Leo Tolstoj
Auferstehung. Bearbeitet von Carl Hartz
Leo Tolstoj

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Erster Teil

Wie sehr die Menschen sich mühten, nachdem sich ihrer einige Hunderttausend auf einem kleinen Raume angesammelt hatten, die Erde, auf der sie sich drängten, zu verunstalten – der Frühling war Frühling, sogar in der Stadt. Die Sonne wärmte, das neu auflebende Gras wuchs, grünte überall, wo immer man es nicht weggekratzt hatte, nicht nur auf den Rasenstücken des Boulevards, sondern auch zwischen den Steinplatten. Fröhlich waren die Pflanzen, die Vögel, die Insekten, die Kinder. Nur die Menschen, die großen erwachsenen Menschen hörten nicht auf, sich und einander zu betrügen und zu quälen. Die Menschen glaubten, daß nicht dieser Frühlingsmorgen heilig und wichtig sei, nicht diese Schönheit der Gotteswelt, die zum Heil aller Wesen gegeben ist, – die Schönheit, die zum Frieden, zur Eintracht, zur Liebe geneigt macht, sondern heilig und wichtig war das, was sie selbst ausgedacht hatten, um über einander zu herrschen.

So wurde in dem Bureau des Gouvernementsgefängnisses nicht für heilig und wichtig gehalten, daß allen Tieren und Menschen die Rührung und die Freude des Frühlings gegeben ist, sondern für heilig und wichtig ward gehalten, daß abends zuvor ein mit Nummer, Siegel und Überschrift versehenes Papier eingegangen war, darüber, daß zu 9 Uhr morgens an diesem Tage des 28. April drei sich in Untersuchung befindende und im Gefängnis gehaltene Arrestanten – zwei Frauen und ein Mann – vorgeführt werden sollten. Eine dieser Frauen mußte als die wichtigste Verbrecherin abgesondert vorgeführt werden. Und nun kam auf Grund dieser Vorschrift um 8 Uhr morgens der Oberaufseher in den stinkenden Korridor der weiblichen Abteilung herein. Gleich hinter ihm her kam in den Korridor eine Frau, die in eine Jacke mit gallonierten Ärmeln gekleidet und mit einem Gürtel mit blauem Vorstoß gegürtet war. Es war die Aufseherin.

»Wollen Sie die Maslowa haben?« fragte sie, indem sie sich einer der Kammertüren näherte, die sich in den Korridor öffneten.

Der Aufseher schloß das Schloß auf, und nachdem er die Tür der Kammer geöffnet hatte, schrie er:

»Maslowa, vor Gericht!« und er machte die Tür wieder zu und wartete.

Im Korridor herrschte eine niederdrückende typhöse Luft, die vom Geruch der Ausleerungen, von Teer und Fäulnis gesättigt war und jeden Neuangekommenen sogleich in Niedergeschlagenheit und Betrübnis versetzte. Das erfuhr an sich selbst die vom Hofe gekommene Aufseherin. Sie empfand plötzlich, da sie in den Korridor eingetreten, Müdigkeit und wurde schläfrig.

»Immer fix! Du da rühr' dich! Maslowa, sag' ich«, schrie der Oberaufseher in die Kammertür.

Nach etwa zwei Minuten kam aus der Tür mit munterem Schritt ein nicht hochgewachsenes und sehr vollbusiges junges Frauenzimmer im grauen Schlafrock über einer weißen Jacke und einem weißen Rock. Sie drehte sich rasch um und stellte sich neben den Aufseher. An den Beinen trug das Frauenzimmer Strümpfe aus Leinwand, darüber Gefängnispantoffeln; der Kopf war mit einem weißen Halstuch umbunden, unter welchem die Ringel der krausen schwarzen Haare augenscheinlich mit Absicht hängen gelassen waren. Das ganze Gesicht des Frauenzimmers war von der besonderen Weiße, die sich auf den Gesichtern von Menschen einzustellen pflegt, die lange Zeit hinter Schloß und Riegel zugebracht haben. Ebenso sahen auch die kleinen breiten Hände aus und der volle weiße Hals, der aus dem großen Kragen des Schlafrocks hervorguckte.

In diesem Gesicht überraschten besonders bei der matten Blässe die sehr schwarzen, glänzenden, etwas geschwollenen, aber sehr lebhaften Augen, von denen eins ein wenig schielte. Sie hielt sich sehr gerade, indem sie die volle Brust herausdrückte. Nachdem sie auf den Korridor herausgetreten, sah sie, ihren Kopf etwas zurückwerfend, dem Aufseher gerade in die Augen und blieb stehen, voller Bereitwilligkeit, alles zu erfüllen, was man von ihr verlangen würde.

»Mir nach, marsch!« befahl der Aufseher, und die Maslowa ging nach der Mitte des Korridors; mit raschen kleinen Schritten ging sie dem Oberaufseher auf dem Fuße nach, und so stiegen sie die steinerne Treppe hinunter und in das Bureau, wo schon zwei Eskortesoldaten mit Gewehren standen. Der Schreiber, welcher dort saß, gab einem Soldaten ein von Tabaksgeruch durchdrungenes Papier, und indem er auf die Arrestantin zeigte, sagte er: »Nimm sie in Empfang.« Der Soldat, ein Bauer mit rotem, von den Pocken zerwühltem Gesicht, steckte das Papier hinter den Ärmelaufschlag seines Mantels, und lächelnd blinzelte er von der Arrestantin seinem Kameraden zu. Dann stiegen die Soldaten mit der Arrestantin die Treppe hinunter und gingen zum Hauptausgang.

In der Tür des Hauptausganges öffnete sich ein Pförtchen, und nachdem die Soldaten mit der Arrestantin die Schwelle des Pförtchens in den Hof überschritten, gingen sie aus den Mauern hinaus und marschierten durch die Stadt, in der Mitte der gepflasterten Straßen.

Kinder sahen mit Entsetzen auf die Räuberin; es beruhigte sie nur, daß hinter ihr die Soldaten gingen, und daß sie jetzt schon niemand mehr etwas antun konnte. Ein Bauer vom Dorf, der Kohlen verkauft und in einem Wirtshause Tee getrunken hatte, näherte sich ihr, bekreuzte sich und reichte ihr einen Kopeken. Die Arrestantin errötete, neigte den Kopf und sagte etwas.

Während sie an einer Mehlhandlung vorbeiging, vor welcher Tauben, von niemand behelligt, ein wenig schaukelnd auf und ab spazierten, berührte sie fast mit dem Fuß einen Blautauber; aufflatternd und mit den Flügeln bebend, flog der Vogel hart am Ohr der Arrestantin vorbei und überschauerte sie mit Wind. Sie lächelte, und dann seufzte sie schwer, indem sie ihrer Lage gedachte.

 

Die Geschichte der Arrestantin Maslowa war eine sehr gewöhnliche Geschichte:

Die Maslowa war die Tochter einer unverheirateten Leibeigenen, die mit ihrer Mutter auf dem Dorfe von zwei Fräulein, Schwestern, Gutsbesitzerinnen, als Stallmagd lebte. Dieses unverheiratete Frauenzimmer gebar jedes Jahr und man taufte das Kind, doch nachher ernährte die Mutter das unerwünscht erschienene Kleine nicht, und bald starb es vor Hunger.

So starben ihr fünf Kinder. Alle waren sie getauft, nachher ernährte man sie nicht, und sie starben. Das sechste Kind – erzeugt von einem vorbeifahrenden Zigeuner – war ein Mädchen, und ihr Schicksal wäre dasselbe gewesen, wenn es sich nicht begeben hätte, daß eins der beiden alten Fräulein auf den Viehhof gekommen wäre, um der Stallmagd einen Verweis wegen des nach der Kuh riechenden Rahms zu geben. In der Wohnung der Stallmägde lag die Wöchnerin mit ihrem schönen gesunden Säugling. Das alte Fräulein erteilte sowohl für den Rahm, als auch dafür einen Verweis, daß man eine Wöchnerin auf dem Viehhof zugelassen, und wollte schon weggehen, als sie das Kind erblickte. Sie ward gerührt und bot sich an, Taufmutter des Kindes zu sein. Sie hielt es auch über die Taufe; nachher dann, das Patchen bedauernd, gab sie der Mutter Milch und Geld, und das Mädchen blieb am Leben. Die alten Fräulein nannten sie denn auch: »Die Gerettete«.

Das Kind war drei Jahre alt, als die Mutter erkrankte und starb. Seiner Großmutter, der Stallmagd, war die Enkelin zur Last, und dann nahmen die alten Fräulein das Mädchen zu sich.

Es gab zwei alte Fräulein: eine jüngere, etwas gutmütigere, Sophia Iwanowna – dieselbe, welche das Kind über die Taufe gehalten –, und eine ältere, etwas strengere – Maria Iwanowna. Sophia Iwanowna putzte das Mädchen, lehrte es lesen und wollte aus ihm eine Ziehtochter machen. Maria Iwanowna sagte, daß man aus dem Mädchen eine Arbeiterin, ein gutes Stubenmädchen machen müsse, und daher war sie anspruchsvoll, strafte und schlug sogar hier und da das Mädchen, wenn sie schlechter Laune war. So wuchs das Mädchen, zwischen zwei verschiedenen Einflüssen, halb als Stubenmädchen, halb als Ziehkind auf. So nannte man es denn auch weder Katjka,Verächtlich. noch Katenjka,Zärtlich. sondern zwischen beidem: Katjuscha.

So lebte sie bis zu ihrem sechzehnten Jahre. Als sie aber sechzehn Jahre alt geworden, kam zu den Fräulein ihr Neffe, ein Student und reicher Fürst, und Katjuscha verliebte sich in ihn, ohne daß sie wagte, es sich selbst, geschweige denn ihm zu gestehn. Da fuhr dieser selbe Neffe nach zwei Jahren auf dem Wege in den Krieg bei den Tantchen vorbei, brachte vier Tage bei ihnen zu, und am Vorabend seiner Abreise verführte er Katjuscha. Darauf drückte er ihr am letzten Tage einen Hundertrubelschein in die Hand und reiste ab. Fünf Monate nach seiner Abreise wußte sie bestimmt, daß sie schwanger sei.

Von der Zelt an ward ihr alles gleichgültig, und sie dachte nur darüber nach, wie sie der Schande, die sie erwartete, entgehen könne. Nicht nur begann sie unwillig und schlecht den Fräulein zu dienen, sondern plötzlich brach sie los, und ohne selber zu wissen, wie es geschah, sagte sie den Fräulein Grobheiten, die sie selbst später bereute, und bat, sie zu entlassen. Die Fräulein, die sehr unzufrieden mit ihr geworden, entließen sie.

Als Stubenmädchen kam sie von ihnen zu einem Stanowoj,Polizeibeamter in einem Landdistrikt. Anm. d. Übers. aber sie konnte dort nur drei Monate bleiben, weil der Stanowoj, der fünfzigjährige Alte, zudringlich wurde. Wieder in einen Dienst zu treten, hatte nun keinen Zweck; bald sollte sie gebären, und so ließ sie sich bei einer Witwe, der Dorfhebamme, nieder. Die Niederkunft war leicht, und das Kind, den Knaben, hat man ins Findelhaus gebracht, wo er sogleich nach der Ankunft verstarb, wie die Alte, die ihn weggeführt hatte, erzählte.

Geld hatte Katjuscha, als sie sich bei der Hebamme niederließ, im ganzen hundertsiebenundzwanzig Rubel. Als sie aber von ihr wegging, blieben ihr nur sechs Rubel übrig. Sie verstand nicht, Geld zu sparen, sie brauchte es für sich und gab es anderen, jedem der bat, so daß Katjuscha eine Stelle suchen mußte. Diese Stelle fand sich bei einem Förster. Der Förster war ein verheirateter Mann, aber ebenso wie der Stanowoj begann er vom ersten Tage an sich der Katjuscha aufzudrängen. Er war ihr widerwärtig, und sie hat sich bemüht, ihn zu meiden, aber er war erfahrener und schlauer als sie; so hat er eine günstige Minute abgepaßt und sich ihrer bemächtigt. Die Frau hat es erfahren, und als sie ihren Mann einmal allein mit Katjuscha im Zimmer überraschte, stürzte sie los, um sie zu schlagen. Katjuscha ergab sich nicht, und es entstand eine Prügelei, weswegen man sie aus dem Hause gejagt, ohne ihr den verdienten Lohn zu bezahlen. Darauf fuhr Katjuscha in die Stadt und hielt sich bei ihrer Tante auf. Der Mann der Tante war ein Buchbinder und lebte früher gut; hatte aber jetzt sich dem Trunk ergeben, indem er alles, was ihm unter die Hand kam, vertrank.

Die Tante indes hatte eine kleine Wäscherei, ernährte damit sich und ihre Kinder und unterhielt auch den verlorenen Mann. Sie hat der Maslowa vorgeschlagen, bei ihr als Wäscherin einzutreten. Aber die Maslowa zögerte und suchte in den Vermittlungsbureaus eine Stelle als Dienstmädchen. Eine Stelle fand sich nicht, aber es traf sich, daß die Maslowa, als sie in das Stellenvermittlungsbureau kam, dort einer Dame mit Fingerringen und Bracelets an den aufgedunsenen nackten Armen begegnete. Nachdem die Dame die Lage der stellesuchenden Maslowa erfahren, hat sie ihr ihre Adresse gegeben und sie zu sich eingeladen. Die Maslowa ging zu ihr. Die Dame empfing sie freundlich, bewirtete sie mit Pastetchen und süßem Wein und hat dann ihr Stubenmädchen mit einem Zettel irgendwohin geschickt. Abends kam in das Zimmer ein hochgewachsener Mann mit langen ergrauenden Haaren und grauem Bart. Dieser Greis rückte sogleich der Maslowa näher und begann sie, lächelnd und mit den Augen glänzend, zu betrachten und mit ihr zu scherzen. Die Hausfrau hat ihn hinaus in ein anderes Zimmer gerufen, und die Maslowa hörte sie sagen: »eine ganze Frische, vom Dorfe.« Dann rief die Hausfrau die Maslowa heraus und sagte, das sei ein Schriftsteller, der sehr viel Geld habe und nicht sparen werde, wenn sie ihm gefiele. Sie hat gefallen, und er gab ihr fünfundzwanzig Rubel und versprach, sie oft wiederzusehen. Bald ging das Geld drauf für Bezahlung der Kost bei der Tante und für ein neues Kleid, einen Hut und Bänder. Nach einigen Tagen schickte der Schriftsteller wieder nach ihr. Sie ging. Er gab ihr noch fünfundzwanzig Rubel und schlug ihr vor, in eine besondere Wohnung zu ziehen.

Während die Maslowa in dem von dem Schriftsteller gemieteten Quartier wohnte, gewann sie einen lustigen Kommis lieb, der auf demselben Hof logierte. Sie hat das selber dem Schriftsteller erklärt und eine abgesonderte kleine Wohnung bezogen. Der Kommis aber, der sie zu heiraten versprochen, reiste, ohne ihr etwas davon zu sagen, nach Nischnij; er hatte sie verlassen. Sie wollte nun für sich in dem Quartier wohnen, aber das hat man ihr nicht erlaubt. Der Polizeioffiziant teilte ihr mit, sie könne nur so leben, nachdem sie einen roten Schein bekommen und sich einer medizinischen Untersuchung gestellt habe. Darauf ging sie wieder zu ihrer Tante.

Als die Tante ihr Modekleid erblickte, den Umhang und den Hut, empfing sie sie achtungsvoll und wagte schon nicht mehr, ihr vorzuschlagen, Wäscherin zu werden, da sie glaubte, daß sie eine höhere Lebensstufe betreten habe. Für die Maslowa existierte jetzt nicht mehr die Frage, ob sie Wäscherin werden solle oder nicht. Sie blickte jetzt mit Mitleid auf das Galeerenleben, das die blassen Waschfrauen mit den mageren Armen in den vorderen Zimmern führten, indem sie bei dreißig Grad im Seifendampf und dazu bei, im Sommer wie im Winter, geöffneten Fenstern wuschen und plätteten, und sie ergrauste bei dem Gedanken, daß auch sie in solche Galeerenarbeit eintreten sollte. Und zu dieser Zeit, die für die Maslowa besonders kummervoll war, weil sie keinen Beschützer fand, wurde sie von einer Vermittlerin aufgesucht, die ein Toleranzhaus mit Mädchen versorgte.

Die Vermittlerin bewirtete die Tante, und nachdem sie die Maslowa betrunken gemacht, schlug sie ihr vor, in eine gute – in die beste Anstalt der Stadt einzutreten, indem sie ihr alle Vorteile und Vorzüge dieser Stellung vor Augen führte. Die Maslowa hatte die Wahl vor sich: entweder die erniedrigende Lage einer Dienstmagd, wo es ganz sicher Verfolgungen von seiten der Männer und zeitweilige geheime Ehebrüche geben würde, oder die gesicherte, ruhige, gesetzliche Stellung und der offene, vom Gesetz erlaubte, gut bezahlte, beständige Ehebruch, und sie wählte das letztere. Außerdem glaubte sie damit an ihrem Verführer und an dem Kommis – an allen Leuten, die ihr Böses getan, Rache zu nehmen. Dabei verführte sie noch, und eines der Motive ihrer definitiven Entscheidung war, daß die Vermittlerin ihr sagte, sie könne so viele Kleider bestellen, wie sie nur wünsche; aus Samt, aus Seide, Ballkleider, die Schultern und Arme nackt lassen. Und als sich die Maslowa vorstellte – sie im hellgelben dekolletierten Seidenkleide, besetzt mit schwarzem Samt – da konnte sie nicht widerstehen und gab ihren Paß ab.

Und noch an demselben Abend nahm die Vermittlerin eine Droschke und führte sie in das berühmte Haus der Kitajewa.

Und so begann von dieser Zeit an für die Maslowa jenes Leben des chronischen Vergehens gegen göttliche und menschliche Gebote, das von Hunderten und Hunderten von Frauen geführt wird, nicht nur mit Erlaubnis, sondern unter der Gönnerschaft der regierenden Gewalt.

Morgens und am Tage der schwere Schlaf nach den nächtlichen Orgien. Um drei, vier Uhr das müde Aufstehn vom schmutzigen Bette, Selterwasser nach der Völlerei, Kaffee – dann das faule Herumschlendern durch die Zimmer, in Peignoirs, Jacken, Schlafröcken; dann das Abwaschen, Beschmieren, Parfümieren des Leibes, der Haare; dann das Anziehen des hellen, seidenen, den Körper entblößenden Kleides; das Hinaustreten in den aufgeputzten, hell erleuchteten Saal, die Ankunft der Gäste –: Musik, Tanz, Bonbons, Wein, Rauchen, Ehebrüche mit den Jungen, mit Leuten mittleren Alters, mit halben Kindern, mit sich ruinierenden Greisen, mit Ledigen, mit Verheirateten, mit Kaufleuten, mit Kommis, mit Armeniern, mit Juden, mit Tataren, mit Reichen, Armen, Gesunden, Kranken, Betrunkenen, Nüchternen, Groben, Zarten, mit Militärs, mit Zivilisten, mit Studenten, mit Gymnasiasten – mit allen möglichen Klassen, Altersstufen, Charakteren. Und Geschrei und Späße, Musik vom Abend bis zum Tagesanbruch. Und nur am Morgen Erlösung und schwerer Schlaf. Und so jeden Tag, die ganze Woche. Am Ende der Woche aber die Fahrt in die Staatsanstalt – das Kreisbureau, wo die im Staatsdienst stehenden Beamten – Ärzte – Männer – diese Frauen untersuchten; und manchmal ernst und streng, manchmal mit scherzhafter Lustigkeit, die von der Natur zum Schutz gegen Verbrechen nicht nur den Menschen, sondern selbst den Tieren verliehene Scham vernichteten, und dann ihnen das Patent gaben zur Fortsetzung derselben Verbrechen, welche diese Frauen im Laufe der Woche mit ihren Mitgenossen begingen. Und so jeden Tag – im Sommer, im Winter, am Werktag wie am Feiertag.

So lebte die Maslowa sieben Jahre hindurch. Während dieser Zeit hat sie zweimal das Haus gewechselt, und einmal war sie im Hospital. Im siebenten Jahre ihres Aufenthalts im Toleranzhause und im zehnten Jahr nach ihrem ersten Fall, als sie siebenundzwanzig Jahre alt war, geschah mit ihr das, wofür man sie ins Gefängnis gesetzt und jetzt vor das Gericht führte, nach sechsmonatiger Haft im Gefängnis mit Diebinnen und Mörderinnen.

 

Zu gleicher Zeit, da die Maslowa, von dem langen Gange ermüdet, mit ihrer Bewachung an das Gerichtsgebäude herangekommen war, lag jener selbe Neffe ihrer Erzieherinnen, Fürst Dmitrij Iwanowitsch Nechljudow, der sie verführt, auf seinem hohen, zerwühlten Springfederbett mit der Daunenmatratze und rauchte eine Zigarette. Er sah mit starren Augen vor sich hin und dachte darüber nach, was ihm heute zu tun bevorstehe, und was gestern gewesen.

Sich des gestrigen Abends entsinnend, welchen er bei Kortschagins zugebracht, reichen und berühmten Leuten, deren Tochter er, wie von allen angenommen wurde, heiraten sollte, seufzte er, warf die ausgerauchte Zigarette fort und wollte aus der silbernen Zigarettendose eine neue nehmen; besann sich jedoch anders, ließ seine glatten weißen Beine vom Bett herab, fand mit ihnen die Pantoffeln, warf einen seidenen Schlafrock über die breiten Schultern und ging mit raschen Schritten in das ans Schlafgemach stoßende Ankleidezimmer. Dort putzte er mit einem besonderen Pulver seine an vielen Stellen plombierten Zähne, spülte sie mit einem aromatischen Mundwasser, fing dann an sich allerseits zu waschen und mit verschiedenen Handtüchern abzureiben. Nachdem er sich die Hände mit parfümierter Seife gewaschen, putzte er sorgfältig mit Bürsten die langgewachsenen Nägel, wusch sich an dem großen marmornen Waschtisch das Gesicht und den starken Hals und trat noch in ein drittes Zimmer neben dem Schlafgemach, wo eine Douche hergerichtet war. Als er dann mit kaltem Wasser den muskulösen, mit Fett belegten weißen Leib gewaschen und sich mit dem rauhhaarigen Laken abgerieben hatte, zog er die saubere, geglättete Wäsche, die wie ein Spiegel geputzten Schuhe an, setzte sich vor die Toilette, um mit zwei Bürsten den kleinen, schwarzen krausen Bart und die auf dem vorderen Teil des Kopfes ziemlich dünn gewordenen krauslichen Haare zu bearbeiten. Alle Sachen, deren er sich bediente, waren von der allerersten teuersten Sorte, unauffällig, einfach, dauerhaft und kostbar.

Nachdem Nechljudow aus einem Dutzend Krawatten und Vorstecknadeln die ersten, die ihm unter die Hände kamen, genommen, zog er die gebürsteten und auf dem Stuhle vorbereiteten Kleider an und ging, wenn auch nicht vollkommen frisch, so doch sauber und duftend, in das lange Speisezimmer mit dem großen, zum Ausziehen eingerichteten Tisch, der mit seinen breit auseinandergestellten, in der Form von Löwenklauen geschnitzten Füßen etwas Feierliches hatte. Auf diesem Tische mit der feinen, gestärkten, mit großen Namenszügen versehenen Decke stand eine silberne Kaffeekanne mit duftendem Kaffee, eine ebensolche Zuckerdose, eine Rahmkanne mit gekochter Sahne und ein Korb mit frischem Kalatsch (Semmel), kleinen Zwiebacken und Biskuits. Neben dem Gedeck lagen die eingetroffenen Briefe, Zeitungen und ein neuer Band, die »Revue des deux mondes«.

Eben nur wollte sich Nechljudow an seine Briefe machen, als aus der Tür, die in den Korridor führte, eine wohlbeleibte und ziemlich bejahrte Frau in Trauer, mit einem Spitzenaufsatze auf dem Kopfe, der den auseinandergegangenen Haarscheitel verdeckte, herangeschwommen kam. Es war das Kammermädchen der seligen, vor kurzem in dieser selben Wohnung verstorbenen Mutter Nechljudows, Agrafena Petrowna, die jetzt bei dem Sohn als Haushälterin geblieben war.

Agrafena Petrowna hatte das Aussehen und die Manieren einer Dame.

Von Kindheit an wohnte sie im Hause der Nechljudows.

»Guten Morgen, Dimitrij Iwanowitsch!«

»Ich grüße Sie, Agrafena Petrowna; – was gibt's Neues?« fragte Nechljudow scherzend.

»Ein Brief entweder von der Frau Fürstin oder vom fürstlichen Fräulein; das Zimmermädchen hat ihn schon längst gebracht, wartet bei mir«, sagte Agrafena Petrowna und übergab den Brief, bedeutungsvoll lächelnd.

»Schön, sogleich«, sagte Nechljudow, indem er den Brief nahm, und da er Agrafena Petrownas Lächeln bemerkte, zog er ein finsteres Gesicht. Das Lächeln der Agrafena Petrowna bedeutete, daß der Brief von der jungen Fürstin Kortschagin war, die Nechljudow, nach Agrafena Petrownas Meinung, heiraten sollte. Und diese durch ihr Lächeln ausgedrückte Voraussetzung Agrafena Petrownas war Nechljudow unangenehm.

»Also ich sage ihr, daß sie etwas warten soll.« Und Agrafena Petrowna schwamm aus dem Speisezimmer hinweg.

Als Nechljudow den duftenden Brief, den ihm Agrafena Petrowna gereicht, erbrochen, begann er ihn zu lesen.

›Indem ich die auf mich genommene Pflicht erfülle,‹ stand auf dem einen Bogen des dicken grauen Papiers mit den ungleichen Rändern, in einer scharfen aber weiten Handschrift geschrieben, ›erinnere ich Sie daran, daß Sie heute, den 28. April, im Geschworenengericht sein müssen und daher unmöglich mit uns und mit Herrn Kolossow fahren können, um Bilder zu besehen, wie Sie dies gestern mit dem Ihnen eigentümlichen Leichtsinn versprachen, à moins que vous ne soyez disposé à payer à la cour d'assise les 300 roubles d'amende, que vous refusez pour votre cheval, dafür, daß Sie nicht zur rechten Zeit erscheinen. Es fiel mir gestern ein, als Sie eben fortgegangen waren. Also vergessen Sie es nicht.

Fürstin M. Kortschagina.‹

Auf der anderen Seite war hinzugefügt: ›Maman vous fait dire, que votre couvert vous attendra jusqu' à la nuit. Venez absolument, à quelle heure que cela soit.

M. K.‹

Nechljudow runzelte die Stirn. Der Zettel war die Fortführung jener geschickten Arbeit, die schon seit zwei Monaten an ihm von der jungen Fürstin Kortschagina ausgeführt wurde, und die daran bestand, daß sie ihn mit unmerklichen Fäden immer mehr und mehr mit ihr verknüpfte. Unterdessen aber hatte Nechljudow, außer jener, bei den nicht mehr jungen und nicht leidenschaftlich verliebten Leuten gewöhnlichen Unentschlossenheit vor der Ehe, noch einen wichtigen Grund, aus dem er, selbst wenn er sich entschlösse, doch nicht sogleich seinen Antrag machen könnte. Dieser Grund bestand nicht darin, daß er bald vor zehn Jahren Katjuscha verführt und sie verlassen hatte, das war von ihm vollständig vergessen worden, und er hielt das für kein Hindernis zum Heiraten; der Grund lag darin, daß er um dieselbe Zeit mit einer verheirateten Frau ein Verhältnis hatte, das – obgleich von seiner Seite zerrissen – ihrerseits noch nicht als zerrissen anerkannt wurde.

Nechljudow war sehr schüchtern den Frauen gegenüber. Aber eben seine Schüchternheit hatte in dieser verheirateten Frau die Lust erweckt, ihn zu erobern. Diese Frau war die Gemahlin des Adelsmarschalls jenes Kreises, zu dessen Wahl Nechljudow gefahren war. Und die Frau zog ihn in ein Verhältnis hinein, das für Nechljudow mit jedem Tage hinreißender und zu gleicher Zeit auch immer mehr und mehr abstoßend wurde. Anfangs hatte Nechljudow der Verführung nicht widerstehen können, dann, weil er sich vor ihr schuldig fühlte, konnte er dies Verhältnis nicht ohne ihre Einwilligung zerreißen. Und hier eben lag die Ursache, aus welcher Nechljudow glaubte, daß er kein Recht habe, auch wenn er es wünschte, der Kortschagina seinen Heiratsantrag zu machen.

Auf dem Tische lag gerade ein Brief von dem Manne dieser Frau. Als Nechljudow die Handschrift und den Stempel sah, errötete er und empfand sogleich jenen Energieaufschwung, den er immer beim Nahen der Gefahr fühlte. Aber seine Aufregung war überflüssig; der Mann, der Adelsmarschall desselben Bezirks, in dem die Hauptbesitztümer des Fürsten lagen, berichtete ihm, daß zu Ende Mai eine außerordentliche Versammlung des Semstwo anberaumt worden, und bat Nechljudow, auf alle Fälle zu erscheinen.

Der Adelsmarschall war ein liberaler Mann, der zusammen mit einigen Gleichgesinnten gegen die unter Alexander III. angebrochene Reaktion kämpfte und so ganz von diesem Kampf absorbiert ward, daß er nichts von seinem unglücklichen Familienleben wußte.

Nechljudow vergegenwärtigte sich all die qualvollen Minuten, die er durchlebt, in Beziehung auf diesen Mann; er vergegenwärtigte sich, wie er einmal geglaubt, der Mann wisse alles, und wie er sich zum Duell mit ihm vorbereitete, bei welchem er in die Luft schießen wollte; und die furchtbare Szene mit ihr, als sie in Verzweiflung in den Garten hinauslief, zum Teich, mit der Absicht, sich zu ertränken, und er lief, sie zu suchen.

»Ich kann jetzt nicht fahren, ich kann nichts unternehmen, so lange sie mir nicht antwortet«, dachte Nechljudow. Vor einer Woche hatte er ihr einen entscheidenden Brief geschrieben, in welchem er sich als schuldig und zu jeder beliebigen Art von Genugtuung bereit erkannte, aber dennoch hielt er das Verhältnis, und zwar zu ihrem besten, für beendigt auf immer. Und eben auf diesen Brief erwartete er Antwort und bekam keine. Daß er keine Antwort erhielt, war zum Teil ein gutes Zeichen. Wenn sie auf den Bruch nicht eingehen wollte, so hätte sie schon langst geschrieben oder wäre sogar selber gekommen, wie sie es früher tat. Nechljudow hatte gehört, daß gegenwärtig dort irgendein Offizier war, der ihr den Hof machte, und das quälte ihn mit Eifersucht und freute ihn zugleich, als Hoffnung auf Befreiung von der ihn peinigenden Lüge.

Der andere Brief war von dem Oberverwalter der Besitzungen, der Verwalter schrieb ihm, daß er, Nechljudow, selber kommen müsse, um seine Erbschaft anzutreten, und außerdem, um die Frage zu entscheiden, wie die Wirtschaft fortzuführen sei: ob so, wie sie bei der Seligen geführt worden, oder so, wie er es auch der seligen Fürstin vorgeschlagen und jetzt dem jungen Fürsten vorschlage, nämlich, das Inventarium zu vermehren, und alles Land, das jetzt den Bauern in Pacht gegeben war, selber zu bewirtschaften. Dieser Brief war Nechljudow angenehm und unangenehm. Es war angenehm, seine Macht über ein großes Eigentum zu fühlen und unangenehm, daß er zur Zeit seiner ersten Jugend ein begeisterter Anhänger Herbert Spencers gewesen und als Großgrundbesitzer selber besonders durch seinen Satz in den »Social Statics« getroffen war, ›daß die Gerechtigkeit den Privatgrundbesitz nicht zulasse.‹

Jetzt, da er durch die Erbschaft ein großer Grundbesitzer geworden, mußte er auf eins von beidem: entweder auf sein Eigentum verzichten, oder in stillschweigendem Einverständnis all seine früheren Gedanken als fehlerhaft und falsch anerkennen.

Das erstere konnte er nicht tun, weil er außer dem Landbesitz keine Mittel zur Existenz hatte. Dienen wollte er nicht, wohl aber hatte er inzwischen die Gewohnheiten eines luxuriösen Lebens angenommen, von denen er glaubte, sich nicht losmachen zu können. Aber es hatte auch keinen Zweck, denn er besaß schon nicht mehr weder jene Überzeugungskraft, noch jene Entschlossenheit, noch jene Eitelkeit und Lust, in Verwunderung zu setzen, die ihm in der Jugend eigen gewesen.

Das zweite aber, Widerruf jener klaren und unwiderlegbaren Beweisgründe von der Unrechtmäßigkeit des Grundbesitzes, die er damals aus der »Sozialen Statik« von Spencer geschöpft und deren glänzende Bestätigung er dann viel später in den Werken von Henry George gefunden hatte, war ihm durchaus nicht möglich.

Und unangenehm war ihm deswegen der Brief des Verwalters.

 

Nachdem Nechljudow seinen Kaffee getrunken, ging er ins Kabinett, um im Vorladungsschreiben nachzusehen, um wieviel Uhr man im Gericht sein müsse und um die Antwort an die Fürstin zu schreiben. Ins Kabinett mußte man durch das Atelier gehen. Im Atelier stand eine Staffelei mit einem angefangenen Bilde, das umgedreht war, auch waren Studien aufgehängt. Der Anblick dieses Bildes, an welchem er sich zwei Jahre lang abgequält, der Anblick der Studien und des ganzen Ateliers mahnten ihn an das in letzter Zeit mit besonderer Schärfe empfundene Gefühl seines Unvermögens in der Malerei weiterzukommen.

Vor sieben Jahren hatte er den Dienst aufgegeben, da er entschied, daß er einen Beruf zur Malerei habe, und von der Höhe der künstlerischen Tätigkeit sah er etwas verächtlich auf alle anderen Tätigkeiten herab. Jetzt ergab es sich, daß er dazu kein Recht hatte. Und darum war jede Erinnerung daran unangenehm. Das Kabinett war ein sehr großes, hohes Zimmer mit allen Arten von Zierrat, Vorrichtungen und Bequemlichkeiten.

Nachdem er sogleich in der Schieblade des kolossalen Schreibtisches unter der Abteilung »Terminsachen« das Vorladungsschreiben gefunden, in welchem es hieß, daß man um elf im Gericht sein müsse, setzte sich Nechljudow, um dem Fürsten ein Billett zu schreiben, daß er für die Einladung danke und sich bemühen werde, zum Mittagessen da zu sein. Aber nachdem er ein Billett geschrieben, riß er es entzwei: es war zu intim; er schrieb ein anderes – es war kalt, fast beleidigend. Er riß es wieder entzwei und drückte auf den Knopf in der Wand. In die Tür kam in grauer Kalikoschürze ein bejahrter Lakai.

»Bitte, schicken Sie nach dem Kutscher.«

»Zu Befehl!«

»Und sagen Sie, hier wartet jemand von Kortschagins, ich ließe danken, ich würde mich bemühen zu kommen.«

»Zu Befehl!«

»Unhöflich, aber ich kann nicht schreiben. Ich werde sie doch heute sehen«, dachte Nechljudow und ging sich anzukleiden.

Als er sich dann angekleidet hatte und auf die Treppe hinauskam, wartete schon auf ihn sein bekannter Mietkutscher mit der Gummiräderdroschke.

»Gestern waren Sie eben vom Fürsten Kortschagin weggefahren,« sagte der Mietkutscher halbumwendend, »als ich vorgefahren bin, der Schweizer aber sagte: ›Gerade weg!‹«

Der Mietkutscher wußte, daß er Kortschagins besuchte und war gekommen, um ihn abzuholen.

»Sogar die Mietkutscher wissen um mein Verhältnis zu Kortschagins«, dachte Nechljudow, und es regte sich in ihm die unentschiedene Frage, die ihn in der letzten Zelt beständig beschäftigte: sollte er die Kortschagina heiraten, oder nicht; er konnte diese Frage durchaus nicht entscheiden, weder auf die eine, noch auf die andere Weise.

Zugunsten der Ehe überhaupt sprach erstens der Umstand, daß die Heirat, außer den Annehmlichkeiten des häuslichen Herdes, indem sie die Unregelmäßigkeit des Geschlechtslebens beseitigte, die Möglichkeit eines moralischen Lebens bot; zweitens der Umstand, und dieser war die Hauptsache, daß Nechljudow hoffte, Familie und Kinder würden seinem jetzt inhaltslosen Leben einen Sinn geben. Das war für das Heiraten überhaupt. Gegen das Heiraten überhaupt sprach aber erstens die allen nicht jungen Junggesellen gemeinsame Furcht vor dem geheimnisvollen Wesen der Frau.

Zugunsten aber der Ehe, speziell mit Missi – Fräulein Kortschagina hieß Marie, und wie in allen Familien eines gewissen Kreises gab man ihr einen Beinamen – war erstens zu sagen, daß sie von guter Rasse war, und daß sie in allem, von der Kleidung bis zur Manier zu sprechen, zu gehen, zu lachen, sich vor einfachen Leuten auszeichnete; sie zeichnete sich nicht durch etwas Außerordentliches aus, sondern durch »Korrektheit«; er kannte keinen anderen Ausdruck für diese Eigenschaft und wertete diese Eigenschaft sehr hoch; und zweitens schätzte sie ihn höher als alle anderen Menschen, also nach seinen Begriffen verstand sie ihn. Und dieses Verstehen, das heißt das Anerkennen seiner hohen Qualitäten, zeugte von ihrem Verstand und von der Richtigkeit ihres Urteils. Gegen die Heirat, speziell mit Missi, war erstens, daß man, sehr wahrscheinlich, ein Fräulein finden konnte, welches noch viel mehr gute Eigenschaften als Missi hatte und welches darum mehr seiner wert wäre; zweitens, daß sie schon 27 Jahre alt war, und darum hatte sie sicher schon früher geliebt; und dieser Gedanke war für Nechljudow qualvoll. Sein Stolz konnte sich nicht damit aussöhnen, daß sie selbst in der Vergangenheit nicht ihn lieben gekonnt. Versteht sich, sie konnte nicht wissen, daß sie ihn treffen werde, aber der Gedanke allein, daß sie irgend jemand früher lieben gekonnt, beleidigte ihn. So daß der Beweggründe ebenso viele für die Ehe, wie gegen sie waren; wenigstens waren ihrer Kraft nach diese Beweggründe gleich, und Nechljudow, über sich selbst lachend, nannte sich Buridans Esel.

»Übrigens, ohne Antwort von Maria Wassiljewna – der Frau des Adelsmarschalls –, ohne damit vollständig zu Ende zu sein, kann ich nichts unternehmen«, sagte er zu sich selbst.

»Übrigens werde ich alles das nachher überlegen«, sagte er sich selbst, als seine Droschke schon ganz geräuschlos zur Asphaltauffahrt des Gerichtsgebäudes heranrollte. »Jetzt muß man gewissenhaft, wie ich es immer tue und für meine Schuldigkeit halte, seine öffentliche Pflicht erfüllen. Zudem aber pflegt es oft interessant zu sein«, sagte er zu sich und ging an dem Schweizer vorbei in den Flur des Gerichtsgebäudes hinein.

 

In den Korridoren des Gerichts war eine starke Bewegung, da Nechljudow hereintrat. Die Gerichtskommissare, Advokaten, Gerichtsbeamten gingen bald hin, bald her; die Angeklagten ohne Bewachung strichen verzagt an den Wänden herum oder saßen voll Erwartung.

»Wo ist das Bezirksgericht?« fragte Nechljudow bei einem der Wächter.

»Zu welchem wollen Sie?«

»Ich bin ein Geschworener.«

»Also Kriminalabteilung. So hätten Sie auch sagen müssen. Hier rechts, dann links und die zweite Tür.«

Nechljudow ging.

Neben der genannten Tür standen zwei Männer und warteten; einer war ein großer dicker Kaufmann, ein gutmütiger Mensch, der in Vorbereitung zu seinem Dienst ein Glas getrunken und einen Imbiß genommen hatte und in der heitersten Gemütsverfassung war. Der andere war ein Kommis von jüdischer Herkunft. Sie sprachen vom Preise der Wolle, als der eben angelangte Nechljudow herankam und fragte, ob hier das Zimmer der Geschworenen sei.

»Hier, mein Herr, hier. Auch einer von uns Geschworenen?« fragte lustig zwinkernd der gutmütige Kaufmann.

»Nun, also werden wir uns zusammen etwas anstrengen«, fuhr er auf die bejahende Antwort Nechljudows fort. »Baklaschow von der zweiten Gilde,« sagte er, seine weiche, breite Hand reichend, »man muß sich etwas Mühe geben. Mit wem habe ich das Vergnügen?«

Nechljudow nannte seinen Namen und ging in das Zimmer der Geschworenen.

In dem kleinen Zimmer der Geschworenen waren etwa zehn Mann verschiedener Sorte. Alle waren eben angekommen: einige saßen, andere gingen, indem sie einander betrachteten und sich bekannt machten. Der eine war ein abgedankter Militär in Uniform, die anderen waren in Gehröcken, in Joppen, und nur der eine im Kaftan.

Alle zeigten, trotzdem viele sich von der Arbeit losgerissen hatten und sagten, daß es sie belästige – alle zeigten den Ausdruck eines gewissen Vergnügens im Bewußtsein der Erfüllung einer wichtigen öffentlichen Tätigkeit.

Die Geschworenen, die teils miteinander bekannt geworden, teils aber nur vermuteten, wer er sei, sprachen miteinander vom Wetter, vom frühen Frühling, von den bevorstehenden Geschäften. Diejenigen, welche mit Nechljudow nicht bekannt waren, beeilten sich, mit ihm bekannt zu werden, weil sie augenscheinlich es für eine besondere Ehre hielten. Und Nechljudow nahm es, wie immer unter Unbekannten, als das ihm Gebührende entgegen. Würde man ihn gefragt haben, warum er sich für höher, als die meisten Leute hielt, so hätte er nicht antworten können, weil sein ganzes Leben keine besonderen Verdienste offenbarte. Unter der Zahl der Geschworenen fand sich ein Bekannter von Nechljudow. Es war Peter Gerassimowitsch – Nechljudow kannte nie seinen Familiennamen und prahlte sogar ein wenig damit, daß er seinen Namen nicht kenne – der ehemalige Lehrer der Kinder seiner Schwester. Peter Gerassimowitsch hatte die Universitätskurse beendet und war jetzt Gymnasiallehrer. Er war immer unerträglich für Nechljudow durch seine Familiarität, durch sein selbstzufriedenes Lachen, überhaupt durch »seine kommunistischen Manieren«, wie die Schwester Nechljudows zu sagen pflegte.

»So, Sie müssen auch dran glauben,« empfing Peter Gerassimowitsch mit lautem Lachen den Nechljudow, »konnten sich nicht drücken.«

»Aber ich dachte ja nicht daran, mich zu drücken«, sagte Nechljudow streng und traurig.

»Nun, das ist aber Bürgertugend! Warten Sie nur, wenn Sie Hunger verspüren und man Sie nicht schlafen läßt, werden Sie anders singen!« fing noch lauter lachend Peter Gerassimowitsch an.

»Dieser Oberpriesterssohn wird mich sogleich ›Du‹ nennen«, dachte Nechljudow, und indes sich auf seinem Gesicht eine Trauer ausprägte, die nur in dem Fall natürlich gewesen wäre, wenn er soeben den Tod seiner sämtlichen Verwandten erfahren hätte, ging er von ihm weg und näherte sich einer Gruppe, die sich um einen glattrasierten, hochgewachsenen, ansehnlichen Herrn bildete, der mit Lebhaftigkeit etwas erzählte.

Man hörte ihm mit Achtung zu, und einige bemühten sich, eigene Bemerkungen einfließen zu lassen, aber er schnitt allen das Wort ab, als ob nur er allein alles gehörig wissen könne.

Trotzdem Nechljudow zu spät vorgefahren, mußte er lange warten. Die Sache wurde aufgehalten durch ein Gerichtsmitglied, das bis jetzt nicht angelangt war.

 

Der Vorsitzende kam früh ins Gericht gefahren. Es war ein hoher, starker Mann mit großem, ergrauendem Backenbart. Er war verheiratet, führte aber ein sehr lockeres Leben, ebenso wie seine Frau. Sie störten einander nicht. Heute früh hatte er einen Zettel von der Gouvernante, einer Schweizerin, welche im Sommer bei ihnen im Hause gelebt und jetzt vom Süden nach Petersburg durchfuhr, erhalten, daß sie ihn in der Stadt im Gasthofe »Italie« zwischen drei und sechs Uhr erwarten werde. Daher hatte er Lust, die Verhandlung des heutigen Tages früher anzufangen und zu beenden, damit er bis sechs Uhr Zeit hätte, diese rothaarige Klara Wassiljewna zu besuchen, mit welcher er im vorigen Sommer auf dem Lande einen Roman angeknüpft hatte.

Nachdem er ins Kabinett eingetreten, riegelte er die Tür zu, holte aus dem Schrank mit Papieren von dem unteren Brett zwei Hanteln und machte zwanzig Bewegungen nach oben, nach vorwärts, nach seitwärts, nach unten und dann ließ er sich leicht dreimal nieder, indem er die Hanteln über dem Kopfe hoch hielt.

Ihm blieb noch übrig, einen »Moulinet« zu machen – er pflegte diese zwei Bewegungen immer vor dem langen Sitzen der Verhandlung auszuführen – als die Tür erzitterte. Jemand wollte sie aufmachen. Der Vorsitzende legte eilig die Gewichte auf ihre Stelle und öffnete die Tür.

»Verzeihen Sie«, sagte er.

In das Zimmer kam eins der Gerichtsmitglieder mit goldener Brille, ein nicht hochgewachsener Mann mit ausgezogenen Schultern und einem finsteren Gesicht.

»Wieder ist Matwej Nikititsch nicht da«, sagte das Gerichtsmitglied unzufrieden.

»Noch nicht« antwortete der Vorsitzende, die Uniform anziehend. »Immer verspätet er sich.«

»Erstaunlich, schämt er sich denn gar nicht?« sagte das Mitglied und setzte sich voll Unwillen, indem es Zigaretten aus der Tasche holte.

Dann kam der Sekretär herein und brachte irgend welche Prozeßakten mit.

»Meinen besten Dank«, sagte der Vorsitzende, und rauchte eine Zigarette an. »Welchen Prozeß nehmen wir zuerst?«

»Ich glaube wohl die Vergiftung«, sagte scheinbar gleichgültig der Sekretär.

»Nun gut, wenn es die Vergiftung sein soll, so sei es die Vergiftung«, sagte der Vorsitzende, nachdem er überlegt, daß dies ein Prozeß sei, welchen man bis vier Uhr beenden könne, um nachher wegzufahren. »Und ist Matwej Nikititsch noch nicht da?«

»Immer noch nicht.«

»Und Herr Breve, ist er hier?«

»Hier«, antwortete der Sekretär.

»So, sagen Sie ihm, wenn Sie ihn sehen, daß wir mit der Vergiftung anfangen.«

Breve war derjenige Staatsanwalt, welcher bei dieser Verhandlung die Anklage führen sollte.

Als er in den Korridor hinausging, traf der Sekretär den Breve an.

Mit hochaufgezogenen Schultern in nicht zugeknöpfter Uniform schritt er rasch, mit einem Portefeuille unter dem Arm, fast laufend und mit den Absätzen klopfend den Korridor entlang.

»Michail Petrowitsch wünscht zu erfahren, ob Sie fertig sind?« fragte ihn der Sekretär.

»Versteht sich, ich bin immer fertig,« sagte der Staatsanwalt, »welcher Prozeß ist der erste?«

»Die Vergiftung.«

»Das ist schön«, sagte der Staatsanwalt, aber er fand es gar nicht schön: er hatte die ganze Nacht nicht geschlafen. Es war ein Abschiedsschmaus zu Ehren eines Kameraden, man hatte viel getrunken und bis zwei Uhr gespielt, und nachher fuhr man zu den Frauen in dasselbe Haus, in welchem noch vor sechs Monaten die Maslowa war, so daß er gerade die Prozeßakten von der Vergiftung zu lesen keine Zeit gehabt, und sie jetzt flüchtig durchsehen wollte. Der Sekretär aber hatte absichtlich dem Vorsitzenden geraten, diesen Prozeß, als ersten, vorzunehmen, da er wußte, daß jener die betreffenden Akten nicht gelesen hatte. Der Sekretär war von liberaler, ja sogar radikaler Denkungsart. Breve aber war konservativ und selbst besonders dem orthodoxen Glauben ergeben, und der Sekretär hatte ihn nicht gern und beneidete ihm seine Stellung.

»Nun, und wie ist es mit dem Prozeß der Skopzen?«

»Ich habe schon gesagt, daß ich nicht kann,« sagte der Staatsanwalt, »der Abwesenheit der Zeugen wegen, ich werde das auch dem Gericht erklären.«

»Aber es ist ja ganz gleich . . .«

»Kann nicht«, sagte der Staatsanwalt, und auf die gewohnte Weise mit der Hand schwenkend, lief er in sein Kabinett.

 

Endlich kam auch Matwej Nikititsch angefahren, und der Gerichtskommissär, ein magerer Mensch mit langem Halse und schrägem Gang, trat in das Geschworenenzimmer. Dieser Gerichtskommissär war ein ehrlicher Mann mit Universitätsbildung, konnte sich aber nirgends auf seinem Posten behaupten, weil er periodisch trank. Vor drei Monaten hatte eine Gräfin, eine Beschützerin seiner Frau, ihm diese Stelle besorgt, und er hielt sich bis jetzt auf derselben und freute sich dessen.

»Wie ist's, mein« Herren, sind Sie alle versammelt?« sagte er, indem er seinen Zwicker aufsetzte und über denselben hinwegsah.

»Alle, scheint es«, sagte der lustige Kaufmann.

»Wollen die Probe machen«, der Gerichtskommissär holte aus der Tasche die Liste hervor und fing an, indem er die Aufgerufenen bald über, bald durch den Zwicker anblickte, aufzurufen.

»Staatsrat I. M. Nikiforow!«

»Ich«, sagte der ansehnliche Herr, der alle Gerichtssachen kannte.

»Oberst außer Diensten Iwan Semjonowitsch Iwanow.«

»Hier!« gab der magere Mann in der Uniform der Abgedankten zur Antwort.

»Der Kaufmann der zweiten Gilde, Peter Baklaschow.«

»Hier ist er!« sagte der gutmütige Kaufmann, mit dem ganzen Munde lächelnd, »wir sind bereit!«

»Der Gardeleutnant, Fürst Dmitrij Nechljudow.«

»Ich«, antwortete Nechljudow.

Der Gerichtskommissär verneigte sich besonders höflich und angenehm, indem er über den Zwicker hinweg blickte, als ob er ihn auf diese Weise vor den anderen auszeichnen wolle.

»Der Kapitän Jurij Dimitriewitsch Dantschenko,« »der Kaufmann Grigorij Jefemowitsch Kuleschow« usw., usw. Alle, außer zweien, waren versammelt.

»Jetzt bitte, meine Herren, in den Saal einzutreten«, sagte der Gerichtskommissär, indem er mit einer angenehmen Geste auf die Tür zeigte.

Alle rührten sich, und einander in der Tür durchlassend, gingen sie in den Korridor hinaus und aus dem Korridor in den Saal der Verhandlung.

Der Gerichtssaal war ein großes langes Zimmer. Ein Ende desselben ward von einer Erhöhung eingenommen, zu welcher drei Stufen hinanführten. Auf der Erhöhung, in der Mitte, stand ein Tisch, bedeckt mit grünem Tuch mit dunklerer grüner Franse.

Hinter dem Tische standen drei Lehnstühle mit sehr hohen, eichenen, geschnitzten Rückenlehnen; und hinter den Lehnstühlen hing in goldenem Rahmen ein grelles Porträt des Kaisers in Lebensgröße, in Uniform und Ordensband, mit vorgesetztem Fuß, die Hand am Degen. In der rechten Ecke hing ein Heiligenschrein mit dem Bilde Christi in der Dornenkrone und stand ein Chorpult, und ebenfalls an der rechten Seite stand das Schreibpult des Staatsanwalts. An der linken Seite, dem Schreibpult gegenüber, war im Hintergrunde das Tischchen des Sekretärs, und näher zum Publikum befand sich eine eichene gedrechselte Barriere; hinter derselben die noch nicht besetzte Bank der Angeklagten. Auf der rechten Seite, auf der Erhöhung, standen in zwei Rechen Stühle gleichfalls mit hohen Rückenlehnen, für die Geschworenen, hinten die Tische für die Advokaten. Alles das war im vorderen Teil des Saales, welcher durch die Barriere in zwei Stücke geteilt wurde. Der hintere Teil war ganz mit Bänken besetzt, welche, eine Reihe über der anderen, bis zur hinteren Wand reichten. In diesem hinteren Teil des Saales, auf den vorderen Bänken, saßen vier Frauen, in der Art wie Fabrikarbeiterinnen oder Zimmermädchen, und zwei Mannspersonen auch aus dem Arbeiterstande; sie schienen von der Großartigkeit der Saaleinrichtung erdrückt zu werden und flüsterten einander furchtsam zu.

Bald nach den Geschworenen trat der Gerichtskommissär mit seinem einseitigen Gang in die Mitte vor und schrie mit lauter Stimme, als ob er damit die Anwesenden erschrecken wolle:

»Das Gericht kommt!«

Alle standen auf, und auf die Erhöhung des Saales traten die Richter. Der Vorsitzende mit den Muskeln und dem schönen Backenbart. Dann das finstere Gerichtsmitglied mit goldener Brille.

Endlich trat dann das dritte Gerichtsmitglied heraus, derselbe Matwej Nikititsch, welcher sich immer verspätete; es war ein bärtiger Mann mit großen nach abwärts gezogenen guten Augen. Dieses Gerichtsmitglied litt an Magenkatarrh und hatte vom heutigen Morgen ab auf den Rat des Doktors ein neues Regime begonnen. Und dies neue Regime hatte ihn heute noch länger als gewöhnlich zu Hause aufgehalten.

Die Figuren des Vorsitzenden und der Mitglieder, die in ihren Uniformen mit den goldgestickten Kragen auf die Erhöhung heraustraten, waren sehr imposant. Sie fühlten das selber, und alle drei, wie über ihre eigene Herrlichkeit bestürzt, setzten sich, indes sie die Augen eilig und bescheiden sinken ließen, auf ihre geschnitzten Lehnstühle, hinter dem mit grünem Tuch bedeckten Tisch, auf welchem sich ein dreieckiges Instrument mit einem AdlerGerichtsspiegel, dreiseitiges Postament mit einem Adler und drei Ukasen Peters I., das in Rußland auf jedem Gerichtstische steht. Anm. d. Übers., ferner Glasvasen, in welchen Bonbons in den Büfetts zu sein pflegen, erhoben, und auf dem ein Tintenfaß stand und Schreibfedern, reines Papier und neu gespitzte Bleistifte verschiedener Größe sich befanden. Gleichzeitig mit den Richtern kam auch der Staatsanwalt.

Er ging ebenso eilig mit dem Portefeuille unterm Arm und ebenso mit dem Arm schwenkend zu seinem Platz beim Fenster hin und versank sogleich in das Lesen und Durchsehen der Akten, jede Minute benutzend, um sich zum Prozesse vorzubereiten. Dieser Staatsanwalt führte Anklage zum vierten Male. Er war sehr ehrgeizig und fest entschlossen, Karriere zu machen; daher hielt er es für notwendig, in allen Prozessen, wo er die öffentliche Anklage hatte, nach der Verurteilung zu streben. Das Wesentliche des Prozesses von der Vergiftung kannte er in allgemeinen Zügen, und den Plan der Rede hatte er schon gemacht; aber nötig waren ihm noch einige Daten, und eben diese schrieb er jetzt eilig aus den Akten aus.

Der Sekretär saß am entgegengesetzten Ende der Erhöhung, und nachdem er alle diejenigen Papiere, welche zum Vorlesen nötig sein konnten, bereit gelegt, sah er einen verbotenen Artikel durch, welchen er sich gestern verschafft und gelesen hatte. Er wünschte, über diesen Artikel mit dem Gerichtsmitglied mit dem großen Bart zu sprechen, das seine Ansichten teilte; und vor dem Gespräch wollte er sich mit dem Aufsatz vertraut machen.

 

Nachdem der Vorsitzende die Akten durchgesehen, stellte er einige Fragen an den Gerichtskommissär und an den Sekretär, und als er bejahende Antworten bekommen, ordnete er die Vorführung der Angeklagten an.

Sogleich öffnete sich die Tür hinter der Barriere, es kamen zwei Gendarmen mit Mützen und bloßen Säbeln, und hinter ihnen zuerst der eine Angeklagte, ein rothaariger Mann mit Sommersprossen, und zwei Frauen. Der Mann war mit einem für ihn zu weiten und zu langen Arrestantenschlafrock bekleidet. Als er den Gerichtssaal betrat, hielt er seine Arme mit den ausgespreizten Daumen mit Anstrengung an den Hosennähten, indem er durch diese Haltung die zu lang herabhängenden Ärmel zurückhielt. Ohne die Richter und die Zuschauer anzusehen, betrachtete er aufmerksam die Bank, welche er umging. Nachdem er sie umgangen, setzte er sich auf dieselbe akkurat am Rande, um den anderen Platz zu lassen; das Auge auf den Vorsitzenden geheftet, fing er an, die Muskeln der Wangen zu bewegen, als ob er etwas flüstere. Nach ihm trat eine nicht junge Frau herein, auch im Arrestantenschlafrock.

Der Kopf der Arrestantin war mit einem Arrestantenhalstuch umbunden, ihr Gesicht war grauweiß, ohne Augenbrauen und Wimpern, aber mit roten Augen. Diese Frau schien vollständig ruhig.

Als sie auf ihren Platz ging, hakte sich ihr Schlafrock an etwas an; sie löste ihn sorgfältig und ohne Eile ab und setzte sich.

Die dritte Angeklagte war die Maslowa.

Sobald sie hereintrat, wandten sich die Augen aller Männer, die im Saal waren, auf sie, und lange blieben sie auf ihrem weißen Gesicht mit den schwarzen glänzenden Augen und auf ihrem unter dem Schlafrock hervortretenden hohen Busen haften.

Der Vorsitzende wartete, bis die Angeklagten ihre Plätze eingenommen, und sobald die Maslowa sich hingesetzt, wandte er sich an den Sekretär.

Es begann die gewöhnliche Prozedur: das Zählen der Geschworenen, die Beratungen über die nichterschienenen, die Belegung derselben mit Strafen, die Entscheidung über diejenigen, welche um Urlaub gebeten, und die Komplettierung der fehlenden durch die vorrätigen. Dann legte der Vorsitzende die Lose zusammen und in die Glasvase hinein und fing an, nachdem er die gestickten Ärmel der Uniform ein wenig heraufgestreift und seine stark behaarten Arme entblößt hatte, mit den Gesten eines Taschenspielers ein Zettelchen nach dem andern herauszuziehen, zu entrollen und zu lesen. – Dann streifte der Vorsitzende die Ärmel hinunter und schlug dem Geistlichen vor, den Geschworenen den Eid abzunehmen.

Der alte Geistliche mit dem aufgedunsenen gelblich-blassen Gesicht, in dem zimmetfarbigen Talar, mit dem goldenen Kreuz auf der Brust und mit irgendwelchem kleinen Orden, der seitwärts am Talar angesteckt, kam an das Chorpult heran, welches unter dem Heiligenbilde stand.

Die Geschworenen standen auf und drängten sich in einem Haufen gegen das Chorpult.

»Ich bitte«, sagte der Geistliche, die Annäherung aller Geschworenen abwartend, indem er mit der geschwollenen Hand sein Kreuz auf der Brust betastete.

Als alle Geschworenen über die Stufen zur Erhöhung hinaufgegangen, neigte der Geistliche seinen kahlen grauen Kopf auf die Seite, fuhr mit ihm in das schmierige Loch des Epitrachilions,Stola. und nachdem er seine dünnen Haare geordnet, wandte er sich an die Geschworenen: »Heben Sie die rechte Hand auf, und legen Sie die Finger auf diese Weise zusammen«, sagte er langsam mit greisenhafter Stimme, indem er seine geschwollene Hand mit dem Grübchen auf jedem Finger erhob und diese Finger zu einer Priese zusammenlegte. »Jetzt sprechen Sie mir nach,« sagte er und fing an: »Ich verspreche und schwöre bei Gott dem Allmächtigen, vor seinem heiligen Evangelium und vor dem lebenschaffenden Kreuz des Herrn, daß ich in dem Prozeß, in welchem . . .« sprach er, mit Unterbrechungen nach jeder Phrase. »Lassen Sie Ihre Hand nicht sinken, halten Sie sie so,« wandte er sich an einen jungen Mann, der seine Hand sinken ließ, »daß ich in dem Prozeß, in welchem . . .« Der ansehnliche Herr mit dem Backenbart, der Oberst, der Kaufmann und die andern hielten ihre Hände mit den zusammengelegten Fingern, so wie es der Geistliche verlangte, und wie mit besonderem Vergnügen, sehr entschieden und hoch, die anderen aber – wie ungern und unbestimmt. Die einen sprachen die Worte zu laut, mit einer Art Ereiferung und mit einem Ausdruck, welcher besagte: aber ich werde und werde doch sprechen; die anderen wieder flüsterten nur, blieben hinter dem Geistlichen zurück, und dann wie erschrocken, holten sie zur unrechten Zeit nach; die einen hielten ihre Priesen mit herausfordernder Geste fest, als ob sie etwas fallen zu lassen fürchteten, die anderen ließen ihre Finger auseinander und taten sie wieder zusammen. Nach der Eidesleistung schlug der Vorsitzende den Geschworenen vor, einen Obmann zu wählen. Die Geschworenen standen auf und drängten sich in das Beratungszimmer durch, wo fast alle sogleich Zigaretten hervorholten und an zu rauchen fingen. Irgend jemand schlug als Obmann den ansehnlichen Herrn vor, und alle waren sogleich einverstanden; sie löschten die Zigarettenstümpfchen, warfen sie fort und kehrten in den Saal zurück. Der erwählte Obmann erklärte dem Vorsitzenden, daß er zum Obmann gewählt worden, und alle plazierten sich, einander über die Füße schreitend, wieder auf den Stühlen mit den hohen Rückenlehnen.

Alles ging ohne Aufenthalt, rasch und nicht ohne Feierlichkeit vor sich, und diese Regelmäßigkeit, Folgerichtigkeit und Feierlichkeit machte augenscheinlich den Teilnehmern Vergnügen und bestärkte in ihnen das Bewußtsein, daß sie eine ernste und wichtige öffentliche Handlung vollbrächten. Dieses Gefühl empfand auch Nechljudow.

Sobald die Geschworenen sich hingesetzt, hielt ihnen der Vorsitzende eine Rede über ihre Rechte, Pflichten und ihre Verantwortlichkeit.

Die Rechte der Geschworenen bestanden, seinen Worten nach, darin, daß sie an die Angeklagten durch den Vorsitzenden Fragen stellen durften, daß sie Papier und Bleistift haben und die corpora delicti besehen konnten. Ihre Pflicht aber bestand darin, daß sie nicht falsch, sondern gerecht richten sollten. Ihre Verantwortlichkeit bestand darin, daß sie im Falle der Nichtbeobachtung des Beratungsgeheimnisses und im Falle des in Verkehrtretens mit Fremden einer Strafe unterlägen.

Alle hörten mit ehrerbietiger Aufmerksamkeit zu. Der Kaufmann, der um sich herum einen Branntweingeruch verbreitete und ein geräuschvolles Aufstoßen zu unterdrücken suchte, nickte beifällig zu jedem Satz mit dem Kopfe.

 

Nach der Beendigung seiner Rede wandte sich der Vorsitzende zu einem der Angeklagten.

»Simon Kartinkin, stehen Sie auf«, sagte er.

Nervös sprang Simon auf; die Muskeln der Wangen fingen an, sich noch schneller zu bewegen.

»Ihr Name?«

»Simon Petrow Kartinkin«, sagte er rasch her, mit knisternder Stimme, augenscheinlich im voraus zur Antwort vorbereitet.

»Ihr Stand?«

»Bauer.«

»Welches Gouvernement? Welcher Kreis?«

»Gouvernement Tula, Kreis Krapivinsk, Gemeinde Kupjanski, Pfarrdorf Borok.«

»Wie alt sind Sie?«

»Im vierunddreißigsten: geboren eintausendachthundert . . .«

»Welcher Konfession?«

»Vom russischen orthodoxen Glauben.«

»Verheiratet?«

»Durchaus nicht.«

»Womit beschäftigen Sie sich?«

»Wir waren auf dem Korridor im Gasthaus ›Mauritanien‹ beschäftigt.«

»Waren Sie je früher vor Gericht?«

»Nie war ich vor Gericht – denn da wir früher lebten . . .«

»Vor Gericht waren Sie nicht?«

»Gott bewahre, nie.«

»Eine Kopie der Anklageakte haben Sie erhalten?«

»Haben wir erhalten.«

»Setzen Sie sich. Euphemia Iwanowna Botschkowa«, wandte sich der Vorsitzende an die folgende Angeklagte.

Aber Simon fuhr fort zu stehen und versperrte der Botschkowa den Weg.

»Kartinkin, setzen Sie sich!« Kartinkin blieb stehen.

»Kartinkin, setzen Sie sich!« Aber Kartinkin blieb immer noch stehen und setzte sich erst, als der hinzugelaufene Gerichtskommissär, während er den Kopf auf die Seite neigte und die Augen unnatürlich weit öffnete, mit tragischer Stimme zu ihm sagte: »Sitzen! Sitzen!«

Kartinkin setzte sich eben so rasch, wie er aufgestanden war, und den Rock zusammenschlagend fing er an, wieder lautlos die Wangen zu bewegen.

»Wie ist Ihr Name?« Mit einem Seufzer der Ermüdung wandte sich der Vorsitzende zu der zweiten Angeklagten, ohne sie anzublicken, indem er in einem vor ihm liegenden Papier nachsah. Die Beschäftigung war für den Vorsitzenden eine so gewohnte, daß er zur Beschleunigung des Prozeßverfahrens zwei Dinge auf einmal tun konnte.

Die Botschkowa war dreiundvierzig Jahre alt, ihr Stand: Kleinbürgerin von Kolomna, ihre Beschäftigung: Korridormädchen in demselben Gasthaus »Mauritanien«. Vor dem Gericht und in Untersuchung war sie noch nicht gewesen, die Kopie der Anklageakte hatte sie erhalten. Ihre Antworten gab die Botschkowa außerordentlich keck und mit solchen Intonationen, als ob sie zu jeder Antwort hinzusetzte: »Jawohl!«

»Ihr Name?« wandte sich, irgendwie besonders entgegenkommend der weiberfreundliche Vorsitzende zu der dritten Angeklagten. »Man muß aufstehen«, fügte er weich und freundlich hinzu, als er bemerkte, daß sie noch saß.

Die Maslowa stand mit rascher Bewegung auf, und mit einem Ausdruck von Bereitwilligkeit, ihren hohen Busen herausdrückend, sah sie, ohne zu antworten, gerade in das Gesicht des Vorsitzenden mit ihren lächelnden, ein wenig schielenden schwarzen Augen.

»Zu nennen wie?«

»Ljubowj«, sagte sie rasch.

Inzwischen blickte Nechljudow, den Zwicker auf der Nase, die Angeklagten an, wie man sie der Reihe nach verhörte. »Aber – das kann ja nicht sein«, dachte er, ohne die Augen vom Gesichte der Angeklagten abzuwenden. »Aber wieso denn Ljubowj?« dachte er, als er ihre Antwort hörte.

Der Vorsitzende wollte weiter fragen, aber das Gerichtsmitglied mit der Brille, das ihm ärgerlich etwas zugeflüstert hatte, hielt ihn auf. Der Vorsitzende machte mit dem Kopfe ein zustimmendes Zeichen und wandte sich an die Angeklagte.

»Wieso Ljubowj?« sagte er: »Sie sind anders eingeschrieben.« Die Angeklagte schwieg.

»Ich frage Sie, wie ist Ihr eigentlicher Name?«

»Wie sind Sie getauft?« fragte das ärgerliche Mitglied.

»Früher nannte man mich Katharina.« »Aber das kann ja nicht sein«, fuhr Nechljudow fort, mit sich zu sprechen, und inzwischen wußte er schon ohne jeden Zweifel, daß es sie war, das nämliche Mädchen, die Pflegetochter, das Zimmermädchen, in welches er eine Zeitlang verliebt gewesen, ja geradezu verliebt; das er dann in einem tollen Rausch verführt und verlassen hatte und dessen er nachher nie gedacht, weil diese Erinnerung zu peinlich war, zu offenbar ihn anklagte und ihm zeigte, daß er, der auf seine Korrektheit so stolz war, nicht nur nicht korrekt, sondern geradezu niederträchtig an diesem Weibe gehandelt hatte.

Ja, sie war es. Er sah jetzt klar jene ausschließliche, geheimnisvolle Besonderheit, die jedes Gesicht von einem andern unterscheidet, die es zu einem eigentümlichen, einzigen, unwiederholbaren macht.

»So hätten Sie auch sagen sollen«, bemerkte wiederum besonders weich der Vorsitzende.

»Der Vatersname – – wie?«

»Ich bin unehelich«, sagte die Maslowa.

»Dennoch – nach dem Taufvater – wie nannte man Sie?«

»Michajlowa.«

»Und was hat sie verüben können?« fuhr Nechljudow inzwischen fort zu denken, kaum Atem holend.

»Wie ist Ihr Familienname? Ihr Zuname?« fuhr der Vorsitzende fort.

»Man hat mich nach der Mutter ›Maslowa‹ geschrieben.«

»Stand?«

»Kleinbürgerin.«

»Rechtgläubiger Konfession?«

»Rechtgläubig.«

»Beschäftigung? Womit haben Sie sich beschäftigt?«

Die Maslowa schwieg.

»Womit haben Sie sich beschäftigt?« wiederholte der Vorsitzende.

»In der Anstalt war ich«, sagte sie.

»In welcher Anstalt«, fragte streng das Mitglied mit der Brille.

»Sie wissen selber in welcher«, sagte die Maslowa, lächelte, und sogleich, nach raschem Umblicken, richtete sie ihr Auge wieder gerade auf den Vorsitzenden.

Es war etwas so Ungewöhnliches in dem Ausdruck ihres Gesichts, etwas so Schreckliches, so Klägliches in der Bedeutung der von ihr gesprochenen Worte, in diesem Lächeln und in diesem raschen Blick, den sie dabei im Saal herumwarf, daß der Vorsitzende seine Augen niederschlug; auf eine Minute entstand im Saale vollständige Stille. Der Vorsitzende erhob den Kopf und fuhr mit Fragen fort.

»Vor Gericht und in Untersuchung waren Sie noch nicht?«

»War ich nicht«, sagte die Maslowa leise, seufzend.

»Die Kopie der Anklageakte haben Sie erhalten?«

»Ich habe sie erhalten.«

»Setzen Sie sich.«

Die Angeklagte hob mit jener Bewegung, mit der die aufgeputzten Frauen ihre Schleppe in Ordnung bringen, den Rock hinten ein wenig auf und setzte sich hin, die kleinen weißen Hände in den Ärmeln des Schlafrocks, ohne die Augen von dem Vorsitzenden abzuwenden.

Es begann die Überzählung der Zeugen, die Entfernung derselben, die Entscheidung über den ärztlichen Experten und die Einladung desselben in den Sitzungssaal.

Dann stand der Sekretär auf und fing an, die Anklageakte zu verlesen.

Die Richter stützten die Ellenbogen bald auf einen, bald auf den anderen Lehnstuhlarm, bald auf den Tisch, bald auf die Rückenlehne, bald schlossen sie die Augen, bald machten sie sie auf und flüsterten miteinander.

Unter den Angeklagten bewegte Kartinkin ohne Aufhören die Wangen; die Botschkowa saß vollständig ruhig und gerade, nur daß sie von Zeit zu Zeit ihren Kopf unter dem Halstuch kratzte.

Die Maslowa saß bald unbeweglich, indem sie dem Vorleser zuhörte und gerade auf ihn sah, bald fuhr sie zusammen und wollte gleichsam erwidern, ward rot und seufzte dann schwer, änderte die Lage der Hände, und wieder sich umblickend, richtete sie ihre Augen auf den Vorleser.

Nechljudow saß in der ersten Reihe auf seinem hohen Stuhle, der zweite vom Rande, und ohne den Zwicker abzunehmen, sah er auf die Maslowa, und in seiner Seele ging eine komplizierte und qualvolle Arbeit vor.

 

Die Anklageakte lautete folgendermaßen:

Im Jahre 188. den 17. Januar wurde von dem Besitzer des in der Stadt befindlichen Gasthauses »Mauritanien« der in seinem Etablissement erfolgte plötzliche Tod des dort abgestiegenen sibirischen Kaufmanns der zweiten Gilde Therapont Smeljkow bei der Polizei angezeigt. Nach dem Zeugnis des Arztes des vierten Bezirks erfolgte der Tod des Smeljkow am Herzschlag, hervorgerufen durch übermäßigen Genuß geistiger Getränke, und die Leiche Smeljkows ward am dritten Tage der Erde übergeben. Unterdessen kehrte am vierten Tage nach Smeljkows Tode sein Landsmann und Kamerad, der sibirische Kaufmann Timochin, aus Petersburg zurück, welcher, nachdem er vom Tode seines Kameraden Smeljkow und von den Umständen, unter welchen der Tod eingetreten, erfahren hatte, seinen Verdacht anzeigte, daß der Tod Smeljkows kein natürlicher gewesen, sondern daß er von übelgesinnten Leuten vergiftet worden, die das in Smeljkows Besitz befindliche und bei der Aufnahme seines Vermögens nicht mehr vorgefundene Geld und einen Diamantring entwendet hatten. Infolgedessen wurde eine Untersuchung angeordnet, welche folgendes an den Tag gebracht hat: Erstens die Tatsache, die auch dem Besitzer des Gasthauses »Mauritanien« und dem Kommis des Kaufmannes Starikow, mit dem Smeljkow nach seiner Ankunft in der Stadt zu schaffen hatte, bekannt war, daß in Smeljkows Besitz 3800 Rubel Geld sein mußten, welches er aus der Bank erhalten hatte; indessen aber wurden in dem, nach dem Tode Smeljkows versiegelten Koffer und in seiner Brieftasche nur 312 Rubel 16 Kopeken gefunden. Zweitens, daß Smeljkow den ganzen seinem Tode vorangehenden Tag und die ganze Nacht mit einer Prostituierten Ljubka, die zweimal bei ihm im Zimmer gewesen, zugebracht hatte. Und drittens, daß von dieser Prostituierten der Diamantring, welcher dem Smeljkow gehörte, ihrer Wirtin verkauft worden war. Viertens, daß das Korridormädchen Euphemia Botschkowa am andern Tage nach dem Tode des Kaufmanns Smeljkow, in die Kommerzbank 1800 Rubel auf laufende Rechnung gebracht hatte. Fünftens, daß, nach Aussage der Prostituierten Ljubka, der Korridorbediente Simon Kartinkin der Prostituierten Ljubka ein Pulver übergab, indem er ihr riet, das Pulver in Wein zu schütten und dem Kaufmann Smeljkow zu geben, was die Prostituierte Ljubka, ihrem eigenen Geständnis nach, auch ausgeführt hat.

Die als Prostituierte Angeklagte, Ljubka genannt, sagte aus, daß sie während der Anwesenheit des Kaufmanns Smeljkow in dem Toleranz-Hause, in welchem sie, nach ihrem Ausdruck, arbeitete, von dem Kaufmann Smeljkow in der Tat in das Zimmer des Gasthauses »Mauritanien« geschickt worden, um dem Kaufmann sein Geld zu holen, und daß, nachdem sie dort mit dem ihr übergebenen Schlüssel den Koffer des Kaufmanns geöffnet, sie daraus 40 Rubel, wie ihr befohlen worden, mitgenommen, mehr Geld aber nicht genommen habe, wofür als Zeugen Simon Kartinkin und Euphemia Botschkowa dienen können, in deren Anwesenheit sie den Koffer auf- und zugeschlossen und das Geld mitgenommen hatte.

Was aber die Vergiftung Smeljkows anbelangt, so hat die Prostituierte Ljubow ausgesagt, daß sie bei ihrem zweiten Kommen in das Zimmer des Kaufmanns Smeljkow auf Anraten des Simon Kartinkin ihm in der Tat in Kognak irgendwelches Pulver zu trinken gegeben, das sie für einschläfernd hielt, damit der Kaufmann einschliefe und sie eher gehen ließe, daß sie das Geld aber nicht genommen habe, daß den Ring Smeljkow ihr selber geschenkt habe, nachdem er sie geschlagen und sie habe von ihm wegfahren wollen. Die als Angeklagten vom Untersuchungsrichter Verhörten, Euphemia Botschkowa und Simon Kartinkin, sagten folgendes aus: Euphemia Botschkowa sagte aus, daß sie nichts von dem verlorengegangenen Gelde wisse, und daß sie in das Zimmer des Kaufmanns nicht hineingegangen, sondern daß Ljubka dort allein gewirtschaftet habe. Und daß, wenn dem Kaufmann etwas entwendet worden, Ljubka dies habe begehen müssen, als sie mit des Kaufmanns Schlüssel des Geldes wegen angefahren gekommen sei.

An dieser Stelle der Vorlesung erzitterte die Maslowa und blickte sich mit geöffnetem Munde nach der Botschkowa um.

Als aber der Euphemia Botschkowa ihr Bankschein im Werte von 1800 Rubeln vorgezeigt wurde, fuhr der Sekretär fort zu lesen, und als dieselbe gefragt wurde, woher sie solches Geld habe, sagte sie aus, daß dieses Geld im Laufe der achtzehn Jahre von ihr mit Simon zusammen, welchen sie zu heiraten im Begriff war, verdient worden.

Der als Angeklagter verhörte Simon Kartinkin hat in seiner ersten Aussage gestanden, daß er mit der Botschkowa auf Anraten der Maslowa, die aus dem Toleranz-Hause mit dem Schlüssel angefahren kam, das Geld entwendet und es zwischen sich selbst, der Maslowa und der Botschkowa geteilt habe; er hat auch gestanden, daß er der Maslowa zur Einschläferung des Kaufmanns ein Pulver gegeben; in einer abermaligen Aussage aber hat er seine Teilnahme an der Entwendung des Geldes und die Übergabe des Pulvers an die Maslowa geleugnet, indem er alles dessen die Maslowa beschuldigte.

Vom Gelde aber, welches von der Botschkowa in die Bank eingelegt worden, sagte er ebenso aus, wie diese, nämlich daß sie dieses Geld mit Kartinkin zusammen durch achtzehnjährigen Dienst von Herren als Trinkgeld für die Bedienung erworben.

Zur Aufklärung des Tatbestandes wurde die Untersuchung der Leiche des Kaufmanns Smeljkow für notwendig befunden, und dazu wurde eine Anordnung wegen Ausgrabung des Leichnams Smeljkows und wegen Untersuchung des Inhaltes seiner Eingeweide, sowie der Veränderungen, die im Organismus stattgefunden, gemacht.

Die Untersuchung der Eingeweide hat gezeigt, daß der Tod des Kaufmanns Smeljkow in der Tat durch Vergiftung stattgefunden. Hierauf folgten in der Anklageakte die Beschreibungen der Konfrontationen, die Aussagen der Zeugen.

Der Schluß der Anklageakte war der folgende: Der Kaufmann der zweiten Gilde, Smeljkow, der Trunkenheit und Liederlichkeit ergeben, schickte, nachdem er mit der Prostituierten, Ljubka genannt, im Toleranz-Hause von Kitajewa in ein Verhältnis getreten und für dieselbe eine Leidenschaft gefaßt, am 17. Januar 188., während er in dem Toleranz-Hause von Kitajewa war, mit seinem Schlüssel vom Koffer in das von ihm bewohnte Zimmer die obengenannte Prostituierte Ljubka, damit sie dort aus seinem Koffer ihm das zur Bewirtung nötige Geld, 40 Rubel, hole. Im Gasthaus angekommen, trat Katharina Maslowa, während sie dieses Geld herausnahm, mit der Botschkowa und Kartinkin in ein Einverständnis, alles Geld und die kostbaren Sachen des Kaufmanns Smeljkow zu entwenden und dieselben untereinander zu teilen, was von ihnen auch ausgeführt worden ist – (wieder erzitterte die Maslowa, sie sprang fast auf, wurde sogar purpurrot) – dabei wurde der Maslowa der Diamantring gegeben, fuhr der Sekretär fort zu lesen, und wahrscheinlich eine kleine Summe Geldes, die von ihr entweder verborgen oder verloren worden ist, weil die Maslowa in dieser Nacht in betrunkenem Zustande war. Um aber die Spuren des Verbrechens zu verbergen, wurde von den Mitschuldigen beschlossen, den Kaufmann Smeljkow wieder in das Gasthaus heranzuziehen und ihn dort mit dem bei Kartinkin befindlichen Arsenik zu vergiften. Zu diesem Zweck war die Maslowa in das Toleranz-Haus zurückgekehrt, und dort beredete sie den Kaufmann Smeljkow, mit ihr in das Gasthaus »Mauritanien« zurückzufahren. Nachdem aber Smeljkow in das Gasthaus zurückgekehrt war und die Maslowa von Kartinkin das von ihm gebrachte Pulver erhalten, schüttete sie es in den Kognak, und gab diesen Kognak dem Smeljkow zu trinken, wodurch der Tod Smeljkows auch wirklich erfolgte.

In Anbetracht alles oben Dargelegten werden der Bauer des Dorfes Borki, Simon Kartinkin, 33 Jahre alt, die Kleinbürgerin Euphemia Botschkowa, 43 Jahre alt, und die Kleinbürgerin Katharina Michajlowa Maslowa, 27 Jahre alt, dahin angeklagt, daß sie gemeinschaftlich am 17. Januar im Jahre 188., nachdem sie das Geld des Kaufmanns Smeljkow, in Summa 2500 Rubel entwendet, und um die Spuren des Verbrechens zu verbergen, den Plan gefaßt, ihn des Lebens zu berauben, dem Kaufmann Smeljkow Gift zu trinken gegeben haben, wodurch dann auch Smeljkows Tod erfolgte. –

Dieses Verbrechen ist im Artikel 1455 des Strafgesetzbuches vorgesehen. Infolgedessen und auf Grund des Artikels so und so des Reglements des Kriminalverfahrens unterliegen der Bauer Simon Kartinkin, Euphemia Botschkowa und die Kleinbürgerin Katharina Maslowa dem Urteil des Kreisgerichts mit Teilnahme der Geschworenen.

So beendete der Sekretär die Verlesung der langen Anklageakte, und nachdem er die Bogen zusammengelegt, setzte er sich, mit beiden Händen seine langen Haare in Ordnung bringend, auf seinen Platz. Alle seufzten erleichtert im angenehmen Bewußtsein dessen, daß jetzt die Untersuchung begonnen habe, und gleich alles klar sein und die Gerechtigkeit befriedigt sein werde. Nechljudow allein empfand dieses Gefühl nicht: er war überwältigt von Entsetzen über das, was jene Maslowa, die er von zehn Jahren als unschuldiges und reizendes Mädchen gekannt, hatte begehen können.

 

Als die Vorlesung der Anklageakte zu Ende war, wandte sich der Vorsitzende, nach einer Beratung mit den Mitgliedern, zu dem Angeklagten Kartinkin mit einem Ausdruck, welcher offenbar sagte: jetzt werden wir schon alles und sicher und auf die ausführlichste Weise erfahren.

»Bauer Simon Kartinkin«, fing er an.

Simon Kartinkin stand auf, die Hände an der Hosennaht und mit dem ganzen Körper vorwärtsstrebend, während er, ohne aufzuhören, lautlos die Wangen bewegte.

»Sie sind angeklagt, am 17. Januar 188. in Gemeinschaft mit Euphemia Botschkowa und Katharina Maslowa, aus dem Koffer des Kaufmanns Smeljkow ihm gehöriges Geld entwendet zu haben; dann haben Sie Arsenik mitgebracht und Katharina Maslowa beredet, das Gift dem Kaufmann Smeljkow in Kognak zu trinken zu geben, wodurch der Tod Smeljkows erfolgte. Bekennen Sie sich schuldig?« sagte er her und neigte sich nach rechts.

»Durchaus unmöglich, denn unsere Sache ist, die Gäste zu bedienen . . .«

»Sie werden das später sagen. Bekennen Sie sich schuldig?«

»Durchaus nicht. Ich habe nur . . .«

»Später werden Sie das sagen. Bekennen Sie sich schuldig?« wiederholte ruhig aber fest der Vorsitzende.

»Das kann ich nicht tun, weil eben . . .«

Wieder sprang der Gerichtskommissär zu Kartinkin heran und hieß ihn mit tragischer Stimme aufhören.

Der Vorsitzende legte mit einem Ausdruck, als ob diese Sache jetzt zu Ende sei, den Ellbogen des Armes, in welchem er das Papier hielt, auf eine andere Stelle und wandte sich an Euphemia Botschkowa.

»Euphemia Botschkowa, Sie sind angeklagt, am 17. Januar 188. im Gasthause ›Mauritanien‹ gemeinschaftlich mit Simon Kartinkin und Katharina Maslowa dem Kaufmann Smeljkow aus seinem Koffer Geld und einen Ring entwendet und das Entwendete mit einander geteilt zu haben; ferner haben Sie zur Verbergung Ihres Verbrechens den Kaufmann Smeljkow Gift trinken lassen, von welchem sein Tod erfolgte. Bekennen Sie sich schuldig?«

»Schuldig bin ich in gar nichts«, fing die Angeklagte flink und sicher zu sprechen an. »Ich bin nicht einmal in seine Nummer hineingegangen. Aber so gut wie diese Unflätige hineinging, so gut hat sie auch die Sache getan.«

»Sie werden das später sagen«, fiel wieder ebenso weich und sicher der Vorsitzende ein.

»Also bekennen Sie sich nicht schuldig?«

»Nicht ich habe das Geld genommen, und nicht ich habe ihm zu trinken gegeben; ich bin ja nicht einmal in der Nummer gewesen. Wenn ich da gewesen wäre, würde ich sie hinausgeworfen haben.«

»Sie bekennen sich nicht schuldig?«

»Nie.«

»Sehr gut.«

»Katharina Maslowa,« begann der Vorsitzende, sich an die dritte Angeklagte wendend, »Sie sind angeklagt, aus dem Toleranz-Hause in die Nummer des Gasthauses ›Mauritanien‹ mit dem Schlüssel des Kaufmanns Smeljkow gekommen zu sein, Geld und einen Fingerring entwendet zu haben,« – sprach er herunter wie eine auswendig gelernte Lektion, indem er sein Ohr unterdessen zu dem Mitglied links neigte, das sagte, nach dem Register der corpora delicti fehle ein Gläschen; ». . . Geld und einen Fingerring entwendet zu haben« wiederholte der Vorsitzende, »und nachdem Sie das Entwendete geteilt haben und dann wieder mit dem Kaufmann Smeljkow in das Gasthaus ›Mauritanien‹ gekommen sind, haben Sie dem Smeljkow Cognak mit Gift zu trinken gegeben, von welchem sein Tod erfolgte. Bekennen Sie sich schuldig?«

»Gar nicht schuldig bin ich,« fing sie rasch zu sprechen an, »wie ich früher gesagt habe, so sage ich auch jetzt, ich habe nichts genommen, nichts genommen und nichts genommen! Nichts habe ich genommen, den Ring aber hat er selber mir gegeben.«

»Sie bekennen sich nicht der Entwendung der 2500 Rubel Geld schuldig?« sagte der Vorsitzende.

»Ich sage, nichts habe ich genommen, außer 40 Rubeln.«

»Nun, aber dessen, daß Sie dem Kaufmann Smeljkow Pulver im Cognak gegeben haben, bekennen Sie sich schuldig?«

»Ich bekenne es. Nur dachte ich, wie man mir gesagt hat, daß es einschläfernd sei, daß danach nichts passieren würde. So etwas glaubte ich nicht und wollte es nicht. Bei Gott, sage ich, ich wollte es nicht.«

»Also, Sie bekennen sich nicht schuldig der Entwendung des Geldes und Fingerringes des Kaufmanns Smeljkow«, sagte der Vorsitzende. »Aber Sie erkennen an, daß Sie ihm Pulver gegeben haben?«

»Das erkenne ich also an, nur habe ich gedacht, das Pulver sei einschläfernd. Ich habe es ihm gegeben, damit er nur einschliefe. Ich wollte es nicht und glaubte es nicht.«

»Sehr gut,« sagte der Vorsitzende, augenscheinlich mit den erzielten Resultaten zufrieden. »Dann erzählen Sie, wie die Sache war«, sagte er, sich gegen die Rückenlehne stützend und beide Arme auf den Tisch legend. »Erzählen Sie alles, wie es war, Sie können durch ein aufrichtiges Geständnis Ihre Lage erleichtern.«

Die Maslowa schwieg, indem sie immer ebenso gerade auf den Vorsitzenden sah.

»Erzählen Sie, wie die Sache war.«

»Wie es war?« fing die Maslowa plötzlich rasch an. »Ich kam in das Gasthaus gefahren, man hat mich in die Nummer geführt. Dort war Er und schon sehr betrunken.« Sie sprach das Wort ›Er‹ mit einem besonderen Ausdruck des Schreckens, indem sie ihre Augen groß machte. »Ich wollte wegfahren, Er hat es nicht zugelassen . . .«

Sie schwieg als ob sie den Faden verlöre, oder sich an etwas anderes erinnere.

»Nun, aber dann?«

»Was denn dann? Eine Zeitlang blieb ich, dann aber fuhr ich nach Hause.«

Um diese Zeit erhob sich zur Hälfte der Staatsanwalt, indem er sich affektiert auf einen Ellenbogen stützte.

»Sie wollen eine Frage tun«, sagte der Vorsitzende, und auf die bejahende Antwort des Staatsanwalts zeigte er demselben mit einer Geste an, daß er fragen könne.

»Ich mochte die Frage vorlegen, ob die Angeklagte früher mit Simon Kartinkin bekannt war?« sagte der Staatsanwalt, ohne die Maslowa anzusehen. Und nach der Frage preßte er die Lippen zusammen und machte ein finsteres Gesicht.

Der Vorsitzende wiederholte die Frage, die Maslowa starrte den Staatsanwalt erschrocken an.

»Mit Simon? Ich war es«, sagte sie.

»Ich möchte jetzt wissen, worin diese Bekanntschaft der Angeklagten mit Kartinkin bestand? Ob sie einander oft gesehen haben?«

»Worin die Bekanntschaft bestand? Er lud mich zu den Gästen ein, aber eine Bekanntschaft war es nicht«, antwortete die Maslowa, indem sie ihre Augen unruhig vom Staatsanwalt zu dem Vorsitzenden und zurück wandern ließ.

»Ich möchte wissen, warum Kartinkin zu den Gästen ausschließlich die Maslowa einlud und keine andern Mädchen«, sagte, die Augen schließend, aber mit einem leichten schlauen Mephistolächeln der Staatsanwalt.

»Ich weiß es nicht. Wie kann ich das wissen?« antwortete die Maslowa, erschrocken um sich sehend, und ihr Auge blieb für einen Moment auf Nechljudow haften. »Wen er wollte, den lud er ein.«

»Hat sie mich denn wirklich erkannt?« dachte Nechljudow mit Entsetzen, indem er fühlte, wie das Blut ihm ins Gesicht strömte; aber die Maslowa, ohne ihn von den andern zu unterscheiden, wandte sich sogleich ab und starrte wieder mit erschrockenem Ausdruck den Staatsanwalt an.

»Die Angeklagte leugnet also, daß sie irgend welch nahes Verhältnis zu Kartinkin hatte. Sehr gut. Weiter habe ich nichts zu fragen.«

Der Staatsanwalt nahm sogleich den Ellbogen vom Schreibtisch weg und begann etwas aufzuschreiben. In Wirklichkeit schrieb er nichts auf, er fuhr nur mit der Feder den Buchstaben seines Zettels nach.

Der Vorsitzende wandte sich nicht sogleich an die Angeklagte, weil er um diese Zeit das Mitglied mit der Brille fragte, ob er mit der Aufstellung der Fragen einverstanden sei, welche schon im voraus vorbereitet und aufgeschrieben worden.

»Was war denn weiter?« fragte der Vorsitzende sodann.

»Ich kam nach Hause,« fuhr die Maslowa schon etwas kühner fort, indem sie allein den Vorsitzenden ansah, »ich gab das Geld der Wirtin ab und legte mich zu Bette. Eben, da ich eingeschlafen bin, weckt mich unser Mädchen Berta. ›Geh', dein Kaufmann ist wieder da.‹ Ich wollte nicht hinausgehen, aber die Madame hat es befohlen. Da nun gab er,« sie sprach dieses Wort ›Er‹ wieder mit sichtbarem Schrecken aus, »er unsern Mädchen immer Wein zu trinken; dann wollte er noch Wein holen lassen, aber all sein Geld war schon ausgegeben. Die Wirtin wollte ihm nicht trauen. Dann schickte er mich zu sich in die Nummer. Und er sagte, wo das Geld sei, und wieviel zu nehmen sei. Und ich fuhr.«

Der Vorsitzende und das Mitglied links flüsterten um diese Zeit einander zu, und der Vorsitzende hörte nicht, was die Maslowa sagte, aber um zu zeigen, daß er alles gehört, wiederholte er ihre letzten Worte.

»Sie fuhren. Nun, und was dann?« sagte er.

»Ich kam angefahren, tat alles, wie er geheißen hatte,« sagte die Maslowa, »ging in die Nummer. Nicht allein ging ich in die Nummer; ich rief Simon Michajlowitsch und sie«, sagte sie, auf die Botschkowa zeigend.

»Sie lügt, nicht einmal gedacht habe ich daran, hineinzugehen . . .« wollte die Botschkowa anfangen, aber sie wurde unterbrochen.

»In ihrem Beisein nahm ich vier rote Scheinchen . . .«Ein roter Schein = 10 Rubel. fuhr die Maslowa, das Gesicht verziehend, fort, ohne die Botschkowa anzusehen.

»Nun aber, hat die Angeklagte nicht bemerkt, als sie 40 Rubel herausnahm, wie viel Geld dort lag?« fragte wieder der Staatsanwalt. Die Maslowa fuhr zusammen, als der Staatsanwalt sich an sie wandte; sie wußte nicht wie und was, aber sie fühlte, daß er Böses gegen sie im Sinne habe.

»Ich habe nicht gezählt, habe nur gesehen, daß da Hundertrubelscheine waren.«

»Die Angeklagte hat Hundertrubelscheine gesehen – mehr habe ich nicht zu fragen.«

»Nun, wie denn? Haben Sie das Geld mitgebracht?« fuhr der Vorsitzende fort zu fragen, indem er auf die Uhr sah.

»Ich habe es mitgebracht.«

»Nun, und dann?« fragte der Vorsitzende.

»Dann aber hat mich Er wieder mit sich genommen«, sagte die Maslowa.

»Nun, und wie haben Sie ihm denn das Pulver in Cognak gegeben?« fragte der Vorsitzende.

»Wie hab' ich es gegeben? Ich hab es in Cognak hineingeschüttet und ihm gegeben.«

»Warum denn haben Sie es ihm gegeben?«

Sie seufzte schwer und tief, ohne zu antworten.

»Er ließ mich immer nicht weg,« sagte sie nach einigem Schweigen, »ich wurde bei ihm totmüde, ging in den Korridor hinaus und sagte dem Simon Michajlowitsch, wenn er mich nur wegließe. Müde bin ich. – Simon Michajlowitsch aber sagt: Und wir sind seiner auch überdrüssig. Wir wollen ihm ein einschläferndes Pulver geben; er wird einschlafen, dann gehst du weg. Ich sage: gut. Ich habe gemeint, daß es ein unschädliches Pulver sei. Und er gab mir ein Papierchen. Ich kam hinein, er aber lag hinter dem Verschlag, und sogleich hieß er mich ihm Cognak geben. Ich nahm vom Tische eine Flasche fine Champagne, goß zwei Gläser voll – mir und ihm; in sein Glas aber schüttete ich das Pulver hinein und gab es ihm. So dachte ich ja eben . . . Würde ich es ihm denn gegeben haben, wenn ich das gewußt hätte?«

»Nun, wie aber geriet der Fingerring in Ihren Besitz?« fragte der Vorsitzende.

»Den Fingerring hat er mir selber geschenkt.«

»Wann denn hat er ihn Ihnen geschenkt?«

»Als ich mit ihm in die Nummer kam, wollte ich weggehen, er aber schlug mich an den Kopf und zerbrach mir den Kamm. Ich wurde böse und wollte wegfahren. Er nahm den Ring vom Finger und schenkte ihn mir, damit ich nicht wegliefe«, sagte sie.

Um diese Zeit erhob sich der Staatsanwalt wieder ein wenig; immer mit demselben verstellt-naiven Aussehen bat er um Erlaubnis, noch einige Fragen tun zu dürfen; nachdem er die Erlaubnis bekommen, neigte er seinen Kopf über den gestickten Kragen und fragte:

»Ich mochte wissen, wieviel Zeit die Angeklagte im Zimmer des Kaufmanns Smeljkow zugebracht hat?«

Wieder überfiel die Maslowa Furcht, und unruhig mit den Augen vom Staatsanwalt zum Vorsitzenden schweifend, sagte sie eilig her:

»Ich erinnere mich nicht, wie lange Zeit.«

»Nun, aber erinnert sich die Angeklagte nicht, ob sie in dem Gasthause irgendwo hineingegangen, nachdem sie von dem Kaufmann Smeljkow fortgegangen war?«

Maslowa dachte ein wenig nach. »In die Nummer daneben, in das leere Zimmer bin ich gegangen.«

»Wozu sind Sie dort hineingegangen?« sagte der Staatsanwalt hingerissen und sich direkt an sie wendend.

»Ich bin hineingegangen, um mich zurechtzumachen, und ich wartete auf einen Mietkutscher.«

»Und Kartinkin, war der mit der Angeklagten im Zimmer oder nicht?«

»Er ist auch hereingekommen.«

»Warum ist er denn hereingekommen?«

»Von dem Kaufmann blieb fine Champagne übrig, wir haben ihn zusammen ausgetrunken.«

»So, ihr habt ihn zusammen ausgetrunken? Sehr gut. Und hat die Angeklagte ein Gespräch mit Simon gehabt und worüber?«

Die Maslowa runzelte plötzlich die Stirn, wurde purpurrot und sagte rasch:

»Was habe ich gesprochen? Aber mehr weiß ich nicht, machen Sie mit mir, was Sie wollen. Ich bin unschuldig, und das ist alles. Nichts habe ich gesprochen. Was war, das hab' ich alles erzählt.«

»Mehr habe ich nicht zu fragen«, sagte der Staatsanwalt zu dem Vorsitzenden. Und mit affektiert aufgezogenen Schultern fing er an, in den Konspekt seiner Rede rasch das eigene Geständnis der Angeklagten einzutragen, daß sie mit Simon in die leere Nummer hineingegangen sei.

Es trat Schweigen ein.

»Sie haben nichts mehr zu sagen?«

»Ich habe alles gesagt«, erwiderte sie seufzend und setzte sich.

Gleich darauf schrieb der Vorsitzende etwas auf sein Papier, und nachdem er die Mitteilung, welche das Mitglied von links ihm zugeflüstert, angehört, kündigte er für zehn Minuten eine Unterbrechung der Sitzung an; eilig stand er auf und ging aus dem Saal.

Die Beratung zwischen dem Vorsitzenden und dem Mitglied von links, dem hohen, bärtigen, mit den großen, guten Augen, fand statt darüber, daß dieses Mitglied eine leichte Magenstörung empfand und wünschte, sich eine Massage zu machen und Tropfen zu nehmen. Eben das hat er dem Vorsitzenden mitgeteilt, und auf seine Bitte wurde die Unterbrechung gemacht. Gleich nach den Richtern erhoben sich auch die Geschworenen, die Advokaten, die Zeugen, und im Bewußtsein des angenehmen Gefühls, daß schon ein Teil der wichtigen Sache vollbracht sei, fingen sie an, sich hin und her zu bewegen.

Nechljudow ging in das Zimmer der Geschworenen hinaus und setzte sich dort ans Fenster.

 

Ja, es war Katjuscha.

Die Beziehungen Nechljudows zu Katjuscha waren folgendergestalt:

Zum ersten Male hat Nechljudow Katjuscha gesehen, als er, im sechsten Semester der Universität stehend, während er seinen Aufsatz über den Grundbesitz vorbereitete, den Sommer bei seinen Tantchen zubrachte.

Nechljudow durchlebte in diesem Sommer bei den Tantchen den begeisterungsvollen Zustand, wo der Jüngling zum ersten Male nicht nach fremden Anweisungen, sondern selbständig die ganze Schönheit des Lebens und die ganze Bedeutsamkeit der Aufgabe, welche dem Menschen im Leben angewiesen ist, erkennt. In diesem Jahre hat er noch in der Universität »die soziale Statik« von Spencer gelesen, und Spencers Auseinandersetzungen über den Grundbesitz machten auf ihn einen großen Eindruck.

Glücklich und ruhig lebte er den ersten Monat seines Aufenthaltes bei den Tantchen, ohne irgendwelche Aufmerksamkeit der schwarzäugigen, schnellfüßigen Katjuscha, die halb Stubenmädchen, halb Pflegetochter war, zu schenken. Um diese Zeit war Nechljudow, unter den Flügeln der Mutter erzogen, 19 Jahre alt und ein vollständig unschuldiger Jüngling. Er träumte vom Weibe als Gattin. Alle Weiber aber, welche nach seinem Begriff nicht seine Frau sein konnten, waren für ihn keine Weiber, sondern Menschen. Aber es geschah, daß in diesem Sommer am Himmelfahrtstage eine Nachbarin zu den Tantchen angefahren kam mit den Kindern: zwei Fräulein, einem Gymnasiasten und einem jungen Künstler aus dem Bauernstande, der bei ihnen zu Gast war. Nach dem Tee fing man an, auf dem schon abgemähten Wieschen vor dem Hause ein Fangspiel zu spielen. Man nahm auch Katjuscha mit. Nachdem einige Paare gewechselt hatten, trug es sich zu, daß Nechljudow mit Katjuscha laufen sollte. Es war dem Nechljudow immer angenehm, Katjuscha zu sehen, aber es kam ihm nicht einmal in den Kopf, daß zwischen ihr und ihm irgendwelches besondere Verhältnis sein könne.

»Nun, diese jetzt wird man um nichts in der Welt fangen können«, sagte der haschende lustige Künstler, der auf seinen starken Bauernbeinen sehr schnell lief.

»Falls sie nicht etwa stolpern . . .«

»So einer wie Sie, und der sollte nicht fangen?«

»Eins, zwei, drei!« klatschte man dreimal in die Hände.

Kaum das Lachen verhaltend, tauschte Katjuscha rasch ihren Platz gegen den Nechljudows, sie drückte mit Ihrer rauhen kleinen Hand seine große und stürmte vorwärts, nach links, mit dem gestärkten Rock raschelnd.

Nechljudow konnte schnell laufen, und er mochte sich nicht von dem Künstler fangen lassen, er stürzte also aus allen Kräften los. Als er sich umblickte, sah er den Künstler Katjuscha verfolgen; sie aber, flink ihre elastischen jungen Füße rührend, ergab sich ihm nicht und entfernte sich nach links. Vorn war ein Beet mit Syringensträuchern, hinter welches niemand lief, aber Katjuscha sah sich nach Nechljudow um und gab ihm mit dem Kopf ein Zeichen, um sich mit ihm hinter dem Beet zu vereinigen.Anm. d. Übers.: Das Spiel besteht in folgendem: Die Paare stellen sich in eine Kolonne; vorn steht der Haschende, mit dem Rücken zu den übrigen gekehrt. Das erste Paar läuft, und so, daß der eine rechts, der andere links an dem Haschenden vorbeiläuft, sie suchen sich miteinander zu vereinigen, indem sie sich bei der Hand fassen. Der Haschende sucht einen von ihnen zu fangen; gelingt es ihm, so bildet er mit dem Gefangenen ein Paar, und der Verwaiste muß seine Stelle vertreten.

Er verstand sie und lief hinter die Sträucher. Aber dort, hinter den Sträuchern war ein ihm unbekannter kleiner Graben, mit Brennnesseln zugewachsen: er stolperte hinein, indem er sich die Hände an den Brennesseln verbrannte, aber sogleich richtete er sich auf und lief auf den freien Platz hinaus.

Katjuscha mit ihrem Lächeln und ihren schwarzen, strahlenden Augen, flog ihm entgegen. Sie liefen zusammen und faßten einander an den Händen.

»Verbrannt, glaube ich«, sagte sie, indem sie mit der freien Hand ihren in Unordnung geratenen Zopf ordnete und sah schwer atmend und lächelnd von unten nach oben gerade zu ihm auf.

»Das wußte ich ja gar nicht, daß da ein kleiner Graben ist«, sagte er, ebenso lächelnd, und ohne ihre Hand loszulassen. Sie rückte zu ihm heran, und er, ohne selber zu wissen, wie es geschah, näherte sich ihr mit dem Gesicht; sie entfernte sich nicht, er drückte stark ihre Hand und küßte sie auf die Lippen.

»Aber, du mein!« sagte sie; mit rascher Bewegung entriß sie ihm ihre Hand und lief von ihm weg. Zu einem Syringenstrauch laufend, brach sie von ihm zwei Zweige der schon abgefallenen weißen Syringe; sie schlug damit ihr erhitztes Gesicht, sah sich nach ihm um, und rasch mit den Händen vor sich hin und her fuchtelnd, ging sie zurück zu den Spielenden.

Von der Zeit an änderte sich das Verhältnis zwischen Nechljudow und Katjuscha, und es bildete sich jenes besondere, wie es zwischen einem unschuldigen jungen Mann und einem ebenso unschuldigen Mädchen, die sich zueinander hingezogen fühlen, zu sein pflegt.

Sobald Katjuscha ins Zimmer kam, oder sobald Nechljudow sogar nur von weitem ihre weiße Schürze sah, wurde alles für ihn wie von der Sonne beleuchtet, alles wurde für ihn interessanter, lustiger, bedeutender. Dasselbe empfand auch sie. Aber nicht nur die Gegenwart und die Nähe der Katjuscha taten auf Nechljudow diese Wirkung; diese Wirkung brachte für ihn allein das Bewußtsein hervor, daß sie, diese Katjuscha da sei, und für sie, daß Nechljudow existiere. Ob Nechljudow einen unangenehmen Brief von seiner Mutter bekam, oder ob seine Abhandlung nicht recht klappen wollte, oder ob er einen jugendlichen grundlosen Gram empfand, so genügte es nur, sich daran zu erinnern, daß es eine Katjuscha gibt, und daß er sie sehen wird – und alles zerstreute sich.

Katjuscha hatte viel zu tun im Haushalt; aber sie wurde mit allem fertig, und in den freien Minuten las sie; und Nechljudow gab ihr Dostojewski und Turgenjew, die er selber eben erst durchgelesen hatte. Gespräche gab es zwischen ihnen nur gelegentlich, bei Begegnungen auf dem Korridor, auf dem Balkon, auf dem Hofe und zuweilen im Zimmer des alten Zimmermädchens der Tantchen, Matrjona Pawlowna, mit welcher Katjuscha zusammen wohnte. In ihr Stübchen kam manchmal Nechljudow, um Tee zu trinken, wobei man den Zucker abbiß.Anmerk. d. Übers. Die niederen Schichten des russischen Volkes trinken den Tee auf diese Weise. Und diese Gespräche in Gegenwart Matrjona Pawlownas waren die angenehmsten. Zu reden miteinander, wenn sie allein waren, war schlimmer. Sogleich fingen die Augen an, etwas ganz, anderes, bei weitem Wichtigeres zu sprechen als das, was der Mund sprach; die Lippen zogen sich zusammen, es wurde ihnen vor etwas unheimlich und sie gingen eilig auseinander. Ein derartiges Verhältnis bestand zwischen Nechljudow und Katjuscha während der ganzen Zeit seines ersten Aufenthaltes bei den Tantchen. Die Tantchen bemerkten dies Verhältnis; sie erschraken und schrieben sogar darüber ins Ausland der Fürstin Helena Iwanowna, der Mutter Nechljudows. Das Tantchen Maria Iwanowna befürchtete, daß Dmitrij in ein nahes Verhältnis zu Katjuscha treten könne. Aber sie befürchtete dies umsonst; Nechljudow, ohne es selber zu wissen, liebte Katjuscha, wie alle unschuldigen Leute lieben, und seine Liebe war der Hauptschutz gegen den Fall, sowohl für ihn, wie auch für sie. Er hatte nicht nur keinen Wunsch, sie physisch zu besitzen, sondern er entsetzte sich vor dem Gedanken an die Möglichkeit eines solchen Verhältnisses zu ihr. Die Befürchtungen aber der poetischen Sophia Iwanowna davor, daß Dmitrij mit seinem entschlossenen Charakter, aus einem Gusse, nachdem er ein Mädchen lieb gewonnen, sich vornähme, es zu heiraten, ohne auf ihre Herkunft und ihre Lage zu achten – diese Befürchtungen waren weit stichhaltiger.

Wenn dem Nechljudow seine Liebe zu Katjuscha damals klar zum Bewußtsein gekommen wäre, und besonders, wenn man ihn hätte überzeugen wollen, daß er keinesfalls sein Schicksal mit dem jenes Mädchens vereinigen könne und dürfe, so hätte es sehr leicht passieren können, daß er mit seinem geradlinigen Wesen in allem entschieden hätte, es gäbe keine Gründe, ein Mädchen nicht zu heiraten, wer immer sie sein möge, wenn man sie nur liebe. – Aber die Tantchen sagten ihm nichts über ihre Befürchtungen, und so reiste er ab, ohne sich seiner Liebe zu Katjuscha bewußt zu werden.

Er war überzeugt, daß sein Gefühl für Katjuscha eine der damals sein ganzes Wesen erfüllenden Offenbarungen der Lebensfreude sei, die von diesem lieben, lustigen Mädchen geteilt wurden.

Als er aber abreiste und Katjuscha, auf der Treppe mit den Tantchen stehend, ihn mit ihren schwarzen, tränenvollen und ein wenig schielenden Augen begleitete, empfand er doch, daß er etwas Schönes, Teueres, das sich nie mehr wiederholen würde, hinter sich lasse. Und er wurde sehr betrübt.

»Leb' wohl, Katjuscha, ich danke für alles«, sagte er über die Haube der Sophia Iwanowna hinweg, während er in die Kalesche einstieg.

»Leben Sie wohl, Dmitrij Iwanowitsch«, sagte sie mit ihrer angenehmen, liebkosenden Stimme, und die Tränen zurückdrängend, lief sie in den Hausflur, wo sie frei weinen konnte.

 

Seit damals hatten sich Nechljudow und Katjuscha während dreier Jahre nicht gesehn. Und erst dann sah er sie wieder, als er, eben erst zum Offizier befördert, auf dem Wege in die Armee bei den Tantchen angefahren kam, aber schon als ein ganz anderer Mensch, denn der war, welcher bei ihnen vor drei Jahren den Sommer zugebracht hatte.

Damals war er ein ehrlicher, selbstverleugnender Jüngling, der sich jeder guten Sache hinzugeben bereit war; jetzt war er ein raffinierter Egoist, der nur seinen Genuß liebte. Damals erschien ihm die Gotteswelt als ein Geheimnis, welches er freudig und begeistert zu enträtseln suchte – jetzt war alles im Leben einfach und klar und wurde durch die Lebensbedingungen bestimmt, in welchen er sich befand. Damals war nötig und wichtig für ihn der Verkehr mit der Natur und mit Menschen, die vor ihm gelebt, gedacht und gefühlt hatten, Philosophie, Poesie – jetzt waren nötig und wichtig menschliche Einrichtungen und der Verkehr mit den Kameraden. Damals erschien ihm das Weib als ein geheimnisvolles und reizendes – eben durch das Geheimnis reizendes Wesen; – jetzt war die Bedeutung des Weibes, jedes Weibes, die eigenen Familienangehörigen und die Frauen der Freunde ausgeschlossen, sehr bestimmt: das Weib war eins der besten Werkzeuge des schon erfahrenen Genusses. Damals brauchte man kein Geld, und man konnte nicht einmal den dritten Teil dessen verbrauchen, was die Mutter hergab. Jetzt aber waren ihm die 1500 Rubel monatlich, die ihm die Mutter gab, nicht hinreichend, und es kamen schon unangenehme Gespräche wegen des Geldes mit ihr vor.

Und diese ganze furchtbare Veränderung rührte bei ihm nur davon her, daß er sich selbst zu glauben aufgehört und anderen zu glauben angefangen hatte. Sich selbst zu glauben aber hatte er aufgehört und den anderen zu glauben angefangen, weil es zu schwer war zu leben, indem man sich selbst glaubte, mußte man jede Frage nicht zugunsten seines animalischen, leichte Freuden suchenden Ichs entscheiden, sondern fast immer gegen dasselbe; glaubte man den anderen, so war nichts zu entscheiden, alles war schon entschieden, und es war immer gegen das geistige und zugunsten des animalischen Ichs entschieden. – Außerdem, glaubte er sich selbst, so war er immer der Mißbilligung, dem Tadel der Leute ausgesetzt; glaubte er den andern, so hatte er Beifall von den ihn umgebenden Leuten.

Wenn also Nechljudow über Gott, über die Wahrheit, über Reichtum und Armut nachdachte, las, sprach, so hielten alle ihn Umgebenden dies für unpassend und zum Teil für lächerlich, und die Mutter und die Tante nannten ihn mit gutmütiger Ironie: »notre cher philosophe«; wenn er aber Romane las, skabröse Anekdoten erzählte, ins französische Theater zu lustigen Vaudevilles ging und sie lustig wiedererzählte, so lobten ihn alle und ermunterten ihn. Wenn er es für nötig hielt, seine Bedürfnisse einzuschränken und den alten Mantel trug und keinen Wein trank, so hielten dies alle für eine Absonderlichkeit und für eine Art prahlerischer Sonderlingsspielerei; wenn er aber große Summen für die Jagd, für die Einrichtung eines ungewöhnlich prachtvollen Kabinetts ausgab, so lobten alle seinen Geschmack und schenkten ihm kostbare Sachen. Als er ein reiner Junggeselle war und bis zur Ehe ein solcher bleiben wollte, fürchteten seine Verwandten für seine Gesundheit, und sogar die Mutter wurde nicht betrübt, sondern freute sich eher, als sie erfuhr, daß er ein wirklicher Mann geworden und seinem Kameraden irgendeine französische Dame abspenstig gemacht hatte. An die Episode mit Katjuscha aber, daran, daß ihm der Gedanke beifallen konnte, sie zu heiraten, vermochte sich die Fürstin-Mutter nicht ohne Grauen zu erinnern.

Als aber Nechljudow, nachdem er in die Garde eingetreten war, mit seinen hochgestellten Kameraden so viel verbrauchte und verspielte, daß Helena Iwanowna Geld vom Kapital nehmen mußte, da betrübte sie sich fast nicht, in der Meinung, daß es natürlich und sogar gut sei, wenn diese Pocken in der Jugend und in guter Gesellschaft geimpft werden.

Anfangs kämpfte Nechljudow, aber es war zu schwierig, zu kämpfen, weil all das, was er, wenn er sich glaubte, für gut hielt, von den anderen für schlecht gehalten wurde; umgekehrt wurde all das, was er, wenn er sich glaubte, für schlecht hielt, von anderen für gut gehalten. Und das Ende war, daß Nechljudow sich ergab; er hörte auf, sich zu glauben und schenkte den anderen Glauben. In der ersten Zeit war diese Selbstverleugnung unangenehm, aber dieses unangenehme Gefühl dauerte gar nicht lange, und sehr schnell, indem er zu gleicher Zeit zu rauchen und Wein zu trinken begonnen, hörte Nechljudow auf, diese unangenehme Empfindung zu haben, ja er fühlte sogar große Erleichterung.

Und Nechljudow ergab sich mit der Leidenschaftlichkeit seiner Natur ganz diesem neuen, von allen ihn Umgebenden gebilligten Leben und erstickte in sich vollständig die Stimme, welche etwas anderes verlangte. Das wurde in Petersburg nach der Übersiedelung begonnen und mit dem Eintritt in den Militärdienst vollendet.

Der Militärdienst verderbt überhaupt die Menschen, da er die Eintretenden unter die Bedingungen vollständigen Müßigganges stellt, das heißt unter die Bedingungen der Abwesenheit einer vernünftigen und nützlichen Arbeit, und da er sie von den allgemein menschlichen Pflichten befreit und als Ersatz für dieselben nur die konventionelle Ehre des Regiments, der Uniform und der Fahne hinstellt. Einerseits die grenzenlose Macht über andere Menschen, andererseits aber die sklavische Unterwürfigkeit gegen die Vorgesetzten.

Man hatte nichts zu tun, außer in einer ausgezeichnet genähten und ausgebürsteten – nicht von ihm selbst, sondern von anderen Leuten genähten und gebürsteten – Uniform, in einem Helm, mit der Waffe, die auch von anderen Leuten gemacht, geputzt und dargereicht wurde, auf einem schönen, auch von anderen erzogenen, zugerittenen und gefütterten Pferde zum Exerzieren oder zur Parade zu reiten mit ebensolchen Leuten wie er, zu galoppieren und die Säbel zu schwingen, zu schießen und dies andere Menschen zu lehren. Eine andere Beschäftigung gab es nicht, und die höchstgestellten Personen, die jungen, die alten, der Zar und die ihm zunächst Stehenden billigten nicht nur diese Beschäftigung, sondern lobten sie und dankten für dieselbe.

Außer diesem wurden Zusammenkünfte für gut und richtig gehalten, wo man das Gott weiß woher erhaltene Geld verschleudert, um zu essen und besonders um zu trinken, in den Offizierklubs oder in den teuersten Wirtschaften, dann Theater, Bälle, Frauen, und dann wieder Pferdereiten, Säbelschwingen, Galoppieren und wieder Geldverschleudern, Wein, Karten, Frauen.

»Wir sind bereit, unser Leben im Kriege zu opfern, und darum ist ein solch sorgloses, lustiges Leben nicht nur verzeihlich, sondern auch für uns notwendig. Und wir führen es.« So dachte, nicht ganz klar, Nechljudow in dieser Periode seines Lebens, aber er fühlte während dieser ganzen Zeit das Entzücken der Befreiung von allen moralischen Schranken, welche er sich früher gesetzt, und ununterbrochen befand er sich im chronischen Zustande der Egoismusverrücktheit.

In solchem Zustande war er auch, als er nach drei Jahren zu den Tantchen angefahren kam.

 

Nechljudow kehrte zu den Tantchen ein, da ihr Gut auf dem Wege zu seinem Regiment lag, welches ihm vorausmarschierte, dann auch weil sie ihn sehr darum gebeten hatten; hauptsächlich aber, um Katjuscha zu sehen. Vielleicht hatte er schon in der Tiefe der Seele die schlimme Absicht gegen Katjuscha, die ihm der jetzt zügellose animalische Mensch zuflüsterte; aber er war sich dieser Absicht nicht bewußt, und er wünschte einfach den Ort zu besuchen, wo es ihm so wohl gewesen; die ein wenig lächerlichen, aber lieben und gutmütigen Tantchen und die liebe Katjuscha zu sehen, von welcher ihm eine so angenehme Erinnerung geblieben war.

Er kam Ende März an, am Charfreitag, zurzeit der schlechtesten Wege, unter einem Gußregen, so daß er bis zum letzten Faden durchnäßt und durchfroren anfuhr, aber munter und angeregt, wie er sich immer um diese Zeit fühlte.

»Ist sie noch bei ihnen?« dachte er, als er auf den bekannten gutsherrlichen Hof der Tantchen einfuhr.

Er erwartete, daß sie auf die Treppe herauslaufen werde, wenn sie die Glocke seines Gefährtes höre. Aber es kamen auf den Dienstbotenflur zwei aufgeschürzte Weiber, die augenscheinlich den Boden im Hause wuschen. Sie war auch auf dem Paradeflur nicht; es kam nur Tichon, ein Lakai, heraus. In das Vorzimmer kam Sophia Iwanowna im seidenen Kleid und in der Haube.

»Aber das ist lieb, daß du gekommen bist!« sprach Sophia Iwanowna, ihn küssend.

»Maschenjka ist ein wenig unwohl, von der Kirche ermüdet. Wir haben das Abendmahl genossen.«

»Ich gratuliere, Tantchen Sonja,« sprach Nechljudow, indem er die Hand der Sophia Iwanowna küßte, »verzeihen Sie, ich habe Sie naß gemacht.«

»Geh in dein Zimmer, du bist ganz durchnäßt. Und einen Schnurrbart hast du schon . . . Katjuscha! Katjuscha! schnell Kaffee für ihn!«

»Sogleich!« wiederhallte das bekannte, angenehme Stimmchen aus dem Korridor, und das Herz Nechljudows zog sich freudig zusammen. »Hier!« Und es war ihm, als ob die Sonne aus den Wolken hervorguckte.

Nechljudow begab sich fröhlich mit Tichon in sein früheres Zimmer, um sich umzukleiden. Er wünschte Tichon über Katjuscha zu befragen: »Wie geht es ihr? Wie lebt sie? Heiratet sie nicht bald?« Aber Tichon war sehr ehrerbietig und zugleich streng, und so fest bestand er darauf, daß er ihm selber Wasser aus dem Handwaschbecken auf die Hände gießen müsse, daß Nechljudow sich nicht entschließen konnte, ihn über Katjuscha zu befragen.

Als Nechljudow alles Nasse abgeworfen hatte und eben sich auszuziehen begann, hörte er rasche Schritte, und es klopfte an die Tür. Nechljudow erkannte sowohl die Schritte, als auch das Klopfen. So ging und klopfte nur sie. Er warf sich den nassen Mantel um und trat zur Tür.

»Herein!«

Das war sie – Katjuscha. Immer dieselbe, noch holder als früher. Ebenso von unten nach oben sahen ihre lächelnden, naiven, ein ganz klein wenig schielenden schwarzen Augen. Sie war auch wie früher in einer sauberen weißen Schürze. Sie hat ihm ein eben erst vom Papier befreites, aromatisches Stück Seife und zwei Handtücher gebracht: ein großes russisches und ein rauhhaariges. Und die unangerührte Seife mit den abgedruckten Buchstaben und die Handtücher und sie selbst – alles das war gleich rein, frisch, unangetastet, angenehm. Ihre lieblichen, festen, schönen Lippen spitzten sich bei seinem Anblick, ebenso wie früher immer, in nicht zurückzuhaltender Freude.

»Ich wünsche Ihnen Glück, Dmitrij Iwanowitsch, zu Ihrer Ankunft!« brachte sie mit Mühe hervor, und Röte übergoß ihr ganzes Gesicht.

»Ich grüße dich . . . ich grüße Sie«, er wußte nicht, ob er sie »Du« oder »Sie« nennen sollte und wurde ebenso rot wie sie. »Sind Sie am Leben? Sind Sie gesund?«

»Gottlob. Hier haben die Tantchen ihre Lieblingsseife, die Rosaseife, geschickt«, sagte sie, indem sie die Seife auf den Tisch und die Handtücher auf die Lehnstuhlarme legte.

»Sie haben Ihre eigene Seife«, sagte, die Selbständigkeit des Gastes verteidigend, Tichon, indem er stolz auf das geöffnete, große Necessaire Nechljudows zeigte.

»Sagen Sie dem Tantchen meinen Dank. Und wie froh bin ich, daß ich gekommen bin«, sagte Nechljudow, indem er fühlte, daß es in seiner Seele ebenso licht und hold wurde, wie es früher manchmal gewesen.

Sie lächelte nur zur Erwiderung auf diese Worte und ging hinaus.

Die Tantchen, die den Nechljudow ja immer lieb hatten, haben ihn dieses Mal noch freudiger als gewöhnlich empfangen. Dmitrij fuhr in den Krieg, wo er verwundet, getötet werden konnte. Das rührte die Tantchen.

Nechljudow hatte seine Reise so eingerichtet, daß er bei den Tantchen nur vierundzwanzig Stunden verweilen wollte, aber als er Katjuscha sah, willigte er ein, den Ostersonntag bei den Tantchen zu feiern, und er telegraphierte seinem Freund und Kameraden Schenbock, mit dem er in Odessa zusammentreffen sollte, daß auch er bei den Tantchen anfahren solle.

Vom ersten Tage, ja als er der Katjuscha nur gewahr ward, empfand er das frühere Gefühl für sie. Er fühlte, daß er verliebt sei, aber nicht so, wie früher, als diese Liebe für ihn ein Geheimnis war. Jetzt aber war er verliebt und wußte das und freute sich darüber, während er halb klar sich bewußt war, worin diese Liebe besteht und was dabei herauskommen kann, obgleich er es vor sich selber verbarg.

In Nechljudow waren, wie in allen Leuten, zwei Menschen; einer der geistige, der für sich nur solch ein Heil begehrt, das auch anderen Menschen zum Heil wäre, und ein anderer – der animalische Mensch, der nur für sich das Heil sucht und bereit ist, für dieses Heil das Heil der ganzen Welt zu opfern. Aber als er Katjuscha sah und wieder das empfand, was er damals für sie empfunden hatte, erhob der geistige Mensch sein Haupt und fing an, sein Recht zu verlangen. Und während dieser zwei Tage bis Ostern ging in Nechljudow ununterbrochen ein innerer für ihn unbewußte Kampf vor sich. In der Tiefe der Seele wußte er, daß er abreisen müsse, und daß es keinen Zweck habe, bei den Tanten zu bleiben; er wußte, daß nichts Gutes dabei herauskommen könne; aber es war so freudig und angenehm, daß er sich dies nicht sagte und blieb.

Am Samstag vor dem Ostersonntag abends kam der Priester mit dem Diakon und dem Küster angefahren, um die Frühmesse zu lesen, nachdem sie, wie sie erzählten, mit Not und Mühe die drei Werst, welche die Kirche vom Hause der Tantchen trennten, im Schlitten durch Pfützen und über die bloße Erde gemacht hatten. Nechljudow hörte mit den Tantchen und dem Gesinde die Frühmesse zu Ende, indem er unaufhörlich Katjuscha ansah, die bei der Tür stand und das Rauchfaß darreichte.

Es gab keinen Weg bis zur Kirche, weder im Schlitten noch auf Rädern; darum befahl Nechljudow, der bei den Tantchen wie zu Hause war und über alles verfügte, das Reitpferd, den sogenannten »Brüderchenshengst« zu satteln, und anstatt zu Bett zu gehen, kleidete er sich in eine glänzende Uniform mit dichtanliegenden Reithosen, legte dann den Mantel um und ritt auf dem fett und schwerfällig gewordenen, ohne Aufhören wiehernden alten Hengst in der Dunkelheit durch die Pfützen und den Schnee zur Kirche.

 

Nachher, sein ganzes Leben hindurch, blieb diese Frühmesse für Nechljudow eine der hellsten und stärksten Erinnerungen.

Als er in der schwarzen, nur hier und da vom weißschimmernden Schnee erleuchteten Dunkelheit durch das Wasser platschend in den Hof der Kirche hineinritt, während sein Hengst die Ohren spitzte beim Anblick der rings um die Kirche angezündeten Lampen, hatte der Gottesdienst schon begonnen.

Die Bauern, die den Neffen der Maria Iwanowna erkannten, begleiteten ihn aufs Trockene, wo er absteigen konnte; sie nahmen sein Pferd, um es anzubinden und führten ihn in die Kirche. Die Kirche war voll des feiernden Volkes.

Die Bauern bekreuzten und verneigten sich, die Haare zurückschüttelnd; die Frauen, besonders die alten, die ihre verblichenen Augen auf ein Heiligenbild richteten, drückten die zusammengelegten Finger stark an das Kopftuch auf der Stirn, an die Schulter und auf den Leib, und sie bogen sich im Stehen vornüber oder fielen auf die Knie. Die Kinder, die Großen nachahmend, beteten eifrig, wenn man sie ansah. Die goldene Heiligenwand brannte von Lichtern, die von allen Seiten die großen, goldumwundenen Kerzen umgaben.

Nechljudow ging nach vorne durch.

In der Mitte stand die Aristokratie, der Gutsbesitzer mit seiner Frau und dem Sohn, der eine Matrosenjacke trug; der Stanowoj, der Telegraphist, der Kaufmann in Schaftstiefeln, der Schulze mit einer Medaille; rechts aber vom Tritt vor dem Altar, hinter der Gutsbesitzerin, stand Matrjona Pawlowna in einem schillernden lila Kleide und einem Schal mit weißem Saum, und Katjuscha im weißen Kleide, mit Fältchen auf der Taille, mit einem blauen Gürtel und einer kleinen roten Bandschleife auf dem schwarzen Kopf.

Nechljudow fühlte, daß sie ihn sah, ohne sich umzuschauen. Er sah das, als er nahe bei ihr zum Altar hinging. Er hatte ihr nichts zu sagen, aber er sann etwas aus und sagte ihr, während er an ihr vorbeischritt:

»Tantchen hat gesagt, daß sie nach der Spätmesse die Fasten brechen wird.« Das junge Blut übergoß wie immer bei seinem Anblick ihr ganzes liebes Gesicht, und die schwarzen Augen lachten und freuten sich und blieben, naiv von unten nach oben sehend, auf Nechljudow haften.

»Ich weiß«, sagte sie lächelnd.

In der Zwischenzeit – zwischen Früh- und Spätmesse – ging Nechljudow aus der Kirche. Das Volk trat vor ihm auseinander und grüßte ihn. Die einen erkannten ihn, die andern fragten: »Wer ist das?« In der Vorhalle blieb er stehen. Die Bettler umringten ihn; er verteilte die kleinen Münzen, die er in der Geldbörse hatte und stieg die Stufen der Treppe hinunter.

Es hatte schon so weit getagt, daß man sehen konnte, die Sonne war aber noch nicht aufgegangen. Das Volk ließ sich überall auf den Gräbern nieder. Katjuscha blieb in der Kirche, und Nechljudow blieb an der Kirche stehen und wartete auf sie.

Immerfort kamen die Leute heraus, und mit den Stiefelnägeln auf die Fliesen klopfend, stiegen sie die Stufen hinunter und zerstreuten sich auf dem Hof der Kirche und auf dem Friedhof.

Ein hochbetagter Greis, der Konditor der Maria Iwanowna, mit zitterndem Kopf, hielt den Nechljudow an und küßte ihn, und seine Frau, ein altes Mütterchen mit runzeligem Kehlkopf unter dem seidenen Halstuch, gab ihm ein gelbes, mit Safran gefärbtes Ei, welches sie aus dem Tuche genommen hatte. Zugleich kam auch ein junger, lächelnder, muskulöser Bauer in einem neuen Kaftan und im grünen Gürtel heran.

»Christus ist erstanden!« sagte er, mit den Augen lächelnd, und als er Nechljudow erreicht, überschauerte er ihn mit dem besonderen, angenehmen Bauerngeruch, und ihn mit seinem krausen Bärtchen kitzelnd, küßte er ihn gerade auf die Mitte des Mundes dreimal mit seinen starken frischen Lippen.

Zu gleicher Zeit, da Nechljudow sich mit dem Bauer küßte und von ihm ein dunkelbraunes Ei nahm, erschien das schillernde Kleid der Matrjona Pawlowna und ein holdes schwarzes Köpfchen mit kleiner roter Schleife.

Sie erblickte ihn sogleich über die Köpfe der vor ihr Gehenden hinweg, und er sah, wie ihr Gesicht aufstrahlte.

Sie kam mit Matrjona Pawlowna in die Vorhalle und den Bettlern Almosen austeilend, blieben sie stehen. Ein Bettler mit einem verheilten Schorf anstatt der Nase trat an Katjuscha heran. Sie nahm etwas aus dem Tuche, reichte es ihm, und dann näherte sie sich ihm, ohne den geringsten Widerwillen zu äußern; im Gegenteil, ebenso freudig mit den Augen strahlend, küßte sie ihn dreimal.

Und zu gleicher Zelt, da sie sich mit dem Bettler küßte, begegneten ihre Augen dem Blick Nechljudows. Es schien, als ob sie ihn frage: »Ist es gut? Tu ich recht?« »Ja, ja, Geliebte, alles ist gut, alles ist schön, ich liebe dich.«

Sie stiegen die Treppe hinab; er kam zu ihr heran. Er wollte sie nicht küssen, er wollte nur näher bei ihr sein.

»Christus ist auferstanden!« sagte Matrjona Pawlowna, ihren Kopf neigend und lächelnd, mit einer Betonung, welche besagte, daß heute alle gleich seien, und nachdem sie den Mund gewischt, näherte sie ihm ihre Lippen.

»In Wahrheit«, antwortete Nechljudow, während sie sich küßten. Er sah sich nach Katjuscha um. Sie errötete, und in derselben Minute näherte sie sich ihm.

»Christus ist auferstanden, Dmitrij Iwanowitsch.«

»In Wahrheit ist er auferstanden«, sagte er. Sie küßten sich zweimal und schienen in Nachdenken zu geraten: ist es noch einmal nötig? Und wie mit dem Entschlusse, daß es nötig sei, küßten sie sich zum drittenmal, und beide lächelten.

»Wollen Sie nicht zum Geistlichen gehen?« fragte Nechljudow.

»Nein, Dmitrij Iwanowitsch, wir wollen hier ein wenig sitzen«, sagte Katjuscha, schwer wie nach freudiger Arbeit, aus voller Brust aufatmend, indem sie mit ihren ergebenen, jungfräulichen, liebenden, kaum – kaum schielenden Augen ihm gerade in die Augen sah.

In der Liebe zwischen Mann und Frau gibt es immer eine Minute, wann diese Liebe ihren Zenith erreicht, wo sie nichts Bewußtes, Verstandesmäßiges und nichts Sinnliches hat. Eine solche Minute war für Nechljudow diese Nacht der hellen Auferstehung Christi. Wenn er jetzt an Katjuscha dachte, so verhüllte diese Minute alle übrigen Lagen, in welchen er sie gesehen.

Das schwarze, glatte, glänzende Köpfchen, das weiße, jungfräulich ihre wohlgebildete Taille und ihre nicht hohe Brust umhüllende Kleid mit den Fältchen, und diese Röte, und diese zarten, glänzenden, schwarzen Augen, und in ihrem ganzen Wesen zwei Hauptzüge: die Reinheit der jungfräulichen Liebe nicht nur zu ihm – er wußte das – sondern der Liebe zu allen und zu allem, nicht nur dem Schönen, Guten, das es in der Welt gibt.

Er wußte, daß in ihr diese Liebe war, weil er sich desselben Gefühls während dieser Nacht und dieses Morgens bewußt worden, und er wußte sich bewußt, daß er in dieser Liebe mit ihr in eins zusammenklang.

»Ach, wenn alles bei dem Gefühl dieser Nacht stehen geblieben wäre! Ja, diese ganze, schreckliche Sache geschah schon nach dieser Nacht der hellen Auferstehung Christi!« dachte er jetzt, als er am Fenster im Zimmer der Geschworenen saß.

 

Nach seiner Rückkehr aus der Kirche nahm Nechljudow mit den Tantchen die Osterspeisen ein und ging in sein Zimmer, wo er sogleich in den Kleidern einschlief. Es weckte ihn ein Klopfen an der Tür. Er erkannte an dem Klopfen, daß es sie sei, und erhob sich, die Augen reibend und sich reckend.

»Katjuscha, bist du's? Komm herein«, sagte er, aufstehend.

Sie öffnete ein wenig die Tür.

»Man ruft Sie zum Essen«, sagte sie.

Sie war in demselben weißen Kleide, aber ohne die Bandschleife in den Haaren. Ihm in die Augen blickend, strahlte sie auf, als ob sie ihm etwas ungewöhnlich Freudiges erklärte.

»Ich gehe gleich«, antwortete er, indem er den Kamm nahm, um seine Haare zu kämmen.

Sie blieb einen Augenblick länger stehen. Er merkte das, warf den Kamm hin und begab sich zu ihr. Aber sie drehte sich in demselben Augenblick schnell um und ging mit ihren leichten und raschen Schritten auf dem gestreiften Teppich des Korridors hinaus.

»So ein Dummkopf bin ich,« sagte Nechljudow zu sich selbst, »warum denn habe ich sie nicht aufgehalten?« und er holte sie laufend im Korridor ein.

Was er von ihr wollte, wußte er selber nicht. Ihm schien es aber, daß er, als sie in das Zimmer zu ihm trat, etwas tun müßte, das alle in solchem Fall tun, das er aber nicht getan.

»Katjuscha, warte«, sagte er.

Sie blickte sich um.

»Was haben Sie?« sagte sie ein wenig zögernd.

»Nichts, nur . . .« Er wußte, wie in solchen Fällen alle Leute in seiner Lage handeln, und sich zwingend, faßte er Katjuscha um die Taille.

Sie blieb stehen und sah ihm in die Augen.

»Bitte, nein, Dmitrij Iwanowitsch, bitte, nein«, sagte sie bis zu Tränen errötend, und mit ihrer rauhen, kräftigen Hand entfernte sie den sie umfassenden Arm.

Nechljudow ließ sie los und wurde auf einen Augenblick nicht nur verlegen, sondern er fühlte sich beschämt und hatte Abscheu vor sich selbst. Er hätte sich glauben sollen, aber er begriff nicht, daß diese Verlegenheit, diese Scham die besten Gefühle seiner Seele waren, die sich zu äußern strebten; im Gegenteil! Ihm schien es, daß so die Dummheit in ihm spräche, und daß man so tun müsse, wie alle tun. Er holte sie noch einmal ein, umarmte sie wieder und küßte sie auf den Hals.

Dieser Kuß war schon nicht mehr solcher Art, wie jene zwei ersten Küsse: der eine, der unbewußte, hinter dem Syringenstrauch und der andere heute früh in der Kirche. Dieser war schrecklich, und sie empfand das.

»Was tun Sie denn?« schrie sie mit einer Stimme auf, als ob er etwas unendlich Kostbares unwiederbringlich zerstört habe, und sie lief von ihm fort.

Er kam in das Speisezimmer. Die herausgeputzten Tantchen, der Doktor und eine Nachbarin standen bei dem Tisch mit den kalten Speisen. Alles war so gewöhnlich, aber in der Seele des Nechljudow war ein Sturm. Er verstand nichts von dem, was man zu ihm sprach, antwortete unpassend und dachte nur an Katjuscha, indem er sich die Empfindungen dieses letzten Kusses, als er sie in dem Korridor einholte, vergegenwärtigte. An nichts anderes konnte er denken. Wenn sie in das Zimmer trat, so fühlte er ihre Gegenwart, ohne sie anzusehen mit seinem ganzen Wesen, und er mußte Anstrengungen machen, um sie nicht anzusehen.

Nach dem Mittagessen begab er sich sogleich in sein Zimmer und ging darin lange hin und her in großer Aufregung, indem er aufmerksam auf alle Töne horchte und ihre Schritte erwartete. Jener animalische Mensch, der in ihm wohnte, erhob jetzt nicht nur sein Haupt, sondern er trat unter seine Füße den geistigen Menschen, welcher er bei seiner ersten Ankunft und sogar noch heute früh in der Kirche gewesen, und dieser fürchterliche animalische Mensch beherrschte jetzt allein seine Seele. Trotzdem Nechljudow nicht aufhörte, auf Katjuscha zu lauern, gelang es ihm doch kein einziges Mal an diesem Tage, sie unter vier Augen zu treffen. Es ist wahrscheinlich, daß sie ihn mied. Aber gegen Abend trug es sich zu, daß sie in das Zimmer neben dem, welches er einnahm, gehen mußte. Der Doktor wollte hier über Nacht bleiben, und sie mußte für den Gast das Bett herrichten. Nechljudow, als er ihre Schritte vernahm, kam mit leisen Tritten und den Atem anhaltend, als ob er ein Verbrechen beabsichtigte, ihr nach hinein.

Indem sie mit beiden, in den frischen Überzug gesteckten Händen das Kissen an den Ecken hielt, blickte sie sich nach ihm um und lächelte, aber es war kein fröhliches und freudiges, wie früher, sondern ein erschrockenes und bedauerndes Lächeln. Dieses Lächeln sagte ihm, wie es schien, daß das, was er tue, schlecht sei. Er blieb auf eine Minute stehen.

Jetzt war die Möglichkeit des Kampfes noch vorhanden. Wenn auch schwach, war doch die Stimme der wahren Liebe zu ihr hörbar, die ihm von ihr, von ihren Gefühlen, von ihrem Leben sprach. Die andere Stimme aber sagte: paß auf, du wirst dein Vergnügen, dein Glück versäumen. Und diese zweite Stimme übertönte die erste. Er trat entschieden an sie heran. Und das fürchterliche, unaufhaltsame, animalische Gefühl bemächtigte sich seiner.

Ohne sie aus seinen Umarmungen zu lassen, setzte Nechljudow sie auf das Bett und fühlend, daß man noch etwas tun müsse, ließ er sich neben ihr nieder.

»Dmitrij Iwanowitsch, Lieber, lassen Sie mich, bitte« – sprach sie mit kläglicher Stimme – »Matrjona Pawlowna kommt!« schrie sie auf, sich losreißend, und wirklich näherte jemand sich der Türe.

»Ich komme also nachts zu dir«, sagte Nechljudow. »Du bist ja allein?«

»Was denken Sie? Um nichts in der Welt. – Bitte, nein«, sprach sie nur mit den Lippen, ihr ganzes aufgeregtes, verwirrtes Wesen aber sprach etwas anderes. Die an die Tür Gekommene war wirklich Matrjona Pawlowna. Sie trat in das Zimmer mit der Bettdecke in der Hand, sie blickte vorwurfsvoll auf den Nechljudow und verwies der Katjuscha ärgerlich, daß sie nicht die richtige Decke genommen habe.

Nechljudow ging schweigend hinaus. Er schämte sich nicht einmal. Er sah an dem Gesichtsausdruck der Matrjona Pawlowna, daß sie ihn mißbilligte, und daß sie recht hatte, ihn zu mißbilligen, er wußte, daß das, was er tue, schlecht sei; aber das animalische Gefühl, welches sich von dem früheren Gefühl der guten Liebe zu ihr losgemacht, hatte sich seiner bemächtigt und herrschte allein, ohne etwas anderes anzuerkennen. Er wußte jetzt, was für die Befriedigung des Gefühls zu tun sei, und suchte das Mittel dazu auf.

Den ganzen Abend war er außer sich, bald kam er zu den Tantchen, bald ging er von ihnen zu sich und auf den Flur und dachte einzig darüber nach, wie er sie allein sehen könne; aber sie mied ihn, und Matrjona Pawlowna bemühte sich, sie nicht aus den Augen zu lassen.

 

So verging der ganze Abend, und es kam die Nacht. Die Tantchen legten sich auch zu Bette. Nechljudow wußte, daß Matrjona Pawlowna jetzt im Schlafzimmer bei den Tantchen sei, und daß Katjuscha allein in dem Mädchenzimmer bleibe. Er ging wieder in den Flur hinaus. Draußen war es dunkel, feucht und warm. Von dem Flusse, der hundert Schritte entfernt unter dem Abhang vor dem Hause floß, waren seltsame Töne hörbar: das Eis ging auf.

Nechljudow stieg die Treppe hinunter, und über die Pfützen auf dem zu Eis gefrorenen Schnee schreitend, ging er zu dem Fenster des Mädchenzimmers herum. Sein Herz klopfte in der Brust so sehr, daß er es hörte; der Atem wurde ihm bald benommen, bald löste er sich in einem schweren Seufzer. In dem Mädchenzimmer brannte eine kleine Lampe, Katjuscha saß beim Tisch, allein, in Nachdenken versunken und sah vor sich hin. Nechljudow betrachtete sie lange, ohne sich zu rühren, er wollte erfahren, was sie tue, während sie glaubte, daß niemand sie sehe. Etwa zwei Minuten sah sie regungslos, dann erhob sie die Augen, lächelte, schüttelte, wie im Selbstvorwurf, den Kopf und, ihre Lage ändernd, legte sie stürmisch beide Arme auf den Tisch und richtete ihre Augen in den Raum vor sich.

Er stand und sah sie an, und unwillkürlich horchte er zugleich auf das Klopfen seines Herzens und auf die seltsamen Töne, welche von dem Flusse kamen.

Er stand, sah auf das nachdenkliche, durch die innere Arbeit gequälte Gesicht der Katjuscha und bedauerte sie, dieses Bedauern aber verstärkte nur seltsamerweise seine Begierde nach ihr. Das Verlangen beherrschte ihn ganz.

Er klopfte an das Fenster. Sie erzitterte am ganzen Körper, wie von einem elektrischen Schlag, und Entsetzen zeigte sich auf ihrem Gesichte. Dann sprang sie auf, kam zum Fenster und näherte ihr Gesicht der Glasscheibe. Der Ausdruck des Entsetzens verließ ihr Gesicht auch dann nicht, als sie, nachdem sie die beiden Handflächen wie Scheuklappen an die Augen gesetzt, ihn erkannte. Ihr Gesicht war ungewöhnlich ernst; er hatte es nie so gesehen. Sie lächelte erst dann, als er lächelte; sie lächelte, als ob sie sich nur ihm unterwürfe, in ihrer Seele aber war kein Lächeln, dort war Angst. Er gab ihr mit der Hand ein Zeichen, indem er sie zu sich auf den Hof kommen hieß. Aber sie schüttelte den Kopf: nein, sie wollte nicht hinausgehen; sie blieb beim Fenster stehen. Er näherte sein Gesicht noch einmal der Glasscheibe und wollte ihr rufen, daß sie herauskommen solle, aber sie wandte sich in dieser Zeit zur Tür um. Jemand hatte sie augenscheinlich gerufen. Nechljudow entfernte sich vom Fenster. Der Nebel war so schwer, daß man in der Entfernung von fünf Schritten vom Hause die Fenster nicht mehr sehen konnte; und sichtbar war nur eine schwarze Masse, aus welcher das rote, ungeheuer groß erscheinende Licht der Lampe leuchtete. Auf dem Flusse ging immer dasselbe seltsame Schnauben, Rauschen, Krachen und Klingen des Eises vor sich. Alles übrige aber rund herum, außer dem Flusse, war vollkommen still.

Nachdem Nechljudow hinter der Hausecke ein paarmal hin und her gegangen und einige Male mit dem Fuße in die Pfütze geraten, kam er wieder zum Fenster des Mädchenzimmers. Die Lampe brannte noch immer, und Katjuscha saß wieder allein am Tische, als ob sie in Unentschlossenheit wäre. Kaum war er an das Fenster gekommen, als sie auf ihn blickte. Er klopfte. Und ohne genau hinzusehen, wer klopfte, lief sie sogleich aus dem Mädchenzimmer hinaus, und er hörte, wie die Ausgangstür sich wie mit einem Schmatzen ablöste und dann knarrte. Er erwartete sie schon an der Freitreppe und umarmte sie sogleich schweigend. Sie schmiegte sich an ihn, hob ihren Kopf empor und empfing mit den Lippen seinen Kuß. Sie standen hinter der Flurecke auf einer aufgetauten, trockenen Stelle, er war voll von quälendem, unbefriedigtem Verlangen. Plötzlich schmatzte die Ausgangstür wieder ebenso, sie knarrte mit demselben Ton, und es ließ sich die ärgerliche Stimme der Matrjona Pawlowna hören: »Katjuscha!«

Sie riß sich von ihm los und kehrte in das Mädchenzimmer zurück. Er hörte, wie die Türangel zugeschlagen ward. Gleich danach wurde alles still; das rote Auge verschwand aus dem Fenster; es blieb allein der Nebel und das Treiben auf dem Fluß. Nechljudow kam zum Fenster; es war niemand zu sehen. Er klopfte; nichts bekam er zur Antwort. Er kehrte durch den Hausflur in das Haus zurück, aber er schlief nicht ein. Er zog seine Stiefel aus und ging barfuß durch den Korridor zu ihrer Tür, neben dem Zimmer der Matrjona Pawlowna. Anfangs hörte er, wie ruhig Matrjona Pawlowna schnarchte, und er wollte schon eintreten, aber plötzlich fing sie an zu husten und drehte sich auf dem knarrenden Bett um. Er erstarrte, und blieb so etwa fünf Minuten lang stehen. Als alles wieder still wurde und wieder ruhiges Schnarchen hörbar ward, ging er weiter, indem er sich bemühte, auf die Dielenbretter zu treten, welche nicht knarrten, und er kam dicht an ihre Tür. Es war alles still, sie schlief augenscheinlich nicht, weil ihr Atem nicht hörbar war. Kaum hatte er geflüstert: »Katjuscha!«, so sprang sie auf, kam an die Tür heran, und ärgerlich, wie es ihm schien, fing sie an, ihn zu bereden, wegzugehen.

»Was soll das heißen? Nun schickt sich das? Die Tantchen werden es hören,« sagten ihre Lippen, ihr ganzes Wesen aber sagte: »ich bin ganz dein.« Und dies nur verstand Nechljudow.

»Nun, auf einen Augenblick mach auf. Ich flehe zu dir«, sprach er, sinnlose Worte. Sie wurde still, dann hörte er das Geräusch der Hand, die die Türangel suchte. Die Türangel knackte, und er drang durch die offene Tür.

Er packte sie, so wie sie im groben, rauhen Hemd mit entblößten Armen war, er hob sie auf und trug sie.

»Aber, was machen Sie?« flüsterte sie. Aber er gab nicht acht auf ihre Worte und trug sie zu sich.

»Ach, bitte, nein, lassen Sie«, sprach sie, sie selber aber schmiegte sich an ihn. – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Nachdem sie, die Zitternde und Schweigende, ohne auf seine Reden zu antworten, von ihm weggegangen war, ging er auf die Treppe hinaus und blieb stehen, indem er sich bemühte, die Bedeutung alles dessen zu begreifen, was geschehen war.

Auf dem Hofe war es heller: das Krachen und Klingen und Schnauben unten auf dem Flusse verstärkte sich noch, und zu den früheren Tönen gesellte sich noch ein Rieseln. Der Nebel fing an, sich niederzulassen, und hinter der Nebelwand schwamm der abnehmende Mond hervor und beleuchtete etwas Schwarzes und Schreckliches.

»Was ist denn das? Ist mir ein großes Glück oder ein großes Unglück begegnet?« fragte er sich. »Immer geht es so, alle tun so«, sagte er zu sich und ging schlafen.

 

Am anderen Tag kehrte der glänzende, lustige Schenbock bei den Tantchen ein, um Nechljudow abzuholen, und er nahm sie durch seine Eleganz und Liebe zu Dimitrij vollständig gefangen. Obgleich seine Freigebigkeit den Tantchen sehr gefiel, versetzte sie sie durch ihre Übertriebenheit in ein gewisses Bedenken. Den blinden Bettlern, die angekommen waren, gab er einen Rubel. Der Dienerschaft verteilte er als Trinkgeld fünfzehn Rubel. Die Tantchen hatten noch nie solche Leute gesehen und wußten nicht, daß dieser Schenbock zweihunderttausend Rubel Schulden hatte, welche nie bezahlt werden würden, und er wußte, daß fünfundzwanzig Rubel mehr oder weniger deswegen für ihn keinen Unterschied machten. Schenbock blieb nur einen Tag, und in der folgenden Nacht reiste er mit dem Nechljudow zusammen ab. Sie konnten nicht länger bleiben, weil der letzte Termin für ihr Erscheinen beim Regiment angebrochen war. Während dieses letzten bei den Tantchen zugebrachten Tages, wo die Erinnerung an die Nacht frisch war, erhoben sich und kämpften mit einander zwei Gefühle in der Seele des Nechljudow: das eine – die brennenden sinnlichen Erinnerungen an die animalische Liebe, obgleich sie bei weitem nicht das gegeben, was sie versprochen, und eine gewisse Selbstzufriedenheit wegen des erreichten Zwecks; das andere – das Bewußtsein dessen, daß von ihm etwas sehr Böses getan worden, daß man dieses Böse wieder gut machen müsse und zwar gut machen nicht ihretwegen, sondern für sich selbst.

Er dachte, daß Schenbock sein Verhältnis zu Katjuscha errate, und dies schmeichelte seiner Eigenliebe.

»Aha, darum hast du plötzlich deine Tantchen so lieb gewonnen,« sagte ihm Schenbock, als er Katjuscha sah, »daß du eine Woche bei ihnen verbringst. Aber ich würde an deiner Stelle auch nicht wegfahren. Sie ist reizend!«

Er dachte auch noch darüber nach, daß, wenn es auch schade sei, jetzt wegzufahren, ohne die Liebe mit ihr vollkommen genossen zu haben, diese Notwendigkeit der Abreise deswegen vorteilhaft sei, weil sie mit einemmal die Beziehungen zerreiße, welche es schwer wäre, zu unterhalten. Auch darüber dachte er nach, daß man ihr Geld geben müsse, nicht ihretwegen, nicht darum, daß dieses Geld ihr nötig sein könne, sondern weil man immer so tut, und weil man ihn für einen unehrlichen Menschen halten würde, wenn er, nachdem er sie sich zunutze gemacht hatte, dafür nicht bezahlen würde. Und er gab ihr Geld, so viel, wie er seiner und ihrer Lage für geziemend hielt.

Am Tage der Abreise, nach dem Mittagessen, wartete er sie im Flur ab. Sie errötete, als sie ihn sah, und wollte vorbeigehen, indem sie mit den Augen auf die offene Tür des Mädchenzimmers zeigte, aber er hielt sie zurück.

»Ich wollte Abschied nehmen,« sagte er, indem er ein Kuvert mit einem Hundertrubelschein in seiner Hand zerknitterte, »hier, ich . . .«

Sie erriet, ihr Gesicht runzelte sich, sie schüttelte mit dem Kopf und stieß seine Hand weg.

»Nein, nimm«, murmelte er, steckte das Kuvert ihr in den Busen, und als ob er sich verbrannt, lief er, stirnrunzelnd und stöhnend, in sein Zimmer. Und lange darauf ging er immer in seinem Zimmer auf und ab, und er krümmte sich und sprang sogar in die Höhe und ächzte laut, wie vor physischem Schmerz, sobald er sich dieser Szene erinnerte.

In der Tiefe, in der tiefsten Tiefe seiner Seele, erkannte er, daß er scheußlich, gemein, grausam gehandelt hatte, daß er mit dem Bewußtsein dieser Handlung hinfort unmöglich – nicht nur seinerseits jemand mißbilligen könne –, sondern er könne sogar nicht den Leuten ins Gesicht sehen, geschweige denn sich für einen schönen, edlen, großmütigen jungen Mann halten, für welchen er sich bis jetzt gehalten; er mußte aber sich für einen solchen halten, um wie bisher munter und lustig weiter zu leben. Und dazu gab es nur ein einziges Mittel: nicht denken darüber. Und so tat er auch.

Und je länger er lebte, desto mehr vergaß er, und er hat es wirklich ganz vergessen.

Nur einmal, als er nach dem Kriege bei den Tantchen mit der Hoffnung, sie zu sehen, eingekehrt war und dabei erfuhr, daß Katjuscha nicht mehr da sei, daß sie bald nach seiner Abreise von ihnen fortgegangen sei, um zu gebären, daß sie irgendwo geboren habe, und wie die Tantchen gehört hatten, ganz verdorben sei, wurde ihm die Brust beklemmt. Der Zeit nach konnte das Kind, das sie geboren, sein Kind sein, aber es konnte auch nicht das seine sein. Die Tantchen sagten, daß sie verdorben sei, und daß sie eine liederliche Natur, ebenso wie ihre Mutter gewesen wäre. Und dieses Urteil der Tantchen war ihm angenehm, weil es ihn scheinbar rechtfertigte. Anfangs wollte er dennoch sie und ihr Kind aufsuchen; nachher aber gab er sich nicht die nötige Mühe zu ihrer Auffindung, und gerade, weil es ihm in der Tiefe seiner Seele zu sehr weh tat, und weil er sich zu sehr schämte vor sich selbst, darüber nachzudenken, so vergaß er noch mehr seine Sünde und hörte auf, daran zu denken.

Aber nun erinnerte ihn diese wunderbare Zufälligkeit an alles, und sie verlangte von ihm die Anerkennung seiner Herzlosigkeit, Grausamkeit, Gemeinheit, welche es ihm möglich gemacht, diese zehn Jahre mit solcher Sünde auf dem Gewissen ruhig zu leben. Aber er war noch weit entfernt von solcher Anerkennung, und gegenwärtig dachte er nur darüber nach und fürchtete nur, daß man alles das jetzt erfahren, daß sie oder ihr Verteidiger alles erzählen und ihn vor allen in Schande bringen würde.

 

In solcher Gemütsverfassung war Nechljudow, seit er aus dem Gerichtssaal in das Geschworenenzimmer hinausgegangen.

Der lustige Kaufmann fühlte, augenscheinlich, dem Kaufmann Smeljkow in seinem Zeitvertreib von ganzer Seele nach.

»Nun, Bruder, der hat aber ordentlich gelumpt, nach sibirischer Art; der wußte auch, wie Honig schmeckt: was für ein Mädel hat er für sich gewonnen!«

Als der Gerichtskommissär mit dem schiefen Gang die Geschworenen wieder in den Saal einlud, empfand Nechljudow eine Angst, als ob nicht er zu richten gehe, sondern als ob man ihn selbst vor Gericht führe. In der Tiefe seiner Seele fühlte er schon, daß er ein Taugenichts sei, welcher sich schämen müsse, den Leuten ins Gesicht zu sehen; inzwischen aber kam er auf die Erhöhung mit, seiner Gewohnheit nach, selbstgewissen Bewegungen und setzte sich auf seinen Platz, als der zweite nach dem Obmann, legte ein Bein über das andere und spielte mit dem Zwicker.

Die Angeklagten hatte man auch irgendwo hinaus geführt, und eben führte man sie wieder herein.

Im Saale waren neue Personen – die Zeugen, und Nechljudow bemerkte, daß die Maslowa einige Male hinsah, als ob sie ihren Blick von einer sehr herausgeputzten, dicken Frau in Samt und Seide nicht abwenden könne, die in hohem Hut mit großer Schleife und mit einem eleganten Ridikül auf dem bis zum Ellbogen nackten Arm in der ersten Reihe vor der Barriere saß. Das war, wie er nachher erfuhr, eine Zeugin, die Wirtin der Anstalt, in welcher die Maslowa gewohnt hatte.

Es begann das Verhör der Zeugen: Name, Konfession und so weiter.

Als die Eidesleistung zu Ende war, führte man alle Zeugen weg, und nur eine hieß man bleiben, nämlich die Kitajewa, die Wirtin des Toleranzhauses. Man befragte sie darüber, was sie von dieser Sache wisse. Die Kitajewa erzählte es mit affektiertem Lächeln und deutschem Akzent ausführlich und zusammenhängend. Erstlich mal kam in ihre Anstalt der bekannte Korridordiener Simon angefahren, um ein Mädchen für einen reichen sibirischen Kaufmann zu holen. Sie schickte Ljubascha mit. Nach einiger Zeit kehrte Ljubascha mit dem Kaufmann zusammen zurück. »Der Kaufmann war schon in Ekstase,« sprach die Katajewa, leicht lächelnd, »auch bei uns fuhr er fort zu trinken und die Mädchen zu bewirten; aber da sein Geld nicht ausreichte, so schickte er in sein Zimmer dieselbe Ljubascha, für welche er eine ›Predilekzierung‹ gefaßt«, sagte sie mit einem Blick auf die Angeklagte.

Dem Nechljudow schien es, daß die Maslowa dazu lächelte, und dieses Lächeln kam ihm widerwärtig vor. Ein seltsames unbestimmtes Gefühl des Ekels, gemischt mit Mitleid, erhob sich in ihm.

»Und welche Meinung haben Sie von der Maslowa gehabt?« fragte errötend und zaghaft der vom Gericht ernannte Verteidiger der Maslowa, ein Gerichtsamtskandidat.

»Die allerbeste,« antwortete die Kitajewa, »das Mädchen is gebildet und schickvoll. Sie wurde in gute Familie erzogen und konnte französisch lesen. Sie trank manches Mal bißchen viel, aber nie nich vergaß sie sich. Ein ganz gut' Mädel.« –

Katjuscha sah auf die Wirtin, dann aber wendete sie plötzlich die Augen auf die Geschworenen, ließ sie auf dem Nechljudow ruhen, und ihr Gesicht wurde ernst und sogar streng. Das eine ihrer strengen Augen schielte. Ziemlich lange waren auf den Nechljudow diese zwei seltsam sehenden Augen gerichtet, und trotz der Furcht, die ihn ergriff, konnte er seinen Blick nicht von diesen schielenden Augen mit dem hellen Weiß abwenden.

»Sie hat mich erkannt«, dachte er. Und Nechljudow zog sich gleichsam zusammen, einen Schlag erwartend. Aber sie erkannte ihn nicht. Sie seufzte ruhig, und wieder begann sie den Vorsitzenden anzusehen. Nechljudow seufzte auch. »Ach, wenn es doch nur schneller aus wäre«, dachte er. Er empfand jetzt ein Gefühl, ähnlich dem, welches er auf der Jagd gewöhnlich hatte, wenn es ihm zukam, einen verwundeten Vogel zu Tode zu schlagen – es ist eklig und bedauerlich und ärgerlich. Der nicht ganz getötete Vogel schlägt sich in der Jagdtasche – es ist widrig, und es tut einem leid, und man möchte ihn bälder zu Tode schlagen und vergessen.

Ein solch gemischtes Gefühl empfand jetzt Nechljudow, indem er dem Verhör der Zeugen zuhörte.

 

Aber gleichsam ihm zum Trotz dauerte die Verhandlung lange: nach dem Verhör der einzelnen Zeugen und des Experten, und nach allen, wie gewöhnlich mit bedeutsamem Aussehen gestellten, unnötigen Fragen von Seiten des Staatsanwalts und von Seiten der Verteidiger, schlug der Vorsitzende den Geschworenen vor, die corpora delicti zu besichtigen, die aus einem Fingerring von ungeheuren Dimensionen mit einer Rosette von Brillanten, der augenscheinlich an dem dicksten Zeigefinger gesteckt hatte, und aus einem Filter, auf welchem das Gift untersucht worden, bestanden. Die Sachen waren versiegelt und mit Etiketten versehen.

Die Geschworenen waren schon im Begriff, diese Gegenstände zu betrachten, als der Staatsanwalt sich wieder erhob und verlangte, vor der Besichtigung der corpora delicti die medizinische Untersuchung des Leichnams zu verlesen.

Der Vorsitzende, der die Verhandlung möglichst schnell vorwärtsjagte, um bei Zeiten zu seiner Schweizerin zu kommen, konnte dies dennoch nicht verweigern, und er gab seine Bewilligung, obgleich er sehr gut wußte, daß die Verlesung dieser Akte keine andere Folge haben konnte als Langeweile und die Hinausschiebung des Mittagessens, und daß der Staatsanwalt nur darum diese Verlesung verlangte, weil er wußte, daß er sie zu verlangen ein Recht habe. Der Sekretär nahm die Akten und fing an, mit seiner traurigen, schnarrenden Stimme den Befund zu verlesen.

Als das Verlesen des äußeren Befundes beendet war, seufzte der Vorsitzende schwer und hob seinen Kopf empor, voller Hoffnung, daß die Sache zu Ende sei, aber der Sekretär fing sogleich an, die Beschreibung der inneren Untersuchung zu lesen.

Der Vorsitzende ließ seinen Kopf wieder hängen, und ihn mit der Hand stützend, machte er seine Augen zu. Der Kaufmann, der neben dem Nechljudow saß, konnte sich kaum des Schlafes erwehren und schwankte hier und da: die Angeklagten saßen, ebenso wie die Gendarmen hinter ihnen, unbeweglich.

Bei der inneren Untersuchung ergab sich, daß:

  1. Die häutigen Schädeldecken sich leicht von den Schädelknochen ablösten, und daß keine Blutmäler irgendwo konstatiert worden.
  2. Die Schädelknochen sind von mittlerer Dicke und unversehrt.
  3. Auf der harten Hirnhaut sind zwei nicht große pigmentierte Flecken – ungefähr vier Zoll groß – vorhanden, die Hirnhaut selbst erscheint von bleich-matter Farbe usw., usw. noch 13 Punkte.

Weiter folgten die Namen der Zeugen, die Unterschriften und darauf die Schlußfolgerung des Arztes, aus welcher ersichtlich war, daß die bei der Obduktion vorgefundenen und im Protokoll eingetragenen Veränderungen im Magen und teilweise im Darm und in den Nieren das Recht geben, mit einem hohen Grad von Wahrscheinlichkeit zu schließen, daß der Tod Smeljkows durch Vergiftung erfolgte, mit einem Gift, das ihm in den Magen zugleich mit den Spirituosen geraten; was für ein Gift in den Magen eingeführt worden, ist schwer zu sagen, den im Magen und im Darm vorhandenen Veränderungen nach; daß das Gift aber mit Spirituosen in den Magen geraten, muß man daher annehmen, weil im Magen des Smeljkow eine große Quantität Spirituosen vorgefunden worden.

»Der, scheint's, verstand sich aufs Trinken«, flüsterte wieder der zu sich gekommene Kaufmann.

Das Vorlesen dieses Protokolls, das zirka eine Stunde dauerte, stellte den Staatsanwalt dennoch nicht zufrieden. Nachdem das Protokoll zu Ende gelesen, wandte sich der Vorsitzende an ihn:

»Ich glaube, daß es überflüssig ist, die Akten über die Eingeweideuntersuchung zu lesen.«

»Ich möchte bitten, auch diese Untersuchung zu verlesen«, sagte der Staatsanwalt streng, ohne auf den Vorsitzenden zu sehen; dabei schob er sich ein wenig schief und gab durch den Ton seiner Stimme zu verstehen, daß das Verlangen dieses Verlesens sein Recht sei, und daß er dieses Recht nicht preisgeben werde, und daß die Nichtbewilligung ein Grund zur Kassation sein würde.

Das Gerichtsmitglied mit dem großen Bart und den guten, nach unten gezogenen Augen, das an Katarrh litt, wandte sich an den Vorsitzenden, weil es sich sehr geschwächt fühlte.

»Und wozu braucht man das zu lesen? Man zieht nur die Sache in die Länge. Diese neuen Besen kehren nicht besser, sondern länger.«

Das Mitglied mit der goldenen Brille sagte nichts; es sah aber finster und entschieden vor sich hin, indem es weder von seiner Frau noch vom Leben etwas Gutes erwartete.

Das Verlesen der Akte begann:

»Im Jahre 188., am 15. Februar habe ich, Unterzeichneter, im Auftrage der medizinischen Abteilung unter der Nr. 638,« fing der Sekretär mit Entschlossenheit an, indem er die Stimme erhöhte, als ob er den alle Anwesenden niederdrückenden Schlaf vertreiben wolle, »in Anwesenheit des medizinischen Unterinspektors eine Untersuchung der Eingeweide angestellt:

  1. Der rechten Lunge und des Herzen: (in einem sechspfündigen Glas).
  2. Des Mageninhalts (in einem sechspfündigen Glas).«

Der Vorsitzende beugte sich im Beginn der Vorlesung zu einem der Mitglieder und flüsterte etwas, dann zu einem anderen, und nachdem er eine bejahende Antwort bekommen, unterbrach er die Vorlesung an dieser Stelle.

»Das Gericht erklärt das Verlesen der Akte für überflüssig«, sagte er.

Der Sekretär verstummte, indem er die Papiere zusammenlegte. Der Staatsanwalt fing zornig an, etwas aufzuschreiben.

»Die Herren Geschworenen können die corpora delicti besichtigen«, sagte der Vorsitzende.

Der Obmann und einige der Geschworenen erhoben sich und kamen, voller Verlegenheit wegen der Bewegungen oder der Lage, welche sie ihren Händen geben sollten, an den Tisch und betrachteten nach der Reihe den Fingerring, das Gläschen und den Filter. Der Kaufmann probierte sogar den Fingerring auf seinem Finger an.

»Ja, das war ein Finger«, sagte er, nachdem er auf seinen Platz zurückgekehrt war. »Wie eine gute Gurke«, fügte er hinzu, sich augenscheinlich ergötzend an der Vorstellung eines Recken gleichsam, die er sich von dem vergifteten Kaufmann gebildet hatte.

 

Als die Besichtigung der corpora delicti beendigt war, erklärte der Vorsitzende die gerichtliche Untersuchung für geschlossen, und ohne Unterbrechung, weil er mit der Sache bald zu Ende sein wollte, überließ er das Wort dem öffentlichen Ankläger, voller Hoffnung, daß derselbe auch ein Mensch sei, und Lust habe zu rauchen und zu Mittag zu essen, und daß er mit ihnen ein Erbarmen haben werde. Aber der Staatsanwalt erbarmte sich weder seiner selbst noch ihrer. Der Staatsanwalt war von Natur sehr dumm, aber außerdem hatte er das Unglück gehabt, das Gymnasium mit der goldenen Medaille zu absolvieren und in der Universität einen Preis für seine Arbeit über die Servitute, nach dem römischen Recht, zu erhalten; deswegen war er im höchsten Grade selbstvertrauend und selbstzufrieden (was seine Erfolge bei den Damen noch mehr begünstigten), und also war er außerordentlich dumm. Als ihm das Wort überlassen worden, richtete er sich langsam auf, indem er seine graziöse Figur in der gestickten Uniform hervortreten ließ, und beide Hände auf dem Schreibpult, und leicht den Kopf neigend, sah er sich im Saal um, wobei er die Blicke der Angeklagten mied, und fing an:

»Die Tatsache, welche Ihnen, meine Herren Geschworenen, vorliegt,« begann er seine während der Vorlesung der Protokolle und der Akten vorbereiteten Rede, »ist, wenn man sich so ausdrücken darf, ein charakteristisches Verbrechen.«

»Sie sehen vor sich, meine Herren Geschworenen, wenn man sich so ausdrücken darf, ein charakteristisches Verbrechen, fin de siècle, das an sich die, sozusagen, spezifischen Züge dieser traurigen Erscheinung der Auflösung trägt, welcher in unserer Zeit jene Elemente unserer Gesellschaft unterliegen, die sich unter den besonders, sozusagen, brennenden Strahlen dieses Prozesses befinden . . .«

Der Staatsanwalt sprach sehr lange, einerseits sich bemühend, sich aller jener klugen Sachen zu erinnern, welche er zuvor erdacht hatte, andererseits, und das war die Hauptsache, sich Mühe gebend, nicht einmal für einen Augenblick stecken zu bleiben, und so zu machen, daß seine Rede sich, ohne zu verstummen, während fünf viertel Stunden ergoß. Nur einmal blieb er stecken und ziemlich lange schluckte er Speichel, aber dann war er damit fertig und holte diese Verzögerung durch verstärkte Beredsamkeit nach. Er sprach bald mit zarter, einschmeichelnder Stimme, von einem Fuß auf den anderen tretend und auf die Geschworenen sehend, bald in ruhigem, geschäftsmäßigem Ton, in sein Heft blickend, bald mit lauter überführender Stimme, indem er sich dann an die Zuschauer, dann an die Geschworenen wandte. Nur auf die Angeklagten, die ihn mit den Augen verschlangen, blickte er kein einziges Mal. In seiner Rede war alles Allerletzte, was damals in seinem Kreise im Gange war, und was für das letzte Wort der wissenschaftlichen Weisheit galt und noch jetzt gilt. Es war darin die Vererbungstheorie und das angeborene Verbrechertum.

Der Kaufmann Smeljkow war, nach der Definition des Staatsanwaltes, ein Typus des mächtigen, ungebrochenen russischen Menschen mit seiner breiten Natur, der infolge seiner Zutraulichkeit und seiner Großmut als Opfer der tief verdorbenen Persönlichkeiten gefallen, in deren Macht er geraten. Simon Kartinkin war das atavistische Produkt der Leibeigenschaft, ein verschüchterter Mensch, ohne Bildung, ohne Prinzipien, sogar ohne Religion. Euphemia war sein Schatz und ein Opfer der Vererbung. In ihr waren alle Merkmale einer degenerierenden Persönlichkeit zu bemerken. Die eigentliche treibende Kraft aber des Verbrechens war verkörpert in der Maslowa, die die Erscheinung des Dekadententums in seinen niedrigsten Vertretern darstellte. »Diese Frau hat«, sprach der Staatsanwalt, ohne auf sie zu sehen, »Bildung genossen, wir haben hier vor dem Gericht die Aussagen ihrer Wirtin gehört. Sie versteht nicht nur zu lesen und zu schreiben, sondern sie kann auch französisch; sie ist eine Waise, die in sich wahrscheinlich die Keime des Verbrechens trägt; sie ward in einer intelligenten, adeligen Familie erzogen und hätte können von ehrlicher Arbeit leben; aber sie verläßt ihre Wohltäter, ergibt sich ihren Leidenschaften, und um dieselben zu befriedigen, tritt sie in das Toleranzhaus, wo sie sich vor ihren Genossinnen durch ihre Bildung auszeichnet, und hauptsächlich, wie Sie alle hier, meine Herren Geschworenen, von ihrer Wirtin gehört haben, durch die Fähigkeit vermittelst jener geheimnisvollen Eigenschaft auf die Besucher einzuwirken, die unter dem Namen der Suggestion bekannt ist. Durch diese selbe Eigenschaft bemächtigt sie sich dieses russischen Recken, des gutmütigen, zutraulichen Ssadko,Die altrussische Sagenfigur eines Kaufmanns aus Nowgorod, »der reiche Gast«.des reichen Gastes, und sie braucht sein Zutrauen dazu, um ihn erst zu bestehlen und nachher erbarmungslos des Lebens zu berauben.«

»Nun, das scheint mir schon zu weitläufig gefaselt«, sagte der Vorsitzende lächelnd, indem er sich zu dem strengen Gerichtsmitglied neigte.

»Ein fürchterlicher Dummkopf«, sagte das strenge Mitglied.

»Meine Herren Geschworenen, in Ihrer Macht liegt das Schicksal dieser Personen, aber in Ihrer Macht liegt ja teilweise auch das Schicksal der Gesellschaft, auf welche Sie durch Ihr Urteil einwirken. Dringen Sie in die Bedeutung dieses Verbrechens ein, in die Gefahr, welche der Gesellschaft bevorsteht seitens solcher, sozusagen pathologischer Individuen, wie es die Maslowa ist, und schützen Sie dieselbe vor der Ansteckung, schützen Sie die unschuldigen, kräftigen Elemente dieser Gesellschaft vor der Ansteckung und oft vor der Verderbnis.«

Und gleichsam selber von der Wichtigkeit des bevorstehenden Urteils erdrückt, ließ sich der Staatsanwalt auf seinen Stuhl nieder, augenscheinlich bis zum äußersten Grade von seiner Rede entzückt.

Der Sinn seiner Rede, abgesehen von den Blumen der Beredsamkeit, war der, daß die Maslowa den Kaufmann hypnotisierte, indem sie sich in sein Vertrauen einschmeichelte, und als sie des Geldes wegen mit dem Kofferschlüssel angefahren kam, alles für sich selber nehmen wollte, aber, da sie von Simon und Euphemia überrascht worden, mit ihnen teilen mußte. Nachher aber, um die Spuren des Verbrechens zu verbergen, kam sie mit dem Kaufmann abermals in das Gasthaus gefahren, und dort vergiftete sie ihn.

Nach der Rede des Staatsanwaltes stand von der Advokatenbank ein Mann von mittlerem Alter auf und hielt flink eine Rede zur Verteidigung des Kartinkin und der Botschkowa. Das war der von ihnen für 300 Rubel gemietete vereidigte Rechtsanwalt. Er rechtfertigte sie beide, und die ganze Schuld schob er auf die Maslowa. Er verwarf die Aussage der Maslowa darüber, daß Botschkowa und Kartinkin mit ihr zusammen waren, als sie das Geld nahm, darauf bestehend, daß ihre Aussage, als die einer überführten Giftmischerin, kein Gewicht haben könne. Das Geld, 2500 Rubel, sagte der Advokat, könnte von zwei arbeitsamen und redlichen Menschen, die manchmal an einem Tage drei bis fünf Rubel von den Besuchern bekamen, verdient worden sein. Das Geld des Kaufmannes ward von der Maslowa entwendet und jemanden übergeben, oder sogar verloren, weil sie nicht in normalem Zustand war. Die Vergiftung vollbrachte die Maslowa allein.

Darum bat er die Geschworenen, den Kartinkin und die Botschkowa der Entwendung unschuldig anzuerkennnen; wenn sie aber sie der Entwendung für schuldig anerkennen würden, so doch ohne Teilnahme an der Vergiftung und ohne vorgefaßte Absicht.

Darauf erhob sich der Verteidiger der Maslowa, und schüchtern, stotternd brachte er seine Verteidigungsrede vor.

Ohne abzuleugnen, daß die Maslowa an der Geldentwendung teilgenommen, bestand er nur darauf, daß sie keine Absicht gehabt, den Smeljkow zu vergiften, und daß sie ihm das Pulver gab, damit er einschliefe. Er wollte auch etwas Beredsamkeit entwickeln, indem er eine Schilderung zu geben gedachte, wie die Maslowa von einem Mann ins Verderben hineingezogen worden, der straflos geblieben, während sie die ganze Schwere ihres Falles tragen mußte; aber dieser Exkurs in das Gebiet der Psychologie gelang ihm ganz und gar nicht, so daß alle sich beschämt fühlten.

Nach diesem Verteidiger erhob sich wieder der Staatsanwalt und verteidigte seinen Satz über die Vererbung damit, daß die Gewißheit der Vererbungslehre, wenn auch die Botschkowa die Tochter unbekannter Eltern sei, durch diesen Umstand nicht entkräftet werde, weil das Gesetz der Vererbung soweit von der Wissenschaft festgestellt sei, daß wir nicht nur aus der Vererbung das Verbrechen ableiten können, sondern auch die Vererbung aus dem Verbrechen. Was aber die Voraussetzung des Verteidigers anbetrifft, daß die Maslowa von einem erdichteten (das Wort »erdichteten« hat er besonders giftig gesagt) Verführer verdorben worden, so sprechen alle Data eher dafür, daß sie eine Verführerin vieler und vieler Opfer, die ihre Hände passiert hatten, war. Nachdem er das gesagt hatte, ließ er sich siegreich nieder.

Darauf wurde den Angeklagten vorgeschlagen, sich zu rechtfertigen.

Euphemia Botschkowa wiederholte, daß sie nichts wüßte und an nichts teilgenommen hätte, aber hartnäckig wies sie auf die Maslowa hin, als die Urheberin alles dessen. Simon hat nur einige Male wiederholt:

»Es steht bei Ihnen, aber nur schuldlos, umsonst.«

Die Maslowa aber sagte gar nichts.

Auf den Vorschlag des Vorsitzenden, das zu sagen, was sie zu ihrer Verteidigung anzuführen habe, hob sie nur die Augen zu ihm auf, blickte sich nach allen um, wie ein gehetztes Tier, und sogleich ließ sie die Blicke sinken und fing an zu weinen, laut und schluchzend.

»Was haben Sie?« fragte der Kaufmann, der neben dem Nechljudow saß, als er den seltsamen Ton hörte, den plötzlich Nechljudow von sich gab. Dieser Ton war ein unterdrücktes Schluchzen. Nechljudow verstand noch immer nicht die ganze Bedeutung seiner gegenwärtigen Lage, und er schrieb das kaum verhaltene Schluchzen und die ihm in die Augen getretenen Tränen der Schwäche seiner Nerven zu. Er setzte den Zwicker auf, um die Tränen zu verbergen, dann nahm er das Taschentuch und fing an, die Nase zu schnäuzen.

Die Furcht vor der Schande, mit welcher er sich bedecken würde, wenn alle hier im Gerichtssaal seine Tat erführen, übertäubte die in ihm vor sich gehende innere Arbeit; diese Furcht war in dieser ersten Zeit das Gewaltigste von allem in ihm.

 

Nach dem letzten Worte der Angeklagten, und nach den Besprechungen der Parteien über die Form der Fragestellung, die noch ziemlich lange Zeit dauerten, waren die Fragen gestellt worden, und der Vorsitzende begann sein Resumé.

Vor der Darstellung des Tatbestandes erklärte er sehr lange den Geschworenen mit angenehmer, familiärer Betonung, daß Raub Raub sei, aber Diebstahl sei Diebstahl, und daß Entwendung aus einem verschlossenen Raume eine Entwendung aus einem verschlossenen Raume sei; Entwendung aber aus einem nicht verschlossenen Raum sei eine Entwendung aus einem nicht verschlossenen Raum. Und indem er das erklärte, blickte er besonders häufig auf den Nechljudow, als ob er vor allem wünschte, ihm diesen wichtigen Umstand beizubringen, in der Hoffnung, daß er, nachdem er ihn begriffen, ihn auch seinen Kollegen klar machen werde. Dann, als er annahm, daß die Geschworenen schon genug von diesen Wahrheiten durchdrungen wären, begann er eine andere Wahrheit darüber zu entwickeln, daß Todschlag eine Handlung heißt, durch welche der Tod eines Menschen erfolgt, daß Vergiftung daher auch ein Todschlag sei. Und als auch diese Wahrheit, seiner Meinung nach, von den Geschworenen aufgenommen worden, erklärte er ihnen, daß, wenn ein Diebstahl und ein Todschlag zusammen verübt worden sind, den Bestand des Verbrechens in diesem Falle ein Diebstahl und ein Todschlag ausmachen.

Trotzdem er selber Lust hatte, etwas früher mit der Sache fertig zu sein, und trotzdem die Schweizerin schon auf ihn wartete, war er an seine Beschäftigung so gewöhnt, daß er, als er einmal zu reden angefangen, schon nicht mehr aufhören konnte und daher die Geschworenen belehrte, daß sie das Recht haben, wenn sie die Angeklagten schuldig finden, sie für schuldig zu erklären; wenn sie sie aber unschuldig finden, so haben sie das Recht, sie für unschuldig zu erklären; wenn sie aber sie des einen Verbrechens schuldig und des anderen unschuldig finden, so haben sie das Recht, sie des einen schuldig, des anderen aber unschuldig zu erklären. Darauf setzte er ihnen noch auseinander, daß sie, ungeachtet dieses Recht ihnen zuerkannt sei, von demselben in vernünftiger Weise Gebrauch machen müßten. Er wollte ihnen auch erklären, daß, wenn sie auf die gestellte Frage eine bejahende Antwort gäben, sie durch diese Antwort alles das, was in der Frage enthalten sei, anerkennen, sie eine Klausel machen müßten über das, was sie nicht anerkennen. Aber er blickte auf die Uhr, und als er sah, daß es schon fünf Minuten weniger drei Uhr war, entschloß er sich, sogleich zur Darlegung des Tatbestandes überzugehen.

»Der Tatbestand dieser Sache ist folgender«, fing er an und wiederholte alles das, was schon mehrere Male gesagt worden, von den Verteidigern sowohl, wie von dem Staatsanwalt und von den Zeugen.

Es schien, alles war gesagt worden. Aber der Vorsitzende konnte sich nicht von seinem Recht, zu sprechen, trennen, so angenehm war es ihm, die eindringlichen Intonationen seiner Stimme zu hören, und er fand es nötig, noch einige Worte zu sagen von der Wichtigkeit jenes Rechts, welches den Geschworenen gegeben worden, darüber, wie sie es mit Aufmerksamkeit und Vorsicht benutzen und nicht mißbrauchen müssen.

Seitdem der Vorsitzende zu sprechen angefangen, sah ihn die Maslowa an, ohne die Augen abzuwenden, als ob sie besorgte, ein Wort zu verlieren; darum fürchtete Nechljudow nicht, ihr mit den Augen zu begegnen und sah sie ohne Unterbrechung an. Und in seiner Vorstellung ging jene gewöhnliche Erscheinung vor sich, daß das seit langem nicht gesehene Gesicht eines geliebten Menschen, nachdem es zuerst mit seinen äußerlichen Veränderungen, welche während der Zeit der Abwesenheit stattgefunden haben, frappiert hatte, nach und nach wieder vollkommen dasselbe wird, wie es vor vielen Jahren gewesen; alle stattgefundenen Veränderungen verschwinden, und vor dem geistigen Auge tritt nur der Hauptausdruck der ausschließlichen, unwiederholbaren, geistigen Persönlichkeit hervor. Eben dasselbe ging in Nechljudow vor sich.

Ja, trotz dem Arrestantenschlafrock, dem ganzen breiter gewordenen Körper, der ausgewachsenen Brust, trotz dem inzwischen auseinander gegangenen unteren Teil des Gesichtes, trotz den Fältchen auf der Stirn und an den Schläfen, und trotz den etwas angeschwollenen Augen, war das unzweifelhaft dieselbe Katjuscha, welche am Ostersonntag ihn, den von ihr geliebten Menschen, mit ihren verliebten, vor Freude und Fülle des Lebens lachenden Augen so unschuldig von unten nach oben angesehen.

»Und ein so merkwürdiger Zufall. Und mußte es sich so treffen, daß der Prozeß gerade auf meine Session fällt; daß ich, ohne ihr seit zehn Jahren irgendwo zu begegnen, sie hier auf der Bank der Angeklagten treffe. Und womit wird das alles enden? Wäre es schneller, ach, schneller zu Ende!«

 

Endlich schloß der Vorsitzende seine Rede, hob mit graziöser Bewegung die Frageliste in die Höhe und übergab sie dem zu ihm herangetretenen Obmann. Die Geschworenen standen auf, und froh, weggehen zu dürfen, gingen sie ohne zu wissen, was sie mit ihren Händen tun sollten, einer nach dem andern in das Beratungszimmer. Sobald die Tür hinter ihnen geschlossen worden, kam an diese Tür ein Gendarm; er riß den Säbel aus der Scheide, legte ihn an die Schulter und blieb an der Tür stehen.

Die Richter erhoben sich und gingen fort. Die Angeklagten wurden auch hinausgeführt.

Nachdem die Geschworenen in das Beratungszimmer eingetreten, holten sie in erster Linie Zigaretten hervor, wie auch früher, und fingen an zu rauchen.

»Das Dirnlein ist unschuldig, es hat sich verwickelt,« sagte der gutmütige Kaufmann, »man muß ihm mildernde Umstände geben.«

»Wollen wir eben das jetzt erwägen«, sagte der Obmann.

»Wir müssen nicht unseren persönlichen Eindrücken nachgeben.«

»Eine gute Zusammenfassung hat der Vorsitzende geliefert«, bemerkte der Oberst.

»Ja, gut! Ich bin beinahe eingeschlafen.«

»Die Hauptsache ist, daß die Dienstboten nichts von dem Gelde wissen konnten, wenn die Maslowa nicht mit ihnen einverstanden gewesen wäre«, sagte der Kommis vom jüdischen Typus.

»Also, was ist denn? Hat sie, Ihrer Meinung nach, gestohlen?« fragte einer der Geschworenen.

»Um nichts in der Welt würde ich dies glauben,« schrie der gutmütige Kaufmann, »aber alles hat diese rotäugige Schelmin ausgefressen.«

»Die sind alle gut«, sagte der Oberst.

»Aber sie sagt ja, daß sie nicht in die Nummer hineingegangen.«

»So, glauben Sie ihr nur! Ich würde diesem Luder in meinem Leben nicht glauben.«

»Aber was macht das? Es liegt ja nicht viel dran, daß Sie ihr nicht glauben würden«, sagte der Kommis.

»Den Schlüssel hat sie.«

»Und was bedeutet das, daß sie ihn hatte?« erwiderte der Kaufmann.

»Und der Fingerring?«

»Aber sie hat es ja erzählt«, schrie der Kaufmann wieder. »Der Kaufmann war ja charaktervoll, und dazu noch angetrunken, hat sie durchgeprügelt. Nun, nachher aber, es ist eine bekannte Sache, bedauert er sie: ›hier, nimm, nur weine nicht‹. Was für ein Mensch er war, hast du wohl gehört; zwölf Werschockd. h. 12 Werschock über 2 Arschin. Anm. d. Übers. und so was wie acht Pud!«

»Nicht das ist die Hauptsache,« unterbrach ihn Peter Gerassimowitsch, »die Frage besteht darin: hat sie die ganze Sache angestiftet oder die Dienstboten?«

»Die Dienstboten allein können es nicht getan haben. Den Schlüssel hatte sie.«

Die zusammenhanglose Unterredung ging eine ziemlich lange Zeit vor sich.

»Aber erlauben Sie, meine Herren,« sagte der Obmann, »wollen wir uns an den Tisch setzen und die Sache erwägen. Bitte«, sagte er, sich auf den Präsidentenplatz setzend.

»Ein scheußliches Gesindel, diese Dirnen«, sagte der Kommis, und um die Meinung zu bekräftigen, daß die Maslowa die Hauptschuldige sei, erzählte er, wie eine solche seinem Kameraden auf dem Boulevard die Uhr gestohlen habe.

»Meine Herren, ich bitte, den Fragen nach«, sagte der Obmann, indem er mit dem Bleistift auf den Tisch klopfte.

Alle schwiegen.

Diese Fragen waren folgendermaßen ausgedrückt:

1. Ist der Bauer des Dorfes Borki, Bezirk Krapiwensk, Simon Petrow Kartinkin, 33 Jahre alt, dessen schuldig, daß er am 17. Januar 188. In der Stadt N., nachdem er den Kaufmann Smeljkow ums Leben zu bringen beabsichtigt mit dem Vorsatz, ihn zu berauben, im Einverständnis mit einer anderen Person, ihm Gift im Cognak gegeben hat, wodurch der Tod des Smeljkow erfolgte; und daß er demselben Geld, etwa 2500 Rubel und einen Brillantring entwendet?

2. Ist die Euphemia Iwanowna Botschkowa, 43 Jahre alt, des in der ersten Frage beschriebenen Verbrechens schuldig?

3. Ist die Kleinbürgerin Katharina Michajlowa Maslowa, 27 Jahre alt, des in der ersten Frage beschriebenen Verbrechens schuldig?

4. Wenn die Angeklagte Euphemia Botschkowa nach der ersten Frage unschuldig ist, ist sie dann nicht etwa dessen schuldig, am 17. Januar 188. in der Stadt N., während sie im Gasthause »Mauritanien« im Dienst stand, heimlich bei einem Logiergast, dem Kaufmann Smeljkow, aus dem verschlossenen Koffer, der sich in seinem Zimmer befand, Geld, 2500 Rubel, entwendet zu haben, wozu sie den Koffer auf der Stelle, wo er sich befand, mit einem mitgebrachten falschen Schlüssel aufgeschlossen?

Der Obmann las die erste Frage vor.

»Nun, wie ist es denn, meine Herren!«

Diese Frage wurde sehr schnell beantwortet. Alle kamen überein, zu antworten: »ja, schuldig«, indem man Kartinkin als Mittäter sowohl an der Entwendung als auch an der Vergiftung erkannte. Nicht einverstanden, den Kartinkin für schuldig zu erklären, war nur der alte Artelschtschik allein, der auf alle Fragen im Sinne der Rechtfertigung antwortete.

Der Obmann dachte, daß er nicht verstehe und erklärte ihm, wie es nach allem unzweifelhaft sei, daß Kartinkin und Botschkowa schuldig seien; der Artelschtschik aber antwortete, daß er verstehe, aber es sei doch besser, Mitleid mit ihnen zu haben. »Wir sind ja selber keine Heiligen.« Und so blieb er auch bei seiner Meinung. Auf die zweite Frage, die Botschkowa betreffend, hat man nach langen Unterredungen und Erklärungen geantwortet: nicht schuldig, weil keine offenbaren Beweise für ihre Teilnahme an der Vergiftung vorlagen, was ihr Advokat besonders betonte.

Der Kaufmann, der die Maslowa rechtfertigen wollte, bestand darauf, daß die Botschkowa die Hauptanstifterin von allen sei. Viele Geschworene stimmten ihm zu; aber der Obmann, der streng legal sein wollte, sagte, daß es keinen Grund gäbe, sie als Teilnehmerin an der Vergiftung zu erklären.

Nach langen Streitigkeiten triumphierte die Meinung des Obmannes.

Auf die vierte Frage, auch betreffs der Botschkowa, hat man geantwortet: »ja, schuldig,« und auf Anhalten des Artelschtschiks fügte man hinzu, »aber sie verdient mildernde Umstände«.

Die dritte Frage aber über die Maslowa rief einen erbitterten Streit hervor. Der Obmann bestand darauf, daß sie des Raubes und der Vergiftung schuldig sei; der Kaufmann war damit nicht einverstanden und mit ihm zusammen der Oberst, der Kommis und der Artelschtschik nicht, – die übrigen schienen zu schwanken; aber die Ansicht des Obmanns begann vorzuherrschen, besonders, weil die Geschworenen ermüdet waren und sich bereitwilliger an die Meinung anschlossen, die versprach, sie schneller zu vereinigen und darum alle zu befreien.

Nach alledem, was bei der gerichtlichen Untersuchung vor sich gegangen, und nach dem, wie Nechljudow die Maslowa kannte, war er überzeugt, daß sie weder an der Entwendung, noch an der Vergiftung schuldig sei, und anfangs war er sicher, daß alle das anerkennten; aber er mußte einsehen, daß die Entscheidung sich infolge verschiedener Umstände zuungunsten der Verurteilten zu neigen anfing. Da war erstens die ungeschickte Verteidigung durch den Kaufmann, die augenscheinlich darauf begründet war, daß die Maslowa ihm physisch gefiel, was er auch nicht verhehlte, da war der Widerstand des Obmanns, eben dieses Grundes wegen; da war hauptsächlich die allgemeine Ermüdung der Beteiligten. Nechljudow wollte etwas einwenden, aber er fürchtete, für die Maslowa zu sprechen; es schien ihm, daß alle sogleich sein Verhältnis zu ihr erfahren würden. Inzwischen aber fühlte er, daß er die Sache nicht so lassen könne, daß er Einwände erheben müsse. Er wurde rot, er wurde blaß, und eben wollte er anfangen zu sprechen, als Peter Gerassimowitsch, der bis dahin stillgeschwiegen, augenscheinlich durch den autoritären Ton des Obmanns empört, plötzlich anfing, diesen zu widerlegen und dasselbe zu sagen, was Nechljudow hatte sagen wollen.

»Erlauben Sie,« rief er, »Sie sagen, daß die Maslowa des Diebstahls schuldig sei, weil sie den Schlüssel besaß, aber konnten denn die Korridorbedienten nicht nach ihr den Koffer mit einem falschen Schlüssel aufschließen?«

»Ja ja! Ja ja!« bestätigte der Kaufmann.

»Und Geld konnte sie ja nicht nehmen, weil sich in ihrer Lage nichts damit anfangen läßt.«

»Das ist's ja, was ich sage! Ganz dasselbe«, bestätigte der Kaufmann.

»Wahrscheinlich ist, daß sie durch ihre Ankunft den Korridordienern den Gedanken eingegeben hat, und die haben dann die Gelegenheit benutzt und nachher alles auf die Maslowa gewälzt.«

Peter Gerassimowitsch sprach mit gereizter Stimme, und seine Gereiztheit teilte sich dem Obmann mit, der infolgedessen mit besonderer Hartnäckigkeit seine entgegengesetzte Meinung zu verteidigen begann; aber Peter Gerassimowitsch sprach so überzeugend, daß die Mehrheit ihm zustimmte, indem sie anerkannten, daß die Maslowa an der Geldentwendung nicht Teil genommen habe, daß der Fingerring ihr geschenkt worden sei.

Als aber das Gespräch auf ihre Teilnahme an der Vergiftung überging, sagte ihr heißer Verteidiger, der Kaufmann, daß man sie unschuldig erkennen solle. Der Obmann sagte aber, daß es unmöglich sei, sie für unschuldig zu erklären, da sie selbst bekannt habe, ihm das Pulver gegeben zu haben.

»Gegeben, aber sie dachte, daß es Opium sei«, sagte der Kaufmann.

»Sie konnte ihn auch mit Opium des Lebens berauben«, sagte der Oberst, der sich gern in Abschweifungen einließ; und er fing bei dieser Gelegenheit an, davon zu erzählen, daß die Frau seines Schwagers sich mit Opium vergiftet habe, und auch gestorben sein würde, wäre nicht der Doktor in der Nähe gewesen und wären nicht rechtzeitig Maßregeln getroffen worden. Der Oberst erzählte so eindringlich, selbstbewußt und mit solcher Würde, daß niemand den Mut hatte, ihn zu unterbrechen. Nur der Kommis, von seinem Beispiel angesteckt, entschloß sich, ihm dazwischenzufahren, um seine Geschichte zu erzählen:

»Manche gewöhnen sich so stark daran, daß sie vierzig Tropfen einnehmen können, ich habe einen Verwandten, der . . .«

Aber der Oberst ließ sich nicht unterbrechen und setzte seine Erzählung von den Folgen der Einwirkung des Opiums auf die Frau seines Schwagers fort.

»Aber es ist schon über vier Uhr, meine Herren«, sagte einer der Geschworenen.

»Also, wie ist's denn, meine Herren?« wandte sich der Obmann an die Geschworenen, »wollen wir sie schuldig erklären? Aber ohne Vorsatz zu berauben, und Eigentum hat sie nicht entwendet. Ist es so?«

Peter Gerassimowitsch, der mit seinem Siege zufrieden war, willigte ein.

»Aber sie verdient mildernde Umstände«, fügte der Kaufmann hinzu.

Alle waren einverstanden. Nur der Artelschtschik beharrte darauf, daß man sagen solle: »nein, nicht schuldig.«

»Los und drauf, so! Und Nachsicht verdient sie, um sie von allem, was ihr noch anklebt, zu reinigen.«

Alle waren so ermüdet, hatten sich so in Streitigkeiten verwickelt, daß es niemandem eingefallen, zu der Antwort hinzuzufügen: ja, aber ohne den Vorsatz, des Lebens zu berauben.

Nechljudow war so aufgeregt, daß er dies nicht bemerkte. Also wurden die Antworten in dieser Form niedergeschrieben und in den Gerichtssaal getragen.

Diese oder jene Entscheidung wurde nicht etwa angenommen, weil alle zu einem Einverständnis gekommen waren, sondern erstens, weil der Vorsitzende, der so lange Zeit zu seinem Resumé gebraucht, diesmal vergessen hatte, das zu sagen, was er immer sagte, nämlich: daß die Geschworenen in Beantwortung der Schuldfrage sagen könnten: »ja – schuldig, aber ohne Vorsatz, des Lebens zu berauben«, und zweitens, weil der Oberst sehr breit und sehr langweilig die Geschichte seiner Schwägerin erzählt hatte, drittens, weil Nechljudow so aufgeregt war, daß er die Weglassung der Klausel »aber ohne Vorsatz, des Lebens zu berauben« nicht bemerkte, sondern dachte, daß die Klausel »ohne vorgefaßte Absicht zu berauben« schon die Anklage vernichte; viertens, weil Peter Gerassimowitsch nicht im Zimmer war; er war hinausgegangen, gerade um die Zeit, wo der Obmann die Fragen und Antworten las; vornehmlich aber, weil alle ermüdet waren, weil alle Lust hatten, möglichst schnell loszukommen, und daher derjenigen Entscheidung zustimmten, bei welcher alles am raschesten zu Ende ist.

Die Geschworenen klingelten. Der Gendarm, der mit bloßem, gezogenen Säbel an der Tür stand, steckte den Säbel in die Scheide und trat auf die Seite, die Richter setzen sich auf ihre Plätze, und die Geschworenen kamen einer nach dem andern herein.

Der Obmann trug mit feierlichem Aussehen den Fragebogen. Er trat an den Vorsitzenden heran und reichte ihm denselben. Der Vorsitzende durchlas ihn, und augenscheinlich erstaunt, breitete er die Arme aus und wandte sich beratschlagend an seine Kollegen. Der Vorsitzende war erstaunt, weil die Geschworenen, nachdem sie die erste Klausel: »ohne Vorbedacht zu berauben«, vorbehalten, die zweite Klausel: »ohne Absicht, des Lebens zu berauben«, nicht vorbehalten hatten. Aus der Entscheidung der Geschworenen ergab sich, daß die Maslowa weder gestohlen noch geraubt habe, zugleich aber hatte sie einen Menschen ohne jeglichen ersichtlichen Zweck vergiftet.

»Sehn Sie mal, was für ein ungereimtes Zeug die gebracht haben«, sagte der Vorsitzende zu dem Mitgliede links. »Das bedeutet ja: Zwangsarbeit; sie ist aber unschuldig.«

»Nun, wieso unschuldig?« fragte das ernste Mitglied.

»Aber einfach unschuldig. Meiner Meinung nach haben wir hier Artikel 817 in Anwendung zu bringen.« (Der Artikel 817 lautet dahin, daß, wenn das Gericht das Urteil ungerecht findet, es die Entscheidung der Geschworenen aufheben kann.) »Wie meinen Sie?« wandte sich der Vorsitzende an das gute Mitglied. Das gute Mitglied antwortete nicht sogleich; es blickte auf die Nummer der vor ihm liegenden Akte, addierte die Ziffern zusammen; sie mit drei zu dividieren gelang nicht. Er hatte so bei sich ausgemacht: ist die Ziffer dividierbar, so werde ich beistimmen; aber obgleich sie nicht dividierbar war, stimmte er aus Güte bei.

»Ich glaube auch, daß man es müßte«, sagte er.

»Und Sie?« wandte sich der Vorsitzende an das ärgerliche Mitglied.

»Auf keinen Fall«, antwortete er entschieden. »Auch sonst sagen die Zeitungen, daß die Geschworenen die Verbrecher freisprechen, was sollen sie denn sagen, wenn das Gericht sie freispricht? Ich bin in keinem Falle einverstanden.«

Der Vorsitzende blickte auf die Uhr. »Es ist schade, aber was ist zu tun?« Und er reichte den Fragebogen dem Obmann zum Vorlesen.

Alle standen auf, und der Obmann, verlegen von einem Fuß auf den andern tretend, räusperte sich und las die Fragen und Antworten vor. Alle Gerichtsbeamten: der Sekretär, die Advokaten und sogar der Staatsanwalt drückten ihr Erstaunen aus.

Die Angeklagten saßen teilnahmslos, da sie augenscheinlich die Bedeutung der Antworten nicht verstanden. Der Vorsitzende fragte den Staatsanwalt, welchen Strafen glaube er die Angeklagten unterwerfen zu sollen? Der Staatsanwalt, erfreut durch den unerwarteten Erfolg in bezug auf die Maslowa, denn er schrieb diesen Erfolg seiner Beredsamkeit zu, sah in irgendeinem Buche nach, erhob sich etwas und sagte:

»Den Simon Kartinkin möchte ich glauben auf Grund des Artikel 1452, P. 93, die Euphemia Botschkowa auf Grund des Artikels . . . und Katharina Maslowa auf Grund des Artikels 1454 den dort angedrohten Strafen unterwerfen zu müssen.«

All diese Strafen waren die strengsten, die man nur auferlegen konnte.

»Das Gericht entfernt sich, um die Entscheidung zu treffen«, sagte der Vorsitzende, aufstehend. Alle erhoben sich nach ihm und fingen an, hinauszugehen oder sich im Saal hin und her zu bewegen.

»Aber, Väterchen, wir haben ja etwas Schändliches zusammengelogen,« sagte Peter Gerassimowitsch, an den Nechljudow herantretend, welchem der Obmann etwas erzählte. »Wir haben sie ja zu Zwangsarbeit verdonnert.«

»Was sagen Sie?« schrie Nechljudow auf.

»Nicht anders«, sagte der. »Wir haben in der Antwort nicht gesetzt: schuldig, aber ohne Absicht, des Lebens zu berauben. Der Sekretär hat mir eben gesagt, daß der Staatsanwalt fünfzehn Jahre Zwangsarbeit über sie verhängen will.«

»Aber man hat ja so entschieden«, sagte der Obmann.

Peter Gerassimowitsch fing an zu streiten; es sei selbstverständlich, sagte er, daß, wenn sie kein Geld genommen, sie auch die Absicht nicht haben konnte, ihn des Lebens zu berauben.

»Aber ich habe ja die Antworten vorgelesen, bevor wir hinausgingen«, rechtfertigte sich der Obmann. Niemand erwiderte etwas.

»Ich war um die Zeit aus dem Zimmer gegangen«, sagte Peter Gerassimowitsch. »Aber wie haben Sie das verpassen können?«

»Ich habe durchaus nicht daran gedacht«, sagte Nechljudow.

»Nicht gedacht . . . Aber jetzt ist es so.«

»Aber man kann das noch gutmachen«, sagte Nechljudow.

»O nein, jetzt ist es schon aus.«

Nechljudow sah die Angeklagten an. Sie, deren Schicksal vor der Entscheidung stand, saßen immer ebenso unbeweglich hinter ihrem Gitter vor den Soldaten. Die Maslowa lächelte über irgend etwas.

 

Als der Vorsitzende aus dem Beratungszimmer zurückkehrte, nahm er das Papier und las vor:

Im Jahre 188. am 28. April laut Ukas Seiner Kaiserlichen Majestät Nr. . . . hat das Bezirksgericht, in der Strafgerichtsabteilung, kraft der Entscheidung der Herren Geschworenen auf Grund § 3 Artikel 771, § 3 Artikel 776 und Artikel 777 des Reglements des Kriminalverfahrens erkannt:

den Bauer Simon Kartinkin, 33 Jahre alt, und die Kleinbürgerin Katharina Maslowa, 27 Jahre alt, nach Entziehung aller bürgerlichen Rechte, in Zwangsarbeit zu verschicken: den Kartinkin für acht Jahre und die Maslowa für vier Jahre, beide mit den Folgen laut Artikel 25 des Strafgesetzbuches;

die Kleinbürgerin Euphemia Botschkowa aber, 43 Jahre alt, nach Entziehung aller besonderen, persönlichen, dem Stande nach ihr zukommenden Rechte und Gerechtsame für die Zeit von drei Jahren ins Gefängnis einzuschließen, mit den Folgen laut Artikel 48 des Strafgesetzbuches;

die Gerichtskosten für diesen Prozeß sind den Verurteilten zu gleichen Teilen aufzuerlegen, und im Falle der Zahlungsunfähigkeit auf Rechnung des Fiskus zu setzen;

die betreffenden corpora delicti sind zu verkaufen, der Fingerring ist zurückzuerstatten, die Gläser sind zu vernichten.

Kartinkin stand ebenso gerade aufgereckt, indem er die Hände mit gespreizten Fingern an den Hosennähten hielt und die Wangen bewegte. Die Botschkowa schien vollständig ruhig zu sein. Die Maslowa wurde purpurrot, als sie das Urteil hörte.

»Nicht schuldig bin ich, nicht schuldig!« schrie sie plötzlich über den ganzen Saal hin. »Es ist eine Sünde. Nicht schuldig bin ich. Ich wollte es nicht, ich dachte es nicht. Wahrhaft rede ich! Wahrhaft.« Und sie ließ sich auf die Bank nieder und brach in lautes Weinen aus.

Als Kartinkin und die Botschkowa hinausgegangen waren, blieb sie noch immer auf ihrem Platz sitzen und weinte, so daß der Gendarm sie am Ärmel des Schlafrockes berühren mußte.

»Nein, es ist unmöglich, es so zu lassen«, sagte zu sich selbst Nechljudow. Er wußte selber nicht warum, er eilte in den Korridor, um sie noch einmal zu sehen. Als er in den Korridor hinauskam, war sie schon weit. Mit raschen Schritten holte er sie ein, ja überholte sie und blieb stehen. Sie hörte schon auf zu weinen und schluchzte nur noch in Stößen auf, indem sie ihr stellenweise rot gewordenes Gesicht mit dem Ende des Halstuches abwischte, und ging an ihm vorbei, ohne sich umzusehen.

Nachdem er sie hatte vorbeigehen lassen, kehrte er eilig zurück, um den Vorsitzenden zu sehen, aber der Vorsitzende war schon weg; er hat ihn erst im Vorzimmer eingeholt.

»Herr Vorsitzender,« sagte Nechljudow, »kann ich mit Ihnen über den Prozeß sprechen, der soeben entschieden worden? Ich bin ein Geschworener.«

»Ja, versteht sich, Fürst Nechljudow! Sehr angenehm, wir sind uns schon begegnet«, sagte der Vorsitzende, ihm die Hand drückend. »Womit kann ich Ihnen dienen?«

»Es ist ein Mißverständnis passiert in der Antwort bezüglich der Maslowa. Sie ist unschuldig an der Vergiftung, unterdessen aber hat man sie zur Zwangsarbeit verurteilt«, sagte Nechljudow mit konzentriert-finsterem Aussehen.

»Das Gericht hat das Urteil auf Grund der ja von Ihnen abgegebenen Antworten gefällt,« sagte der Vorsitzende, sich der Ausgangstür nähernd, »obgleich die Antworten auch den Richtern nicht vollständig als der Sache entsprechend erschien.« Er erinnerte sich, wie er den Geschworenen erklären wollte, daß ihre Antwort: »ja, schuldig« – ohne die Verneinung der Absicht des Totschlags den Totschlag mit Vorbedacht bestätige, aber da er sich beeilt zu schließen, hatte er das nicht getan.

»Ja, aber kann man denn nicht den Fehler korrigieren?«

»Ein Grund zur Kassation wird sich immer finden. Man muß sich an die Advokaten wenden«, sagte der Vorsitzende, indem er fortfuhr, sich zum Ausgang zu bewegen.

»Aber es ist ja schrecklich.«

»Nun, sehen Sie, für die Maslowa stand eins von beiden bevor«, sagte der Vorsitzende, und ihn zur Ausgangstür lenkend, fuhr er fort: »Sie gehen doch auch?«

»Jawohl«, sagte Nechljudow, sich eilig anziehend und ging mit ihm.

»Die Lage ist, Sie sehen es wohl, seltsam,« fuhr der Vorsitzende fort, die Stimme erhebend, »ihr, dieser Maslowa stand eins von beiden bevor: entweder beinahe eine Rechtfertigung, eine Gefängnisstrafe, für welche auch das angerechnet werden konnte, daß sie schon gesessen hatte, sogar nur ein Arrest, oder – Zwangsarbeit, ein Mittelding gibt's nicht. Wenn Sie die Worte hinzugefügt hätten: ›aber ohne die Absicht, den Tod herbeizuführen‹, so wäre sie freigesprochen worden.«

»Ich habe das unverzeihlich übersehen«, sagte Nechljudow.

»Das ist eben die Sache«, sagte lächelnd der Vorsitzende, indem er auf die Uhr sah. Es blieben nur drei viertel Stunden bis zum letzten Termin übrig, der ihm von Klara bestimmt worden war.

»Jetzt, wenn Sie wollen, wenden Sie sich an die Advokaten. Man muß einen Grund zur Kassation finden. Den kann man immer finden. Nach der Dworjanskajastraße,« antwortete er dem Mietkutscher, »dreißig Kopeken, mehr zahle ich nie.«

»Bitte, Exzellenz.«

»Mein Kompliment. Wenn ich mit etwas dienen kann, Dwornikows Haus, auf der Dworjanskaja – es ist leicht zu behalten.« Und freundlich sich verbeugend, fuhr er weg.

 

Das Gespräch mit dem Vorsitzenden und die reine Luft haben den Nechljudow etwas beruhigt. Versteht sich, es ist ein merkwürdiges Zusammentreffen. Und es ist notwendig, alles Mögliche zu tun, um ihr Schicksal zu mildern, und es möglichst schnell zu tun. Sogleich. Ja, man muß hier im Gericht erfahren, wo der Fanarin oder der Mikischin wohnt. Er erinnerte sich der zwei berühmten Advokaten.

Nechljudow kehrte in das Gerichtsgebäude zurück. Aber schon im ersten Korridor stieß er auf den Fanarin. Er hielt ihn auf und sagte, daß er etwas mit ihm zu tun habe. Fanarin kannte ihn von Ansehen und dem Namen nach und sagte, daß er sehr froh sei, alles zu tun, was ihm, dem Nechljudow, angenehm sei.

»Obgleich ich müde bin . . . aber wenn es nicht lange dauert, so sagen Sie mir Ihre Sache; wollen wir hineingehen.«

Und Fanarin führte den Nechljudow in ein Zimmer, wahrscheinlich das Kabinett irgendeines Richters. Sie setzten sich an den Tisch.

»Nun, was haben Sie?«

»Vor allem bitte ich Sie,« sagte Nechljudow, »niemand wissen zu lassen, daß ich an dieser Sache beteiligt bin.«

»Nun, das ist selbstverständlich . . . Also . . .«

»Heute war ich Geschworener, und wir haben eine Frau zur Zwangsarbeit verurteilt – eine Unschuldige. Das quält mich.« Nechljudow wurde rot und blieb stecken. Fanarin blinkte mit den Augen zu ihm auf und ließ sie wieder sinken, während er zuhörte.

»Und?« sagte er nur.

»Wir haben eine Unschuldige verurteilt, und ich möchte das Urteil kassieren und den Prozeß einer höheren Instanz übertragen.«

»Dem Senat«, berichtete Fanarin.

»Und nun bitte ich Sie, das auf sich zu nehmen.«

Nechljudow wollte das Schwerste möglichst schnell beenden, und darum sagte er auch sogleich: »Die Entschädigung, die Kosten dieses Prozesses nehme ich auf mich, welche sie auch sein möchten«, sagte er errötend.

»Nun, das werden mir mit Ihnen verabreden«, sagte der Advokat, nachsichtig über seine Unerfahrenheit lächelnd.

»Worin besteht denn die Sache?«

Nechljudow erzählte.

»Schön, morgen lasse ich mir den Prozeß geben und gehe ihn durch; übermorgen, nein, am Donnerstag, kommen Sie zu mir um 6 Uhr abends, und ich werde Ihnen die Antwort geben. Nicht wahr? Nun, jetzt wollen wir gehn. Ich habe hier noch Erkundigungen einzuziehen.«

Nechljudow nahm Abschied und ging hinaus.

Die Unterhaltung mit dem Advokaten und der Umstand, daß er schon Maßregeln zur Verteidigung der Maslowa getroffen, beruhigten ihn noch mehr. Er trat ins Freie, das Wetter war schön, er atmete freudig die Frühlingsluft. Die Mietkutscher boten Ihre Dienste an, aber er ging zu Fuß.

Er erinnerte sich an das Mittagessen bei Kortschagins und blickte auf die Uhr. Es war noch nicht zu spät, und er konnte noch zum Mittagessen da sein. Es klingelte ein Tramway vorbei. Er setzte sich in Trab und sprang hinein. Auf dem Platze sprang er hinaus, nahm einen guten Mietkutscher, und in zehn Minuten war er an der Auffahrt des großen Hauses der Kortschagins.

 

Bitte schön, Ew. Erlaucht sind erwartet«, sagte der freundliche, beleibte Schweizer des großen Hauses der Kortschagins. »Man speist. Nur Sie hat man befohlen, hereinzubitten.«

Der Schweizer näherte sich der Treppe und zog die Klingel für den oberen Stock.

Von der Treppe herab guckte ein schöner Lakai im Frack und weißen Handschuhen.

»Bitte schön, Ew. Erlaucht«, sagte er. »Es ist befohlen, Sie hereinzubitten.«

Nechljudow ging die Treppe hinauf und durch den bekannten prachtvollen und geräumigen Saal in das Speisezimmer. Im Speisezimmer saß bei Tische die ganze Familie, mit Ausnahme der Mutter, Fürstin Sophie Wassiljewna, die nie ihr Kabinett verließ. Oben am Tische saß der alte Kortschagin, neben ihm, zur linken Seite, der Doktor, zur anderen Seite – der Gast, Iwan Iwanowitsch Kolossow, der gewesene Gouvernements-Adelsmarschall, jetzt Mitglied der Bankverwaltung, ein liberaler Kamerad des Kortschagin; weiter zur linken Seite saß Miß Reder, die Gouvernante der kleinen Schwester Missis und das vierjährige Mädchen selbst; zur rechten gegenüber – der Bruder Missis, der einzige Sohn der Kortschagins, ein Gymnasiast der sechsten Klasse, Petja, wegen dessen die ganze Familie in der Stadt blieb, um seine Examina abzuwarten, und noch ein Student, sein Repetitor; dann links – Katharina Alexejewna, ein vierzigjähriges Fräulein, eine Slavophilin; gegenüber – Michail Sergejewitsch, oder Mischa Teljegin, Missis Vetter – unten am Tische saß Missi selber und neben ihr war ein unangerührtes Kuvert.

»Ha, das ist schön. Setzen Sie sich, wir sind nun erst bei dem Fisch,« sagte mit Mühe und vorsichtig mit seinen eingesetzten Zähnen kauend, der alte Kortschagin.

»Stephan«, wandte er sich mit vollem Munde an den dicken, großartigen Vorschneider, indem er mit den Augen auf das leere Gedeck wies.

»Es wird augenblicklich aufgetragen, Ew. Erlaucht,« sagte Stephan, während er aus dem mit silbernen Vasen voll besetzten Büfett einen großen Vorlegelöffel holte. Nechljudow umging den ganzen Tisch und drückte allen die Hände. Alle, außer dem alten Kortschagin und den Damen, standen auf, als er sich ihnen näherte. Und dies Umwandern des Tisches und der Händedruck mit allen Anwesenden erschien ihm besonders unangenehm und lächerlich. Er entschuldigte sich, daß er sich verspätet, und wollte sich auf dem leeren Platz am Ende des Tisches zwischen Missi und Katharina Alexejewna niederlassen, aber der alte Kortschagin verlangte, daß er, wenn er schon nicht Branntwein trinke, dennoch an dem Tische, auf welchem Hummer, Kaviar, verschiedene Käsearten, Heringe standen, einen Imbiß nehme. Nechljudow glaubte nicht, daß er so hungrig sei, aber, nachdem er angefangen, Brot mit Käse zu essen, konnte er nicht aufhören und aß gierig.

»Nun, was ist denn, haben Sie die Grundlagen untergraben?« sagte Kolossow, ironisch den Ausdruck einer reaktionären Zeitung gebrauchend, die sich gegen das Gericht der Geschworenen erhob. »Haben Sie die Schuldigen gerechtfertigt und die Unschuldigen verurteilt, ja?«

»Die Grundlagen untergraben . . . Die Grundlagen untergraben . . .« wiederholte lachend der Fürst, der ein unbegrenztes Vertrauen zu dem Verstand und zu der Gelehrsamkeit seines liberalen Kameraden und Freundes hegte.

Nechljudow, riskierend, unhöflich zu sein, antwortete dem Kolossow nicht, und sich zu der aufgetragenen dampfenden Suppe setzend, fuhr er fort zu kauen.

»Aber lassen Sie ihn essen,« sagte lächelnd Missi, indem sie mit diesem Pronomen ›ihn‹ an ihre nahe Stellung zu ihm erinnerte.

Missi war wie immer sehr ›distinguée‹ und schön, unauffällig schön gekleidet.

»Sie sind gewiß furchtbar müde, hungrig«, sagte sie zu Nechljudow.

»Nein, nicht besonders. Und Sie? Fuhren Sie hin, um die Bilder zu besehen?« fragte er.

»Nein, wir haben es aufgeschoben. Wir sind aber zum Lawn tennis bei Salamatows gewesen. Und wirklich spielt Mister Krooks erstaunlich.«

Nechljudow kam hierher gefahren, um sich zu zerstreuen, und immer pflegte es ihm in diesem Hause wohl zu sein. Heute aber, es ist eine wunderbare Sache, war alles in diesem Hause ihm widerwärtig, alles, von dem Schweizer, der breiten Treppe, den Blumen, den Lakaien, der Tafeleinrichtung bis zu Missi selbst, die ihm heute nicht anziehend und unnatürlich schien. Nechljudow schwankte immer zwischen zweierlei Verhalten gegen sie: bald sah er in ihr, gleichsam kleine Augen machend, oder wie beim Mondschein, alles Schöne; sie schien ihm frisch und schön, und klug und natürlich . . . Bald aber sah er, wie beim hellen Sonnenschein plötzlich alles das, was ihr fehlte. Heute war für ihn ein solcher Tag. Heute sah er alle Runzelchen auf ihrem Gesicht, er sah die Spitzigkeit der Ellbogen, und hauptsächlich sah er den breiten Nagel des Daumens, der an eben solchen Nagel beim Vater erinnerte.

»Das allerlangweiligste Spiel,« sagte Kolossow vom ›tennis‹, »bei weitem lustiger war die ›Lapta‹,Russisches Ballspiel. die wir in der Kindheit spielten.«

»Nein, Sie haben das nicht probiert. Es ist furchtbar hinreißend,« erwiderte Missi, besonders unnatürlich das Wort ›furchtbar‹ aussprechend, wie es Nechljudow schien.

Und es begann ein Streit, an welchem sowohl Michail Sergejewitsch als Katharina Alexejewna teilnahmen.

»Ewig streiten sie!« sagte laut lachend der alte Kortschagin; indem er die Serviette aus der Weste hervorzog und mit dem Stuhl scharrte, den sogleich der Lakai auffing, stand er vom Tische auf. Nach ihm standen auch alle übrigen auf.

»Nicht wahr?« wandte sich Missi an den Nechljudow, ihn zur Bestätigung ihrer Meinung herausfordernd, daß nirgend der Charakter des Menschen so ersichtlich sei wie im Spiel.

»Bei Gott, ich weiß nicht, ich habe nie darüber nachgedacht,« antwortete Nechljudow.

»Wollen Sie zu Mama gehen?« fragte Missi.

»Ja, ja,« sagte er, eine Zigarette herausnehmend und mit einem Ton, der klar besagte, daß er wenig Lust zu gehen hätte.

Sie blickte ihn schweigend und fragend an, und er schämte sich. ›In der Tat, zu den Leuten kommen, um ihnen Langeweile zu verursachen . . .‹, dachte er von sich selbst, und sich bemühend, liebenswürdig zu sein, sagte er, daß er mit Vergnügen gehen werde, wenn die Fürstin ihn empfangen würde.

»Ja, ja, Mama wird froh sein. Rauchen können Sie auch dort. Und Iwan Iwanowitsch ist da.«

Die Hausherrin, Fürstin Sophia Wassiljewna, war eine liegende Dame. Seit acht Jahren lag sie in Gegenwart der Gäste in Spitzen und Bändern, mitten unter Samt, Vergoldung, Elfenbein, Bronze, Firnis, Blumen, fuhr nirgends hin und empfing, wie sie sagte, nur »ihre Freunde«, das heißt alles das, was, ihrer Meinung nach, sich irgendwie vor dem Haufen auszeichnete. Nechljudow war in der Zahl dieser Freunde aufgenommen worden, weil er für einen klugen jungen Mann gehalten ward, weil seine Mutter die nächste Freundin der Familie war, und weil es gut gewesen wäre, wenn Missi ihn geheiratet hätte.

Missi hatte große Lust, ihn zu heiraten, und Nechljudow war eine gute Partie. Außerdem gefiel er ihr, und sie hatte sich an den Gedanken gewöhnt, daß er der ihrige sein werde, nicht sie die seinige, sondern er der ihrige. Sie verfolgte ihr Ziel mit unbewußter, aber hartnäckiger Schlauheit, mit einer Schlauheit, wie sie bei Geisteskranken vorkommt; sie fing an, jetzt mit ihm zu sprechen, um ihn zu Erklärungen zu veranlassen.

»Ich sehe, daß Ihnen etwas passiert ist,« sagte sie, »was haben Sie?«

»Ja, es ist etwas passiert,« sagte er, da er aufrichtig sein wollte, »eine seltsame, ungewöhnliche, wichtige Begebenheit.«

»Was denn? Sie können nicht sagen, was?«

»Ich kann es nicht jetzt. Erlauben Sie mir, nicht darüber zu sprechen. Es ist etwas geschehen, das ich noch nicht Zelt gehabt, vollständig zu überlegen,« sagte er.

»Und Sie sagen es mir nicht?« Sie schob den kleinen Stuhl von sich, den sie angefaßt hatte.

»Nein, ich kann nicht,« antwortete er.

»Nun, dann wollen wir gehen.« Sie schüttelte den Kopf, als ob sie unnötigen Gedanken verjagen wollte und ging vorwärts mit rascheren Schritten als gewöhnlich.

 

Die Fürstin Sophia Wassiljewna hatte ihr sehr feines und sehr nahrhaftes Mittagessen beendet, welches sie immer allein zu essen pflegte. Sie war eine magere, lange, immer noch sich jung machende Brünette mit langen Zähnen und großen schwarzen Augen.

Man sprach Schlimmes über ihr Verhältnis zum Doktor. Nechljudow vergaß dies früher; heute aber erinnerte er sich nicht nur dessen, sondern als er den Doktor mit seinem pomadisierten, glänzenden, geteilten Bart neben ihrem Lehnstuhl sah, wurde ihm furchtbar widerwärtig.

Neben der Sophia Wassiljewna saß auf einem niedrigen weichen Lehnstuhl Kolossow an dem Tischchen, und hie und da rührte er seinen Kaffee um. Auf dem Tischchen stand ein kleines Glas Likör.

Missi kam zusammen mit dem Nechljudow zur Mutter herein, aber sie blieb nicht im Zimmer.

»Wenn Mama müde wird und Sie wegjagt, so kommen Sie zu mir,« sagte sie und schritt lautlos auf dem dicken Teppich aus dem Zimmer hinaus.

»Nun, ich grüße Sie, mein Freund, setzen Sie sich und erzählen Sie,« sagte die Fürstin Sophia Wassiljewna mit ihrem geschickten, verstellten, aber dem natürlichen vollständig ähnlichen Lächeln, welches ihre schönen, langen, außerordentlich geschickt gemachten, auf ein Haar den echten ähnlichen Zähne aufdeckte. »Man sagt mir, daß Sie aus dem Gericht sehr finster gestimmt zurückgekommen. Ich glaube, daß es sehr schwer ist für Leute von Herz,« sagte sie französisch.

»Ja, das ist wahr,« sagte Nechljudow, »man fühlt oft seine Un . . . man fühlt, daß man kein Recht hat, zu richten . . .«

»Comme c'est vrai«, rief sie, gleichsam von der Richtigkeit seiner Bemerkung frappiert, aus, indem sie, wie immer, ihrem Gesellschafter geschickt schmeichelte.

»Nun, aber wie steht es mit Ihrem Bild? Es interessiert mich sehr.«

»Ich habe es ganz aufgegeben,« anwortete Nechljudow trocken. Er konnte sich durchaus nicht in eine Stimmung versetzen, um liebenswürdig zu sein.

»Schade! Wissen Sie, Rjepin selbst hat mir gesagt, er sei entschieden ein Talent,« sagte sie, sich an Kolossow wendend.

›Wie, schämt sie sich nicht, so zu lügen,‹ dachte Nechljudow, stirnrunzelnd.

Sophia Wassiljewna maß ihn mit den Augen.

»Nun aber, Missi erwartet Sie doch,« sagte sie. »Gehen Sie zu ihr, sie wollte Ihnen ein neues Stück von Schumann spielen, sehr interessant.«

›Nichts wollte sie spielen. Alles das lügt sie irgendwozu,‹ dachte Nechljudow, aufstehend und die durchsichtige, knöcherne, mit Fingerringen bedeckte Hand der Sophia Wassiljewna drückend.

Im Empfangszimmer begegnete ihm Katharina Alexejewna, und sogleich fing sie an zu sprechen:

»Aber ich sehe wohl ein, daß die Pflichten eines Geschworenen auf Sie niederdrückend wirken,« sagte sie, wie immer, französisch.

»Ja verzeihen Sie mir, heute bin ich schlechter Laune, und ich habe kein Recht, den anderen Langeweile zu verursachen,« sagte Nechljudow.

»Warum sind Sie denn schlechter Laune?«

»Erlauben Sie mir, nicht zu sagen, warum ich es bin,« sagte er, seinen Hut suchend.

»Aber erinnern Sie sich, wie Sie sagten, daß man immer die Wahrheit sprechen müsse, und wie Sie uns allen so grausame Wahrheiten sagten? Warum denn wollen Sie sie jetzt nicht sagen? Erinnerst du dich, Missi?« wandte Katharina Alexejewna sich an die zu ihnen herausgekommene Missi.

»Darum, weil dies ein Spiel war,« antwortete Nechljudow ernst. »Im Spiel kann man das. Aber in der Wirklichkeit sind wir so schlecht, das heißt, ich bin so schlecht, daß wenigstens ich die Wahrheit unmöglich sagen kann.«

»Korrigieren Sie sich nicht, lieber aber sagen Sie, worin wir so schlecht sind,« sagte Katharina Alexejewna, mit den Worten spielend, und als ob sie den Ernst des Nechljudow nicht merkte.

»Nichts ist schlimmer, als bekennen schlechter Laune zu sein,« sagte Missi. »Ich bekenne mich vor mir selber nie dazu, und darum bin ich immer guter Laune. Wir wollen uns Mühe geben, Ihre mauvais humeur zu vertreiben.«

Nechljudow empfand ein Gefühl, das dem ähnlich war, was das Pferd empfinden muß, wenn man es streichelt, um ihm den Zaum anzulegen und es zum Einspannen zu führen. Er entschuldigte sich, daß er nach Hause müsse und fing an, sich zu verabschieden. Missi behielt seine Hand länger als gewöhnlich.

»Vergessen Sie nicht, daß das, was für Sie wichtig ist, auch für Ihre Freunde wichtig ist,« sagte sie. »Kommen Sie morgen?«

»Kaum,« sagte Nechljudow, und Scham, er wußte nicht, für sich oder für sie empfindend, wurde er rot und ging eilig hinaus.

»Was ist das? Comme cela m'intrigue«, sprach Katharina Alexejewna, als Nechljudow weggegangen war. »Ich will das durchaus erfahren. Irgend welche affaire d'amour propre, il est très susceptible, notre cher Mitja.«

›Plutôt une affaire d'amour sale,‹ wollte Missi sagen, indem sie mit einem ganz anderen, erloschenen Gesicht vor sich hin sah, als das war, mit dem sie ihn angesehen. Aber sie sagte sogar der Katharina Alexejewna diesen calembour de mauvais ton nicht; sie bemerkte nur:

»Wir haben alle sowohl unsere schlechten wie guten Tage.«

›Wird denn wirklich auch dieser täuschen?‹ dachte sie. ›Nach alledem, was gewesen, wäre es sehr schlecht von ihm.‹

Wenn Missi hätte erklären sollen, was sie unter den Worten »nach alledem, was gewesen« verstehe, würde sie nichts Bestimmtes haben sagen können; indessen aber wußte sie unzweifelhaft, daß er nicht nur Hoffnungen in ihr hervorgerufen, sondern sich ihr fast versprochen habe. Alles das waren keine bestimmten Worte, sondern Blicke, Lächeln, Andeutungen, Verschweigungen. Aber sie hielt ihn dennoch für den ihrigen, und ihn zu verlieren, würde ihr sehr schwer werden.

 

›Es ist schändlich und abscheulich, abscheulich und schändlich‹, dachte inzwischen Nechljudow, als er zu Fuß über die bekannten Straßen nach Hause zurückkehrte. Das schwere Gefühl, das er nach dem Gespräch mit Missi empfand, verließ ihn nicht. Er wußte, daß er formal, wenn man sich so ausdrücken darf, vor ihr recht habe; er hatte ihr nichts gesagt, was ihn gebunden hätte, er hatte ihr keinen Antrag gemacht, aber dem Wesen der Sache nach fühlte er, daß er sich mit ihr gebunden, sich ihr versprochen habe. Gleichwohl empfand er heute in allen Fasern seiner Seele, daß er sie nicht heiraten könne.

›Nein, nein,‹ dachte er, ›sich loslösen muß man, sich loslösen von all diesen falschen Verhältnissen, zu Kortschagins und zu Maria Wassiljewna, und zu der Erbschaft und allem übrigen . . . Ja, ein wenig frei aufatmen, ins Ausland fahren, nach Rom, sich an sein Bild machen.‹ Er erinnerte sich an seine Zweifel in bezug auf sein Talent . . . ›Nun, aber das ist ja ganz gleich, einfach ein wenig frei aufatmen. Erst nach Konstantinopel, dann nach Rom, nur nicht mehr Geschworener sein, sich schnell losmachen. Und diese Sache mit dem Advokaten in Ordnung bringen.‹

Und plötzlich entstand in seiner Phantasie mit ungewöhnlicher Lebhaftigkeit die Arrestantin mit den schwarzen, schielenden Augen. Und wie sie aufweinte beim letzten Worte an die Angeklagten. Und eine nach der anderen fingen die Minuten, welche er mit ihr verlebt hatte, an, in seiner Phantasie zu entstehen. Er erinnerte sich an das letzte Wiedersehen mit ihr, an jene animalische Leidenschaft, welche sich seiner um diese Zeit bemächtigte, und an die Enttäuschung, die er erfahren, als die Leidenschaft befriedigt worden. ›Aber ich liebte sie ja, liebte sie wahrhaft in dieser Nacht, mit guter reiner Liebe, ich liebte sie schon früher, und wie gar liebte ich sie, als ich zum ersten Male bei den Tantchen lebte und die Arbeit schrieb.‹ Und er erinnerte sich seiner, wie er damals war.

Der Unterschied zwischen ihm, wie er damals war und wie er gegenwärtig ist, war ungeheuer; er war ebenso groß, wenn nicht größer, als der Unterschied zwischen Katjuscha in der Kirche und jener Prostituierten, die sich mit dem Kaufmann betrank, und die sie heute morgen richteten. Er erinnerte sich, wie er ehemals auf seine Geradheit stolz war, wie er sich ehemals zur Regel nahm, immer die Wahrheit zu sagen und wirklich wahrhaft war, und wie er jetzt ganz in der Lüge steckte. In der allerschrecklichsten Lüge, in der Lüge, die alle ihn umgebenden Menschen für die Wahrheit halten. Und es gab aus dieser Lüge kein Entrinnen, wenigstens sah er kein Entrinnen.

Wie ist das Verhältnis mit Maria Wassiljewna und ihrem Manne so zu lösen, daß er sich nicht schämen mußte, ihm und seinen Kindern ins Gesicht zu sehen? Wie sind außerdem die Beziehungen zu Missi zu entwirren? Wie ist seine Sünde gegen Katjuscha gutzumachen? Es ist ja unmöglich, das so zu lassen. ›Es ist unmöglich, die Frau, die ich geliebt habe, zu verlassen und mich damit zufrieden zu geben, daß ich dem Advokaten Geld bezahle und sie von der Zwangsarbeit befreie – welche sie ja nicht verdient. Die Schuld mit Geld gut machen, – – so wie ich damals dachte, daß ich getan, was ich sollte, indem ich ihr Geld gegeben.‹

Und er erinnerte sich lebhaft an die Minute, wo er ihr im Korridor das Geld eingesteckt hatte und von ihr weggelaufen war. ›Ach, dieses Geld!‹ und er vergegenwärtigte sich mit Grausen und Abscheu jene Minute mit eben solchem Abscheu wie damals. ›Nur ein Schuft, ein Taugenichts konnte das tun. Und ich bin jener Taugenichts, ich bin jener Schuft!‹ fing er laut an. ›Aber ist es denn in der Tat so?‹ – er blieb stehen, – ›bin ich denn in der Tat, bin ich denn wirklich ein Taugenichts? Und was denn sonst?‹ antwortete er sich. ›Ist es etwa nur das allein?‹ fuhr er fort, sich zu überführen. ›Ist es etwa keine Abscheulichkeit, keine Niedrigkeit, dein Verhältnis zu Maria Wassiljewna und ihrem Mann? Und dein ganzes müßiges, scheußliches Leben. Und die Krone von allem – dein Betragen gegen Katjuscha. Taugenichts, Schuft! Sie, die Leute, laß über mich urteilen, wie sie wollen, sie kann ich betrügen, aber mich selbst betrüge ich nicht!‹

Dem Nechljudow passierte nicht zum ersten Male im Leben das, was er ›die Reinigung seiner Seele‹ nannte.

Jedesmal stellte sich Nechljudow nach solchem Aufwachen Regeln auf, denen er für immer zu folgen gesonnen war. Aber jedesmal fingen ihn die Verführungen der Welt und er fiel wieder, ohne es selbst zu merken, und oft noch tiefer als früher.

Auf diese Weise reinigte er sich und erhob sich einige Male.

Von der Zeit und bis zum heutigen Tage verfloß eine große Periode ohne Reinigung, und darum kam es bei ihm noch nie zu einer solchen Verunreinigung, zu einem solchen Zwiespalt zwischen dem, was sein Gewissen verlangte, und dem Leben, das er führte, und er ergrauste, als er diese Kluft ersah. ›Du hast ja schon versucht, dich zu vervollkommnen und besser zu sein, und es ward nichts daraus,‹ sprach die Stimme des Versuchers in seiner Seele, ›also wozu denn noch einmal versuchen? . . . Nicht du allein, sondern alle sind so, – so ist das Leben,‹ – sprach diese Stimme. Aber jenes freie geistige Wesen, welches allein wahr, allein mächtig, allein ewig ist, erwachte schon in Nechljudow. Und es war unmöglich, ihm nicht zu glauben.

›Ich zerreiße diese mich bindende Lüge, es möge mir kosten, was es wolle, und ich gebe der Wahrheit die Ehre, und allen sage ich die Wahrheit und tue die Wahrheit,‹ sagte er zu sich entschieden, laut. ›Ich sage Missi die Wahrheit, daß ich ein lüderlicher Mensch bin und sie nicht heiraten kann und nur umsonst beunruhigt habe. Ich sage der Maria Wassiljewna – –. Übrigens, ihr brauche ich nichts zu sagen, ich sage ihrem Manne, daß ich ein Taugenichts bin, ich betrog ihn. Ich sage ihr, der Katjuscha, daß ich ein Taugenichts bin, daß ich vor ihr schuldig bin, und ich werde alles tun, was ich kann, um ihr Schicksal zu mildern. Ja, ich werde sie um Verzeihung bitten, wie die Kinder bitten.‹

Er blieb stehen – ›ich heirate sie, wenn es nötig ist.‹ Er blieb wieder stehen, legte die Hände vor der Brust zusammen, wie er getan als er noch klein gewesen.

Er betete, bat Gott, ihm zu helfen, in ihn einzuziehen und ihn zu reinigen, unterdessen aber war das, um was er bat, schon geschehen; der in ihm wohnende Gott erwachte in seinem Bewußtsein. Er fing an, sich als ein solcher zu fühlen, und darum empfand Nechljudow nicht nur die Freiheit, den Mut und die Freude des Lebens, sondern er fühlte auch die ganze Macht des Guten. Alles, alles Beste, das nur der Mensch zu tun fähig ist, fühlte er sich jetzt zu vollbringen fähig.

Ihm wurde heiß. Er kam an das Fenster, wo das Doppelfenster herausgenommen war und öffnete es. Das Fenster ging in den Garten.

Nechljudow sah auf den vom Mond beleuchteten Garten und auf das Dach und auf den Schatten der Pappel, und er horchte und atmete die belebende frische Luft.

»Wie schön ist es, wie schön, mein Gott, wie ist es schön!« sprach er von dem, was in seiner Seele war.

 

Die Maslowa kehrte erst um 6 Uhr abends nach Hause zurück in ihre Kammer, ermüdet und mit schmerzenden Beinen, außerdem durch das unerwartet strenge Urteil getroffen und hungrig.

Als, noch während einer Unterbrechung, die Wächter neben ihr einen Imbiß von Brot mit hart gekochten Eiern zu sich nahmen, wässerte ihr der Mund und sie fühlte, daß sie hungrig sei; sie zu bitten aber hielt sie für erniedrigend für sich. Als aber nach diesem noch drei Stunden verflossen waren, verlor sie schon die Lust zu essen und sie empfand nur Schwäche. In solchem Zustande hat sie das von ihr unerwartete Urteil vernommen. In der ersten Minute glaubte sie, sich verhört zu haben, sie konnte nicht sich mit dem Begriff einer Zwangsarbeiterin zusammen reimen. Aber als sie die ruhigen Geschäftsgesichter der Geschworenen, der Richter sah, die diese Nachricht als etwas vollkommen Natürliches und Erwartetes empfingen, empörte sie sich und schrie durch den ganzen Saal hin, daß sie unschuldig sei. Als sie aber sah, daß auch ihr Schreien als etwas Natürliches, Erwartetes und die Sache nicht zu ändern Vermögendes aufgenommen wurde, entsetzte sie sich und fing an, verzweifelt zu weinen, da sie fühlte, daß sie sich dieser grausamen und überraschenden Ungerechtigkeit, die gegen sie verübt worden, unterwerfen müsse. Besonders setzte sie der Umstand in Erstaunen, daß es Männer waren, die sie so grausam verurteilten, junge, keine alten Männer, dieselben, welche immer so freundlich auf sie sahen. Nur der Staatsanwalt allein hatte heute ein ganz anderes Gesicht gemacht.

Während sie im Arrestantenzimmer saß und das Gericht erwartete, sah sie während der Unterbrechungen der Sitzung, wie diese Männer, indem sie sich anstellten, als ob sie wegen einer anderen Sache gingen, neben der Tür vorbeikamen, oder in das Zimmer hineintraten und sie freundlich besahen. Und plötzlich verurteilten sie irgend warum diese selben Männer zur Zwangsarbeit, trotzdem sie unschuldig war an dem, dessen man sie beschuldigte. Erst weinte sie, dann wurde sie still, und im Zustande vollkommener Stumpfheit saß sie im Arrestantenzimmer und wartete der Abführung. Sie wollte jetzt nur zweierlei: rauchen und Schnaps trinken. In solchem Zustande traf sie der Wächter, der ihr drei Rubel Geld brachte.

»Nimm, hier, eine Dame hat es dir geschickt,« sagte er, ihr das Geld reichend.

»Welche Dame?«

»Nimm nur, muß man auch noch mit ihnen sprechen?«

Dieses Geld hatte die Kitajewa, die Inhaberin des Toleranzhauses geschickt. Die Maslowa freute sich über das Geld, weil er ihr das gab, was einzig sie jetzt wünschte.

»Wenn ich nur Zigaretten und Schnaps kriegte,« sprach sie zu sich, und alle ihre Gedanken waren auf den Wunsch zu rauchen und trinken konzentriert. Sie sehnte sich nach dem Schnaps so sehr, weil sie in der Phantasie seinen Geschmack und seine Stärke fühlte; und sie atmete gierig die Luft, wenn sie den Geruch des Tabakrauchs spürte, der aus den Kabinettüren in den Korridor hinausdrang. Aber sie mußte noch lange warten.

Endlich ließ man nach vier Uhr erst die Botschkowa und Kartinkin weg, und nachher führten die Eskortesoldaten die Maslowa ab. Und nun gab sie im Flur des Gerichtsgebäudes ihnen fünfzig Kopeken, indem sie sie bat, zwei Kalatschen, Zigaretten und eine halbe Flasche Branntwein zu kaufen. Der Soldat lachte auf, nahm das Geld und sagte: »Gut, kaufen es,« und wirklich hat er ehrlich Zigaretten und Kalatschen gekauft und das herauszugebende Geld zurückgebracht; Schnaps zu kaufen aber verweigerte er, so daß man die Möglichkeit, etwas Schnaps zu trinken, bis zur Rückkehr in das Gefängnis verschieben mußte. Unterwegs stillte die Maslowa ihren Hunger mit dem Kalatsch und lehrte ins Gefängnis schon nach der Kontrolle zurück. Man ließ sie in dieselbe Zelle ein, aus welcher sie heute früh herausgegangen.

 

Die Gefängniszelle, in welcher die Maslowa eingesperrt war, war ein Zimmer mit zwei Fenstern, einem vorspringenden Ofen und Pritschen von ausgetrockneten Brettern, welche zwei Drittel des Raumes einnahmen.

In der Mitte, der Tür gegenüber, hing ein dunkles Heiligenbild mit einem daran festgeklebten Wachslicht und darunter angehängtem, bestäubten Immortellenbukett. Von der Tür links, auf der Diele, war eine schwarz gewordene Stelle zu sehen, wo eine stinkende Kufe ihren Platz hatte. Die Kontrolle war eben vorbei und die Frauen waren schon für die Nacht eingeschlossen.

Der Bewohnerinnen in dieser Kammer waren im ganzen fünfzehn, zwölf Frauen und drei Kinder.

Es war noch ganz hell und nur zwei Frauen lagen auf der Pritsche: eine bis über den Kopf mit einem Schlafrock zugedeckte Blödsinnige, die wegen Mangel an Ausweisschriften verhaftet worden, – diese schlief fast immer – und eine andere, Schwindsüchtige, die ihre Strafe wegen Diebstahls abbüßte. Von den übrigen Frauen, von denen die meisten nur Hemden aus roher Leinwand anhatten, saßen einige auf der Pritsche, einige aber standen am Fenster und sahen auf die über den Hof gehenden Arrestanten hinunter.

Eine war dieselbe Alte, welche die Maslowa begleitet hatte, die Korablewa, eine hochgewachsene, kräftige, runzelige Frau von finsterem Aussehen mit zusammengezogenen Augenbrauen und mit einer haarigen Warze auf der Wange. Diese Alte war wegen Tötung ihres Mannes mit der Axt zur Zwangsarbeit verurteilt worden. Totgeschlagen aber hat sie ihn, weil er sich ihrer Tochter aufdrängte. Die Korablewa war die Aufseherin der Kammer und handelte auch mit Schnaps. Neben ihr saß eine nicht große, schwärzliche, stumpfnasige Frau mit kleinen schwarzen Augen, gutmütig und geschwätzig. Dies war eine Wächterin bei einem Bahnwärterhäuschen, die zu drei Monaten Gefängnis verurteilt worden, weil sie nicht zum Zuge mit der Fahne herausgekommen war; der Zug aber war verunglückt. Die dritte Frau war Fedossija – eine weiße, rotbäckige, ganz junge und sehr liebliche Frau mit klaren kindlichen blauen Augen; zwei lange blonde Zöpfe trug sie um den kleinen Kopf gelegt. Sie befand sich in Haft wegen eines Versuchs, ihren Mann zu vergiften. Diesen Vergiftungsversuch machte sie sogleich nach der Verehelichung – sie war als sechzehnjähriges Mädchen verheiratet worden. Im Verlaufe der acht Monate, in welchen sie gegen Kaution entlassen, die gerichtliche Entscheidung erwartete, hatte sie sich nicht nur mit dem Mann ausgesöhnt, sondern ihn sogar so lieb gewonnen, daß sie, als das Urteil sie traf, mit ihrem Mann ein Herz und eine Seele war. Trotzdem der Mann und der Schwiegervater und besonders die Schwiegermutter, die sie lieb gewonnen, sich aus allen Kräften bemühten, sie zu rechtfertigen, war sie zur Verschickung nach Sibirien in Zwangsarbeit verurteilt worden. Diese gute lustige, oft lächelnde Fedossija war eine Nachbarin der Maslowa auf der Pritsche und gewann sie nicht nur lieb, sondern hielt es auch für ihre Pflicht, für sie zu sorgen und ihr zu dienen.

Ferner saß auf der Pritsche ein nicht großes, ganz runzeliges, gutmütiges Altchen mit grauen Haaren und buckligem Rücken. Das Altchen saß beim Ofen auf der Pritsche und tat, als ob es ein vierjähriges, kurzgeschorenes, dickbäuchiges Bübchen, das sich vor Lachen ausschüttete, fangen wolle. Der kleine Bub im bloßen Hemdchen lief an ihr vorbei und sagte immer dasselbe: »Etsch! hast mich nicht gekriegt!« Dieses Altchen, das samt ihrem Sohn wegen Brandstiftung angeklagt war, ertrug die Gefangenschaft mit der größten Gutmütigkeit, nur daß sie um ihren Sohn bekümmert war, der gleichzeitig mit ihr im Gefängnis saß.

Außer diesen Frauen standen noch vier an einem der geöffneten Fenster, hielten sich an dem eisernen Gitter fest und tauschten Zeichen und Zurufe mit im Hofe vorüberpassierenden Arrestanten. Eine dieser Frauen, die wegen Diebstahls ihre Strafe abbüßte, war ein großes, schweres, rothaariges Weib mit hängendem Leibe. Mit heiserer Stimme schrie sie laut durchs Fenster unanständige Worte. Neben ihr stand eine schwärzliche Gefangene, vom Wuchse eines zehnjährigen Mädchens mit langem Oberkörper und ganz kurzen Beinen. Ihr Gesicht war rot und fleckig, mit dicken, kurzen Lippen, die die weißen vorstehenden Zähne nicht bedeckten. Diese Gefangene, welche wegen ihrer Putzsucht Choroschawka zubenannt ward, war in Untersuchung wegen Diebstahls und Brandstiftung. Hinter ihnen stand eine magere, sehnige, schwangere Frau von kläglichem Aussehen mit ungeheuer großem Bauch, in einem schmutzigen grauen Hemde. Sie befand sich wegen Hehlerei in Haft. Diese Frau schwieg, aber die ganze Zeit lächelte sie beifällig und glückselig über die Vorgänge auf dem Hofe. Die vierte am Fenster Stehende war eine kleine, stämmige Frau aus dem Dorf, die wegen heimlichen Schnapsverkaufes eine Strafe absaß. Diese Frau, mit sehr vorgewölbten Augen und gutmütigem Gesichte, die Mutter des mit dem Altchen spielenden Knaben und eines siebenjährigen Mädchens, das auch mit ihr im Gefängnis war, weil sie niemand hatte, bei dem sie die Kinder hätte lassen können, sah ebenso wie die anderen aus dem Fenster und strickte dabei ohne Unterbrechung an ihrem Strumpfe, aber ihr Gesicht runzelte sich vor Mißbilligung, und oft schloß sie die Augen bei dem, was die Arrestanten auf dem Hofe sprachen. Ihr Töchterchen aber, das siebenjährige Mädchen mit dem aufgelösten weißlichen Haar, das im bloßen Hemde neben der Rothaarigen stand und sich mit der mageren kleinen Hand an ihrem Rock festhängte, horchte aufmerksam, mit starren Augen, auf die schimpflichen Reden, welche die Frauen mit den Arrestanten wechselten, und wiederholte sie flüsternd, als ob sie sie auswendig lernen wollte. Die letzte Arrestantin war die Tochter eines Küsters, welche ihr Kind im Brunnen ertränkt hatte. Es war ein hohes, schlankes Mädchen mit wirrem Haar, das aus dem nicht langen, dicken, blonden Zopf hervorgezerrt war, und mit starren, vortretenden Augen.

 

Als das Schloß rasselte und man die Maslowa einließ, wandten sich alle ihr zu. Die Korablewa steckte die Nadel in die rohe Leinwand und starrte die Maslowa fragend durch die Brille an.

»Ach herrjeh! Zurück kommst du? Und ich hab' doch immer gedacht, sie sprechen dich frei«, sagte sie mit ihrer heiseren, fast männlichen Baßstimme. »Bist verdonnert, scheint's?«

Sie nahm die Brille ab und legte ihre Näherei neben sich auf die Pritsche.

»Tantchen und ich, wir haben ja auch schon hin und her gesprochen, mein Schwälbchen, vielleicht läßt man dich auf einmal frei. Sie sagen ja, so was passiert mal, je nachdem du eine glückliche Stunde triffst, sie geben einem sogar noch Geld dazu,« begann sogleich mit singender Stimme die Bahnwärterin, »aber sieh mal an, was ist nu. Unsere Ahnungen sind, scheint's, nicht wahr geworden.«

»Bist wirklich verurteilt?« fragte Fedossija mit mitleidiger Zärtlichkeit, und ihr ganzes lustiges junges Gesicht veränderte sich, als ob sie bereit sei, hinauszuweinen.

Die Maslowa antwortete nicht; sie ging schweigend an ihren Platz, den zweiten vom Ende, neben der Korablewa, und setzte sich auf die Bretter der Pritsche.

»Ich denk' fast, du hast nicht mal was zu essen gekriegt«, sagte Fedossija, indem sie aufstand und sich der Maslowa näherte.

Die Maslowa legte, ohne zu antworten, die Kalatschen ans Kopfende und begann sich zu entkleiden: sie zog den staubigen Schlafrock aus und setzte sich.

Das am anderen Ende der Pritsche mit dem Knaben spielende bucklige Altchen kam auch heran und blieb der Maslowa gegenüber stehen.

»Tzz! Tzz! Tzz!« begann sie, mitleidig den Kopf schüttelnd, mit der Zunge zu schnalzen.

Der kleine Bub kam gleichfalls hinter dem Altchen her, und mit weit geöffneten Augen, die Oberlippe zu einem Schnäuzchen vorgeschoben, starrte er die Kalatschen an, die die Maslowa mitgebracht hatte. Als die Maslowa, nach alledem, was heute mit ihr geschehen, all diese mitleidigen Gesichter erblickte, waren ihr die Tränen nahe, und ihre Lippen erzitterten. Aber sie war bemüht, sich der Tränen zu enthalten. Als sie aber das gutherzige, mitleidige Schnalzen des Altchens hörte, und besonders, als ihre Blicke dem Bübchen begegneten, der seine ernsten Augen von den Kalatschen auf sie wandte, konnte sie sich nicht mehr zurückhalten. Ihr ganzes Gesicht erbebte, und sie brach in heftiges Weinen aus.

»Ich hab' dir gesagt: sieh zu, daß du den richtigen Verteidiger kriegst«, sagte die Korablewa. »Wie ist es denn? Verschickung?« fragte sie.

Die Maslowa wollte antworten und konnte nicht, sondern zog schluchzend aus einem Kalatsch eine ZigarettenschachtelSie hatte die im Gefängnis verbotenen Sachen in der Semmel hereingeschmuggelt. Anm. d. Übers. hervor, auf der eine rotbackige Dame mit sehr hoher Frisur und herzförmig entblößter Brust dargestellt war und reichte sie der Korablewa. Die Korablewa betrachtete das Bildchen und schüttelte mißbilligend den Kopf, hauptsächlich, daß die Maslowa das Geld so nichtsnutzig ausgab, und nachdem sie eine Zigarette hervorgeholt, rauchte sie sie an der Lampe an, tat selber einen Zug und schob sie dann der Maslowa zu. Die Maslowa fing gierig an, Zug auf Zug den Tabaksrauch einzuziehen und auszustoßen, ohne daß sie zu weinen aufhörte.

»Zwangsarbeit«, brachte sie schluchzend hervor.

»Sie haben keine Gottesfurcht, die verfluchten Blutsauger!« machte die Korablewa. »Um nichts haben sie das Mädchen verurteilt.«

»Wieviel Jahre?«

»Vier«, sagte die Maslowa, und die Tränen brachen so reichlich hervor, daß eine auf die Zigarette fiel. Zornig zerknitterte sie die Maslowa, warf sie fort und nahm eine andere.

Die Bahnwärterin hob, obgleich sie nicht rauchte, das Stümpfchen auf und fing an, es gerade zu biegen, indem sie unaufhörlich sprach.

»'s scheint wahr zu sein, mein Schwälbchen,« sprach sie, »daß die Wahrheit von der Sau gefressen ist. Sie machen was sie wollen.«

Um diese Zeit hatten schon alle Arrestanten den Hof passiert, und die Frauen, die mit ihnen Worte gewechselt, gingen vom Fenster fort und kamen auch zur Maslowa. Als erste kam die glotzäugige Schenkwirtin mit ihrem kleinen Mädchen.

»Warum denn so arg strenge?« fragte sie, indem sie sich neben die Maslowa hindrückte und hurtig fortfuhr, an ihrem Strumpfe zu stricken.

»Na, darum streng, weil man kein Geld hat! Hätte man Batzen und könnte 'nen tüchtigen fixen Kerl mieten, dann – sei ruhig, käme einer wohl frei«, sagte die Korablewa. »Der, wie heißt er gleich – so 'n Strubelkopf, so 'n Langnasiger, der, meine Beste, könnte einen wohl trocken aus dem Wasser herausfischen! Wenn man den gekriegt hätte!«

»Jawohl du – und den kriegen!« sagte, die Zähne bleckend, die sich zu ihnen setzende Choroschawka. »Und wenn der bloß einmal für dich spucken soll, unter tausend Rubel tut er es nicht.«

»Aber es scheint, deine Bestimmung ist nun mal so«, fiel das Altchen ein, das wegen Brandstiftung saß. »Gefängnis und Bettelsack kann man, scheint es, nicht verschwören – kriegst du das eine nicht, kriegst du das andere.«

»Das ist bei denen, scheint's, immer so!« sagte die Schenkwirtin, und nachdem sie den Kopf des Mädchens auf einmal genauer angesehen, legte sie den Strumpf neben sich und fing an, mit flinken Fingern ihr das Haar zu durchsuchen. »Warum handelst du mit Branntwein? Aber womit soll ich die Kinder ernähren?« sprach sie, während sie ihre gewohnte Beschäftigung fortsetzte.

Diese Worte der Schenkwirtin erinnerten die Maslowa an Schnaps.

»Ein Schnäpschen möchte ich«, sagte sie der Korablewa, indem sie die Tränen mit dem Hemdärmel abwischte und nur hier und da schluchzte.

»Warum nicht, gib her«, sagte die Korablewa.

 

Die Maslowa holte, auch aus dem Kalatsch, das Geld hervor. Die Korablewa nahm es und kletterte zum Wärmeloch nach der dort versteckten Flasche mit Schnaps hinauf. Die Maslowa inzwischen schüttelte den Staub aus dem Schlafrock, kroch auf die Pritsche hinauf und fing an, den Kalatsch zu essen.

»Ich habe dir Tee aufgehoben, aber er ist wohl kalt geworden«, sagte ihr Fedossija, indes sie von dem Wandbrett eine mit einem Fußlappen umwickelte blecherne Teekanne und einen Henkelbecher herabholte. Die Maslowa goß sich einen Henkelbecher voll und fing an, den Kalatsch hinunterzuspülen.

»Finaschka, nimm«, rief sie, brach ein Stück Kalatsch ab und gab es dem ihr in den Mund sehenden Knaben.

Die Korablewa reichte unterdessen die Flasche mit Schnaps und einen Becher herunter. Die Maslowa bot der Korablewa und der Choroschawka an.

Nach einigen Minuten wurde die Maslowa munter, und erzählte flink von dem Gericht – indem sie dem Staatsanwalt nachäffte – und was sie dort besonders frappiert hatte. Besonders frappiert hatte sie, daß nach ihrer Beobachtung die Männer überall, wo sie auch sein mochte, ihr nachliefen. Im Gericht sahen alle sie an, und kamen immerfort ins Arrestantenzimmer extra deswegen.

»Auch der Eskortesoldat sagt: ›die kommen immer, um dich zu sehen‹. Irgend einer kommt: wo ist hier das Papier so und so? – oder was anderes; ich sehe aber, daß er kein Papier braucht, sondern mich geradezu mit den Augen verschlingt«, sprach sie, lächelnd und gleichsam bedenklich den Kopf schüttelnd. »Das sind auch Possenreißer.«

»Akkurat so ist es,« fiel die Bahnwärterin ein, und sogleich begann ihre singende Rede sich zu ergießen, »das ist wie die Fliegen nach dem Zucker. Zu was anderem kannst du sie suchen, aber dafür sind sie immer zu haben. Lieber wollen sie ohne Brot sitzen, als ohne das.«

»Du aber sag mir lieber,« wandte sie sich an die Maslowa, »was hat dir der Advokat über die Bittschrift gesagt? Jetzt muß man ja eine Bittschrift einreichen.«

Die Maslowa sagte, daß sie nichts darüber wisse. Um diese Zeit näherte sich den schnapstrinkenden Frauen das rothaarige Weib; mit beiden sommersprossigen Händen in ihre verwirrten, dichten, roten Haare fahrend, kratzte sie den Kopf mit den Nägeln.

»Ich will dir, Katharina, alles sagen«, fing sie an. »Zu allererst mußt du aufschreiben, du bist mit dem Gericht unzufrieden, und dann beim Prokureur Anzeige machen.«

»Na, was willst du?« wandte sich mit ärgerlicher Baßstimme die Korablewa zu ihr, »hast du schon Schnaps gewittert? Du brauchst uns hier nicht das Zahnweh zu besprechen, dich hat man hier nicht nötig.«

»Nicht mit dir wird hier gesprochen, was fängst du mit mir an!«

»Du hast wohl Lust auf Schnaps gekriegt, schlängelst dich her.«

»Aber biet' ihr doch an«, sagte die Maslowa, die immer allen alles, was sie hatte, verteilte.

»Ich werde ihr ganz was anderes anbieten . . .«

»Na, komm an!« begann die Rothaarige und rückte der Korablewa näher. »Ich hab' keine Angst.«

»Zuchthausnickel!«

»Immer die, die spricht.«

»Geselchter Kuttelfleck!«

»Ich? Kuttelfleck! Zwangsarbeiterin! Seelenmörderin!« schrie die Rothaarige.

»Scher' dich«, brach die Korablewa finster hervor; aber die Rothaarige rückte nur immer näher, und die Korablewa stieß sie in die offene fette Brust. Die Rote, als ob sie nur darauf gewartet hätte, hakte sich unversehens mit rascher Bewegung der einen Hand in die Haare der Korablewa und wollte sie mit der andern Hand ins Gesicht schlagen, aber die Korablewa faßte diese Hand. Die Maslowa und die Choroschawka packten die Rote an den Händen, bemüht, sie wegzureißen, aber die in den Zopf verkrampfte Hand der Roten ließ ihn nicht fahren; auf einen Augenblick ließ sie die Haare los, aber nur, um sie sich um die Faust zu wickeln. Die Korablewa, deren Kopf auf die Seite gekrümmt ward, schlug die Rote mit einer Hand auf den Leib und schnappte mit den Zähnen nach ihren Armen. Die Frauen drängten sich um die Prügelnden, trennten sie und schrien. Auf den Lärm kamen die Aufseherin und der Aufseher herein. Die sich Prügelnden wurden getrennt, und die Korablewa, die den grauen Zopf auflöste und die ausgerissenen Haare daraus entfernte, und die Rothaarige, die das ganz zerrissene Hemd auf der gelben Brust zusammenhielt – beide schrien ihre Erklärungen und Klagen hinaus.

»Ich weiß schon, all das tut der Schnaps; wart', morgen meld' ich's dem Inspektor, der wird euch schon einen Wischer geben. Ich spüre, wie es hier riecht«, sprach die Aufseherin. »Räumt alles weg, sonst geht es euch schlecht. Wir haben nicht Zeit, hier zu untersuchen. An eure Plätze und still!«

Alle lagen; einige begannen zu schnarchen.

Die Maslowa schlief nicht, immer dachte sie darüber nach, daß sie eine Zwangsarbeiterin sei, und daß man sie schon zweimal so genannt habe; die Botschkowa hatte sie so genannt und die Rothaarige, und sie konnte sich nicht an diesen Gedanken gewöhnen. Die Korablewa, die mit dem Rücken zu ihr gekehrt lag, drehte sich um.

»So etwas hat mir nicht geahnt, nicht geschwant,« sagte leise die Maslowa; »die andern tun Gott weiß was, und es kommt nichts danach. Ich aber soll um gar nichts leiden.«

»Gräm' dich nich, Deern, man lebt ja in Sibirien auch, und du wirst wohl auch dort nicht zugrund' gehen«, tröstete sie die Korablewa.

»Daß ich nicht zugrund' geh', weiß ich, aber doch kränkt es mich; solch' Schicksal ist nichts für mich, denn ich bin an gutes Leben gewöhnt.«

»Gegen Gott kannst du nicht streiten,« sagte mit einem Seufzer die Korablewa, »gegen ihn wirst du nicht streiten.«

»Ich weiß, Tantchen, aber schwer ist's doch immer.«

Sie schwiegen eine Zeitlang.

Auch die Rothaarige schlief nicht.

»Hörst du? Die Zerschmolzene da?« stieß die Korablewa hervor, indem sie die Aufmerksamkeit der Maslowa auf die seltsamen Laute, die von der andern Seite der Pritsche herkamen, lenkte.

Diese Laute waren das unterdrückte Schluchzen der rothaarigen Frau.

Die Rothaarige weinte darüber, daß sie eben geschimpft, geschlagen worden, daß sie keinen Schnaps abbekommen, den sie so sehr gern haben wollte. Sie weinte auch darüber, daß sie in ihrem ganzen Leben nichts bekommen als Schimpfwörter, Verhöhnung, Beleidigungen, Schläge.

Sie suchte sich zu trösten mit der Erinnerung an ihre erste Liebe zu dem Fabrikarbeiter Fedjka Milodjonkow, aber als sie dieser Liebe gedachte, mußte sie auch an das Ende dieser Liebe denken. Die Liebe endete damit, daß dieser Milodjonkow sie in betrunkenem Zustande zum Spaß an der empfindlichsten Stelle mit Schwefelsäure beschmierte und nachher mit den Kameraden lachte, als er sah, wie sie sich vor Schmerzen krümmte.

 

Das erste Gefühl, welches Nechljudow am anderen Tage, als er erwachte, empfand, war das Bewußtsein dessen, daß mit ihm etwas geschehen sei, und früher sogar, als er sich vergegenwärtigte, was geschehen, wußte er, daß etwas Wichtiges und Gutes geschehen. »Katjuscha, Gericht. Ja, und man muß aufhören zu lügen und die ganze Wahrheit sagen.« Und als ein merkwürdiges Zusammentreffen kam an diesem Morgen endlich jener lang erwartete Brief von Maria Wassiljewna, der Frau des Adelsmarschalls, der Brief, der ihm jetzt besonders nötig war. Sie gab ihm völlige Freiheit, wünschte ihm Glück zu der von ihm beabsichtigten Heirat. »Heirat!« sagte er ironisch, »wie weit bin ich jetzt davon.« Und er erinnerte sich seiner gestrigen Absicht, alles ihrem Manne zu sagen, ihm zu beichten und seine Bereitschaft zu jeglicher Genugtuung zu äußern. Aber heute morgen schien ihm das nicht so leicht wie gestern. »Und dann, wozu den Menschen unglücklich machen, wenn er nichts weiß? Wenn er fragt, ja, so sage ich's ihm. Aber extra gehen, es ihm zu sagen? Nein, das ist nicht nötig.«

Ebenso schwer erschien es heute morgen, der Missi die ganze Wahrheit zu sagen. Wieder konnte man unmöglich anfangen zu sprechen – das wäre beleidigend gewesen. Das eine hat er heute früh entschieden: er wird nicht mehr zu ihnen fahren, und er wird die Wahrheit sagen, wenn man ihn fragt.

Dagegen muß in den Beziehungen zu Katjuscha nichts Nichtzuendegesprochenes bleiben. »Ich fahre in das Gefängnis: ich sage ihr – ich werde sie bitten, mir zu verzeihen. Und wenn es nötig ist, ja, wenn es nötig ist, werde ich sie heiraten«, dachte er.

Schon lange war er nicht dem Tage mit solcher Energie entgegengetreten. Der Agrafena Petrowna, die zu ihm hereinkam, erklärte er sogleich mit einer Entschiedenheit, die er selber nicht von sich erwartete, daß er diese Wohnung und ihre Dienste nicht mehr brauche. Durch eine stumme Verständigung war es festgesetzt worden, daß er diese große und teure Wohnung dazu behielt, um sich darin zu verheiraten. Die Kündigung der Wohnung hatte also eine besondere Bedeutung. Agrafena Petrowna sah ihn verwundert an.

»Ich danke Ihnen sehr, Agrafena Petrowna, für alle Ihre Sorge um mich, aber jetzt brauche ich nicht eine so große Wohnung – und eine ganze Dienerschaft. Wenn Sie mir helfen wollen, so seien Sie so gut, die Sachen einzurichten, sie vorläufig wegzuräumen, wie es bei Mama gemacht worden ist; und wenn Natascha kommt, so wird sie weitere Anordnungen treffen.« Natascha war Nechljudows Schwester.

Agrafena Petrowna schüttelte den Kopf.

»Wieso denn einzurichten? Aber man wird sie ja doch brauchen«, sagte sie.

»Nein, man wird sie nicht brauchen, Agrafena Petrowna, sicher wird man sie nicht brauchen«, sagte Nechljudow, indem er ihr auf das antwortete, was Ihr Kopfschütteln ausdrückte. »Sagen Sie, bitte, auch dem Kornej, daß ich ihn nicht mehr brauche.«

»Unnützerweise, Dmitrij Iwanowitsch, machen Sie es so«, sprach sie. »Gut, Sie reisen ins Ausland: dennoch wird man die Räume brauchen.«

»Es ist nicht so, wie Sie meinen, Agrafena Petrowna. Ich will nicht ins Ausland reisen; wenn ich reise, so an einen ganz anderen Ort.«

Er ward plötzlich purpurrot. »Ja, man muß es ihr sagen,« dachte er, »es hat keinen Zweck, es zu verschweigen. Man muß allen alles sagen.«

»Mir passierte gestern eine sehr seltsame und wichtige Sache. Erinnern Sie sich der Katjuscha bei dem Tantchen Maria Iwanowna?«

»Freilich, ich habe sie nähen gelehrt.«

»Nun, also, man hat über diese Katjuscha zu Gericht gesessen, und ich war ein Geschworener.«

»Ach, mein Gott, wie schade!« sagte Agrafena Petrowna. »Weswegen ward sie denn gerichtet?«

»Wegen Todschlag, und alles das habe ich getan.«

»Nun, das ist ja sehr seltsam. Wie konnten Sie das tun?«

»Ja, ich bin die Ursache von allem. Und das eben hat alle meine Pläne geändert.«

»Aber was für eine Veränderung kann für Sie daraus entstehen?«

»Nun diese: Wenn ich die Ursache davon bin, daß sie diesen Weg eingeschlagen, so muß eben auch ich alles tun, was ich kann, um ihr zu helfen.«

»Das ist Ihr guter Wille – aber keine besondere Schuld haben Sie daran. Mit allen geht es so, und wenn man Verstand hat, so wird alles wieder gut gemacht und vergessen, und man lebt. Und Sie brauchen das nicht auf Ihre Rechnung zu nehmen. Ich habe schon früher gehört, daß sie den rechten Weg verloren hatte, also wer ist denn daran schuld?«

»Ich bin schuld. Und darum will ich ja wieder gut machen.«

»Nun, es ist schon schwer, wieder gut zu machen.«

»Das ist meine Sache. Aber wenn Sie – in bezug auf Sie selbst – so werde ich, wie die Mama wünschte . . .«

»An mich denke ich nicht. Die Selige hat sich so wohltätig gegen mich erwiesen, daß ich nichts mehr wünsche. Die Lisanjka bittet mich zu sich (das war ihre verheiratete Nichte); zu ihr also werde ich fahren, wenn ich hier nicht nötig bin. Nur nehmen Sie sich das umsonst zu Herzen: mit allen passiert das.«

»Nun, ich denke nicht so. Jedenfalls bitte ich Sie, die Wohnung zu kündigen und die Sachen wegzuräumen. Und seien Sie mir nicht böse. Ich bin Ihnen sehr dankbar für alles.«

Auf dem Wege ins Gericht, als er durch dieselben Straßen mit demselben Mietkutscher fuhr, staunte er über sich selbst, bis zu welchem Grade er sich heute als ein ganz anderer Mensch fühlte.

»Vor allem,« dachte er, »muß man jetzt den Advokaten sehen und seine Entscheidung erfahren, und dann . . ., dann sie sehen und ihr alles sagen.«

Und wenn er sich nur vorstellte, wie er sie sehen wird, wie er ihr alles sagt, wie er ihr seine Schuld beichtet, wie er ihr erklärt, daß er alles, was er kann, tun wird, um seine Schuld wieder gut zu machen, so ward er über seine Güte gerührt, und die Tränen traten ihm in die Augen.

 

Als Nechljudow ins Gericht gefahren kam, traf er schon im Korridor den gestrigen Gerichtskommissär und fragte ihn aus: »Wo werden die gerichtlich verurteilten Arrestanten untergebracht, und von wem hängt die Erlaubnis ab, sie zu sehen?«

Der Gerichtskommissär erklärte, daß die Arrestanten an verschiedenen Orten inhaftiert seien, und daß die Erlaubnis, sie zu besuchen, von dem Prokureur abhänge.

»Ich werde es Ihnen sagen, und Sie selber nach der Sitzung begleiten. Jetzt aber, bitte, in die Verhandlung. Gleich fängt es an.«

Nechljudow dankte dem Kommissär für seine Freundlichkeit und ging in das Zimmer der Geschworenen.

Um die Zeit, als er sich diesem Zimmer näherte, kamen die Geschworenen schon aus demselben heraus, um in den Sitzungssaal zu gehen. Der Kaufmann war ebenso lustig, ebenso wie gestern hatte er schon einen Imbiß zu sich genommen und ein Glas getrunken, und er begegnete dem Nechljudow wie einem alten Freund. Und Peter Gerassimowitsch erweckte heute in dem Nechljudow kein unangenehmes Gefühl durch seine Familiarität und durch sein Lachen.

Nechljudow hätte auch mit allen Geschworenen über sein Verhältnis zu der gestrigen Angeklagten reden mögen.

»Eigentlich,« dachte er, »mußte man gestern während des Gerichtes aufstehen und seine Schuld öffentlich bekennen.« Aber als er mit den Geschworenen zusammen in den Sitzungssaal eingetreten war, und es begann die gestrige Prozedur: wieder das Gericht kommt, wieder die drei auf der Erhöhung, in den gestickten Kragen, wieder das Schweigen, das Platznehmen der Geschworenen auf den Stühlen mit hohen Rückenlehnen, die Gendarmen, das Porträt, der Geistliche, empfand er, daß, obgleich er es ja hätte tun sollen, er auch gestern nicht imstande gewesen wäre, diese Feierlichkeit zu durchbrechen.

Die heutige Verhandlung betraf einen Diebstahl mit Einbruch. Der Angeklagte war ein magerer, schmalschultriger, zwanzigjähriger Knabe im grauen Schlafrock und mit grauem, blutlosem Gesicht. Er saß allein auf der Anklagebank und hustete ohne Aufhören. Dieser Knabe war angeklagt, mit einem Kameraden an einem Schuppen das Schloß erbrochen und daraus alte Teppiche im Wert von 3 Rubel 67 Kopeken entwendet zu haben. Aus den Anklageakten war ersichtlich, daß der Polizist den Knaben anhielt, zur Zeit, als derselbe mit seinem Kameraden ging, der die Teppiche auf der Schulter trug. Der Knabe und sein Kamerad bekannten sich sogleich schuldig, und beide wurden ins Gefängnis gesteckt. Der Kamerad des Knaben, ein Schlosser, starb im Gefängnis, und nun stand der Knabe allein vor Gericht. Die alten Teppiche lagen auf dem Tische der corpora delicti.

Die Verhandlung ward ebenso geführt wie die gestrige, mit dem ganzen Arsenal der Beweise, der Überführungen, der Zeugen, ihrer Vereidigung, der Verhöre, der Kreuz- und Querfragen. Der Zeuge, der Polizist, hackte seine Antworten, auf alle Fragen des Vorsitzenden, des Anklägers, des Verteidigers, leblos ab, aber trotz seiner soldatischen Verdummung und Maschinenmäßigkeit sah man, daß er den Knaben bedauerte.

Der andere Zeuge, der geschädigte kleine Alte, Hausbesitzer und Eigentümer der Teppiche, augenscheinlich ein galliger Mensch, erkannte die Teppiche sehr ungern für seine an, als man ihn fragte, ob er seine Teppiche erkenne: als aber der Staatsanwalt anfing, ihn darüber zu verhören, welche Verwendung er für die Teppiche hatte, ob sie ihm sehr nötig waren, erboste er sich und antwortete: »Der Teufel hole sie noch einmal, diese Teppiche, ich brauche sie ganz und gar nicht. Wenn ich nur gewußt hätte, daß ich wegen derselben so viel Verdruß haben würde, so hätte ich nicht nur nicht geklagt, sondern hätte noch ein rotes Scheinchen dazu gezahlt – sogar zwei würde ich geben; schleppe man mich nur nicht zu den Verhören! Wie viel Geld habe ich mit den Mietkutschern verfahren. Und ich bin dazu noch krank . . . Ich habe Rheumatismus und ein Bruchleiden.« So sprachen die Zeugen; der Angeklagte selber aber bekannte sich zu allem, und wie ein gefangenes Tierchen blickte er sich sinnlos nach den Seiten um; mit stockender Stimme erzählte er alles, wie es gewesen.

Aber der Staatsanwalt tat, ebenso wie gestern seine Schultern hebend, seine Fragen, welche den schlauen Verbrecher fangen sollten.

In seiner Rede bewies er, daß der Diebstahl in einem Wohnraum ausgeführt worden und mit Einbruch, darum müsse man den Knaben der schwersten Strafe unterwerfen.

Der vom Gericht bestimmte Verteidiger bewies, daß der Diebstahl nicht in einem Wohnraume verübt ward, und daß deswegen, obgleich das Verbrechen schwer wäre, der Verbrecher dennoch nicht so gefährlich für die Gesellschaft sei, wie es der Staatsanwalt hingestellt.

Aus dem Sachverhalt war ersichtlich, daß dieser Bursche noch als kleiner Bub von seinem Vater in die Tabaksfabrik gesteckt worden, wo er fünf Jahre verlebte. Im gegenwärtigen Jahre war er nach einer stattgefundenen Unannehmlichkeit zwischen Fabrikherr und Arbeitern von dem Fabrikbesitzer entlassen worden, und als er ohne Stelle geblieben, irrte er arbeitslos in der Stadt umher, indem er die letzten Kleider vom Leibe vertrank. In einem Wirtshaus kam er mit einem ebensolchen, wie er war, einem Schlosser zusammen, der noch früher die Stelle verloren und stark trank, und sie beide zerbrachen nachts im betrunkenen Zustande das Schloß und nahmen aus dem Schuppen das erste, was ihnen unter die Hand fiel. Man hat sie erwischt. Sie bekannten sich in allem schuldig. Man steckte sie ins Gefängnis, wo der Schlosser, das Urteil erwartend, starb. Über diesen Knaben nun saß man jetzt zu Gericht wie über ein gefährliches Wesen, vor welchem man die Gesellschaft schützen muß.

»Ein ebenso gefährliches Wesen, wie die gestrige Verbrecherin«, dachte Nechljudow, während er alledem zuhörte, was vor ihm geschah. »Sie sind gefährlich. Gut. Aber wir alle, die wir sie richten? Ich, ein lockerer Bursche, ein Wüstling, ein Betrüger. Wir sind nicht gefährlich . . . Aber wenn nun dieser Knabe wirklich für die Gesellschaft der gefährlichste Mensch wäre von allen Leuten, die sich in diesem Saal befinden, was müßte man, dem gesunden Menschenverstande nach, tun, wenn er ertappt worden?«

Nechljudow dachte das, ohne weiter dem zuzuhören, was vor ihm geschah.

 

Kaum ward die erste Unterbrechung gemacht, als Nechljudow aufstand und in den Korridor hinausging mit der Absicht, nun nicht mehr in die Verhandlung zurückzukehren. Möchte man mit ihm machen, was man wollte, aber teilnehmen an diesem fürchterlichen und abscheulichen Unsinn konnte er nicht mehr.

Nachdem Nechljudow erfahren, wo das Kabinett des Prokureurs sei, ging er zu ihm. Der Prokureur empfing ihn im Stehen.

»Was ist Ihnen gefällig?« fragte der Prokureur streng.

»Ich bin ein Geschworener, mein Name ist Nechljudow, und ich muß notwendig eine Angeklagte – die Maslowa sehen –«, sagte Nechljudow rasch und entschieden.

»Die Maslowa? Wohl, die kenne ich. Sie wurde der Vergiftung angeklagt«, sagte der Prokureur ruhig. »Aber wozu denn brauchen Sie sie zu sehen?«

»Ich brauche es in einer für mich besonders wichtigen Angelegenheit«, begann Nechljudow mit jähem Erröten.

»So«, sagte der Prokureur, und besah den Nechljudow aufmerksam. »Ist ihre Sache schon verhandelt worden oder noch nicht?«

»Sie wurde gestern gerichtet und vollkommen ungerecht verurteilt. Sie ist unschuldig.«

»Aha. Wenn sie erst gestern verurteilt worden,« sagte der Prokureur, ohne der Äußerung des Nechljudow über die Unschuld der Maslowa irgendwelche Aufmerksamkeit zu schenken, »so muß sie sich doch bis zur Kundmachung des Urteils in definitiver Form im Untersuchungsgefängnis befinden. Besuche werden da nur an bestimmten Tagen bewilligt. Dorthin also empfehle ich Ihnen, sich zu wenden.«

»Aber ich muß sie möglichst bald sehen«, sagte Nechljudow mit zitterndem Unterkiefer, da er fühlte, daß sich die entscheidende Minute nahte.

»Aber wozu brauchen Sie das?« fragte der Prokureur, indem er mit einiger Unruhe die Augenbrauen hob.

»Weil sie unschuldig ist und zu Zwangsarbeit verurteilt wurde. Der allein an allem Schuldige aber bin ich«, sprach Nechljudow mit zitternder Stimme, und er fühlte, daß er Dummheiten sprach.

»Wieso denn?« fragte der Prokureur.

»Weil ich sie verführt und in die Lage gebracht habe, in welcher sie diese Anschuldigung treffen konnte.«

»Dennoch sehe ich nicht ein, welchen Zusammenhang das mit dem Besuch hat.«

»Aber den Zusammenhang, daß – gelingt es nun oder gelingt es nicht, die unrichtige Entscheidung des Gerichtes umzustoßen – ich ihr folgen will und . . . sie heiraten«, brachte Nechljudow hervor, indem er bis zu Tränen über sich selbst gerührt war und sich über den Eindruck, welchen er auf den Prokureur machte, freute.

»Ja? So ist es!« sagte der Prokureur, »das ist wirklich ein sehr ausnehmender Fall. Aber Ihr Wunsch ist so ungewöhnlich, und so sehr geht er über die gewöhnlichen Formen hinaus . . .«

»Wie ist's denn, kann ich die Bewilligung erhalten?«

»Die Bewilligung? Ja, gleich gebe ich Ihnen einen Passierzettel. Wollen Sie gefälligst ein wenig Platz nehmen.«

Er trat an den Tisch heran, setzte sich und fing an zu schreiben.

»Bitte sich zu setzen.«

Nechljudow blieb stehen.

Als der Prokureur den Passierzettel geschrieben, übergab er ihn dem Nechljudow, indem er ihn mit Neugier betrachtete.

»Ich muß noch anzeigen,« sagte Nechljudow, »daß ich nicht fortfahren kann, an der Session teilzunehmen.«

»Es ist nötig, wie Sie wissen, genügende Gründe vorzubringen, sie dem Gericht vorzulegen.«

»Die Gründe sind, daß ich jegliches Gericht nicht nur für unnütz, sondern auch für unmoralisch halte.«

»So, so«, sagte der Prokureur, immer mit demselben kaum merkbaren Lächeln, als ob er durch dieses Lächeln zeigen wollte, daß solche Mitteilungen ihm bekannt sind, und zu der ihm bekannten, spaßhaften Kategorie gehören.

»So, aber Sie begreifen augenscheinlich, daß ich, als Prokureur des Gerichtes, nicht mit Ihnen einverstanden sein kann. Und darum rate ich Ihnen, dies dem Gericht anzuzeigen, und das Gericht wird über Ihre Anzeige entscheiden, wird sie als genügend oder ungenügend erklären, und im letzten Falle wird es Ihnen eine Buße auferlegen. Also wenden Sie sich an das Gericht.«

»Ich habe es angezeigt und gehe nirgends weiter hin«, sprach Nechljudow böse.

»Habe die Ehre!« sagte der Prokureur, den Kopf neigend; augenscheinlich wünschte er sich möglichst schnell von dem seltsamen Besucher zu befreien.

 

Von dem Prokureur fuhr Nechljudow gradewegs ins Untersuchungsgefängnis. Aber es erwies sich, daß es dort keine Maslowa gab, und der Aufseher erklärte dem Nechljudow, daß sie in dem alten Gefängnis der zur Verschickung Verurteilten sein müsse. Nechljudow fuhr dorthin.

Wirklich befand sich Katharina Maslowa dort.

Die Entfernung vom Untersuchungsgefängnis bis zum Schloß der zu Verschickenden war außerordentlich groß, und Nechljudow erreichte das Schloß erst gegen Abend. Er wollte sich der Tür des ungeheuer großen, düsteren Gebäudes nähern, aber die Schildwache ließ es nicht zu, sondern zog nur die Klingel. Auf das Läuten kam ein Aufseher.

Auf dem Hofe begegnete Nechljudow einem jungen Offizier mit abstehendem Schnurrbart. Es war der Unterinspektor selber. Er nahm den Passierzettel, sah ihn an und sagte, daß er sich nicht entschließen könne, auf den Passierzettel vom Untersuchungsgefängnis hin jemand hier einzulassen. »Und es ist auch schon zu spät. Wollen Sie morgen kommen. Morgen um 10 Uhr sind die Besuche allen gestattet; fahren Sie vor, und der Inspektor selber wird zu Hause sein. Dann kann man das Wiedersehen im allgemeinen Sprechzimmer, oder wenn es der Inspektor bewilligt, auch im Bureau haben.«

Und ohne also das Wiedersehen an diesem Tage erlangt zu haben, kam Nechljudow nach Hause. Von dem Gedanken, sie zu sehen aufgeregt, fuhr Nechljudow durch die Straßen und dachte nicht an das Gericht, sondern an seine Gespräche mit dem Prokureur; sowie er zu Hause war, holte er sogleich seine schon lange nicht mehr angerührten Tagebücher hervor, durchlas einige Stellen daraus und gedachte jetzt folgendes ausführlicher einzuschreiben: »Seit zwei Jahren habe ich kein Tagebuch geführt und dachte, daß ich nie mehr zu dieser Kinderei zurückkehren würde. Aber das war keine Kinderei, sondern eine Unterhaltung mit mir selbst, mit jenem wahrhaften, göttlichen Selbst, welches in jedem Menschen wohnt. Diese ganze Zeit über schlief dieses Ich, und ich hatte niemand, mit dem ich mich unterhalten konnte. Erweckt ward es durch ein ungewöhnliches Ereignis, am 28. April, im Gericht, wo ich Geschworener war. Auf der Bank der Angeklagten sah ich sie, die von mir verführte Katjuscha, im Arrestantenschlafrock. Aus sonderbarem Mißverständnis und meines Irrtums wegen verurteilte man sie zur Zwangsarbeit. Ich war eben beim Prokureur und im Gefängnis. Man ließ mich nicht zu ihr, aber ich habe den Entschluß gefaßt, alles zu tun, um sie zu sehen, ihr zu beichten und meine Schuld gut zu machen, wenn auch durch die Heirat. Herr hilf mir. Mir ist sehr schön, freudig in meiner Seele.«

 

Lange in dieser Nacht konnte die Maslowa nicht einschlafen; sie lag mit geöffneten Augen.

Sie dachte darüber nach, daß sie keineswegs einen Zwangsarbeiter auf der Insel Sachalin heiraten werde; so oder so aber würde sie sich schon mit einem der Vorgesetzten einrichten, mit dem Schreiber, oder mit dem Aufseher, oder etwa mit dem Unteraufseher. Sie sind alle darauf erpicht. »Nur nicht mager werden, sonst bist du verloren.« Und sie erinnerte sich, wie der Verteidiger sie ansah, und wie der Vorsitzende sie ansah, und wie die ihr begegnenden und absichtlich an ihr vorbeigehenden Leute im Gericht sie ansahen. Sie hat sich an viele erinnert, nur nicht an den Nechljudow. Ihrer Kindheit und Jugend und besonders ihrer Liebe zum Nechljudow erinnerte sie sich niemals. Das tat ihr zu sehr weh. Diese Erinnerungen lagen unberührt irgendwo tief in ihrer Seele. Sogar im Traum sah sie den Nechljudow nie. Heute hatte sie ihn in der Gerichtssitzung nicht erkannt, nicht so sehr, weil er, als sie ihm zum letzten Male sah, ein Militär, ohne Bart, mit kleinem Schnurrbärtchen und mit, wenn auch kurzen, so doch dichten und sich kräuselnden Haaren war, jetzt aber ein kahler Mann mit einem Bart, sondern weil sie nie an ihn gedacht hatte. Ihre Erinnerungen aber an ihn begraben hat sie in jener schrecklichen dunklen Nacht, als er aus der Armee vorübergefahren und bei den Tantchen nicht eingekehrt war.

Das war damals, als Katjuscha schon wußte, daß sie schwanger sei. Bis zu dieser Nacht, solange sie darauf gehofft, daß er einkehren werde, belästigte sie das Kind nicht nur nicht, welches sie unter dem Herzen trug, sondern sie ward oft durch seine weichen und manchmal heftigen Bewegungen erstaunt, gerührt. Aber von dieser Nacht an ward alles anders. Und das künftige Kind ward ihr nichts als ein Hindernis.

Die Tantchen erwarteten den Nechljudow, baten ihn, einzukehren, aber er telegraphierte, daß er nicht könne, weil er zu einem bestimmten Termin in Petersburg sein müsse. Als Katjuscha dies erfuhr, entschloß sie sich, auf die Station zu gehen, um ihn zu sehen. Der Zug kam um zwei Uhr nachts vorbei. Katjuscha brachte die Fräulein zu Bett, und nachdem sie ein Mädchen, die Tochter der Köchin, Maschka, beredet, mit ihr zu gehen, zog sie alte Schuhe an, hüllte sich in ein Kopftuch, schürzte sich auf und lief auf die Station.

Es war eine dunkle, regnerische, windige Herbstnacht. Der Regen begann bald mit großen warmen Tropfen zu peitschen, bald hörte er auf. Auf dem Felde war der Weg unter den Füßen nicht zu sehen, im Walde aber war es schwarz wie in einem Ofen, und obgleich Katjuscha den Weg gut kannte, ist sie im Wald vom Wege abgekommen und hat die kleine Station, wo der Zug drei Minuten stehen blieb, nicht zur rechten Zeit erreicht, wie sie hoffte, sondern erst nach dem zweiten Glockenzeichen. Als Katjuscha auf die Plattform hinausgelaufen, sah sie sogleich ihn in einem Fenster des Waggons der ersten Klasse. In diesem Wagen war ein besonders helles Licht. Auf den Samtlehnstühlen saßen einander gegenüber zwei Offiziere und spielten Karten. Auf den Tischchen am Fenster brannten überfließende dicke Kerzen. Er saß in strammanliegenden Hosen und weißem Hemd auf dem Arm des Lehnstuhls, stützte sich auf die Rückenlehne und lachte über irgend etwas. Sobald sie ihn erkannte, klopfte sie an das Fenster mit der frierenden Hand. Aber um dieselbe Zeit erscholl das dritte Läuten. Der Zug rührte sich langsam; erst zurück, dann fingen die Waggons an, einer nach dem andern stoßweise vorwärts geschoben zu werden. Einer der Spielenden stand mit den Karten in der Hand auf und fing an, durchs Fenster zu sehen. Sie klopfte noch einmal und drückte ihr Gesicht an die Scheibe. Um diese Zeit rückte auch jener Waggon, bei welchem sie stand, und ging vorwärts. Sie ging ihm nach und sah ins Fenster. Der Offizier wollte das Fenster herunterlassen, aber er konnte es durchaus nicht. Nechljudow stand auf, stieß jenen Offizier beiseite und drückte das Fenster hinab. Der Zug verstärkte seine Bewegung, so daß Katjuscha mit raschen Schritten ging. Der Zug ging noch schneller, und das Fenster fiel herunter; gleichzeitig stieß sie der Kondukteur fort und sprang in den Waggon. Sie lief immer auf den nassen Brettern der Plattform hin; dann, als die Plattform zu Ende war, konnte Katjuscha sich kaum enthalten zu fallen, als sie die Treppe hinunter und auf die Erde lief. Sie lief, aber der Waggon der ersten Klasse war schon längst voraus. Neben ihr liefen schon die Waggons der zweiten Klasse, dann, noch schneller, die Wagen der dritten Klasse vorüber, aber sie fuhr dennoch fort zu laufen. Als der letzte Wagen mit den Laternen vorbeigeeilt, war sie schon hinter dem Pumpenhause. Der Wind hat ihr das Tuch weggetragen, aber sie lief immer noch.

»Tantchen, Michajlowna!« schrie das Mädchen, kaum mit ihr gleichen Schritt haltend, »das Tuch haben Sie verloren!«

Katjuscha blieb stehen und, den Kopf zurückwerfend und mit den Händen umfassend, brach sie in Weinen aus. »Er ist weggefahren«, schrie sie auf.

»Er sitzt in dem erleuchteten Wagen, auf dem Samtlehnstuhl, scherzt, trinkt, ich aber bin hier, im Kot, im Dunklen, unter dem Regen und dem Wind, stehe und weine«, dachte sie bei sich selbst, und sie setzte sich auf die Erde und fing an, so laut zu weinen, daß das Mädchen erschrak und sie in dem nassen Kleid umarmte.

»Tantchen, wollen wir nach Hause gehen.«

»Kommt der Zug vorbei – unter den Waggon und fertig«, dachte inzwischen Katjuscha, ohne dem Mädchen zu antworten. Sie beschloß, so zu tun. Aber sogleich, wie es ja immer im ersten Augenblicke der Beruhigung nach einer Aufregung zu sein pflegt, fuhr das Kind, sein Kind, das in ihr war, plötzlich zusammen, es stieß sich und reckte sich leicht, und es fing an, wieder mit etwas Feinem, Zartem und Scharfem zu klopfen. Und plötzlich trat alles das zurück, was sie von einer Minute so gequält, daß es ihr unmöglich schien, zu leben; alle Bosheit gegen ihn und der Wunsch, sich an ihm, wenn auch durch ihren eigenen Tod zu rächen, alles das trat plötzlich zurück. Sie beruhigte sich, machte sich zurecht, stand auf, zog das Tuch über den Kopf und ging nach Hause.

Abgeplagt, naß, schmutzig kehrte sie nach Hause zurück, und von diesem Tage begann jene seelische Umwandlung, infolge welcher sie zu dem ward, was sie jetzt war. Von dieser schrecklichen Nacht an hörte sie auf, an Gott und an das Gute zu glauben. Früher glaubte sie selber an Gott und daran, daß die anderen Leute an ihn glauben, aber von dieser Nacht an überzeugte sie sich, daß niemand daran glaubt, und daß alles, was man von Gott und von seinem Gesetz spricht, ein Betrug und eine Ungerechtigkeit ist. Er, den sie liebte, und der sie liebte – das wußte sie – hatte sie verlassen, nachdem er seine Lust gebüßt und ihrer Gefühle gespottet. Er aber war der beste aller Menschen, den sie kannte. Und alle übrigen waren noch schlechter. Seine Tanten, die frommen Alten, jagten sie fort, als sie ihnen nicht mehr so dienen konnte, wie früher. Alle Menschen, mit welchen sie zusammentraf – die Frauen suchten durch sie Geld zu bekommen, die Männer, von dem alten Stanowoj angefangen, bis zu den Gefängnisaufsehern –, betrachteten sie als einen Gegenstand der Lust. Und für niemand war etwas anderes in der Welt, als die Lust, und namentlich diese Lust. Darin bestärkte sie noch mehr der alte Schriftsteller, mit dem sie im zweiten Jahre ihres Lebens in der Freiheit in ein Verhältnis getreten war. Er sagte ihr ja geradezu, daß darin – er nannte es Poesie und Ästhetik – das ganze Lebensglück bestehe.

Alle lebten nur für sich, für ihre Lust, und alle Worte von Gott, vom Guten, waren Betrug. Wenn hier und da sich Fragen erhoben darüber, warum alles in der Welt so schlecht eingerichtet sei, daß alle einander nur Böses tun, und daß alle leiden, so mußte man nicht darüber nachdenken. Wird es einem ungemütlich, so raucht man, man trinkt, oder – am besten – man liebelt mit einem Manne – und es geht vorüber.

 

Nechljudow fuhr früh aus dem Hause fort. Auf dem Trödelmarkt, an dem Nechljudow vorbeifahren mußte, wimmelte neben den in einer Reihe gebauten Buden ein dichtgedrängter Haufe Menschen, und zerlumpte Leute mit Stiefeln unter dem Arm und mit über die Schultern geworfenen ausgebügelten Hosen und Westen gingen hin und her.

Bei den Wirtschaften drängten sich schon die aus ihren Fabriken befreiten Männer in sauberen Kaftanen und glänzenden Stiefeln, und Frauen mit grellen seidenen Tüchern auf dem Kopf und in Paletots mit Schmelzperlen.

Von allen Seiten zitterte die Luft vom verschiedenartigen Klang und Getön der Glocken, die das Volk herbeiriefen, dem Gottesdienst beizuwohnen. Und die herausgeputzten Leute gingen, jeder in seine Pfarrkirche.

Der Mietskutscher fuhr den Nechljudow nicht bis zum Gefängnis selbst, sondern nur bis zu der Straßenbiegung, die zum Gefängnis führte.

Einige Leute, Männer und Frauen, meistens mit Bündelchen, standen dort, wo die Straße sich zum Gefängnis umwendete, etwa hundert Schritte vom Gefängnis entfernt. Das ungeheuer große Gefängnisgebäude selbst lag geradeaus; zu ihm ließ man die Besucher nicht heran. Der Wachtposten marschierte mit der Flinte auf und ab, und strenge schrie er diejenigen an, die es versuchten, ihn zu umgehen. Neben dem Pförtchen zu dem hölzernen Gebäude rechter Hand, der Schildwache gegenüber, saß auf einer kleinen Bank der Aufseher in Uniform, mit Tressen, und mit einem Notizbuch. Die Besucher traten an ihn heran, nannten die Namen derer, die sie zu sehen wünschten, und er schrieb sie auf. Auch Nechljudow trat an ihn heran und nannte Katharina Maslowa. Der Aufseher mit den Tressen schrieb.

Nechljudow begab sich zu dem Haufen der Wartenden.

Die Besucher waren meist schäbig gekleidete, sogar zerlumpte Leute, aber es waren auch, dem äußeren Aussehen nach, anständige darunter, Männer und Frauen. Neben dem Nechljudow stand ein gut gekleideter, glattrasierter, beleibter, rotbäckiger Mann mit einem Bündelchen in der Hand, das augenscheinlich Wäsche enthielt. Es war ein Portier aus der Bank; er kam hierher, um sich nach seinem Bruder, der wegen Urkundenfälschung eingezogen war, umzusehen. Dieser gutmütige Mann erzählte dem Nechljudow seine ganze Geschichte und wollte auch ihn schon ausfragen, als ihre Aufmerksamkeit abgelenkt ward durch einen Studenten mit einer verschleierten Dame, die in einer Gummiräderdroschke mit einem starken, rabenschwarzen Rassepferd angefahren kamen. In den Händen trug der Student ein großes Bündel. Er kam zum Nechljudow und fragte ihn, ob es möglich sei und wie man es anfangen müsse, um die milden Gaben, die Kalatschen (Semmel), die er mitgebracht, den Gefangenen zu übergeben.

»Ich tue es auf Wunsch meiner Braut. Das ist meine Braut. Ihre Eltern haben uns geraten, dies den Gefangenen zu überbringen.«

Zur selben Zeit, als Nechljudow mit dem Studenten sprach, tat sich die große eiserne Gefängnistür mit dem Fensterchen in der Mitte auf, und heraus trat ein Offizier in Uniform mit einem andern Aufseher, und der Aufseher mit dem Buche erklärte, daß jetzt die Zulassung der Besucher beginne. Die Schildwache trat zur Seite, und alle Besucher begaben sich raschen Schrittes, manche sogar im Trab, als ob sie sich zu verspäten fürchteten, zur Gefängnistür.

Der erste Raum hinter der Tür war ein großes gewölbtes Zimmer mit Eisengittern vor den kleinen Fenstern. In diesem Zimmer, das Versammlungszimmer genannt ward, erblickte Nechljudow ganz unerwartet in einer Nische eine große Darstellung der Kreuzigung.

»Wozu ist das?« dachte er, indem er Christi Bildnis unwillkürlich in seiner Vorstellung mit den Erlösten, aber nicht mit den Eingekerkerten in Verbindung brachte.

Beim Ausgang aus dem ersten Zimmer, am andern Ende desselben, sagte der Aufseher etwas. Aber Nechljudow, von seinen Gedanken absorbiert, schenkte dem keine Aufmerksamkeit und ging weiter in derselben Richtung, wie der größere Teil der Besucher ging, nämlich nach der männlichen Abteilung und nicht nach der weiblichen, wohin er mußte. Da er die Voraneilenden vorbei ließ, kam er in den für die Besucher bestimmten Raum als Letzter. Das erste, was den Nechljudow frappierte, als er die Tür öffnete und diesen Raum betrat, war das betäubende, in ein Getöse zusammenfließende Geschrei von hundert Stimmen, dessen Bedeutung er in der ersten Minute nicht verstehen konnte. Erst als Nechljudow sich den Leuten näherte, die gleich den den Zucker bedeckenden Fliegen sich an die Netzscheidewand preßten, die das Zimmer in zwei Teile trennte, begriff er, wie die Sache lag. Das Zimmer, das an der Hinterwand Fenster hatte, ward nicht durch ein, sondern durch zwei Drahtnetze, welche von der Decke bis zum Boden reichten, in zwei Teile geteilt. Diese Netze waren in einem Abstande von etwa drei Arschin gezogen. Zwischen den zwei Netzen gingen Soldaten auf und ab. Jenseits der Netze waren die Gefangenen, diesseits die Besucher. Zwischen diesen und jenen befanden sich zwei Netze und drei Arschin Entfernung, so daß es nicht nur unmöglich war, etwas zu übergeben, sondern sogar das Gesicht zu unterscheiden, besonders für kurzsichtige Leute. Schwierig war es auch, sich zu sprechen; aus allen Kräften mußte man schreien, um gehört zu werden. Von beiden Seiten gab es an die Netze angepreßte Gesichter: Frauen, Männer, Väter, Mütter, Kinder, die sich bemühten, einander zu erkennen und zu sagen, was sie sich mitzuteilen hatten.

Weil aber jeder sich bemühte, so zu sprechen, daß der andre ihn deutlich hören konnte, und die Nachbarn dasselbe wollten, und ihre Stimmen einander störten, so bemühte sich jeder, den Nachbar zu überschreien. Eben dadurch entstand das Getöse, hie und da von einzelnen Schreien übertönt, das den Nechljudow frappiert hatte, sobald er in dieses Zimmer eingetreten war. Es gab keine Möglichkeit, zu unterscheiden, was eigentlich gesprochen wurde. Man konnte nur aus den Gesichtern schließen, was gesprochen ward, und welche Beziehungen zwischen den Sprechenden bestanden.

Als Nechljudow begriff, daß er unter solchen Umständen werde sprechen müssen, erhob sich in ihm ein Gefühl der Empörung gegen jene Leute, welche so etwas einrichten und aufrecht erhalten konnten.

Nechljudow verbrachte in diesem Zimmer etwa fünf Minuten, während er ein seltsames Gefühl der Beklemmung des Bewußtseins seiner Ohnmacht und seiner Entzweiung mit der ganzen Welt empfand.

 

»Man muß doch das tun, weswegen man gekommen ist«, sagte er, sich aufmunternd. »Was macht man nun?« Er begann mit den Augen die Obrigkeit aufzusuchen, und als er einen nicht hochgewachsenen, mageren Mann mit einem Schnurrbart und mit Offiziersachselschnüren erblickte, wandte er sich an ihn.

»Können Sie nicht, gnädiger Herr, mir sagen,« sagte er mit besonders angestrengter Höflichkeit, »wo sind hier die Frauen inhaftiert, und wo werden die Besuche bei ihnen erlaubt?«

»Müssen Sie denn in das weibliche Besuchszimmer?«

»Ja, ich möchte eine der gefangenen Frauen sehen«, antwortete mit derselben angespannten Höflichkeit Nechljudow.

»Das hätten Sie aber sagen müssen, als Sie im Versammlungszimmer gewesen. Wen wollen Sie denn sehen?«

»Ich muß Katharina Maslowa sehen.«

»Ist sie eine Politische?« fragte der Unterinspektor.

»Nein, sie ist einfach . . .«

»Was ist sie denn? Schon verurteilt?«

»Ja, vorgestern ward sie verurteilt«, antwortete Nechljudow.

»Wollen Sie ins weibliche, dann bitte dorthin«, sagte der Inspektor, der augenscheinlich entschieden hatte, daß Nechljudow der Aufmerksamkeit wert sei. »Sidorow,« wandte er sich an den schnurrbärtigen Unteroffizier mit den Medaillen, »begleite den Herrn hier in das weibliche Besuchszimmer.«

»Zu Befehl.«

Der Aufseher führte den Nechljudow aus dem männlichen Besuchszimmer in den Korridor hinaus und sogleich durch eine Tür gegenüber in das weibliche Besuchszimmer hinein.

Dies Zimmer war, ebenso wie auch das männliche, durch zwei Netzscheidewände in drei Teile geteilt, aber es war bedeutend kleiner, auch weniger Besucher und Gefangene befanden sich darin; aber das Geschrei und Getöse war dort ebenso groß, wie in dem männlichen Besuchszimmer.

Am auffallendsten von allen weiblichen Gefangenen, sowohl durch ihr frappantes Geschrei, als durch ihr Aussehen, war eine zerzauste, magere, gefangene Zigeunerin mit dem von den krausen Haaren auf die Seite geschobenen Kopftuch, die fast in der Mitte des Zimmers, jenseits des Gitters, an dem Pfeiler stand und etwas mit raschen Gesten einem tief und straff gegürteten Zigeuner in einem blauen Gehrock zuschrie. Neben ihm stand ein zerlumpter Mann und sprach mit einer zerzausten Frau mit breitem Gesicht; dann zwei Frauen, ein Mann, wieder eine Frau. – Jedem gegenüber eine Arrestantin. Zwischen denselben befand sich die Maslowa nicht, aber hinter den Arrestantinnen stand noch eine Frau, und Nechljudow begriff sogleich, daß es sie war; er fühlte sogleich, wie sein Herz anfing, heftig zu schlagen, und der Atem ihm benommen wurde. Die entscheidende Minute nahte. Er trat an die Netzwand und erkannte sie. Sie stand hinter der blauäugigen Fedossija und hörte lächelnd zu, was jene sprach. Sie war nicht im Schlafrock, wie vorgestern, sondern in einer stark mit dem Gürtel zusammengezogenen, weißen Jacke, die sich auf der Brust hoch erhob. Unter dem Halstuch ließen sich, wie auf dem Gesicht, die krausen, schwarzen Haare sehen.

»Gleich wird es sich entscheiden«, dachte er. »Wie soll ich sie rufen? Oder wird sie selber herankommen?« Aber sie kam nicht heran. Sie erwartete Klara und dachte gar nicht, daß dieser Herr zu ihr gekommen sei.

»Zu wem wollen Sie denn?« fragte die Aufseherin, die zwischen den Besuchern hin und her ging, sich dem Nechljudow nähernd.

»Katharina Maslowa«, konnte Nechljudow kaum hervorbringen.

»Maslowa – zu dir«, schrie die Aufseherin.

 

Die Maslowa blickte sich um, und den Kopf erhebend und die Brust herausdrückend, kam sie mit dem ihm schon bekannten Ausdruck der Bereitwilligkeit an das Gitter. Sie drängte sich zwischen zwei Arrestantinnen durch und heftete die Blicke verwundert-fragend auf den Nechljudow, ohne ihn zu erkennen.

Da sie aber seiner Kleidung nach ihn für einen reichen Mann halten mußte, so lächelte sie.

»Wollen Sie zu mir?« fragte sie, ihr lächelndes Gesicht mit den schielenden Augen dem Gitter nähernd.

»Ich wollte . . .«, Nechljudow wußte nicht, wie er sagen solle: ob Sie oder Du, und er entschloß sich, Sie zu sagen. Er sprach nicht lauter, als gewöhnlich: »Ich wollte Sie sehen . . . ich . . .«

»Du brauchst mir nicht das Zahnweh zu besprechen«, schrie neben ihm der zerlumpte Mann: »Ich wollte Sie sehen . . . ich . . .«

»Du hörst ja, sie stirbt, was willst du noch?« schrie jemand von der anderen Seite.

Die Maslowa konnte nicht deutlich hören, was Nechljudow sagte; aber der Ausdruck seines Gesichtes, während er sprach, mahnte sie plötzlich an ihn. Aber sie traute ihren Augen nicht. Dennoch erstarb das Lächeln auf ihrem Gesicht und auf der Stirn bildeten sich Leidensfalten.

»Man kann nicht hören, was Sie sagen«, schrie sie, die Augenlider zusammendrückend und mehr und mehr die Stirn runzelnd.

»Ich bin gekommen . . .« »Ja ich tue, was ich muß – ich beichte«, dachte Nechljudow.

Und kaum hatte er das gedacht, so traten ihm die Tränen in die Augen, es schnürte ihm den Hals zu, und er verstummte, während er sich mit den Fingern am Gitter anhakte und sich bemühte, nicht laut aufzuweinen.

»Ich sag', warum tust du, was sich nicht gehört,« schrie man von einer Seite.

»Glaube du Gott, ich weiß ganz und gar nichts,« schrie die Arrestantin von der anderen Seite.

Als die Maslowa seine Aufregung gewahrte, erkannte sie ihn.

»Es ist eine Ähnlichkeit, aber ich erkenne Sie nicht«, schrie sie, ohne ihn anzusehen, und ihr plötzlich errötetes Gesicht wurde noch finsterer.

»Ich bin gekommen, dich um Verzeihung zu bitten«, schrie er mit lauter Stimme, ohne Intonationen, wie eine auswendig gelernte Lektion, hinaus.

Nachdem er diese Worte ausgerufen, wurde er befangen, und er sah sich um. Aber sogleich kam ihm der Gedanke, wenn er sich beschämt fühle, so sei es um so besser, weil er ja die Schande ertragen müsse, und er fuhr laut zu sprechen fort:

»Verzeih mir, ich bin furchtbar schuldig vor . . .« schrie er noch einmal hinaus.

Sie stand unbeweglich und ließ den scheelen Blick nicht von ihm.

Er konnte nicht weiter sprechen und ging von dem Gitter fort, indem er sich bemühte, das seine Brust erschütternde Schluchzen zurückzuhalten.

Der Inspektor, derselbe, welcher den Nechljudow in die weibliche Abteilung gewiesen, da er augenscheinlich ein Interesse für ihn gefaßt, kam in diese Abteilung, und als er den Nechljudow nicht an dem Gitter gewahrte, fragte er ihn, warum er nicht mit der Person spreche, mit der er sprechen gewollt. Nechljudow schnäuzte sich, und sich aufrüttelnd und ruhig auszusehen bemühend, antwortete er:

»Ich kann nicht durch die Gitter sprechen: man hört nichts.«

Wieder überlegte der Inspektor.

»Nun, was denn, man kann sie für eine Zeitlang heraus und hierher führen.«

»Maria Karlowna!« wandte er sich an die Aufseherin. »Führen Sie die Maslowa heraus.«

Nach einer Minute kam die Maslowa aus einer Seitentür. Mit weichen Schritten dicht an den Nechljudow herantretend, blieb sie stehen. Die schwarzen Haare drängten sich, wie vorgestern, in krausen Ringelchen; das Gesicht, ungesund, voll und weiß, war lieblich, war vollkommen ruhig.

»Man kann hier sprechen«, sagte der Inspektor und trat beiseite. Nechljudow näherte sich der Bank an der Wand.

Die Maslowa blickte fragend den Unterinspektor an, und dann, achselzuckend vor Erstaunen, ging sie dem Nechljudow nach, zur Bank und setzte sich dort neben ihn, indem sie ihren Rock ordnete.

»Ich weiß, daß es Ihnen schwer werden muß, mir zu verzeihen,« fing Nechljudow an, blieb aber wieder stecken, da er fühlte, daß die Tränen ihn hinderten, »aber wenn es auch unmöglich ist, das Vergangene wieder gut zu machen, so werde ich doch jetzt alles tun, was ich kann. Sagen Sie . . .«

»Wie aber haben Sie mich aufgefunden?« fragte sie, ohne auf seine Frage zu antworten.

»Mein Gott! Hilf mir. Lehre mich, was ich tun soll«, sprach Nechljudow zu sich selbst, während er auf ihr so verändertes, jetzt so gemeines Gesicht sah.

»Ich war Geschworener vorgestern,« sagte er, »als man über Sie zu Gericht saß. Haben Sie mich nicht erkannt?«

»Nein, nicht erkannt. Aber ich habe auch nicht hingesehen«, sagte sie.

»Es war ja auch ein Kind da?« fragte er und fühlte, wie sein Gesicht rot wurde.

»Ist damals, Gottlob, sogleich gestorben«, versetzte sie kurz und boshaft, den Blick von ihm abwendend.

»Wieso denn? Warum?«

»Ich war selber krank, bin fast gestorben«, sagte sie, ohne die Augen zu erheben.

»Wie aber haben die Tantchen Sie gehen lassen?«

»Wer wird denn ein Zimmermädchen mit einem Kinde behalten? So wie sie es bemerkten, jagten sie mich fort. Aber was soll das Sprechen, ich erinnere mich an nichts; das alles ist vergessen. All das ist zu Ende.«

»Nein, nicht zu Ende. Ich kann das nicht so lassen. Wenigstens jetzt will ich meine Schuld sühnen!«

»Es ist nichts zu sühnen; was gewesen, ist gewesen und aus«, sagte sie, und was er durchaus nicht erwartete – sie blickte ihn plötzlich an und lächelte unangenehm verlockend und kläglich.

Die Maslowa hatte durchaus nicht erwartet, ihn zu sehen, besonders nicht jetzt und hier.

. . . In der ersten Minute erinnerte sie sich unklar an jene neue wunderbare Welt der Gefühle und Gedanken, welche ihr von dem reizenden Jüngling, der sie liebte und der von ihr geliebt ward, eröffnet worden, und dann an seine unbegreifliche Grausamkeit und an die ganze Reihe von Erniedrigungen und Leiden, die auf jenes zauberhafte Glück und aus ihm folgten. Und es wurde ihr weh. Aber da sie nicht im Stande war, sich damit abzufinden, so handelte sie auch jetzt, wie sie immer gehandelt; sie scheuchte diese Erinnerungen von sich und versuchte sie mit dem besonderen Nebel eines verdorbenen Lebens zu verdecken; so auch jetzt.

Jetzt, dieser feingekleidete, wohlgepflegte Herr mit dem parfümierten Bart, war für sie nicht jener Nechljudow, den sie geliebt, sondern nur einer jener Leute, die sich solcher Wesen, wie sie war, bedienten, wenn sie sie nötig hatten, und die solche Wesen, wie sie, möglichst vorteilhaft für sich ausnützen sollten, und darum lächelte sie ihm verlockend zu.

Sie schwieg eine Zeitlang, indem sie überlegte, wie sie ihn sich zu Nutze machen könnte.

»All das ist zu Ende«, sagte sie. »Jetzt nun hat man mich zur Zwangsarbeit verurteilt«, und ihre Lippen erzitterten.

»Ich wußte, ich war überzeugt, daß Sie unschuldig sind«, sagte Nechljudow.

»Gewiß unschuldig. Bin ich denn eine Diebin oder Räuberin?«

»Sie sagen bei uns, daß alles vom Advokaten abhängt«, fuhr sie fort. »Sie sagen, man muß eine Bittschrift einreichen. Nur nimmt man viel dafür, sagen sie . . .«

»Ja, jedenfalls«, sagte Nechljudow. »Ich habe mich schon an den Advokaten gewendet.«

»Man muß das Geld nicht sparen. Man muß einen guten nehmen«, sagte sie.

»Ich werde alles tun, was möglich ist.« Es trat Schweigen ein.

Sie lächelte wieder ebenso.

»Aber ich möchte Sie bitten . . . Geld, wenn Sie können. Ein wenig . . . zehn Rubel. Mehr brauch' ich nicht,« sagte sie plötzlich.

»Ja, ja«, fing Nechljudow verlegen an und faßte nach der Geldtasche.

Sie blickte rasch auf den Inspektor, der in der Kammer hin und her ging.

»In seiner Gegenwart geben Sie nicht, sonst nimmt man mir's weg.«

Nechljudow holte die Geldtasche hervor, sobald der Unterinspektor sich abgewandt, aber er hatte nicht einmal Zeit, ihr den Zehnrubelschein zu geben, als der Inspektor ihnen sein Gesicht zukehrte. Er drückte den Schein in der Hand zusammen.

 

»Es ist ja eine tote Frau«, dachte Nechljudow, indem er auf dieses einst so liebe, jetzt entweihte, aufgedunsene Gesicht, auf den flimmernden, unguten Glanz der schwarzen, schielenden Augen blickte, die zugleich dem Inspektor und seiner Hand, welche den Schein zusammendrückte, aufmerksam folgten. Und es kam für ihn eine Minute des Schwankens.

Wieder fing jener Versucher, der gestern nachts gesprochen, in der Seele Nechljudows zu reden an, sich immer bemühend, ihn aus den Fragen, was man tun solle, hinaus und in die Fragen darüber, was sich aus seinen Handlungen ergeben wird und was nützlich ist, hineinzuführen.

»Nichts wirst du mit dieser Frau anfangen können,« sprach diese Stimme, »du wirst dir nur einen Stein an den Hals hängen, welcher dich ertränken und verhindern wird, anderen nützlich zu sein. Soll ich ihr Geld geben, alles, was ich habe? Ihr Adieu sagen und allem auf immer ein Ende machen?« dünkte es ihn.

Aber sogleich fühlte er, daß jetzt, in diesem Augenblicke, in seiner Seele etwas – das wichtigste geschehe, daß sein inneres Leben sich in dieser Minute gleichsam auf einer schwankenden Wage befinde, die durch die kleinste Anstrengung auf diese oder jene Seite geneigt werden könne. Und er machte diese Anstrengung, indem er jenen Gott, welchen er gestern in seiner Seele empfunden, anrief, und der Gott ließ sich in ihm sogleich hören; er entschloß sich, sofort ihr alles zu sagen.

»Katjuscha! Ich bin zu dir gekommen, um dich um Verzeihung zu bitten, aber du hast mir nicht geantwortet, ob du mir verziehen hast, ob du mir jemals verzeihen wirst«, sagte er, plötzlich zum du übergehend.

Sie hörte nicht zu, sondern sah bald auf seine Hand, bald auf den Inspektor. Als der Inspektor sich abwandte, streckte sie rasch die Hand aus, ergriff den Schein und steckte ihn in den Gürtel.

»Sonderbar, was Sie sagen«, sagte sie, verächtlich lächelnd, wie es ihm schien.

Nechljudow fühlte, daß in ihr etwas ihm geradezu Feindliches verborgen sei, das sie, so wie sie jetzt war, verteidigte und ihn hinderte, zu ihrem Herzen zu dringen.

Er fühlte, daß er sie geistig erwecken müsse, daß es furchtbar schwierig sei; aber die Schwierigkeit selbst dieser Aufgabe reizte ihn. Er wünschte von ihr nichts für sich, er wünschte nur, daß sie so zu sein aufhöre, wie sie jetzt war, daß sie aufwache und wieder die werde, die sie früher gewesen.

»Katjuscha, warum sprichst du so? Ich kenne dich doch, ich erinnere mich, wie du damals in Panowo warst . . .«

»Wozu die alten Geschichten aufwärmen«, sagte sie trocken.

»Ich gedenke daran, um meine Sünde wieder gut zu machen, zu sühnen, Katjuscha«, fing er an und wollte fast davon reden, daß er sie heiraten werde, aber er traf ihren Blick und las darin etwas so Schreckliches und Grobes, Abstoßendes, daß er nicht zu Ende sprechen konnte.

Der Inspektor näherte sich Nechljudow und sagte, daß die Besuchszeit zu Ende sei. Die Maslowa stand auf und wartete gehorsam, daß man sie entlasse.

»Leben Sie wohl, ich habe Ihnen noch vieles zu sagen, aber, wie Sie sehen, ist es jetzt unmöglich«, sagte Nechljudow und reichte ihr die Hand. »Ich komme wieder.«

»Wie es scheint, haben Sie schon alles gesagt . . .« Sie gab ihm die Hand, drückte sie aber nicht.

»Nein, ich werde mich bemühen, Sie noch zu sehen, wo man sich mit Ihnen besprechen könnte; und dann sage ich Ihnen etwas sehr Wichtiges, das gesagt werden muß«, sagte Nechljudow. »Sie sind mir näher als eine Schwester.«

»Sonderbar«, wiederholte sie und ging, den Kopf schüttelnd, hinter die Scheidewand.

 

Bei der ersten Zusammenkunft erwartete Nechljudow, daß Katjuscha, nachdem sie ihn gesehen und seine Absicht, ihr zu dienen und seine Reue erkannt, sich freuen und gerührt sein und wieder Katjuscha werden würde. Aber zu seinem Entsetzen sah er, daß es keine Katjuscha, sondern nur eine Maslowa gab. Das setzte ihn in Verwunderung und Schrecken.

Hauptsächlich wunderte es ihn, daß die Maslowa sich nicht nur ihrer Lage nicht schämte – nicht der Lage als Arrestantin – (deren schämte sie sich) – aber ihrer Lage als Prostituierte; – es schien vielmehr, als ob sie damit zufrieden, ja fast stolz darauf wäre.

Man glaubt gewöhnlich, daß der Dieb, der Mörder, der Spion, die Prostituierte, indem sie ihre Profession als schlecht erkennen, sich ihrer schämen müssen. Aber gerade das Gegenteil davon trifft zu. Aber hat nicht dieselbe Erscheinung man unter den Reichen, die mit ihrem Reichtum, das heißt mit ihrem Raube prahlen? Unter den Feldherren, die mit ihren Siegen, das heißt mit ihren Mordtaten prahlen? Unter den Herrschern, die mit ihrer Macht, das heißt mit ihrer Gewalttätigkeit prahlen? Nur deshalb sehen wir bei diesen Menschen die Verdrehung der Begriffe vom Leben, vom Guten und Bösen nicht ein, weil der Kreis der Leute mit solchen verkehrten Begriffen größer ist, und weil wir selbst zu ihm gehören.

Und ebensolche Ansicht über ihr Leben und ihren Platz in der Welt hatte sich bei der Maslowa gebildet.

Diese Weltanschauung bestand darin, daß das Hauptheil aller Männer, aller ohne Ausnahme, der Alten und der Jungen, der Gymnasiasten und Generäle, der Gebildeten und der Ungebildeten im Geschlechtsverkehr mit anziehenden Frauen bestehe, und daß daher alle Männer, obgleich sie sich anstellen, als wären sie mit anderen Dingen beschäftigt, im Grunde nur dies allein begehren. Die aber – eine anziehende Frau – kann dies Begehren befriedigen oder nicht befriedigen, und daher ist sie eine wichtige und notwendige Person. Ihr ganzes früheres und jetziges Leben war eine Bestätigung der Richtigkeit dieser Ansicht.

Im Verlauf von zehn Jahren hatte sie überall, wo sie auch sein mochte, gesehen, daß alle Männer, mit Nechljudow und dem alten Stanowojo angefangen, bis zu den Gefängnisaufsehern, ihrer bedurften; jene Männer, die ihrer nicht bedurften, sah und bemerkte sie nicht. Und darum erschien ihr die ganze Welt wie eine Versammlung begierdeüberwältigter Menschen, die von allen Seiten auf sie lauerten und sich mit allen möglichen Mitteln – durch Betrug, Gewalt, Kauf und List ihrer zu bemächtigen suchten.

So verstand die Maslowa das Leben, bei solcher Lebensanschauung war sie nicht nur die letzte, sondern eine sehr wichtige Person. Und die Maslowa hielt diese Lebensanschauung mehr als alles in der Welt warm. Aus demselben Grunde scheuchte sie auch die Erinnerungen an die erste Jugend und die ersten Beziehungen zum Nechljudow von sich. Diese Erinnerungen stimmten mit ihrer jetzigen Weltanschauung nicht überein und wurden daher aus ihrem Gedächtnis vollständig weggestrichen, oder vielmehr irgendwo in ihrem Gedächtnis unangetastet aufbewahrt, aber sie waren so verschlossen, eingekittet, wie die Bienen die Nester schädlicher Larven, welche die ganze Bienenarbeit zu Grunde richten können, verkitten, damit kein Zugang zu ihnen bleibe. Und so war der jetzige Nechljudow für sie nicht jener Mann, welchen sie einst mit reiner Liebe geliebt, sondern nur ein reicher Herr, von dem man Nutzen ziehen konnte und mußte und zu welchen nur solche Beziehungen wie zu allen Männern möglich sein konnten.

»Nein, die Hauptsache konnte ich ihr nicht sagen«, dachte Nechljudow, indem er zusammen mit den übrigen sich zum Ausgang begab. »Ich habe ihr nicht gesagt, daß ich sie heiraten will. Ich hab' es nicht gesagt, aber ich tu' es«, dachte er.

 

Nechljudow wünschte sein äußeres Leben zu ändern, die große Wohnung aufzugeben, die Dienstboten zu entlassen und in ein Gasthaus überzusiedeln. Aber Agrafena Petrowna hat ihm bewiesen, daß es keinen Sinn habe, vor dem Winter etwas in seiner Lebensweise zu ändern: im Sommer würde niemand die Wohnung nehmen, und irgendwo wohnen und die Möbel und Sachen lassen, muß man doch. So daß alle Bemühungen Nechljudows, die ganze Ordnung seines Lebens zu ändern (er wünschte sich einfach einzurichten – studentisch) zu nichts führten.

»Es lohnt sich nicht, die Lebensformen jetzt zu ändern, so lange die Sache der Maslowa nicht entschieden ist«, dachte Nechljudow. »Es ist ja auch zu schwer. So wie so wird sich von selbst alles ändern, wenn man sie freiläßt oder verschickt und ich ihr nachfahre.«

An dem vom Advokaten Fanarin bestimmten Tage kam Nechljudow zu ihm angefahren. Der Gehilfe des Advokaten erkannte den Nechljudow, kam zu ihm, begrüßte ihn und sagte, daß er ihn sogleich dem Prinzipal melde.

»Ach, Sie, Fürst, ich bitte«, sagte Fanarin, als er den Nechljudow sah, und führte den Nechljudow in sein in strengem Stil ausgestattetes Geschäftskabinett. – »Bitte, rauchen Sie«, sagte der Advokat, indem er sich dem Nechljudow gegenüber setzte und ein durch den Erfolg des vorangegangenen Geschäftes hervorgerufenes Lächeln zurückhielt.

»Danke, ich komme wegen des Prozesses der Maslowa.«

»Ja. Ihre Sache, ich habe sie aufmerksam durchgelesen und den Inhalt derselbigen habe ich nicht gutgeheißen, wie es bei TurgenjewTagebuch eines überflüssigen Menschen. A. d. Übers. heißt: ›Das Advokatlein war unnütz und ließ sich alle Ansätze zur Kassation entgehen.‹«

»Also, was haben Sie denn beschlossen?«

»Nun, also Ihre Sache, oder vielmehr die Sache, die Sie interessiert, wurde scheußlich geführt,« fuhr er fort; »es gibt keine triftigen Gründe zur Kassation, aber dennoch kann man einen Versuch machen und hier habe ich Ihnen Folgendes aufgesetzt.«

Er nahm einen Bogen beschriebenen Papiers und rasch einige nicht interessante formalen Wendungen verschluckend und andere besonders eindringlich betonend, fing er an zu lesen:

»An das Kassationsdepartement des Kriminalgerichtes usw. Beschwerde des Herrn Soundso. Durch die Entscheidung des usw. stattgefundenen Verdikts usw. wurde die pp. Maslowa der Lebensberaubung des Kaufmanns Smeljkow durch Vergiftung schuldig erkannt und auf Grund von Art. 1454 des Strafgesetzbuches zu usw. Zwangsarbeit verurteilt usw.«

Er machte eine Pause; trotz der langen Gewohnheit hörte er dennoch augenscheinlich sein Produkt mit Vergnügen an. »Dieser Spruch erscheint als das Resultat von so wichtigen Rechtsverletzungen und Formfehlern im prozessualischen Verfahren,« fuhr er eindringlich fort, »daß er der Kassation unterliegt. Erstens: Die Verlesung der Akten über den Eingeweidebefund des Smeljkow wurde während der Verhandlung gleich im Anfange vom Vorsitzenden unterbrochen. – Eins!«

»Aber es war ja der Ankläger, der diese Vorlesung verlangte«, sagte Nechljudow verwundert.

»Das ist einerlei, die Verteidigung konnte Gründe haben, dasselbe zu verlangen.«

»Aber das hatte ja erst recht keinen Zweck.«

»Dennoch – es ist ein Grund. Weiter! Zweitens: Der Verteidiger der Maslowa,« fuhr er zu lesen fort, »wurde vom Vorsitzenden während seiner Rede unterbrochen mit der Begründung, daß die Worte des Verteidigers angeblich nicht zur Sache gehörten, als er auf die inneren Gründe ihres Falles einging, indem er die Persönlichkeit der Maslowa charakterisieren wollte. Indessen aber ist vom Senat vielfältig darauf hingewiesen worden, daß die Beleuchtung des Charakters und überhaupt der sittlichen Physiognomie des Angeklagten eine hervorragende Bedeutung hat, zum Beispiel für die richtige Entscheidung der Frage nach der Zurechnungsfähigkeit,« – »Zwei!« sagte er und blickte Nechljudow an.

»Ja, aber er sprach ja sehr schlecht, so, daß man nichts verstehn konnte«, sagte Nechljudow noch verwunderter.

»Ein ganz dummer Bursch; konnte selbstverständlich nichts Ordentliches sagen,« sagte lächelnd Fanarin, »aber dennoch ein Grund. Nun, denn: Drittens: In seinem Schlußwort erklärte der Vorsitzende trotz der kategorischen Forderung von Paragraph I, Art. 801 Reglem. d. Kriminalverf. den Geschworenen nicht, aus welchen juristischen Elementen sich der Begriff der Schuld zusammensetzt, und er sagte ihnen nicht, daß sie das Recht hatten, die Tatsache des Gifteingebens als bewiesen zuzugestehen und dabei diese Handlung ihr nicht als Schuld zuzurechnen, da bei ihr die Absicht zu töten fehlte, und daß die Geschworenen auf diese Weise im Recht gewesen wären, sie nicht eines Kriminalverbrechens, sondern nur eines Vergehens aus Fahrlässigkeit schuldig zu erklären, die das für die Maslowa unerwartete Resultat von Smeljkows Tode zur Folge hatte. – Das ist die Hauptsache.«

»Aber das hätten wir ja selber einsehen können; das ist unser Fehler.«

»Und endlich – viertens,« fuhr der Advokat fort, »die Antwort auf die Frage des Gerichts über die Schuld der Maslowa wurde von den Geschworenen in einer Form abgegeben, die in sich einen offenbaren Widerspruch enthielt. Die Maslowa war wegen absichtlicher Vergiftung Smeljkows aus ausschließlich habsüchtigem Vorsatz angeklagt, der als einziges Motiv der Tötung erschien. Die Geschworenen aber verwarfen in ihrer Antwort die Absicht zu berauben und die Teilnahme der Maslowa an der Entwendung der Wertsachen; daraus ist ersichtlich, daß die Geschworenen im Auge hatten, auch die Absicht zu töten, seitens der Angeklagten, zu verwerfen, und sie haben dies nur aus einem Mißverständnis, das durch die Unvollständigkeit des Schlußwortes des Vorsitzenden hervorgerufen ward, nicht in gehöriger Weise und genügend in ihrer Antwort ausgedrückt. Und daher forderte eine solche Antwort der Geschworenen unbedingt die Anwendung von Art. 816 u. 808 Reglem. d. Kriminalverf. Das heißt, sie forderte die Erklärung seitens des Vorsitzenden an die Geschworenen, daß sie einen Fehler begangen, und daß sie zu einer neuen Beratung und Beantwortung der Schuldfrage schreiten müßten«, las Fanarin.

»Warum denn hat der Vorsitzende das nicht getan?«

»Ich möchte auch wissen, warum!« sagte Fanarin lachend.

»Der Senat wird mithin den Fehler korrigieren?«

»Das ist je nachdem, wer dort im gegebenen Moment Sitzung halten wird. Nun also. Weiter schreiben wir: Ein solches Verdikt gab dem Gericht nicht das Recht,« fuhr er rasch fort, »die Maslowa einer Kriminalstrafe zu unterwerfen, und die Anwendung des Paragraphen 3, Art. 771, Reglem. d. Kriminalv. auf sie bildet eine entschiedene und namhafte Verletzung der Grundlagen unseres Kriminalverfahrens. Aus den dargelegten Gründen habe ich die Ehre, usw. usw. einzukommen um die Kassation laut der Art. 909, 910, § 2 912 und 928 d. R. d. Kr. usw. usw. und um die Übertragung des vorliegenden Prozesses an eine andere Abteilung desselben Gerichtes, zwecks neuer Untersuchung. Damit ist nun alles getan, was zu tun möglich war. Aber ich will aufrichtig sein: die Wahrscheinlichkeit eines Erfolges ist gering. Übrigens hängt alles von der Zusammensetzung des Senatsdepartements ab. Wenn Sie Protektion haben, so geben Sie sich etwas Mühe.«

»Den einen oder anderen kenne ich.«

»Und pressieren Sie etwas, sonst fahren alle weg, die Hämorrhoiden zu kurieren, und dann muß man drei Monate warten. Nun, und im Fall eines Mißerfolges bleibt nur eine Bittschrift an die allerhöchste Instanz übrig. Das hängt auch von der hinter den Kulissen stattfindenden Arbeit ab. Und für diesen Fall bin ich bereit, Ihnen zu dienen, das heißt nicht hinter den Kulissen, sondern bei der Abfassung der Bittschrift.«

»Ich danke Ihnen, das Honorar also . . .«

»Der Gehilfe wird Ihnen die ins Reine übertragene Bittschrift übergeben und Ihnen das weitere sagen.«

»Noch um etwas möchte ich Sie fragen: der Prokureur gab mir einen Passierzettel in das Gefängnis zu dieser Person, im Gefängnis aber hat man mir gesagt, daß für diese Besuche, außer an den bestimmten Tagen und am bestimmten Ort noch eine Bewilligung des Gouverneurs nötig sei. Ist das wirklich nötig?«

»Ja, ich glaube. Aber jetzt ist der Gouverneur nicht da, und das Amt versieht der Vice. – Aber das ist so ein Urdummkopf, daß Sie kaum etwas bei ihm ausrichten würden.«

»Ist das Maslennikow? Ich kenne ihn,« sagte Nechljudow und stand auf, um wegzugehen.

Im Empfangszimmer übergab der Gehilfe dem Nechljudow die schon fertige Bittschrift und sagte, auf die Frage nach dem Honorar, daß Anatolij Petrowitsch es auf 1000 Rubel festgesetzt habe. Dabei erklärte er, daß Anatolij Petrowitsch eigentlich solche Sachen nicht übernimmt, und es nur ihm, Nechljudow, zu Gefallen tue.

»Und wie ist es denn? Wer muß eigentlich die Bittschrift unterschreiben?« fragte Nechljudow.

»Das kann die Angeklagte selbst tun, aber wenn es zu beschwerlich ist, so kann es auch Anatolij Petrowitsch, nachdem er von ihr die schriftliche Vollmacht erhalten hat.«

»Nein, ich werde zu ihr fahren und ihre Unterschrift nehmen,« – sagte Nechljudow, froh über die Gelegenheit, sie vor dem bestimmten Tage zu sehen.

 

Als Nechljudow ins Gefängnis gefahren kam, klingelte er an der Eingangstür und reichte dem Aufseher die Bewilligung vom Prokureur.

»Wen wollen Sie?«

»Die Gefangene Maslowa sehen.«

»Bitte, in das Bureau,« und Nechljudow wollte gehen, als aus der hinteren Tür der Inspektor herauskam. Als er Nechljudow erblickte, wandte er sich an den Aufseher.

»Fedorow, die Maslowa aus der fünften weiblichen ins Bureau!« sagte er.

»Ich bitte Sie,« machte er gegen Nechljudow.

Sie gingen über eine steile Treppe in ein kleines Zimmer mit einem Fenster, einem Schreibtisch und einigen Stühlen. Der Inspektor setzte sich.

»Schwere, schwere Pflichten,« sagte er, sich zu Nechljudow wendend und eine dicke Zigarette hervorholend.

»Sie sind, scheint's, müde,« sagte Nechljudow.

»Ich bin meines ganzen Amtes müde. Sehr schwierige Pflichten. Du willst ihnen ihr Schicksal erleichtern, aber es kommt noch schlimmer heraus. Ich denke nur immer daran: wie könnte ich den Dienst aufgeben? Schwere, schwere Pflichten.«

Nechljudow wußte nicht, worin eigentlich die Schwierigkeit für den Inspektor bestand.

»Ja, ich glaube, daß sie sehr schwer sind,« sagte er. »Warum nehmen Sie denn diese Pflichten auf sich?«

»Ich habe keine Mittel. Die Familie . . .«

»Aber wenn es Ihnen so schwer ist . . .«

»Nun aber dennoch, sage ich Ihnen, stifte ich Nutzen nach Maßgabe meiner Kräfte; dennoch mildere ich, was ich kann. Ein anderer an meiner Stelle würde die Sache ganz anders führen. Es ist keine Kleinigkeit: mehr als zweitausend Menschen, und was für welche! Man muß wissen, wie mit ihnen umgehen. Menschen sind sie ja auch, sie dauern einen. Aber ihnen die Zügel schießen lassen, – das geht auch nicht.«

Seine Erzählung wurde unterbrochen durch das Eintreten der Maslowa, welcher der Aufseher voranging.

Nechljudow wurde ihrer in der Tür gewahr, als sie den Inspektor noch nicht sah. Ihr Gesicht war rot. Sie ging munter dem Aufseher nach, lächelte unaufhörlich und wiegte den Kopf. Als sie den Inspektor erblickte, starrte sie ihn mit erschrockenem Gesichte an, faßte sich aber sogleich und wandte sich flink und lustig zu Nechljudow.

»Guten Tag,« sagte sie singend und lächelnd und schüttelte stark, nicht so wie jenes Mal, seine Hand.

»Hier habe ich Ihnen die Bittschrift zum Unterschreiben mitgebracht,« sagte Nechljudow, etwas erstaunt über das kecke Aussehen, mit dem sie ihm heute entgegentrat. »Der Advokat hat die Bittschrift aufgesetzt, man muß sie unterschreiben, und wir schicken sie dann nach Petersburg.«

»Warum denn nicht? Man kann ja gern unterschreiben. Alles kann man,« sagte sie, ein Auge zusammenkneifend und lächelnd.

Nechljudow nahm einen zusammengelegten Bogen aus der Tasche und trat an den Tisch.

»Kann man hier unterschreiben?« fragte Nechljudow den Inspektor. »Komm her, setz dich,« sagte der Inspektor, »da hast du auch eine Feder. Bist du schriftkundig?«

»Früher war ich es,« sagte sie lächelnd und setzte sich, nachdem sie den Rock und den Jackenärmel zurecht geschoben, an den Tisch, nahm ungeschickt mit der kleinen energischen Hand die Feder, und auflachend blickte sie sich nach dem Nechljudow um.

Er zeigte ihr, was und wo sie schreiben müsse.

Sorgfältig die Feder eintauchend und abspritzend, schrieb sie ihren Namen.

»Weiter brauchen Sie nichts?« fragte sie, bald auf den Nechljudow, bald auf den Inspektor blickend, indem sie die Feder nun auf das Tintenfaß, nun auf die Papiere legte.

»Ich muß Ihnen etwas sagen,« sprach Nechljudow; er nahm ihr die Feder aus den Händen.

»Gut also, sagen Sie,« antwortete sie und wurde plötzlich gleichsam nachdenklich oder schläfrig; sie ward ernst.

Der Inspektor stand auf und ging weg; Nechljudow blieb mit ihr unter vier Augen.

 

Der Aufseher, der die Maslowa vorgeführt, setzte sich auf das Fensterbrett, etwas abseits vom Tische. Für Nechljudow trat die entscheidende Minute ein. Er machte sich unaufhörlich Vorwürfe, daß er ihr bei jener ersten Zusammenkunft die Hauptsache nicht gesagt hatte, nämlich, daß er gesonnen sei, sie zu heiraten, und jetzt war er fest entschlossen, es ihr zu sagen. Sie saß an einer Seite des Tisches, Nechljudow setzte sich ihr gegenüber an die andere Seite. Es war hell im Zimmer, und Nechljudow sah ihr Gesicht zum erstenmal klar in geringer Entfernung: er sah die Runzelchen um Augen und Lippen und die Geschwollenheit der Augen. Sie dauerte ihn noch mehr als früher.

Er stützte sich mit dem Ellbogen auf den Tisch, so, daß der Aufseher nicht hören konnte und nur sie allein ihn hörte, und sagte:

»Wenn bei dieser Bittschrift nichts herauskommt, so wenden wir uns an die allerhöchste Instanz. Wir werden alles tun, was möglich ist.«

»Ja, wenn es früher gewesen wäre; wenn ein guter Advokat . . .,« unterbrach sie ihn. »Aber dieser, mein Verteidiger, war wirklich ein kleiner Dummkopf. Immer macht er mir Komplimente,« sagte sie und lachte auf. »Wenn man damals gewußt hätte, daß ich mit Ihnen bekannt bin, so wäre es anders gewesen.«

»Wie seltsam ist sie heute,« dachte Nechljudow, und eben wollte er ihr sein Anliegen sagen, als sie wieder begann.

»Aber ich habe etwas. Es gibt bei uns ein altes Mütterchen, wissen Sie, so eins, daß sich sogar alle wundern. So ein wunderbares Altchen, und nun sitzt sie um nichts, sowohl sie, wie ihr Sohn, und alle wissen, daß sie unschuldig sind, aber sie sind angeklagt, daß sie Feuer gelegt haben, und sie sitzen. Solch ein altes Mütterchen, ein wunderbares Mütterchen, wissen Sie; gleich sieht man, daß sie um nichts sitzt. Geben Sie sich Mühe, mein Täubchen,« sagte sie, blickte ihn an und ließ lächelnd die Augen sinken.

»Schön, ich will es tun; ich erkundige mich,« sagte Nechljudow, sich mehr und mehr über ihre Ungezwungenheit wundernd.

»Aber ich möchte von meiner Sache mit Ihnen reden. – Erinnern Sie sich, was ich Ihnen vorigesmal gesagt habe?« sagte er.

»Sie haben viel gesprochen. Was haben Sie denn vorigesmal gesagt?« sagte sie, unaufhörlich lächelnd und den Kopf bald auf die eine, bald auf die andere Seite drehend.

»Ich sagte, ich sei gekommen, um Sie um Verzeihung zu bitten,« sagte er.

»Ach was, immer verzeihen und verzeihen . . . es hat keinen Wert . . . es wäre besser, wenn Sie . . .«

»Daß ich meine Schuld gut machen will,« fuhr Nechljudow fort, »und gut machen nicht mit Worten, sondern mit der Tat. Ich bin entschlossen, Sie zu heiraten.«

Ihr Gesicht drückte plötzlich Schrecken aus. »Wozu ist das noch nötig?« brachte sie boshaft stirnrunzelnd hervor.

»Ich fühle, daß ich das vor Gott tun muß.«

»Was für einen Gott haben Sie denn noch gefunden? Sie sagen gar nichts Rechtes. Gott? Welchen Gott? Ja, wenn Sie damals an Gott gedacht hätten . . .,« sagte sie und blieb, den Mund öffnend, stecken.

Erst jetzt spürte Nechljudow den starken Branntweingeruch aus ihrem Munde, er begriff die Ursache ihrer Aufregung.

»Beruhigen Sie sich,« sagte er.

»Ich brauche mich nicht zu beruhigen! Glaubst du, ich bin betrunken? Auch betrunken weiß ich, was ich sage,« fing sie rasch zu sprechen an und wurde ganz dunkelrot, »ich bin eine Zwangsarbeiterin, eine Hure, Sie aber sind ein Herr, ein Fürst, und du brauchst dich nicht mit mir zu beschmutzen. Geh zu deinen Fürstinnen, mein Preis aber ist ein rotes Papierchen.«

»Wie grausam du auch sprechen magst, du kannst nicht sagen, was ich fühle,« sagte Nechljudow leise, am ganzen Körper zitternd, »du kannst dir nicht vorstellen, bis zu welchem Grade ich meine Schuld dir gegenüber fühle! . . .«

»Schuld fühle . . .« äffte sie ihm boshaft nach. »Damals fühltest du nichts, stecktest mir aber hundert Rubel zu. Das ist dein Preis . . .«

»Ich weiß, ich weiß, aber was soll man jetzt tun?« sagte Nechljudow. »Jetzt habe ich beschlossen, dich nicht zu verlassen. Was ich gesagt habe, das werde ich tun.«

»Ich aber sage, du wirst es nicht tun,« brachte sie hervor und lachte laut auf.

»Katjuscha!« fing er an, ihre Hand berührend.

»Geh weg von mir. Ich bin eine Zwangsarbeiterin, du aber bist ein Fürst und hast hier nichts verloren,« schrie sie, vom Zorne ganz verwandelt auf, ihm die Hand entreißend.

»Du willst deine Seele durch mich retten,« fuhr sie fort, indem sie sich eilte, alles auszusprechen, was sich in ihrem Innern erhob, »durch mich hast du in diesem Leben deine Lust gestillt, durch mich willst du dich auch in jener Welt retten! Widerwärtig bist du mir, und deine Brille, und deine ganze fette garstige Fratze. Geh, geh weg du!« schrie sie auf, mit energischer Bewegung aufspringend.

Der Aufseher näherte sich ihnen.

»Was krakehlst du da? Kann man denn so . . .«

»Lassen Sie, bitte,« sagte Nechljudow.

»Damit sie sich nicht vergißt,« sagte der Aufseher.

»Nein, warten Sie, bitte,« sagte Nechljudow.

Der Aufseher ging wieder ans Fenster.

Die Maslowa setzte sich, senkte die Augen und drückte stark die kleinen ineinander verschränkten Hände zusammen.

Nechljudow stand vor ihr, ohne zu wissen, was er tun solle.

»Du glaubst mir nicht,« sagte er.

»Daß Sie mich heiraten wollen – das wird nie sein. Eher hänge ich mich auf! Da haben Sie's.«

»Und dennoch werde ich dir dienen.«

»Nun, das ist Ihre Sache. Nur brauche ich von Ihnen nichts. Das sage ich Ihnen sicher,« sagte sie.

»Und warum bin ich nicht damals gestorben,« fügte sie hinzu und begann kläglich zu weinen.

Nechljudow konnte nicht sprechen, ihr Weinen steckte ihn an.

Sie hob die Augen auf, blickte ihn an, gleichsam verwundert, und begann die über ihre Wangen fließenden Tränen abzuwischen.

Der Aufseher kam jetzt wieder heran und mahnte, daß es Zeit sei, von einander zu gehen. Die Maslowa stand auf.

»Jetzt sind Sie aufgeregt. Wenn es möglich ist, komme ich morgen wieder. Sie aber, – überlegen Sie noch,« sagte Nechljudow.

Sie antwortete nichts, und ohne ihn anzusehen, ging sie hinter dem Aufseher hinaus.

»Nun, Mädel, jetzt fängst du an zu leben,« sprach die Korablewa zur Maslowa, als sie in die Kammer zurückkehrte. »Stark in dich verschossen, scheint's; nimm es wahr, solange er kommt. Er wird dir heraushelfen. Reichen Leuten ist alles möglich.«

»Nun aber, hast auch von meiner Sache gesprochen?« fragte die Alte.

Aber die Maslowa antwortete ihren Genossinnen nicht, sie legte sich auf die Pritsche und lag so mit den in die Ecke gerichteten Augen bis zum Abend. Was ihr Nechljudow gesagt, hatte sie in jene Welt hinausgerufen, in welcher sie gelitten hatte, und aus der sie mit Haß geflohen war, ohne sie begriffen zu haben. Sie verlor jetzt jenes Vergessen, in dem sie gelebt. Aber leben mit klarer Einsicht in das, was war, war zu qualvoll.

Abends kaufte sie wieder Branntwein und betrank sich mit ihren Kameradinnen.

 

»Ja, also, so ist es. So ist es,« sagte Nechljudow, als er aus dem Gefängnis hinausging, indem er erst jetzt den ganzen Umfang seiner Schuld vollständig begriff. Hätte er keinen Versuch gemacht, sein Vergehen gutzumachen, zu sühnen, so hätte er nie empfunden, wie frevelhaft dies Vergehen gewesen. Noch mehr, – auch sie würde das Böse, das er ihr zugefügt, nie so ganz empfunden haben. Erst jetzt trat alles das in seiner vollen Schrecklichkeit an den Tag. Erst jetzt sah er ein, was er aus der Seele dieses Weibes gemacht, und sie sah und begriff, was an ihr verübt worden.

Gerade am Ausgang kam zum Nechljudow ein Aufseher mit Kreuzen und Medaillen und mit unangenehmem, einschmeichelndem Gesicht; geheimnisvoll übergab er ihm einen Zettel.

»Für Eure Exzellenz ein Zettel von einer Person,« sagte er, dem Nechljudow das Kuvert überreichend.

»Von welcher Person?«

»Wenn Sie gelesen haben, werden Sie sehen, eine Gefangene, Politische. Ich bin bei ihnen angestellt. Sie, also, hat mich gebeten – Und obgleich es nicht erlaubt ist, – aber aus Menschenliebe« – – sagte der Aufseher affektiert.

Nechljudow war verwundert, wie ein bei den Politischen angestellter Aufseher Zettel übergeben könne, und das im Gefängnis selbst, fast vor aller Augen. Er wußte damals noch nicht, daß dies ein Aufseher und zugleich Spion war.

Auf dem Zettel war mit Bleistift in gewandter Handschrift folgendes ohne EndzeichenStumme Endbuchstaben zur Bezeichnung der harten Konsonanten, deren Schreibung von manchen jungen Radikalen als zopfig betrachtet wird. Anm. d. Übers. geschrieben:

»Da ich erfahren habe, daß Sie das Gefängnis besuchen, weil Sie sich für eine kriminale Person interessieren, bekam ich Lust, Sie zu sehen. Bitten Sie um eine Zusammenkunft mit mir. Ihnen wird man sie gestatten, und ich teile Ihnen vieles Wichtige mit, sowohl hinsichtlich Ihrer protégée, als auch unserer Partei.

Ihre Ihnen dankbare

Wjera Bogoduchowskaja.«

»Bogoduchowskaja! Was heißt das: Bogoduchowskaja?« dachte Nechljudow, so ganz von dem Eindruck des Wiedersehens mit der Maslowa absorbiert, daß er in der ersten Minute keine Erinnerung mit diesem Namen und dieser Handschrift verband. »Ah!« erinnerte er sich plötzlich. »Diakonstochter . . . auf der Bärenjagd.«

Wjera Bogoduchowskaja war eine Lehrerin aus dem einsamen Nowgoroder Gouvernement, in das Nechljudow einmal mit Kameraden zur Bärenjagd gefahren war. Diese Lehrerin hatte sich an den Nechljudow gewandt mit der Bitte, ihr Geld vorzustrecken, damit sie die Hochschulkurse aufsuchen könne. Nechljudow hatte ihr dieses Geld gegeben und sie vergessen. Jetzt ergab es sich, daß dieses Fräulein eine politische Verbrecherin ist, im Gefängnis sitzt, wo sie augenscheinlich seine Geschichte erfahren hat und ihm nun ihre Dienste anbietet.

Wie leicht und einfach war alles damals. Und wie schwer und kompliziert ist alles jetzt. Nechljudow erinnerte sich lebhaft und freudig der damaligen Zeit und seiner Bekanntschaft mit der Bogoduchowskaja. Es war vor der Butterwoche, in einem abgelegenen öden Ort, etwa sechzig Werst von der Eisenbahn. Die Jagd war glücklich gewesen, sie hatten zwei Bären erlegt, und aßen zu Mittag, gerade im Begriff abzureisen. Da trat der Wirt des Bauernhauses, wo Nechljudow eingekehrt war, herein und sagte, das Diakonstöchterchen sei gekommen und wolle den Fürsten Nechljudow sprechen. »Ist sie hübsch?« fragte jemand. »Nun, laß doch,« sagte Nechljudow; er machte ein ernstes Gesicht, stand vom Tische auf, und den Mund abwischend und sich wundernd, was die Diakonstochter von ihm wünschen könne, begab er sich in die Stube der Wirtsleute.

In der Stube war ein Mädchen im Filzhut und Pelz, sehnig, mit magerem, nicht hübschem Gesicht, in welchem nur die Augen mit den hochgeschwungenen Brauen schön waren.

»Hier, Wjera Jefremowna, sprich mit Ihm,« sagte die alte Wirtin, »das ist der Fürst selber. Ich geh nun weg.«

»Womit kann ich Ihnen dienen?« sagte Nechljudow.

»Ich . . . ich . . . Sehen Sie, Sie sind reich, Sie werfen Geld weg für Lappalien, für die Jagd. Ich weiß . . .,« begann das Mädchen in starker Befangenheit. »Ich will aber nur eins, ich will nur den Leuten nützlich sein, – und ich kann nicht, weil ich nichts weiß.«

Ihre Augen waren ehrlich und gut, und der ganze Ausdruck der Entschlossenheit und Schüchternheit zugleich war so rührend, daß Nechljudow, wie es ihm immer zu geschehen pflegte, sich plötzlich in ihre Lage versetzte, sie begriff und bedauerte.

»Was kann ich denn tun?«

»Ich bin Lehrerin, aber ich möchte auf die Hochschule, und man läßt mich nicht hin. Das heißt, sie halten mich nicht zurück, sie lassen mich, aber man muß die Mittel haben. Geben Sie sie mir, und ich beendige den Kurs, und zahle es Ihnen zurück. Ich denke, die reichen Leute jagen Bären, machen Bauern betrunken – all das ist nicht schön. Warum nicht auch etwas Gutes tun? Ich brauche nur achtzig Rubel. Aber wenn Sie nicht wollen, ist es mir einerlei,« sagte sie böse, da sie den ernsten unverwandten Blick, den Nechljudow auf sie richtete, als ungünstig für sich deutete.

»Im Gegenteil, ich bin Ihnen sehr dankbar, daß Sie mir Gelegenheit geben . . .«

Als sie begriff, daß er einwillige, ward sie rot und schwieg.

»Ich bringe es gleich,« sagte Nechljudow.

Er ging in den Flur hinaus und traf daselbst einen Kameraden, der ihr Gespräch belauscht hatte. Er antwortete nicht auf die Scherze der Kameraden, nahm Geld aus der Jagdtasche und brachte es ihr.

»Bitte, bitte, danken Sie nicht. Ich muß Ihnen danken.«

Augenscheinlich war Wjera Jefremowna eine Revolutionärin, und wegen rebellischer Handlungen saß sie jetzt im Gefängnis. Man mußte sie sehen, besonders auch, weil sie Rat zu geben versprochen, wie die Lage der Maslowa zu verbessern sei.

 

Als Nechljudow am Morgen des andern Tages erwachte, fiel ihm alles das ein, was gestern gewesen, und es wurde ihm schrecklich zu Mute.

Aber trotz dieser Angst entschied er fester als je zuvor, daß er fortsetzen werde, was er begonnen.

Mit diesem Gefühl, mit diesem Bewußtsein seiner Pflicht fuhr er vom Hause fort und begab sich zum Maslennikow, um die Bewilligung zu Zusammenkünften im Gefängnis, außer mit der Maslowa, auch mit jenem Altchen Menjschowa samt ihrem Sohn, für welche die Maslowa ihn gebeten hatte, zu erwirken. Außerdem wollte er um die Erlaubnis zum Besuche der Bogoduchowskaja einkommen, die der Maslowa nützlich sein konnte.

Nechljudow kannte den Maslennikow schon seit lange, vom Regimente her. Maslennikow war damals Rentmeister beim Regiment. Er war der gutmütigste, pflichttreueste Offizier, der von nichts in der Welt wußte und wissen wollte, als von seinem Regiment und der Zarenfamilie. Jetzt fand ihn Nechljudow als Administrator wieder, der das Regiment gegen ein Gouvernement und eine Gouvernementsverwaltung eingetauscht hatte.

Maslennikow erstrahlte ganz, als er Nechljudow erblickte. Trotz des Altersunterschiedes, Maslennikow zählte etwa vierzig Jahre, waren sie auf »du« mit einander.

»Nun, – schön, das du gekommen bist. Komm mit zu meiner Frau. Ich habe jetzt gerade zehn Minuten frei vor der Sitzung. Der Prinzipal ist ja weggefahren. Ich verwalte das Gouvernement,« sagte er, mit einem Vergnügen, das er nicht verhehlen konnte.

»Ich komme in Geschäften zu dir.«

»Was ist?« sagte Maslennikow in erschrockenem und etwas strengem Ton, gleichsam plötzlich die Ohren spitzend.

»Es ist eine Person im Gefängnis, für die ich mich sehr interessiere.« (Bei dem Worte »Gefängnis« wurde Maslennikows Gesicht noch strenger.) »Und ich möchte die Zusammenkünfte mit ihr nicht im allgemeinen Besuchszimmer, sondern im Bureau und nicht nur an den bestimmten Tagen, sondern öfter haben. Man hat mir gesagt, dies hänge von dir ab.«

»Versteht sich, mon cher. Ich bin bereit, alles für dich zu tun,« sagte Maslennikow. »Das kann man, aber siehst du, ich bin nur ›Kalif für eine Stunde‹.«

»Also kannst du mir ein Schreiben geben, damit ich sie sehen kann?«

»Ist es eine Frau?«

»Ja.«

»Ja? – Wofür sitzt sie denn?«

»Wegen Vergiftung. Aber sie ist ungerecht verurteilt.«

»Ja, da hast du nun das gerechte Gericht; ils n'en font point d'autres,« sagte er, Gott weiß warum französisch. »Ich weiß, du bist nicht mit mir einverstanden, aber was soll man machen? C'est mon opinion bien arrêtée,« fügte er hinzu, indem er eine Ansicht aussprach, die er in verschiedenen Formen während des Jahres in einer konservativen Zeitung gelesen hatte. »Ich weiß, du bist ein Liberaler.«

»Ich weiß nicht – bin ich ein Liberaler oder nicht; – ich weiß nur, daß die heutigen Gerichte, mögen sie so schlecht sein wie sie wollen, dennoch besser als die früheren sind.«

»Und wen hast du zum Advokaten angenommen?«

»Ich habe mich an Fanarin gewendet.«

»Ach, Fanarin!« sagte Maslennikow mit gerunzelter Stirn, da er sich erinnerte, wie dieser Fanarin ihn vergangenes Jahr vor Gericht als Zeugen vernahm und ihn mit der größten Höflichkeit während einer halben Stunde zum Besten hatte.

»Und noch eine Bitte an dich,« sagte Nechljudow, ohne ihm zu antworten. »Vor sehr langer Zeit kannte ich ein Mädchen, eine Lehrerin – sie ist ein sehr bedauernswertes Geschöpf – und gegenwärtig ist sie auch im Gefängnis und wünscht mich zu sehen. Kannst du mir auch zu ihr einen Passierzettel geben?«

Maslennikow neigte den Kopf etwas auf eine Seite und wurde nachdenklich.

»Ist es eine Politische?«

»Ja, so hat man mir gesagt.«

»Nun – siehst du, Zusammenkünfte mit den Politischen werden nur den Verwandten gestattet, aber dir gebe ich einen allgemeinen Passierzettel. Je sais que vous n'abuserez pas . . . Wie heißt sie denn, deine protégée? . . . Bogoduchowskaja? Elle est jolie

»Hideuse

Maslennikow schüttelte mißbilligend den Kopf, trat an den Tisch und schrieb flink auf einem Papier mit gedrucktem Kopf: »Dem Überbringer dieses, dem Fürsten Dmitrij Iwanowitsch Nechljudow, gestatte ich Zusammenkünfte im Gefängnisbureau mit der im Gefängnis inhaftierten Kleinbürgerin Maslowa, sowie auch mit der Arztgehilfin Bogoduchowskaja,« schrieb er zu Ende und machte einen schwungvollen Schnörkel.

»Jetzt wirst du sehen, was für eine Ordnung dort herrscht. Aber es ist sehr schwer, dort Ordnung zu halten, weil es überfüllt ist, besonders von den zu Transportierenden. Jedoch, ich passe scharf auf, und ich liebe diese Sache. Du wirst sehen, – sie haben es sehr gut dort, und sie sind zufrieden. Nur muß man mit ihnen umzugehen verstehen. Fürsorge und feste Autorität.«

»Nun, das weiß ich nicht,« sagte Nechljudow; »ich bin zweimal dort gewesen, und mir war schrecklich schwer zu Mute.«

»Weißt du was? Du mußt dich mit der Gräfin Passek anfreunden,« fuhr der ins Reden geratene Maslennikow fort; »sie hat sich ganz dieser Sache gewidmet. Elle fait beaucoup de bien. Dank ihr, – vielleicht auch mir, – das sage ich ohne falsche Bescheidenheit, – ist es gelungen, alles zu ändern und so zu ändern, daß solche Gräuel wie früher nicht mehr vorkommen, sondern sie haben es dort geradezu sehr gut. Nun, du wirst ja sehen.«

»Nun, ich danke,« sagte Nechljudow; indem er nach dem Papier griff, ohne seinen gewesenen Kameraden zu Ende zu hören, nahm er von ihm Abschied.

 

Als Nechljudow an demselben Tage, direkt vom Maslennikow, in das Gefängnis gefahren kam, begab er sich nach der Wohnung des Inspektors. Man hörte Klavier spielen, Etuden von Clementi, mit ungewöhnlicher Kraft, Präzision und Geläufigkeit, aber auf einem schlechten Instrument. Das Zimmermädchen, das ihm öffnete, sagte, daß der Kapitän zu Hause sei, und führte Nechljudow in ein kleines Empfangszimmer. Der Hauptinspektor mit dem gequälten, trüben Gesicht kam heraus.

»Ich bitte sehr. Was ist gefällig?« sagte er, indem er den mittleren Knopf seiner Uniform zuknöpfte.

»Ich bin nun beim Vize-Gouverneur gewesen, und hier ist die Bewilligung,« sagte Nechljudow, das Papier hinreichend, »ich möchte die Maslowa sehen.«

»Markowa?« fragte noch einmal der Inspektor, da er wegen der Musik nicht deutlich hören konnte.

»Maslowa.«

»Nun ja! Nun ja!« Der Inspektor stand auf und kam an die Tür, aus welcher die Rouladen von Clementi ertönten.

»Marussja, warte, wenn auch nur ein wenig,« sagte er, mit einer Stimme, welcher anzumerken war, daß diese Musik das Kreuz seines Lebens bildete, »man kann gar nichts hören.«

Das Klavier verstummte, unzufriedene Schritte ließen sich hören, und jemand blickte durch die Tür herein.

»Ich möchte also die Maslowa sehen.«

»Es geht heute nicht gut, die Maslowa zu sehen,« sagte der Inspektor. »Warum?« »Nun so, – Sie selber sind schuld,« sagte der Inspektor, leicht lächelnd. »Fürst, geben Sie ihr kein Geld direkt in die Hand. Wenn Sie es wünschen, so geben Sie mir es. Sie soll es alles bekommen. Wahrscheinlich haben Sie ihr gestern Geld gegeben, sie hat Branntwein angeschafft – – auf keine Weise läßt sich dieses Übel ausrotten – und heute hat sie sich so betrunken, daß sie sogar tobsüchtig geworden ist.«

»Aber wirklich?«

»Jawohl, ich mußte sogar strenge Maßregeln ergreifen – habe sie in eine andere Kammer überführt; – sie ist sonst ein ruhiges Frauenzimmer; Geld aber, bitte, geben Sie ihr nicht! Das ist solch ein Volk.«

Nechljudow erinnerte sich des gestern Vorgefallenen, und ihm wurde wieder angstvoll zu Mute.

»Und die Bogoduchowskaja – eine Politische – kann man die sehen?« fragte Nechljudow nach einigem Schweigen.

»Möglich ist es wohl,« sagte der Inspektor, und ging in das Vorzimmer hinaus.

Der Inspektor hatte noch nicht Zeit, den Paletot anzuziehen, welchen ihm das Zimmermädchen reichte, und aus der Tür zu gehen, als die präzisen Rouladen Clementis wieder zu rieseln begannen.

»Sie ist im Konservatorium gewesen, aber dort gibts keine Ordnung. Jedoch große Begabung,« sagte der Inspektor, die Treppe hinabsteigend, »sie will in Konzerten auftreten.«

Der Inspektor und Nechljudow näherten sich dem Gefängnis.

Das Pförtchen tat sich bei der Annäherung des Inspektors augenblicklich auf. Die Aufseher legten die Hände an die Mützen und begleiteten ihn mit den Augen.

»Versteht sich, ein Talent muß ausgebildet werden, das darf man nicht begraben, aber in der kleinen Wohnung, wissen Sie, ist es manchmal lästig,« fuhr der Inspektor im Gespräch fort, und er ging mit müden Schritten, die Beine schleppend, von Nechljudow begleitet, über eine Treppe in das Versammlungszimmer.

»Wen wünschen Sie zu sehen?« fragte der Inspektor.

»Die Bogoduchowskaja.«

»Eine aus dem Turm? Sie werden etwas warten müssen,« wandte er sich an den Nechljudow.

»Aber könnte ich nicht inzwischen die Gefangenen Menjschows sehen? Mutter und Sohn, angeklagt wegen Brandstiftung.«

»Aha, aus der Zelle Nummer einundzwanzig. Gut, man kann sie herausrufen.«

»Aber könnte ich nicht den Menjschow in seiner Zelle sehen?«

»Aber es wird für Sie im Versammlungszimmer ruhiger sein.«

»Nein. Es interessiert mich.«

»So, das finden Sie interessant.«

In diesem Augenblick kam aus der Seitentür ein stutzerhafter Offizier, der Unterinspektor.

»Hier, führen Sie den Fürsten in die Zelle zum Menjschow. Zelle einundzwanzig,« sagte der Inspektor zum Unterinspektor, »und nachher ins Bureau. Ich werde sie selber herausrufen. Wie heißt sie doch noch?«

»Wjera Bogoduchowskaja,« sagte Nechljudow. Der Unterinspektor war ein junger Offizier mit geschwärztem Schnurrbart.

»Bitte,« wandte er sich mit angenehmen Lächeln zum Nechljudow, »interessieren Sie sich für unsere Anstalt?«

»Ja, und ich interessiere mich auch für diesen Mann, der, wie man mir gesagt hat, vollkommen unschuldig hierher geraten ist.«

Der Unterinspektor zuckte die Achseln.

»Ja, das passiert manchmal,« sagte er ruhig, indem er den Gast höflich in den stinkenden Korridor vorangehen ließ, »es kommt auch vor, daß sie lügen. – Bitte.«

In den Korridor gingen zu beiden Seiten mit Schlössern zugesperrte Türen. In den Türen waren kleine Löcher, die sogenannten Äuglein, einen halben Werschok2,2 Zentimeter. im Durchmesser.

Im Korridor war niemand, außer einem alten Väterchen, dem Aufseher, mit traurigem, runzeligem Gesicht.

»In welcher sitzt der Menjschow?« fragte der Unterinspektor.

»Die achte, links.«

»Sind diese hier besetzt?« fragte Nechljudow.

»Alle sind besetzt, außer einer.«

 

»Kann man hineinsehen?« fragte Nechljudow.

»Bitte sehr,« sagte mit angenehmem Lächeln der Unterinspektor.

Nechljudow blickte durch eine Öffnung hinein. Dort ging ein hochgewachsener Mann, nur in Unterkleidern, rasch hin und her. Als er das Geräusch vor der Tür hörte, blickte er hin, zog die Augenbrauen zusammen und fuhr fort, auf und ab zu gehen.

Nechljudow blickte in eine andere Öffnung hinein. Sein Auge traf ein anderes, sonderbares, großes Auge, das durch das kleine Loch sah; er zog sich eilig zurück. Durch die dritte Öffnung hineinblickend sah er ein auf dem Bette schlafendes, mit dem Kopfe in den Schlafrock gehülltes, zusammengezogenes Männchen von sehr kleinem Wuchs.

Dem Nechljudow ward ängstlich zu Mute. Er hörte auf, hineinzublicken und näherte sich Menjschows Zelle, Nummer einundzwanzig.

Der Aufseher sperrte das Schloß auf und öffnete die Tür.

Ein junger muskulöser Mann mit langem Hals und guten runden Augen, mit kleinem Bart, stand neben der Schlafbank, und mit erschrockenem Gesicht, eilig den Schlafrock anziehend, sah er auf die Eintretenden hin.

»Hier, der Herr will dich über deine Sache befragen.«

»Wir danken Ihnen bestens.«

»Ja, man hat mir von Ihrer Sache erzählt,« sagte Nechljudow, trat in die Tiefe der Zelle und blieb bei dem schmutzigen Gitterfenster stehen; »und ich möchte von Ihnen selbst darüber hören.«

Menjschow näherte sich ebenfalls dem Fenster und begann sogleich zu erzählen, zuerst schüchtern, nach dem Inspektor umblickend, dann immer freier und freier. Als aber der Inspektor ganz aus der Zelle und in den Korridor hinausging, um dort irgend einen Befehl zu erteilen, wurde er ganz unbefangen. Nechljudow hörte zu. Er mochte nicht glauben, daß das wahr wäre, was dieser gutmütige Mensch erzählte – so schrecklich war es zu denken, daß Menschen einen anderen Menschen um nichts, nur dafür, daß man ihn selber beleidigt, ergreifen, ins Gefangenenkleid stecken und an diesen schrecklichen Ort setzen konnte. Indessen aber war es noch schrecklicher zu denken, daß diese wahrhafte Erzählung, bei diesem gutmütigen Gesicht, ein Betrug und eine Erfindung sein konnte. Die Erzählung bestand darin, daß der Schenkwirt ihm bald nach der Verehelichung seine Frau abspenstig gemacht hatte. Er suchte sein Recht überall. Aber überall erkaufte der Schenkwirt die Obrigkeit, und man gab dem Schenkwirt Recht. Einmal holte er seine Frau mit Gewalt zurück, sie entlief ihm am anderen Tage. Dann kam er, um seine Frau zu fordern. Der Schenkwirt sagte, daß die Frau nicht da sei, (er aber hatte sie beim Eintreten gesehen) und hieß ihn weggehen. Er ging nicht. Der Schenkwirt und sein Knecht schlugen ihn blutig; am anderen Tage aber brach beim Schenkwirt im Hofe Feuer aus. Man hat ihn und die Mutter beschuldigt; er aber hatte es nicht angesteckt, er war beim Gevatter gewesen.

»Und wirklich hast du's nicht angesteckt?«

»Nicht mal in Gedanken hatte ich so etwas, Herr. Aber er, mein Bösewicht, hat es wahrscheinlich selber angesteckt. Man sagte, er hatte damals soeben versichert. Und man hat es auf mich und die Mutter geschoben, daß wir bei ihm gewesen seien und ihn bedroht hätten. Es ist wahr, ich habe ihn damals geschimpft, das Herz ertrug es nicht. Anstecken aber, – das habe ich nicht getan. Und ich bin nicht mal da gewesen, als die Feuersbrunst ausbrach. Das hat er aber absichtlich auf den Tag verschoben, als ich mit dem Mütterchen da gewesen. Selber hat er es der Versicherung wegen angesteckt, es aber auf uns geschoben.«

»Ist es denn wirklich wahr?«

»Wahrhaftig, vor Gott sage ich es, Herr. Seien Sie mir wie ein leiblicher Vater,« er wollte auf die Knie fallen, und Nechljudow konnte es nur mit Mühe verhindern. »Helfen Sie mir heraus, um nichts gehe ich zugrunde,« fuhr er fort. Und plötzlich begannen seine Wangen zu zucken, und er weinte, er streifte den Schlafrockärmel auf und fing an mit einem Ärmel des schmutzigen Hemdes die Augen zu wischen.

»Fertig?« fragte der Inspektor.

»Ja. Also verlieren Sie den Mut nicht. Wir werden tun, was möglich ist,« sagte Nechljudow und ging hinaus.

 

Nechljudow begab sich ins Bureau. Der Inspektor war im Bureau und hatte, mit anderen Sachen beschäftigt, vergessen, die Bogoduchowskaja herauszurufen.

Erst als Nechljudow ins Bureau hereintrat, erinnerte er sich, daß er sie hatte herausrufen wollen.

»Gleich schicke ich nach ihr. Und Sie, sitzen Sie, bitte, ein wenig.«

Das Bureau bestand aus zwei Zimmern. Im ersten Zimmer, mit den zwei schmutzigen Fenstern, stand in einer Ecke ein schwarzer Apparat, zum Ausmessen des Wuchses bei den Gefangenen; in der anderen Ecke hing das gewöhnliche Attribut der Orte der Tyrannei: das große Bildnis Christi. In diesem ersten Zimmer standen einige Aufseher, in dem anderen Zimmer saßen, den Wänden entlang, etwa zwanzig Männer und Frauen, in einzelnen Gruppen oder paarweise, und sprachen halblaut miteinander. Am Fenster stand ein Schreibtisch. Der Inspektor setzte sich an den Schreibtisch und bot dem Nechljudow einen Stuhl an, der eben dort stand. Nechljudow setzte sich und begann die Leute zu betrachten, die sich im Zimmer befanden.

Aus der hinteren Tür kam mit quirligem Gang die kleine kurzgeschorene, magere, gelbe Wjera Jefremowna, mit den ungeheuer großen guten Augen.

»Nun, ich danke Ihnen, daß Sie gekommen sind,« sagte sie, Nechljudows Hand drückend, »haben Sie sich meiner erinnert? Wollen wir uns setzen!«

»Ich ahnte nicht, daß ich Sie so finden würde.«

»Oh, mir geht es schön; so gut, so gut, daß ich mir sogar nichts Besseres wünsche!« sprach Wjera Jefremowna; indem sie, wie immer, erschrocken mit ihren ungeheuer großen, guten, runden Augen Nechljudow anblickte und den dünnen, gelben, sehnigen Hals drehte, der aus dem jämmerlichen, zerknüllten, schmutzigen Kragen ihrer Jacke hervorsah.

Nechljudow begann sie zu befragen, wie sie in diese Lage geraten.

In Antwort darauf erzählte sie mit großer Lebhaftigkeit von ihrer Sache. Ihre Rede war ganz mit ausländischen Ausdrücken gespickt, mit »Propaganda, Desorganisation, Gruppen, Sektionen und Untersektionen,« von denen sie augenscheinlich glaubte, daß alle wüßten, und von denen Nechljudow nie gehört hatte.

Sie erzählte ihm augenscheinlich voll überzeugt, daß es ihm sehr interessant und angenehm sei, alle Geheimnisse des NarodowolzentumsPolitische Partei. Anm. d. Übers. zu kennen. Nechljudow aber betrachtete ihren kläglichen Hals, ihre dünnen, wirren Haare und wunderte sich, wozu sie all das getan und erzählte. Sie dauerte ihn, aber durchaus nicht so, wie ihn Menjschow dauerte, der Bauer, der ohne jegliche Verschuldung seinerseits in dem stinkenden Gefängnis saß. Er bedauerte sie am meisten wegen des Wirrwarrs, der offenbar in ihrem Kopfe herrschte. Augenscheinlich hielt sie sich für eine Heroine, die bereit ist, ihr Leben dem Erfolg ihrer Sache zum Opfer zu bringen. Unterdessen aber hätte sie kaum zu erklären vermocht, worin diese Sache und der Erfolg dieser Sache bestand.

Die Angelegenheit, von der Wjera Jefremowna mit dem Nechljudow sprechen wollte, bestand darin, daß ihre Kameradin Schustowa, die sogar nicht einmal zu ihrer Untergruppe gehörte, wie sie sich ausdrückte, vor fünf Monaten mit ihr zusammen ergriffen und in die Peter-Pauls-Festung gesteckt worden war, einzig deswegen, weil man bei ihr, ihr zur Aufbewahrung übergebene Bücher und Papiere gefunden hatte. Wjera Jefremowna hielt sich zum Teil für schuldig an der Einsperrung der Schustowa und flehte den Nechljudow an, da er Verbindungen habe, alles, was möglich sei, zu tun, um sie zu befreien.

Die andere Sache, um die die Bogoduchowskaja ihn bat, bestand darin, daß er dem in der Peter-Pauls-Festung inhaftierten Gurkewitsch die Erlaubnis auswirke, seine Eltern wiederzusehen und die wissenschaftlichen Bücher zu erhalten, welche ihm für seine gelehrten Beschäftigungen nötig seien.

Nechljudow versprach, alles, was möglich sei, zu versuchen, wenn er in Petersburg sein werde.

Ihre Geschichte erzählte Wjera Jefremowna folgendermaßen: nach Absolvierung der Hebammenkurse war sie der Partei der Narodowolzy näher getreten, und hatte mit ihnen gearbeitet. Zuerst ging alles gut, man schrieb Proklamationen, trieb Propaganda in den Fabriken; dann wurde eine hervorragende Persönlichkeit gefangen genommen, die Papiere mit Beschlag belegt und allmählich alle festgenommen.

»Auch mich hat man festgenommen, und jetzt verschickt man . . .« beendete sie ihre Geschichte. »Aber das macht nichts. Ich fühle mich ausgezeichnet, – ein olympisches Bewußtsein,« sagte sie und lächelte ein klägliches Lächeln.

Die dritte Sache, von der Wjera Jefremowna sprechen wollte, betraf die Maslowa. Sie kannte, da im Gefängnis alles bekannt war, die Geschichte der Maslowa und Nechljudows Beziehungen zu ihr, und riet ihm, um ihre Überführung zu den Politischen einzukommen, oder wenigstens, daß man sie als Krankenwärterin ins Krankenhaus versetze, wo es viele Patienten gibt, und Arbeiterinnen nötig sind.

Nechljudow dankte ihr für den Rat und sagte, er werde sich bemühen, ihn zu benutzen.

 

Am andern Tage fuhr Nechljudow zum Advokaten, teilte ihm Menjschows Angelegenheit mit und bat ihn, die Verteidigung derselben zu übernehmen. Der Advokat hörte ihn an, sagte, daß er die Akten durchsehen wollte und wenn es so sei, wie Nechljudow sage, was sehr wahrscheinlich sei, so werde er die Verteidigung ohne jeden Entgelt übernehmen.

Nechljudow nahm Abschied und fuhr zu Maslennikow.

Als Nechljudow bei Maslennikows Hause vorfuhr, sah er bei der Auffahrt einige Equipagen: Droschken, Kaleschen und Kutschen, und er erinnerte sich, daß eben heute gerade der Empfangstag von Maslennikows Frau sei. Zur Zeit, da Nechljudow bei dem Hause vorfuhr, stand eine Kutsche an der Auffahrt, und ein Lakai mit einem kokardegeschmückten Hut und einer Pelerine half einer Dame von der Rampe in die Kutsche. Mitten unter den haltenden Equipagen erkannte Nechljudow den geschlossenen Landauer der Kortschagins. Der grauköpfige, rotbäckige Kutscher nahm ehrerbietig und freundlich den Hut ab, wie vor einem besonders gut bekannten Herrn. Nechljudow hatte noch nicht Zeit gehabt, den Schweizer zu fragen, wo Michaïl Iwanowitsch (Maslennikow) sei, als er selber sich auf der teppichbelegten Treppe zeigte, wie er gerade einen sehr wichtigen Gast hinabgeleitete, so einen, den er nicht nur bis zum Treppenabsatz, sondern ganz hinunter zu begleiten pflegte. Dieser sehr wichtige militärische Gast sprach im Hinabsteigen französisch über das AllegriBall, Maskerade nebst Lotterie. Anm. d. Übers. zugunsten der Versorgungsanstalten, die in der Stadt errichtet wurden, indem er die Meinung äußerte, daß dies eine gute Beschäftigung für die Damen sei: »Ihnen macht es Spaß und es kommt Geld zusammen.«

»Qu'elles s'amusent et que le bon Dieu les bénisse. Ah, Nechljudow, guten Tag! Warum hat man Sie so lang nicht gesehen?« begrüßte er den Nechljudow. »Allez présenter vos devoirs à Madame. Kortschagins sind auch da,« sagte er, indem er seine Militärschultern seinem eigenen großartigen Lakai mit den Goldtressen hinhielt und in die Höhe zog, da dieser ihm den Mantel darreichte. »Au revoir, mon cher.« Er drückte noch einmal Maslennikows Hand.

Maslennikow war in einer besonders freudigen Aufregung, deren Ursache die ihm von einer wichtigen Person erwiesene Aufmerksamkeit war.

Eine derartige Aufmerksamkeit versetzte den Maslennikow in dasselbe Entzücken, in welches ein kleiner freundlicher Hund gerät, wenn der Herr ihn streichelt, zärtlich klopft, hinter den Ohren kraut. Er dreht den Schwanz, zieht sich zusammen, schlängelt sich, legt die Ohren zurück und rast wie wahnsinnig im Kreise herum. Zu gleichem Tun war Maslennikow bereit. Er nahm den ernsten Gesichtsausdruck Nechljudows nicht wahr, hörte nicht zu und zog ihn unaufhaltsam ins Empfangszimmer, so daß man nicht ablehnen konnte, und Nechljudow ging mit ihm.

»Das Geschäft nachher. Was du befiehlst, tu ich alles«, sprach Maslennikow, als er mit dem Nechljudow durch den Saal ging. »Melden Sie der Frau Generalin den Fürsten Nechljudow«, sagte er im Gehen seinem Lakai. Der Lakai bewegte sich im Paßgang vorwärts und überholte sie.

»Vous n'avez qu'à ordonner. Aber meine Frau mußt du notwendigerweise sehen. Ich habe schon so wie so einen ordentlichen Wischer gekriegt, weil ich dich voriges Mal nicht zu ihr gebracht habe.«

Der Lakai hatte schon Zeit gefunden, ihn zu melden, als sie hereinkamen, und Anna Ignatiewna, die Vice-Gouverneurin – die Generalin, wie sie sich nennen ließ – neigte sich schon mit strahlendem Lächeln dem Nechljudow entgegen, mitten aus den Hüten und Köpfen heraus, die sie und den Divan umgaben. Am anderen Ende des Empfangszimmers am Teetisch saßen Damen und standen Herren, Militärs und Zivilisten, und es ließ sich ein unaufhörliches Geschnatter von männlichen und weiblichen Stimmen hören.

»Enfin. Wie denn? Wollen Sie uns nicht mehr kennen? Womit haben wir Sie beleidigt?« Mit diesen Worten, die eine Intimität zwischen ihr und dem Nechljudow andeuteten, die niemals zwischen ihnen bestanden, empfing Anna Ignatiewna den Eintretenden.

»Missi, venez-donc à notre table. On vous apportera votre thé . . . Und Sie . . .« wandte sie sich an einen Offizier, der mit Missi sprach und dessen Namen Ihr augenscheinlich entfallen war, – »kommen Sie, bitte, hierher. Tee, Fürst? Befehlen Sie?«

Missi, im Hut und in irgendwelchem Kleid mit dunklen Streifen, das ohne ein einziges Fältchen ihre feine Taille umschloß, so als ob sie in diesem Kleide auf die Welt gekommen, war sehr schön. Sie wurde rot, als sie den Nechljudow sah.

»Aber ich dachte, daß Sie verreist wären«, sagte sie zu ihm.

»So gut wie verreist,« sagte Nechljudow; »Geschäfte halten mich auf. Auch hier bin ich in Geschäften.«

»Sprechen Sie doch bei Mama vor. Sie wünscht sehr, Sie zu sehen«, sagte sie, und da sie fühlte, daß sie lüge, und daß er es durchschaue, errötete sie noch mehr.

»Schwerlich werde ich dazu kommen«, erwiderte Nechljudow finster, indem er sich bemühte, sich den Anstrich zu geben, als merke er ihr Erröten nicht.

Missi zog böse die Brauen zusammen, zuckte die Achseln und wandte sich zu dem eleganten Offizier, der die leere Tasse aus ihren Händen empfing, und mit dem Säbel an die Stühle stoßend, sie mutig zu dem andern Tische hinübertrug.

»Sie müssen auch etwas für das Versorgungshaus spenden.«

»Aber ich lehne ja nicht ab, ich will nur meine ganze Freigebigkeit bis zum Allegri versparen. Dort werde ich mich schon in voller Kraft zeigen.«

»Nun, immer zu!« ließ sich eine offenbar verstellt lachende Stimme hören.

Der Empfangstag war glänzend, und Anna Ignatiewna war entzückt.

»Mika hat mir gesagt, daß Sie in den Gefängnissen beschäftigt sind. Ich begreife das sehr«, sprach sie zum Nechljudow. »Mika (das war ihr dicker Mann, Maslennikow) kann andere Fehler haben, aber Sie wissen, wie gut er ist. Alle diese unglücklichen Gefangenen sind seine Kinder. Il est d'une bonté...« sie blieb stecken, da sie keine Worte fand, die seine bonté auszudrücken imstande waren.

Nachdem Nechljudow so viel gesprochen, wie nötig war, und so inhaltlos, wie es ebenfalls nötig war, um den Anstand nicht zu verletzen, stand er auf und ging zum Maslennikow.

»Also bitte sehr, kannst du mich jetzt anhören?«

»Ach ja. Nun was denn?«

»Komm hier hinein.«

Sie gingen in ein kleines japanisches Kabinett und setzten sich ans Fenster.

 

»Nun, je suis à vous. Willst du rauchen? Nur – halt! – daß wir hier nicht etwas verderben«, sagte er und brachte eine Aschenschale. »Also?«

»Ich habe an dich zweierlei Anliegen.«

»So, so.« Maslennikows Gesicht wurde finster und mißmutig. Aus dem Empfangszimmer tönten die Stimmen herein.

Maslennikow horchte auf das, was im Empfangszimmer vor sich ging und hörte gleichzeitig dem Nechljudow zu.

»Ich komme wieder wegen derselben Frau«, sagte Nechljudow.

»Ja, eine unschuldig Verurteilte, ich weiß, ich weiß.«

»Ich möchte bitten, sie als Dienstmädchen ins Krankenhaus zu überführen. Man hat mir gesagt, daß man so etwas kann.«

Maslennikow preßte die Lippen zusammen und wurde nachdenklich.

»Schwerlich kann man das«, sagte er. »Ich will mich übrigens beraten und dir morgen telegraphieren.«

»Man hat mir gesagt, es gäbe dort viele Patienten, und Gehilfinnen seien nötig.«

»Nun ja, nun ja. Also werde ich dir jedenfalls darüber berichten.«

»Bitte«, sagte Nechljudow.

Aus dem Empfangszimmer erschall ein allgemeines und sogar unverkünsteltes Gelächter.

»Das ist immer der Victór,« sagte Maslennikow lächelnd, »erstaunlich witzig, wenn er im Zuge ist!«

»Für sie selber ist es schlimmer . . . C'est un souffredouleur...« hörte man die Stimme einer Frau aus dem Empfangszimmer, die augenscheinlich ganz gleichgültig gegen das war, was sie sprach.

»Desto besser . . . ich nehme auch dies«, ließ sich von anderer Seite in tändelndem Ton eine männliche Stimme vernehmen, darauf das spielerische Lachen einer Frau, die jenem irgend etwas nicht geben wollte.

»Nein, nein, um alles nicht!« sprach die Frauenstimme.

»Nun also, ich werde alles tun«, wiederholte Maslennikow, indes er mit seiner weißen Hand mit dem Türkisring die Zigarette auslöschte. »Jetzt wollen wir zu den Damen gehen.«

»Ja, noch etwas«, sagte Nechljudow, ohne in das Empfangszimmer einzutreten und an der Tür stehen bleibend. »Man hat mir gesagt, daß man gestern im Gefängnis Menschen körperlich bestraft hat. Ist das wahr?« Maslennikow wurde rot.

»Ach, danach fragst du? Nein, mon cher, man muß dich entschieden nicht hineinlassen, du kümmerst dich um alles. Komm, komm, Annette ruft uns«, sagte er, indem er ihn unter den Arm faßte und wieder die gleiche Aufregung zeigte, wie vorhin bei der erwiesenen Aufmerksamkeit der wichtigen Person; nur war es jetzt keine freudige, sondern eine ängstliche Erregung.

Nechljudow entriß ihm seinen Arm, und ohne von jemand Abschied zu nehmen, und ohne ein Wort zu sprechen, ging er mit finsterer Miene durch das Empfangszimmer und den Saal und an dem herbeispringenden Lakai vorüber in das Vorzimmer und auf die Straße hinaus.

»Was ist mit ihm? Was hast du ihm getan?« fragte Annette ihren Mann.

»Das ist à la française«, sagte jemand.

»Mit nichten à la française, das ist à la zoulou

»Na, er ist ja immer so einer gewesen.«

Jemand stand auf, jemand kam an, und das Gezwitscher ging seinen Gang fort; die Gesellschaft benutzte die Episode mit Nechljudow als einen bequemen Gesprächsgegenstand für den heutigen jour fixe.

Am Tage nach seinem Besuch beim Maslennikow erhielt Nechljudow von ihm einen Brief, der auf einem dicken, glänzenden Papier mit Wappen und Stempeln in prächtiger fester Handschrift geschrieben war, des Inhalts, daß er dem Arzt von der Überführung der Maslowa ins Krankenhaus geschrieben habe, und daß sein Wunsch, aller Wahrscheinlichkeit nach, in Erfüllung gehen werde.

Unterzeichnet war: »Dein Dich liebender älterer Kollege«, und unter der Unterschrift »Maslennikow« war ein erstaunlich kunstvoller, großer und fester Schnörkel angebracht.

»Narr!« konnte Nechljudow sich nicht enthalten zu sagen, besonders deswegen, weil in diesem Wort »Kollege« Maslennikow sich zu ihm – Nechljudow fühlte das – herabließ, das heißt: trotzdem er das moralisch schmutzigste und schändlichste Amt bekleidete, hielt er sich für einen sehr wichtigen Mann und glaubte, daß er, indem er sich Nechljudows Kollege nenne, ihm, wenn schon nicht schmeichle, so doch zeigte, daß er immer noch nicht zu stolz auf seine Herrlichkeit geworden.

 

Es ist einer der gewöhnlichsten und verbreitesten Aberglauben, daß jeder Mensch nur eine ihm zugehörige, bestimmte Eigenschaft habe, daß ein Mensch gut, böse, klug, dumm, energisch, apathisch und so weiter sei. Die Menschen pflegen nicht so zu sein. Wir können von einem Menschen sagen, daß er öfter gut als böse, öfter klug als dumm, öfter energisch als apathisch und umgekehrt sei, aber es ist nicht wahr, wenn wir von einem Menschen sagen, daß er gut oder klug und von einem andern, daß er böse oder dumm sei. Wir aber teilen die Menschen immer so ein. Und das ist nicht richtig. Die Menschen sind wie Flüsse: das Wasser ist überall gleich, überall dasselbe, aber jeder Fluß ist bald schmal, bald rasch, bald breit, bald still, bald rein, bald kalt, bald trübe, bald warm. Ebenso auch die Menschen. Jeder Mensch trägt in sich die Keime aller menschlichen Eigenschaften, und manchmal offenbart er die einen, manchmal die andern, und ist oft sich selber ganz und gar nicht ähnlich, während er doch immer dasselbe Selbst bleibt.

Bei einigen Menschen pflegen diese Wendungen sehr scharf zu sein. Und zu solchen Menschen gehörte Nechljudow.

Jenes feierliche und freudige Gefühl der Erneuerung, welches er nach dem Gericht und nach dem ersten Wiedersehen mit Katjuscha empfunden, verging vollständig und ward nach dem letzten Besuch durch Furcht und sogar Abneigung gegen sie ersetzt. Er beschloß, sie nicht zu verlassen und den Entschluß, sie zu heiraten, nicht zu ändern, wenn sie es nur wolle, aber es war ihm schwer und qualvoll.

Am Tage nach dem Besuche bei Maslennikow fuhr er wieder in das Gefängnis, um sie zu sehen.

Der Inspektor gestattete die Zusammenkunft, aber nicht im Bureau, sondern im Besuchszimmer der weiblichen Gefangenen. Trotz seiner Gutmütigkeit war der Inspektor mit dem Nechljudow zurückhaltender als früher; die Gespräche mit Maslennikow hatten offenbar die Verordnung einer größeren Vorsicht gegenüber diesem Besucher zur Folge gehabt.

»Sie sehn – das geht an,« sagte er, »und nur in Bezug auf Geld, gefälligst, so wie ich Sie gebeten habe . . . Was aber ihre Überführung ins Krankenhaus, wie Seine Exzellenz geschrieben hat, anbetrifft, so läßt sich das machen, und der Arzt ist einverstanden. Nur sie selber will nicht, sagt: es fällt mir nicht ein, den Grindköpfen die Nachttöpfe hinauszutragen . . . Es ist ja solch 'n Volk, Fürst«, fügte er hinzu.

Nechljudow antwortete nichts und bat, ihn zu der Zusammenkunft gehen zu lassen. Der Inspektor schickte einen Aufseher, und Nechljudow trat hinter ihm in das leere Besuchszimmer der Weiblichen ein.

Die Maslowa war schon da und kam hinter der Netzwand hervor, still und bange. Sie trat nahe an den Nechljudow heran, und an ihm vorbeisehend sagte sie leise:

»Verzeihen Sie mir, Dmitrij Iwanowitsch, ich habe vorgestern nicht gut zu Ihnen gesprochen.«

»Nicht ich habe Ihnen zu verzeihen . . .« wollte Nechljudow anfangen.

»Aber nur – – dennoch lassen Sie mich«, fügte sie hinzu, und in den schrecklich scheel gewordenen Augen, mit welchen sie ihn anblickte, las Nechljudow wieder jenen gespannten, bösen Ausdruck.

»Warum soll ich Sie denn lassen?«

»Aber so doch.«

»Warum so?«

Sie sah ihn wieder mit demselben – wie es ihm schien – bösen Blick an.

»Nun also, ich sage Ihnen . . .,« sprach sie. »Lassen Sie mich, das sage ich Ihnen sicher. Ich kann es nicht. Geben Sie das ganz auf«, machte sie mit zitternden Lippen und schwieg. »Es ist gewiß. Lieber häng' ich mich auf.«

Nechljudow fühlte, daß in dieser Weigerung Haß gegen ihn, unverziehene Beleidigung, aber auch etwas anderes, Gutes und Wichtiges sei.

»Katjuscha, wie ich gesagt habe, so sag' ich auch jetzt«, brachte er besonders ernst hervor. »Ich bitte dich, mich zu heiraten. Wenn du es aber nicht willst, oder einstweilen nicht willst, so will ich wie bis jetzt da sein, wo du bist und dorthin fahren, wohin man dich bringt.«

»Das ist Ihre Sache. Weiter will ich davon nicht sprechen«, sagte sie, und wieder erbebten ihre Lippen.

Er schwieg auch, da er fühlte, daß er nicht imstande sei, zu sprechen.

»Jetzt fahre ich ins Dorf, aber dann will ich nach Petersburg reisen«, sagte er, endlich sich fassend. »Ich werde mich für Ihre, für unsere Sache bemühen, und man wird, will's Gott, das Urteil kassieren.«

»Und wenn man es nicht kassiert, so ist es einerlei. Wenn nicht für dies, so hab' ich's für das andere verdient . . .«, sagte sie, und er sah, was für eine große Anstrengung sie machen mußte, um die Tränen zurückzuhalten.

»Nun, wie ist's denn, haben Sie den Menjschow gesehen«, fragte sie plötzlich, um ihre Erregung zu verbergen. »Nicht wahr, sie sind doch unschuldig?«

»Ja, ich glaube es.«

»Solch ein wunderbares altes Mütterchen«, sagte sie.

Er erzählte ihr alles, was er von Menjschow erfahren und fragte, ob sie nicht etwas brauche.

Sie erwiderte, sie habe nichts nötig.

Wieder schwiegen sie eine Zeitlang.

»Nun aber, in Bezug auf das Krankenhaus,« sagte sie plötzlich, ihn mit ihrem schielenden Blick ansehend, »wenn Sie wollen, so geh' ich, und auch Branntwein werd' ich nicht trinken . . .«

Nechljudow sah ihr schweigend in die Augen. Ihre Augen lächelten.

»Das ist sehr gut«, konnte er nur hervorbringen.

»Ja, ja, sie ist ein ganz anderer Mensch«, dachte Nechljudow, indem er nach dem früheren Zweifel ein ganz neues, nie von ihm erfahrenes Gefühl der Überzeugung von der Unüberwindbarkeit der Liebe empfand.

Als die Maslowa nach diesem Wiedersehen in ihre stinkende Kammer zurückkehrte, zog sie den Schlafrock aus, setzte sich auf ihren Platz, auf der Pritsche, und ließ die Hände auf die Knie sinken.

Die Wladimirsche mit dem Kinde auf dem Arm, und die Bahnwärterin mit dem Strumpf, an dem sie unaufhörlich strickte, näherten sich der Maslowa.

»Na, wie ist's, haben Sie sich wiedergesehen?« fragten sie.

Die Maslowa saß, ohne zu antworten, auf der hohen Pritsche und schaukelte mit den Beinen, die nicht bis zum Boden reichten.

»Was greinst du?« fragte die Wärterin. »Vor allem verliere nicht den Mut. Ech, Katjucha! Na«, sagte sie, rasch die Finger rührend.

Die Maslowa antwortete nicht.

Um diese Zeit ließ sich ein Geräusch von Schritten und Frauenstimmen auf dem Korridor hören, und die anderen Bewohnerinnen der Kammer, mit Pantoffeln an den nackten Füßen, kamen herein; jede trug je einen Kalatsch, einige auch je zwei. Fedossija näherte sich sogleich der Maslowa.

»Was ist denn? Ist etwas nicht recht?« fragte Fedossija, mit ihren blauen Augen die Maslowa liebevoll ansehend. »Hier, für uns zum Tee«, und sie fing an, die Kalatschen auf das Wandbrettchen zu legen.

»Was ist? Hat er sich etwa mit dem Heiraten anders besonnen?« fragte die Korablewa.

»Nein, nicht anders besonnen, aber ich will nicht«, sagte die Maslowa. »Ich hab' ihm das auch gesagt.«

»Das ist 'ne Närrin«, sagte die Korablewa mit ihrer Baßstimme.

»Wieso? Wenn man nicht zusammen lebt, zu was Teufel, braucht man zu heiraten?« sagte Fedossija.

»Aber dein Mann geht ja auch mit dir«, machte die Wärterin.

»Na ja, aber ich bin ja mit ihm getraut,« sagte Fedossija, »aber wozu braucht er sich erst trauen lassen, wenn sie nicht zusammen leben werden?«

»So 'ne Dumme! Wozu? Aber wenn er sie heiratet, wird er sie ja in Gold fassen.«

»Er hat gesagt: Wohin man dich auch schickt – ich fahr' dir nach«, sagte die Maslowa. »Fährt er, so fährt er, fährt er nicht, so fährt er nicht, aber bitten tu' ich nicht. Jetzt reist er nach Petersburg, sich da Mühe zu geben. Alle Minister da sind mit ihm verwandt,« fuhr sie fort, »aber nötig hab' ich ihn doch nicht.«

»Bekannte Geschichte«, pflichtete plötzlich die Korablewa bei, indem sie ihren Sack auspackte und augenscheinlich an etwas anderes dachte. »Wie ist's«? Trinken wir 'n Schnäpschen.«

»Ich will nicht,« antwortete die Maslowa, »trinkt selber.«

 


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