetzt war es Gottes Wille, daß ich ihn wieder besuchen konnte«, sprach sie. »Und weiter, – wenn es Gottes Wille ist, – sehe ich ihn vielleicht zu Weihnachten.«

»Das ist gut,« sagte die Alte, sich nach dem Nechljudow umblickend, »man muß sich nach ihm umsehen; sonst wird der junge Mann bei dem Stadtleben zu mutwillig.«

»Nein, Großväterchen, der meine ist nicht solch ein Mensch. Macht nicht etwa irgend welche Dummheiten, oder so was: er ist wie ein junges Mädchen. Schickt alles Geld bis zum letzten Kopekchen nach Hause. Und über die Kleine war er so froh, so froh, daß es sich nicht mal sagen läßt«, sagte die Frau lächelnd. Das Mädchen, das die Sonnenblumensamen ausspuckte und der Mutter zuhörte, blickte mit seinen ruhigen, klugen Augen in das Gesicht des Alten und Nechljudows, als ob es die Worte der Mutter bestätigte.

»Ist er aber klug, so ist's um so besser«, sagte der Alte.

Nechljudow saß einige Zeit bei dem Alten, der ihm von sich selber erzählte, daß er ein Ofensetzer sei, seit dreiundfünfzig Jahren arbeite, und so viele Öfen in seinem Leben gesetzt habe, daß man sie nicht einmal zählen könne; jetzt aber sei er im Begriff, etwas auszuruhen, aber immer finde er keine Zeit dazu. Nachdem Nechljudow die Erzählung des Alten zu Ende gehört, stand er auf und ging auf den Platz, den Taraß für ihn aufbewahrt hatte.

»Nun, was denn, Herr, setzen Sie sich! Den Sack wollen wir hierher nehmen«, sagte freundlich der dem Taraß gegenübersitzende Gärtner, indem er dem Nechljudow von unten nach oben ins Gesicht blickte.

»Enge, aber kein Gedränge«, sagte der lächelnde Taraß mit singender Stimme, hob mit den starken Armen seinen zwei Pud schweren Sack wie ein Federchen auf und trug ihn zum Fenster. »Platz genug, – sonst kann man auch stehen, auch unter der Bank liegen kann man.«

Taraß pflegte von sich zu sagen, daß er, wenn er nicht etwas getrunken, keine Worte habe, und daß ihm vom Branntwein gute Worte kommen und er alles sagen könne. Und wirklich, im nüchternen Zustande schwieg Taraß meistens; wenn er aber etwas trank, was bei ihm selten und nur in besonderen Fällen zu passieren pflegte, so ward er besonders angenehm gesprächig.

In solch einem Zustand war er heute. Das Herantreten Nechljudows hielt seine Rede für eine Minute auf. Aber nachdem er den Sack in Ordnung gebracht, setzte er sich wieder wie früher hin, legte seine starken Arbeitshände auf die Knie, und dem Gärtner grade in die Augen blickend, fuhr er in seiner Erzählung fort. Er erzählte seinem neuen Bekannten mit allen Einzelheiten die Geschichte seiner Frau: um was man sie verschickte, und warum er ihr jetzt nach Sibirien nachreiste.

Nechljudow hatte diese Erzählung noch nie ausführlich vernommen, daher hörte er mit Interesse zu. Die Geschichte war an der Stelle, wo die Vergiftung schon stattgefunden, und wo man in der Familie erfahren hatte, daß Fedossija sie verübt habe.

»Ich erzähle gerade von meinem Unglück«, sagte Taraß, sich innig-freundschaftlich an den Nechljudow wendend. – »So eine Seele von Mensch habe ich getroffen, – wir sind ins Gespräch gekommen, und nun erzähle ich es ihm.«

»Ja, ja«, sagte Nechljudow.

»Nun, auf solche Weise also, du mein Brüderchen, wurde die Sache bekannt. Mein Mütterchen nahm diesen selben Fladen, ›ich geh‹, sagte sie, ›zum Urjadnik.‹Ein Polizeiaufseher auf dem Lande. Mein Alterchen ist ein rechter Mann. ›Warte‹, sagte er, ›Alte, das Weiblein ist ja ganz und gar ein Kind, es wußte selber nicht, was es tat; man muß Mitleid mit ihm haben. Es wird vielleicht wieder zu sich kommen.‹ Aber kein Gedanke, – sie wollte nicht Vernunft annehmen. ›Solange sie bei uns bleibt, wird sie uns wie Schaben aus der Welt schaffen.‹ Sie schob, du mein Brüderchen, zum Urjadnik. Dieser greift sofort die Geschichte auf, läuft zu uns. Sogleich bringt er Zeugen mit.« –

»Nun und du, was tust du?« fragte der Gärtner.

»Und ich, du mein Brüderchen, wälze mich vor Leibschmerzen und erbreche mich. Das ganze Eingeweide kehrt sich mir um, nicht mal ein Wort sagen kann ich. Sofort spannte das Väterchen einen Wagen an, setzte Fedossija darauf – zum Stanowoj, und von dort zum Untersuchungsrichter. Und sie, du mein Brüderchen, wie sie sich zuerst an allem schuldig bekannt, so legte sie auch alles, wie es gewesen, nach der Reihe dem Untersuchungsrichter dar; woher sie den Arsenik genommen, und wie sie die Fladen geknetet. ›Warum,‹ sagt er, ›hast du es getan?‹ ›Nun, darum,‹ sagt sie, ›daß er mir zuwider ist. Lieber ist mir Sibirien, als mit ihm zu leben,‹ – mit mir, heißt das«, sprach lächelnd Taraß; – »sie hat sich also schuldig bekannt, an allem, – alte Geschichte – marsch ins Gefängnis! Das Väterchen kam allein zurück. Da kommt aber die Arbeitszeit, und von Weibern haben wir nur einzig Mütterchen, und die ist schwach. Wir denken nach: wie soll man tun? Ob man sie nicht gegen Kaution auslösen kann? Das Väterchen fährt zu so einem Vorgesetzten, – es kommt nichts danach; er fährt zum zweiten. Von diesen Vorgesetzten hat er etwa fünf Stück besucht. Wir haben schon fast ganz und gar aufgegeben, uns darum zu bemühen, da aber stoßen wir plötzlich auf ein Männlein – so einen von den Kanzlisten. So ein geschickter Bursch, daß dergleichen selten zu finden ist. ›Gib,‹ sagte er, ›fünf Rubel her, dann werde ich ihr heraushelfen.‹ Auf drei haben mir uns geeinigt. Nun, wie denn, mein Brüderchen? – Habe ich ja eben gerade ihre eigenen Leinwandstücke versetzt und ihn bezahlt. Kaum hat er dieses Papier geschrieben,« dehnte Taraß die Worte, als ob er von einen Schuß spräche, »auf einmal fertig! Ich selber war zu der Zeit schon wieder aufgestanden, fuhr selber in die Stadt zu ihr. Nun komme ich, du mein Brüderchen, in die Stadt. Sofort hab' ich die Stute in den Ausspann gestellt, das Papier mitgenommen, und komme ins Gefängnis. ›Was willst du?‹ ›So und so,‹ sage ich, ›meine Hausfrau ist hier bei euch eingesperrt.‹ ›Und das Papier,‹ sagt er, ›hast du?‹ Sofort gebe ich ihm das Papier. Kaum blickte er hinein, ›warte‹, sagte er. Ich habe mich dort auf das Bänkchen gesetzt. Die Sonne war schon über Mittag weg. Da kommt ein Vorgesetzter heran: ›Bist du,‹ sagte er, ›Warguschow?‹ ›Ich bin es selber.‹ ›Nun, nimm sie in Empfang‹, sagt er. Sofort macht man das Tor auf. Man führte sie im eigenen Kleid heraus, wie es sein soll. ›Was denn? Komm mit.‹ ›Aber bist du denn zu Fuß?‹ – ›Nein, ich bin mit dem Pferd.‹ Wir kamen in den Ausspann, ich zahlte für die Einkehr, spannte die Stute vor, stopfte ein wenig Heu, was übrig blieb, unter die Sitzmatte. Sie setzte sich hin, hüllte sich mit einem Tuch ein. Wir fuhren ab. Sie schweigt und ich schweige. Eben begannen wir uns dem Hause zu nähern, da sagt sie: ›Wie ist es, lebt das Mütterchen noch?‹ Ich sage: ›Sie lebt.‹ ›Und das Väterchen lebt?‹ ›Lebt.‹ – ›Verzeih mir,‹ sagt sie, ›Taraß, meine Dummheit. Ich wußte ja selber nicht, was ich tat.‹ Ich aber sage: ›Zu viel sprichst du, was nicht hierher gehört – ist schon lange verziehen.‹ Mehr wollte ich darüber nicht sprechen. Wir sind nach Hause gekommen, sofort fällt sie dem Mütterchen zu Füßen. Das Mütterchen sagt: ›Gott wird dir verzeihen!‹ Das Väterchen aber hat sie begrüßt und sagt: ›Wozu brauchen wir an das alte zu denken? Lebe, und laß es besser werden. Heute,‹ sagt er, ›ist nicht Zeit, an so etwas zu denken, man muß aufs Feld und die Ernte hereinbringen, hinter dem Skorodnoje,‹ sagte er, ›auf dem Miststreifen ist der Roggen – Gott hat es gegeben – so gut geraten, daß sogar die Sichel ihn nicht faßt, hat sich verwickelt und gelagert, wie ein Bett. Man muß schneiden. Nun geh morgen mit Taraßka, schneide.‹ Und nun packt sie, seit der Stunde, du mein Brüderchen, die Arbeit an, aber packt sie so an, daß es zum Verwundern war. Wir hatten damals drei gepachtete Deßjatinen, und Gott sei Dank, sowohl Roggen wie Hafer war so gut geraten, – eine wahre Seltenheit so. Ich mähe, sie bindet, oder wir schneiden beide. Ich bin bei der Arbeit gewandt, sie fällt mir nicht aus den Händen; sie aber ist noch gewandter, an was sie sich auch macht. Das Weib ist flink und jung, voll Saft. Und auf die Arbeit ist sie, du mein Brüderchen, so neidisch geworden, daß ich sie sogar zurückhalten muß. Kommen wir nach Hause, die Finger sind aufgelaufen, die Arme schnurren, man müßte ausruhen; sie aber läuft, ohne zur Nacht zu essen, in die Scheune, richtet die Garbenbinden zum Morgen. Was ist mit ihr passiert!«

»Und was denn, auch gegen dich ist sie zutunlich geworden?«

»Und wie noch! Klebte so an mir fest – eine Seele wir beide! Was mir nur eben in den Sinn kommt, – sie versteht's schon. Sogar das Mütterchen, so zornig sie ist, auch die sagt: ›Man hat unsere Fedossija gleichsam umgetauscht, ein ganz anderes Weib ist sie geworden.‹ Einmal fahre ich mit ihr mit zwei Wagen nach den Garben, und wir sitzen auf einem, auf dem vorderen. Und ich sage so: ›Aber wie konnte dir, Fedossija, jene Sache in den Sinn kommen?‹ ›Wie kam sie mir in den Sinn?‹ sagt sie, ›ich wollte nicht mit dir leben. Lieber, denke ich, sterbe ich, aber mit ihm leben, nein!‹ ›Nun, und jetzt?‹ sage ich. ›Jetzt aber,‹ sagt sie, ›bist du in meinem Herzen.‹« Taraß hielt an, und freudig lächelnd schüttelte er verwundert mit dem Kopf. »Eben hatten wir die Ernte vom Felde, ich führte Hanf zum Rösten; fahre nach Hause zurück,« fuhr er fort, nachdem er ein wenig geschwiegen, – »sieh da – die Ladung – vor Gericht! Wir aber denken schon mit keinem Gedanken mehr daran, für was man sie richten soll.«

»Nichts anderes ist es, als der unsaubere Geist,« sagte der Gärtner, »kann es denn dem Menschen selber einfallen, eine Seele zu verderben? So hat auch bei uns ein Mann . . .« und der Gärtner schickte sich an, zu erzählen; aber der Zug kam zum Halten.

»Eine Station, scheint es,« sagte er, »trinken gehen.«

Das Gespräch hörte auf, und Nechljudow ging gleich hinter dem Gärtner aus dem Wagen auf die nassen Bretter der Plattform.

 

Noch ehe Nechljudow den Waggon verlassen, bemerkte er auf dem Stationshofe einige reiche Kutschen, mit drei oder vier satten, schellenklirrenden Pferden bespannt: als er aber auf die vom Regen dunkel gewordene nasse Plattform hinausgegangen, sah er vor der ersten Klasse ein Häufchen Leute, in deren Mitte sich eine hohe, dicke Dame im Regenmantel und einem Hut mit kostbaren Federn, sowie ein langer, junger Mann mit dünnen Beinen, im Sportkostüm, mit einem ungeheuer großen, satten Hunde, der ein teures Halsband trug, hervortaten. Hinter ihnen stand ein Kutscher, standen Lakaien mit Mänteln und Schirmen, die ihnen entgegengekommen waren. Auf diesem ganzen Häufchen – von der dicken Herrin bis zu dem Kutscher, der die Schöße seines langen Kaftans mit einer Hand zusammenhielt, lag der Stempel der ruhigen Selbstgewißheit und des Überflusses. Um dieses Häufchen herum bildete sich sogleich ein Kreis neugieriger und vor dem Reichtum kriechender Leute: der Stationschef mit roter Mütze, ein Gendarm, ein im Sommer immer der Ankunft der Züge assistierendes hageres Mädchen in russischem Kostüm mit Glasperlen um den Hals, ein Telegraphist und Passagiere, Männer und Frauen.

Nechljudow, der ihnen nicht begegnen wollte, um nicht noch einmal Abschied nehmen zu müssen, blieb, ohne die Stationstür zu erreichen, stehen und wartete, bis der ganze Zug vorüber sei. Die Fürstin mit dem Sohn, Missi, der Arzt und das Zimmermädchen gingen voran, der alte Fürst aber blieb mit der Schwägerin hinten stehen, und Nechljudow, ohne heranzutreten, hörte nur abgebrochene französische Sätze ihres Gesprächs. Eine dieser Phrasen, vom Fürsten gesagt, prägte sich, wie es aus irgend einem Grunde oft zu geschehen pflegt, dem Nechljudow ins Gedächtnis mit allen Betonungen und Klängen der Stimme.

»Oh! il est du vrai grand monde, du vrai grand monde«, sagte der Fürst von jemand mit seiner lauten, selbstgewissen Stimme und ging zusammen mit seiner Schwägerin, von den ehrerbietigen Kondukteuren und Trägern begleitet, durch die Stationstür.

Um dieselbe Zeit erschienen auf der Plattform, irgend woher, hinter einer Ecke des Stationsgebäudes hervor, ein Haufen Arbeiter in Bastschuhen und mit Halbpelzen und Säcken auf dem Rücken. Die Arbeiter näherten sich mit entschiedenen, weichen Schritten dem ersten Wagen und wollten hineinsteigen, aber sofort wurden sie von einem Kondukteur fortgejagt. Ohne stehen zu bleiben gingen die Arbeiter, sich eilend und einander auf die Füße tretend, weiter zum benachbarten Waggon und begannen schon, mit den Säcken an den Ecken des Wagens und in der Tür anstoßend, hineinzusteigen, als ein anderer Kondukteur von der Stationstür ihre Absicht bemerkte und sie strenge anschrie. Die eingestiegenen Arbeiter kamen sofort eilig heraus und gingen wieder mit denselben weichen und entschiedenen Schritten noch weiter zum folgenden Waggon, demselben, in welchem Nechljudow seinen Platz hatte. Ein Kondukteur hielt sie wieder an. Sie machten Halt, in der Absicht, noch weiter zu gehen, aber Nechljudow sagte ihnen, daß es im Wagen Platze gäbe, und daß sie einsteigen sollten. Sie gehorchten ihm, und Nechljudow trat gleich hinter ihnen in den Wagen. Die Arbeiter schickten sich schon an, ihre Plätze einzunehmen, aber der Herr mit der Kokarde und die beiden Damen, da sie ihren bösen Anschlag, sich in diesem Waggon niederzulassen, für eine persönliche Beleidigung nahmen, widersetzten sich entschieden und fingen an, sie wegzutreiben. Die Arbeiter – ihrer waren etwa zwanzig Mann – sowohl alte wie ganz junge, alle mit gequälten, verbrannten, vertrockneten Gesichtern, gingen sofort, mit den Säcken an die Bänke, Wände und Türen stoßend, durch den Waggon weiter, augenscheinlich sich vollkommen schuldig fühlend, und bereit, bis ans Ende der Welt zu gehen und sich zu setzen, wohin man es ihnen befiehlt, wenn auch auf Nägel.

»Wohin stakt ihr, Teufel? Setzt euch hin!« schrie ein anderer, ihnen gegenüber eintretender Kondukteur.

»Voilà encore des nouvelles«, machte die jüngere der beiden Damen, vollkommen überzeugt, daß sie durch ihr schönes Französisch die Aufmerksamkeit Nechljudows auf sich lenken werde. Die Dame mit den Armbändern schnüffelte nur immer, rümpfte die Nase und sagte etwas von der Annehmlichkeit, mit stinkendem Bauernvolk zusammenzusitzen.

Die Arbeiter aber blieben stehen, indem sie die Freude und Beruhigung von Menschen, die einer großen Gefahr entgangen, empfanden, und begannen, die Plätze einzunehmen, warfen mit einer Bewegung der Schulter die schweren Säcke vom Rücken und schoben sie unter die Bänke.

Der Gärtner, der mit dem Taraß gesprochen, hatte nicht auf seinem Platz gesessen und war jetzt auf den eigenen gegangen, so daß neben dem Taraß und ihm gegenüber drei Plätze frei waren. Drei Arbeiter setzten sich auf diese Plätze, aber als Nechljudow sich ihnen näherte, machte der Anblick seiner herrschaftlichen Kleidung sie so befangen, daß sie aufstanden, um wegzugehen; Nechljudow jedoch bat sie zu bleiben und setzte sich selber auf die Seitenlehne der Bank am Durchgang. Einer der Arbeiter, ein etwa fünfzigjähriger Mann, wechselte einen unsicheren, sogar erschrockenen Blick mit einem jungen. Der Umstand, daß Nechljudow ihnen den Platz abgetreten, statt sie, wie es einem Herrn eigentümlich ist, zu schimpfen und fortzujagen, verwunderte sie sehr und machte sie stutzig. Sie fürchteten sogar, daß etwas Schlimmes für sie daraus entstehen könne. Als sie aber sahen, daß da keine Hinterlist steckte, und daß Nechljudow mit Taraß einfach sprach, hießen sie den Jungen sich auf den Sack setzen und baten, daß Nechljudow seinen Platz einnehme. Zuerst machte sich der ältere, dem Nechljudow gegenübersitzende Arbeiter immer ganz klein, zog seine mit Bastschuhen bekleideten Füße sorgfältig an sich, um nicht an den Herrn anzustoßen, dann aber kam er in ein so freundliches Gespräch mit Nechljudow und Taraß, daß er sogar den Nechljudow mit der Hand, die Handfläche nach oben gekehrt, auf das Knie klopfte bei denjenigen Stellen der Erzählung, auf die er seine besondere Aufmerksamkeit lenken wollte. Er erzählte von allen seinen Umständen und von der Arbeit bei der Torfgewinnung, von der sie jetzt nach Hause fuhren.

Dann erzählte er, wie er seit achtundzwanzig Jahren auf die Arbeit ginge und seinen ganzen Verdienst nach Hause brächte, zuerst dem Vater, dann dem ältesten Bruder, jetzt dem Neffen, der die Wirtschaft führte, daß er selber aber von den verdienten fünfzig-sechzig Rubel im Jahr zwei-drei Rubel für die Unart – Tabak und Zündhölzchen verbrauche.

»Sündiger Mensch, manchmal trinkt man auch ein Schnäpschen vor Ermüdung«, – fügte er mit schuldigem Lächeln hinzu.

Er erzählte noch, wie die Weiber für sie zu Hause die Arbeit verrichten, und wie der Unternehmer sie heute vor der Abreise mit einem halben Eimerchen Branntwein bewirtete; wie einer von ihnen gestorben sei, und wie ein anderer, den sie mitführten, krank sei. Der Kranke, von dem er sprach, saß in demselben Wagen, in der Ecke. Das war ein junger Bursche, graublaß mit blauen Lippen. Das Fieber hatte ihn augenscheinlich zerstört und zerstörte ihn noch. Nechljudow trat an ihn heran, aber der Knabe blickte ihn mit einem so strengen, leidenden Blick an, daß Nechljudow ihn nicht mit Fragen beunruhigen wollte, sondern dem Alten riet, Chinin zu kaufen und ihm die Benennung der Arznei auf ein Papierchen schrieb. Er wollte ihm Geld geben, aber der alte Arbeiter sagte, daß es nicht nötig sei, er werde sein eigenes Geld zahlen.

»Nun, so viel ich auch gereist bin, solche Herren habe ich nie gesehen. Hat dir nicht etwa einen Genickstoß gegeben, sondern noch seinen eigenen Platz abgetreten. Verschiedene gibt es also auch unter den Herren«, folgerte er, sich an den Taraß wendend.

›Ja, eine ganz neue, andere, neue Welt‹, dachte Nechljudow, während er diese hageren, muskulösen Gliedmaßen, die groben, zu Hause gemachten Kleider und die verbrannten, freundlichen und gequälten Gesichter betrachtete, und er fühlte sich von allen Seiten von ganz neuen Menschen umgeben, mit ihren ernsten Interessen, Freuden und Leiden des wahren, arbeitsamen und menschlichen Lebens.

›Hier ist sie – le vrai grand monde‹, dachte Nechljudow, indem er sich der vom Fürsten Kortschagin gesprochenen Phrase und dieser ganzen müßigen, luxuriösen Welt der Kortschagins mit ihren nichtigen, kläglichen Interessen erinnerte. Und er hatte das Gefühl des Reisenden, der eine neue, unbekannte und schöne Welt entdeckt hat.

 


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